ra-1ra-3cr-2NietzscheA. RapoportF. NicolaiMauthnerSchmitz-Dumont    
 
PAUL SZENDE
Die soziologische Theorie
der Abstraktion
(1)
[1/4]

"Die Selbststeuerung der Lebewesen ist ein abstraktiver Vorgang; bei der außerordentlichen Mannigfaltigkeit des Seins und Geschehens muß der Organismus eine Auswahl treffen, die für die Erhaltung des Lebens nützlichen Vorgänge fördern, die schädlichen unterdrücken. Die Anpassung besteht aus eine unaufhörlichen Reihe von Abstraktionen, sie ist eine ständige Hervorhebung und Vernachlässigung bestimmter Lebensvorgänge."

"Alles Denken besteht in Vergleichen und in einer Zurückführung der neuen Vorstellungen auf bekannte Vorstellungsgebilde. Die begriffliche Festlegung und Benennung muß sich dieses Vorgangs bedienen, weil aus denkökonomischen Gründen nicht jede Vorstellung durch ein allein ihr zugeordnetes Wort ausgedrückt werden kann. Dieser Vorgang entspricht dem biologischen Bedürfnis nach Stabilität und Sicherheit des Denkens, was besonders dadurch erreicht wird, daß die Charakteristik des Vertrauten, Gewissen, Selbstverständlichen vom Alten auf das Neue übergeht."

"Die grundlegenden Begriffe des sozialen Lebens sind alle Anthropomorphismen, primitive personifikative Abstraktionen: Gott, Himmel und Hölle, Teufel und Engel, weiters der Staat, die Rechtsordnung, das Vaterland, Seele, Geist, Ding-ansich, Wille. Diese Begriffe könnten eine Modernisierung sehr wenig vertragen, die meisten würden nicht einmal die Operation überleben. Ihr immenses Beharrungsvermögen wirkt auf allen Gebieten des menschlichen Wissens hinderlich."

"Die Pflege der Wissenschaften oblag solchen Gruppen, die entweder der herrschenden Klasse angehörten, oder ihre Geschäfte besorgten, meistens dem Priestertum. Die Massen wurden entweder vom Wissen ganz ausgeschlossen. Was sie überhaupt bekamen, wurde ihnen von oben her vielfach in desinfizierter Zubereitung verabreicht. Noch heute unterscheidet sich die Wissensmaterie, die den Massen verabreicht wird, vollkommen von der, welche sich die besitzenden Klassen und der intellektuelle Mittelstand aneignen können."


I. Wesen und Bedeutung der Abstraktion

Zur Klarlegung der soziologischen Bedingtheit geistiger Prozesse ist es ratsam, einen möglichst elementaren Vorgang zu untersuchen. Ein solcher Vorgang ist die Abstraktion. In der psychologischen Reihe setzt sie nur das Vorhandensein von Empfindungen und einfachen Vorstellungen voraus, ja sie ist bereits beim Zustandekommen dieser elementaren psychischen Gebilde vielfach wirksam. In der logischen Rangordnung bildet sie die erste Stufe, auf der sich das ganze Begriffsgebäude erhebt.

Die Abstraktion ist eine Denkoperation, durch welche aus einer Vorstellung oder Vorstellungsgruppe gewisse Bestandteile vernachlässigt, andere dagegen hervorgehoben und als Merkmale eines Begriffs zusammengefaßt werden (WUNDT, SIGWART, VAIHINGER, MACH, ENRIQUES, VOLKMANN, KLEINPETER, SCHLICK, EISLER, MILL). WUNDT unterscheidet isolierende und generalisierende Abstraktion. Die Isolation besteht darin, daß eine komplexe Erscheinung oder ein zusammengesetztes Erscheinungsgebiet in ihre Bestandteile zerlegt werden. Das abgetrennte - isolierte - Element, das in dieser Loslösung immer modifiziert erscheint, wird einer abgesonderten Behandlung oder Beobachtung unterzogen, von den übrigen Bestandteilen wird abgesehen, abstrahiert. Die generalisierende Abstraktion vernachlässigt innerhalb einer Gruppe von Tatsachen und Gegenständen die wechselnden, individuellen Merkmale, dagegen hebt sie die gemeinsamen Eigenschaften hervor. Von ihren Unterarten beziehen sich die Gattungsbegriffe auf Gegenstände der Anschauung und des Denkens; die abstrakten Regeln, Sätze und Gesetze halten hingegen Beziehungen von Vorstellungen und Gegenständen fest.

Es ist üblich,  konkretes  und  abstraktes  Denken zu unterscheiden. Das erstere verarbeitet die Vorstellungen und Wahrnehmungen unmittelbar, das letztere mittels Begriffe. Ebenso unterscheidet man konkrete und abstrakte Begriffe; den konkreten sind in der Erscheinungswelt sinnlich wahrnehmbare, genaue Korrelate zugeordnet, die letzteren sind mehr Symbole, welche Gruppen von Erfahrungstatsachen bezeichnen. Wir werden später zeigen, daß diese Einteilungen keine sichere Grundlage haben, die Grenzen sind schwankend. Auf die Unterscheidung zwischen abstrakten Begriffen und Allgemeinbegriffen legt besonders VAIHINGER Gewicht.

Ohne Abstraktion kein Begriff, ohne Begriffe kein Urteil, ohne Urteile kein Schluß.  Die Abstraktion ist Bestandteil und Hilfsmittel sämtlicher logischer Operationen. Beobachtung und Experiment sind isolierende Verfahren, Induktion bedeutet Generalisation. Deduktion ist eine Ableitung der besonderen Begriffe und Urteile aus den allgemeineren. Definition ist Begriffsabgrenzung, Postulate und Axiome sind höhere Grundsätze. Das Gesetz ist die Zusammenfassung konstanter Beziehungen, wobei von Zufälligkeiten und Unregelmäßigkeiten abgesehen wird. Wissenschaft ist die systematische Zusammenfassung bestimmter Begriffe, Sätze und Gesetze. Jede Wissenschaft behandelt nur einen bestimmten Ausschnitt der Wirklichkeit, die Sonderung der Wissenschaften, ihre Unterabteilungen, die wissenschaftliche Klassifikation, die Schematisierung beruhen auf ganz bestimmten Abstraktionen. Die Exaktheit der Wissenschaften steht zum Grad ihrer Abstraktheit im geraden Verhältnis.

Diese Aufzählung allein würde genügen, die grundlegende Bedeutung der Abstraktion klarzulegen. Doch erachten wir es für notwendig, mit einer durch den Raummangel gebotenen Kürze, ohne jedweden Anspruch auf Vollständigkeit, die Wichtigkeit der Abstraktion in den verschiedensten Wissensgebieten aufzuzeigen.
    Die abstrakteste aller Wissenschaften, die  Mathematik hebt bei den materiellen Gegenständen nur die formale Seite der Wirklichkeit (Ausdehnung, Mehrheit, Vielheit) hervor, alle anderen vernachlässigt sie vollständig. Die mathematischen Begriffe entstehen durch Isolation, die mathematischen Axiome durch Generalisation. Beim Zählen werden die zählbaren Gegenstände eliminiert, es bleiben jedes Inhaltes bar nur die Funktion des Zählens

    (Wundt)  oder Gruppen gleicher Objekte  (Mill)  zurück. Die Zahlen sind Symbole, die alle möglichen Objekte bezeichnen können. Die Differentiation [Berechnung eines Differentialquotienten - wp] der Funktionen isoliert die beständigen Elemente eines Naturvorganges von den veränderlichen und drückt erstere durch Differentialgleichungen aus. Diese zerlegen die Erscheinungen entweder in der Zeit oder im Raum derart, daß der gegenwärtige Zustand nur von der nächsten Vergangenheit und vom Zustand des nächsten Punktes abhängt, von den übrigen Einwirkungen sieht man ab.  (Poincaré, Enriques).  Schließlich seien einerseits die Vernachlässigung der kleineren Werte, besonders ihrer höheren Potenzen, den größeren gegenüber, andererseits die Operationen auf dem Gebiet des unendlich Kleinen erwähnt.

    Die  geometrischen  Begriffe, Definitionen und Axiome sind nach der positivistischen Richtung  (Mill, Helmholtz, Mach)  unmittelbare Generalisationen aus der Erfahrung, nach  Wundt  Induktionen aus Abstraktionen von der Erfahrung. Die geometrische Begriffsbildung sieht von den empirischen Bestandteilen und den physikalischen Grundlagen ab, hebt nur die formalen hervor und vernachlässigt die Schwankungen, welche die Dimensionen der festen Körper infolge chemischer und physikalischer Einwirkungen erleiden. In der Erfahrung existiert kein Punkt ohne Größe, keine Linie ohne Breite, keine Fläche ohne Tiefe, kein vollständig rechtwinkliges Parallelogramm usw., doch wird bei ihrer Definition von diesen Eigenschaften abgesehen, die geometrischen Begriffe sind idealisiert.

    Raum und Zeit  bilden den Übergang von der Mathematik (Geometrie) zur Physik (Mechanik). Sie sind Abstrakta aller Erfahrungen von Gleichzeitigkeits- und Folgebeziehungen unter Ausschaltung aller physikalischen Vorgänge. Diejenigen, die Raum und Zeit als Formen unserer Anschauung betrachten, eliminieren jeden gegebenen Raum- und Zeitinhalt. MACH und EINSTEIN haben gezeigt, daß die "Ungetüme" des absoluten Raumes und der absoluten Zeit nur so entstehen konnten, daß man den Bewegungszustand der Bezugskörper vollständig vernachlässigte.

    Die  Mechanik  arbeitet mit Formeln und Gesetzen, die nur durch eine Vernachlässigung zahlreicher Erfahrungstatsachen gewonnen wurden und Produkte idealisierender Abstraktionen sind. Der "reine" freie Fall, die geradlinig-gleichförmige Bewegung, das Trägheitsgesetz usw. sind in der Wirklichkeit niemals erfahrbar, es gibt kein Koordinationssystem, in Bezug auf welches die geradlinig-gleichförmige Bewegung möglich wäre, desgleichen kein vollständig isoliertes System. Den aus der Bewegungsanschauung gewonnenen Abstraktionen fügt die Mechanik noch die Begriffe  Kraft  und Masse hinzu. Die mechanistische Naturauffassung führt jede Erscheinung auf in Zahlen faßbare Bewegungen zurück und sieht von allem Qualitativen ab. Die energetische Naturauffassung geht in der Abstraktion noch um einen Schritt weiter. Die  mathematische Physik  ist bemüht, die ganze Physik auf die Mechanik zu gründen.

    Die noch immer herrschenden Begriffe der  Physik, Masse  und  Kraft  sind Abstraktionen, wobei bei ersten Begriff von den Wirkungen, bei der Kraft von der Quantität abgesehen wird. Auch die Grundgesetze der Erhaltung des Stoffes und der Kraft sind höchstgesteigerte Abstraktionen. Die Einteilung der Physik (wie auch die jeder Wissenschaft) beruth auf einer isolierenden Trennung der Naturerscheinungen in Schall, Licht, Wärme, Elektrizität usw. In der akustischen Behandlung der Erscheinungen z. B. werden die mechanischen, thermischen, optischen Wirkungen vernachlässigt. Die Relativitätstheorie räumt mit einigen bisherigen Abstraktionen auf, andererseits treibt sie das abstraktive Verfahren auf die Spitze, was teilweise erklärt, daß selbst gebildete Laien diese Theorie so schwer begreifen können. Für kleinere Geschwindigkeiten läßt diese Theorie die  Newtonsche  Mechanik bestehen, weil die Abweichungen so gering sind, daß von ihnen abstrahiert werden kann.

    Die Grundlage der modernen  Astronomie,  das  Newtonsche  Gravitationsgesetz, ist eine Generalisierung der Gesetze von  Galilei  und  Kepler.  In der  Astromechanik  werden die Himmelskörper auf Punkte reduziert und geringfügig Störungen vernachlässigt.

    Die  Chemie  berücksichtigt nur die Gewichtsverhältnisse der Elemente, von den thermischen, optischen, elektrischen Eigenschaften sieht sie ab und überläßt deren Berücksichtigung spezialen Wissenschaften (Photo-, Thermo-, Elektrochemie). Der Grundbegriff der Chemie, das Atom, ist ein Abstraktionsprodukt. Sämtliche Begriffe, wie z. B. Säuren, Basen, Salze sind Namen und Gruppen, die zur Hervorhebung bestimmter Eigenschaften dienen.

    In der  Geologie  sind die Aufeinanderfolge und Gliederung der Perioden teils isolierende, teils generalisierende Abstraktionen.

    Die  Biologie  wird von den übrigen Naturwissenschaften durch die isolierende Unterscheidung zwischen leblosen und lebenden Körpern abgegrenzt. Innerhalb der Biologie unterscheidet man zwischen Pflanze-Tier (die Grenzen sind schwankend) und zwischen Tier-Mensch. Die Methode der wissenschaftlichen Behandlung ist entweder die morphologische oder die physiologische; die erstere hebt die Gestalt, Struktur und Masse, die letztere die Funktion, die Entwicklung hervor. Art, Gattun, Familie, sämtliche Allgemeinbegriffe der Biologie, beruhen auf Generalisationen, in der unmittelbaren Erfahrung ist nur das Individuum gegeben. Die Entstehung der neueren "gemischten" Wissenschaften, z. B. Biochemie, Psychophysik zeigt, daß in der Behandlung der Tatsachen die alten Abstraktionen durch neue ersetzt wurden. Dies gilt auch für die  medizinischen  Wissenschaften.

    Der Übergang von der Biologie zur  Psychologie  wurde durch die Unterscheidung von körperlichen und geistigen Vorgängen gewährleistet. Alle sogenannten geistigen Vorgänge sind Abstraktionen, die psychischen Grundgebilde sind Produkte einer isolierenden Zerlegung (Empfindung, Vorstellung). Die mathematische Behandlung der psychischen Erscheinungen sieht von den Verwicklungen ab, die nicht auf mechanistische Formeln gebracht werden können.

    Die  ästhetische  Betrachtung und das künstlerische Schaffen unterscheiden sich von der wissenschaftlichen Tätigkeit dadurch, daß auf diesen Gebieten andere Elemente hervorgehoben und vernachlässigt werden, als in der Wissenschaft, das Isolationszentrum ist ein verschiedenes  (Volkmann).  Jede Kunstrichtung schafft sich durch eine Hervorhebung bestimmter Züge ihr Schönheitsideal. Die idealisierende Tendenz verdrängt die das Ideal störenden Einzelheiten und Zufälligkeiten, der Naturalismus bringt die vernachlässigten Elemente wieder zum Vorschein. Diese Tendenzen sind auch in der  Literatur  aufzeigbar.

    Die Grundbegriffe der  Philosophie (Substanz, Seele, Ich, Wert, Objekt, Subjekt, Vernunft, Erscheinung, Ding-ansich usw.) sind ohne Ausnahme Abstraktionsprodukte. Philosophische Richtungen entstehen dadurch, daß eine Abstraktionsreihe zu Ende gedacht und verabsolutiert wird.

    Gott  ist eine personifikative Abstraktion; die Natur, die unsichtbaren Mächte, frühere Herrscher werden mit einer Abstreifung der unvollkommenen Züge zu einem vollkommenen allmächtigen Wesen zusammengefaßt. Diesen Ursprung haben auch die übrigen Begriffe, Dogmen und Symbole der Religionen. Polytheismus [Mehrgötterei - wp] ist eine isolierende Kompetenzabgrenzung  (Max Weber).  Der Übergang vom Polytheismus zum Monotheismus ist eine zunehmende Abstraktion, die naturhaften und allzumenschlichen Elemente werden allmählich verdrängt.

    Die Begriffe, Gebote und Ideale der  Ethik  sind Abstraktionen aus der Erfahrung, wenn dies auch noch so nachdrücklich geleugnet wird. Auch die Auffassung, die in der Form den Grund der Verbindlichkeit des Sittengesetzes sieht, beruth auf einer Isolierung von Form und Inhalt.

    Staat  ist ein rein formaler Begriff, bei dessen Bildung die Produktionsverhältnisse und die Klassengliederung vernachlässigt wurden. Auch die Nation ist eine Abstraktion gleicher Art, ebenso die politischen Schlagwörter (Freiheit, Gleichheit, Volkssouveränität, Demokratie), die leicht zu Symbolen werden und jedweden Zusammenhang mit den bestehenden Verhältnissen verlieren.  Recht, Rechtsordnung, Eigentum  sind rein formal bestimmt, deren näheren Auslegung dieser Begriffe, der Berücksichtigung der Machtverhältnisse geht man gewöhnlich aus dem Weg. Die bisherige  Geschichtswissenschaft  abstrahierte von den sozialen und wirtschaftlichen Tatsachen, sie hat meistens die Tätigkeit der Dynastien und der herrschenden Klassen hervorgehoben. Auch die  Nationalökonomie  macht von der Abstraktion einen umfassenden Gebrauch. In der klassischen Volkswirtschaftslehre  (Smith, Ricardo wird das Individuum als von Staat, Religion, Klassen, Weltanschauung vollkommen isoliert betrachtet, der ökonomische Eigennutz zur Grundlage der Wirtschaft gemacht. Die Schlagwörter des Merkantilismus, des Liberalismus, der Freihandels- und Schutzzollbewegung sind einseitig auf das Interesse bestimmter wirtschaftlicher Gruppen zugespitzte Abstraktionen.
Diese Aufzählung bezweckte die außerordentliche Bedeutung der Abstraktion auf sämtlichen Gebieten des menschlichen Wissens und Handelns klarzulegen. Die Abhandlung stellt sich die Aufgabe, die soziologische Bedingtheit der Abstraktion zu erforschen, die sozialen Komponenten dieses Prozesses aufzuzeigen. Gelingt dies, so ist zugleich die soziologische Bedingtheit sämtlicher Wissenschaften - auch die der Mathematik, Physik, Chemie - in ein entsprechendes Licht gestellt.

Wir untersuchen die Abstraktion als  biologischen, psychologischen, logischen  und  erkenntnistheoretischen  Vorgang. Die Einflüsse des natürlichen und geistigen Milieus werden eingehend berücksichtigt; besondere Aufmerksamkeit wird jenen Einwirkungen zugewendet, die von der jeweilig bestehenden  Gesellschaftsordnung  herrühren. Diese Untersuchung wird zeigen, welch große Wahrscheinlichkeit der COMTEschen Behauptung zukommt, daß das Individuum eine Abstraktion ist und nur die Gesellschaft Wirklichkeit besitzt. Jede menschliche Körperzelle, jeder menschliche Gedanke ist durch soziale Einflüsse "überdeterminiert".

Der Gegenstand wird genetisch behandelt. Nur im letzten Kapitel versuchen wir, die soziale Rolle der bereits vorhandenen Abstraktionen zu erforschen. Mit dem Ausdruck  Abstraktion  wird sowohl der Vorgang als auch sein Produkt bezeichnet.


II. Die biologischen Grundlagen der Abstraktion

1. Die Tendenz zur Stabilität. Das  Leben  ist eine ständige  Anpassung  innerer Beziehungen an äußere, es ist der Inbegriff von Reaktionen, mittels deren jeder biologische Organismus auf äußere, sein Gleichgewicht störende Eindrücke antwortet. Alle Lebensprozesse haben die Tendenz, das gestörte Gleichgewicht wiederherzustellen. Diese Selbststeuerung der Lebewesen ist ein abstraktiver Vorgang; bei der außerordentlichen Mannigfaltigkeit des Seins und Geschehens muß der Organismus eine Auswahl treffen, die für die Erhaltung des Lebens nützlichen Vorgänge fördern, die schädlichen unterdrücken. Die Anpassung besteht aus eine unaufhörlichen Reihe von Abstraktionen, sie ist eine ständige Hervorhebung und Vernachlässigung bestimmter Lebensvorgänge.

Die Tendenz zur biologischen Stabilität äußert sich in dem Streben aus unsicheren Durchgangsstadien heraus in Dauerlagen zu gelangen (PETZOLDT). Der Mensch ist bestrebt, die sich fortwährend ändernde Wirklichkeit, ihre verwirrenden Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten durch Erkennungszeichen, Symbole, Begriffe, Klassifikation, Gesetze, - alle insgesamt Abstraktionen - festzuhalten, in das Naturgeschehen dadurch eine gewisse Stabilität einzuführen, um sich in der Natur zurechtfinden zu können. Im Kampf ums Dasein sind die Begriffe ebenso wichtig wie die zweckmäßigen körperlichen Betätigungen, der Erkenntnistrieb ist zum Teil eine Folge der biologischen Selbstbehauptung. Alle diese Abstraktionen haben ihre Wurzel in der inneren Erfahrung des Individuums, in einem unmittelbaren Erlebnis, sie beruhen auf einem Glauben an die Wirklichkeit und zeigen einen anthropomorphen Charakter. Die Tendenz zur Stabilität drängt darauf, die bewährten Erkennungszeichen festzuhalten. Ob und wie sich ein Begriffssystem als Defensiv- und Anpassungsmechanismus bewährt, darüber besteht keine eindeutige Gewißheit. Es handelt sich mehr um einen durch Erfahrungstatsachen erhärteten Glauben. Unausgesetzt sind ideologische Einflüsse an der Arbeit, die die Menschen dazu bewegen, an solchen Anpassungsmethoden und Begriffssystemen festzuhalten, die ihren Interessen zuwiderlaufen und eine zweckmäßigere Anpassung verhindern. Dasselbe gilt von allen wirtschaftlichen, politische und religiösen Einrichtungen, die der Anpassung dienen.

Durch die Stabilisierung bestimmter Denkformen erlangen diese eine außerordentliche Zähigkeit und Trägheit. Ob die Wirklichkeit ansich in ihren Hauptzügen eine ebensolche Beständigkeit aufweist wie die von uns wahrgenommene, scheint eine müßige Frage zu sein. Die Erfahrung zeigt allerdings eine starke Konstanz der wichtigen Lebensbedingungen. Daher stammt  der konservative Zug  des Menschen, der noch durch soziale Einrichtungen verstärkt wird. Die Erfahrung der Beständigkeit der Natur führt zur  Mechanisierung der Lebensprozesse,  die als nützlich erkannten Reaktionen und Vorgänge werden zu Gewohnheiten, dann durch Generationen vererbt zu Trieben. Ebenso fest sind die ihnen zugeordneten Symbole und Begriffe in den Assoziationsbahnen verankert. Die ständige Hervorhebung und Vernachlässigung gewisser Vorgänge führt zur Hypertrophie [Überversorgung - wp] und Atrophie [Unterversorgung - wp] der Organe, die an diesen Vorgängen teilnehmen, was die Wiederaufnahme der vernachlässigten Betätigungen ungemein erschwert. Das Streben des Nervensystems nach Gleichgewicht bedeutet meistens das  Übergewicht der Vergangenheit,  die Herrschaft der angewohnten Begriffe und Urteile, weil ihre Überwindung, ja selbst ihre Ergänzung nur durch eine größere Kraftentfaltung und Nervenarbeit möglich ist.

Doch wird das Streben nach Gleichgewicht zugleich zur Hauptquelle sozialer Umwälzungen. Ist das vorhandene Begriffssstem nicht mehr geeignet, die Wirklichkeit zu erfassen und verlaufen infolgedessen die Anpassungsvorgänge unzweckmäßig, dann wird unter dem Druck der Erfahrungen der Glaube an die alten Begriffe und Einrichtungen erschüttert. Die Gleichgewichtsstörung wird dauernd empfunden, es entstehen - sowohl im individuellen als auch im sozialen Leben - Krisen, Krankheiten  und  Katastrophen. 

2. Natürliches und künstliches Milieu. Der Begriff des natürlichen Milieus umfaßt die Verteilung von Meer und Land, die Konfiguration und geologische Beschaffenheit des Terrains, die Flora und die Fauna, das Klima usw. Diese Faktoren beeinflussen nicht nur die biologische Entwicklung der Völker, sondern auch die Art und Weise ihrer geistigen Vorgänge. Auf die Verschiedenheit des natürlichen Milieus muß der Mensch mit verschiedenen körperlichen und geistigen Anpassungen reagieren. Die "tellurische" [die Erde betreffend - wp] (ALFRED KIRCHHOFF) Auslese ist das Ergebnis dieser Einwirkungen.  Der Verschiedenheit des Milieus entsprechend müssen immer andere Vorgänge und Merkmale vernachlässigt und hervorgehoben werden;  da sich die Wirklichkeit in verschiedenen Formen darbietet, kann sie nur durch entsprechend verschiedene Abstraktionen erfaßt werden. Daß die Europäer sich in die Begriffe und Kategorien der Tropen-, Polar-, Wüstenvölker usw. und diese wieder in die der Europäer so wenig oder gar nicht einleben können, ist bereits die Folge dieser kosmisch-tellurischen Auslese. HERMANN KEYSERLINGs schönes Werk "Das Reisetagebuch eines Philosophen" - veranschaulicht äußerst einleuchten die Differenzierung im Denken der Völker.

Das  soziale Milieu  umfaßt die Einwirkungen, die Folgen des Zusammen- und Nebeneinanderwirkens der Menschen sind. Die menschliche Tätigkeit hat die Umwelt, die Natur gewaltig modifiziert. Daß in dieser Beziehung noch ungeheure Möglichkeiten vor uns liegen, zeigt die Bemerkung von ARRHENIUS, der eine bedeutende Erhöhung des Kohlensäuregehalts der Luft (teilweise infolge industrieller Einwirkungen) für möglich hält, was eine vollständige Veränderung der klimatischen Verhältnisse und in der Gefolge der Anpassungs- und Abstraktionsvorgänge nach sich ziehen würde. Das künstliche Milieu zeigt dem natürlichen gegenüber eine größere Veränderlichkeit und läßt sich nur durch ein beweglicheres, anpassungsfähigeres Begriffssystem erfassen.  Es müssen andere Merkmale als im natürlichen hervorgehoben und vernachlässigt werden.  Auch die Arbeitsteilung, die Berufs- und Klassengliederung üben einen nachhaltigen Einfluß aus, ihre Abänderung erfordert neue Anpassungen, einen ständigen Funktionswechsel.

Die Wirkung des sozialen Milieus stellt eine riesenhafte  Domestikation  dar, welche nicht nur große Vorteile, sondern auch Gefahren in sicht birgt. Der Mensch wird denaturalisiert, dadurch aber seiner Sicherheit beraubt, weil die natürlichen Zusammenhänge leichter zu erfassen sind als die sozialen, die eine viel größere Kompliziertheit aufweisen. Die Erschütterung des angewohnten Anpassungsmechanismus verwirrt den primitiven Menschen und liefert ihn fremden Interessen aus.  Die Herrschaft einer Menschengruppe über die andere beginnt erst, wenn das soziale Milieu das natürlich in sich aufzunehmen, dasselbe zu ersetzen anfängt.  Auf höherer Stufe wirkt das natürliche Milieu nur mittelbar, durch die wirtschaftlichen Verhältnisse und die soziale Machtgestaltung.

3. Vererbung. Die durch die Vorfahren erworbene Disposition zur Wiederherstellung und Wiederholung bestimmter Abstraktions- und Anpassungsvorgänge geht auf die Nachkommenschaft über. Solange das natürliche Milieu vorwiegt, wirkt die Vererbung meistens vorteilhaft. Sobald aber die sozialen Einflüsse zur Bedeutung gelangen und die ererbten Anlagen sich nicht genügend schnell anzupassen vermögen, muß die betreffende Menschengruppe im sozialen Kampf unterliegen; die Vorherrschaft veralteter Anpassungs- und Abstraktionsprodukte führt unbedingt zur Katastrophe.

Seit LILIENFELD ist es üblich, die Vererbung als konservatives, die Anpassung als fortschrittliches Element zu betrachten. Diese Unterscheidung ist auch eine Abstraktion und nicht einmal eine glückliche, denn die beiden Begriffe stehen zueinander nicht im Gegensatz. Auch die vererbten Anlagen dienen zur Anpassung, die vererbten Instinkte drängen auf eine Befriedigung der Bedürfnisse. Ist dieses Ziel im Rahmen der bestehenden Gesellschaftsordnung nicht zu erreichen, dann treten Abänderungsbestrebungen auf, die zu einer Umgestaltung der Gesellschaft führen. Andererseits geschieht es oft, daß die unter dem irreführenden Einfluß sozialer Machtfaktoren erfolgten Anpassungen bestehende Knechtschaft und Unterdrückung noch verschlimmern.

Die scharfe Unterscheidung zwischen Keim- und Somoplasma ist auch eine Abstraktion, der nicht einmal der Rang eines Erfahrungssatzes zukommt. Dieser Dualismus enthält ein Werturteil, weil das Somaplasma als vergänglich, das Keimplasma sozusagen als unsterblich aufgefaßt wird. Es ist eine moderne Auffrischung der Seelen-Leib-Theorie und des Unsterblichkeitsglaubens, eine Reaktion gegen die Abstammungslehre DARWINs, welche die herrschenden metaphysischen Abstraktionen erschütterte. Die Lehre von der Nichtvererblichkeit der erworbenen Eigenschaften ist das Produkt politischer Einflüsse; GOLDSCHEID und KAMMERER haben vollständig recht, wenn sie diese das reaktionärste Prinzip bezeichnen, das sich denken läßt.

4. Der Kampf ums Dasein. Auch dieses Prinzip ist kein allgemeingültiges Naturgesetz, sondern eine Abstraktion, die den Unterschied zwischen natürlichem und künstlichem Milieu vernachlässigt. Während im ersteren die Anpassung nur durch eine Veränderung der körperlichen Struktur geschieht, geht sie im letzteren durch eine Vervollkommnung der technischen Mittel, des sozialen Zusammenwirkens und der wissenschaftlichen Abstraktionsmethode vor sich. Durch richtigere Begriffe und Naturgesetze behauptet sich eine Menschengruppe viel sicherer als eine andere, der nur der lange Weg der körperlichen Veränderung gangbar ist.  Die natürliche und geschlechtliche Zuchtwahl wird durch die sozialen Machtverhältnisse, die Klassengliederung und die bestehende Gesellschaftsordnung erheblich beeinflußt, sogar verfälscht.  Die zunehmende soziale Differenzierung verwirrt das Orientierungs- und Abstraktionsvermögen der unteren Volksklassen. Die "sozial" Stärkeren, die über die Machtmittel der Gesellschaft verfügen, bleiben Sieger im Kampf ums Dasein, in dem sie unbedingt unterliegen müßten, wenn sich dieser Kampf in einem unverfälscht natürlichen Milieu abspielen würde.

5. Sozialphysiologie. Unsere Sinnesorgane sind eigentlich Abstraktionsapparate, die durch die Beseitung der großen Masse von Einwirkungen ein von der Struktur der Organe bedingtes Weltbild schaffen (F. A. LANGE). Die Tätigkeit der Sinne ist lebenserhaltend. Sie reagieren auf die äußeren Einwirkungen und regen entsprechende Handlungen an. Die Sinnesempfindungen geben die Grundlage für die Bildung der Begriffe ab. Die Struktur der Sinnesorgane ist zuerst das Ergebnis der philogenetischen Entwicklung, sie wird durch das natürliche Milieu determiniert. Gehör und Gesicht, Geruch- und Tastsinn, Hautsinn, die kinästhetischen [die Bewegung kontrollierenden - wp] Empfindungen usw. sind Produkte der kosmischen und tellurischen Auslese. Die Sinnestätigkeit und infolgedessen die Abstraktionsfähigkeit der Gebirgs-, Wüsten-, Tropen- und Polarvölker sind grundverschieden. Astrologie und Astronomie entwickelten sich zuerst in Mesopotamien, wo sie einen verhältnismäßig hohen Grad erreichten, was außer de Bedürfnissen des großzügig betriebenen Karawanenhandels darauf zurückzuführen ist, daß die durchsichtige, dunstfreie Luft die scharfe Unterscheidung und Erfassung der Himmelskörper eher ermöglichte als die ungünstigere Atmosphäre des Abendlandes. Fernsehen und Nahesehen sind in Bezug auf ihre Abstraktionsprodukte grundverschieden, beim ersteren werden die Einzelheiten, beim letzteren die Zusammenhänge vernachlässigt.

Unsere Raum- und Zeitanschauung ist eine Abstraktion, sie entspringt unseren Sinnesempfindungen, gestaltet und modifiziert durch den Einfluß der vererbten und erworbenen Begriffe. Den uns vertrauten Raum betrachten wir als dreidimension und euklidisch, unsere Sinnesempfindungen sind es ursprünglich nicht. Die geometrischen Vorstellungen sind uns dermaßen geläufig, daß wir diese überall als selbstverständlich in die Empfindungen hineintragen (MACH). Das gleiche Verhältnis besteht zwischen den Zeitempfindungen und der metrischen Zeit.

Die Dreidimensionaliät des Raumes ist eine Abstraktion von großer Zähigkeit, weil sie sich erfahrungsgemäß im Kampf ums Dasein bei der Erfassung der Wirklichkeit bisher gut bewährt habt, daher ist sie uns gewissermaßen aufgezwungen. Diese Zähigkeit hängt - wie wir später noch sehen werden - mit dem Umstand zusammen, daß die Dreidimensionalität und Absolutheit des Raumes auf das innigste it den, vom Standpunkt der Gesellschaftsordnung aus wichtigen Abstraktionen verflochten sind. Die jetzige Raumanschauung ist ein Anpassungsprodukt. Die Anpassung an die Wirklichkeit hätte möglicherweise auch mit Hilfe einer anderen, etwa einer zwei- oder mehrdimensionalen Raumanschauung erfolgen können. Wahrscheinlich hätten sich diese nicht so gut bewährt wie die dreidimensionale, sie wären weniger "bequem" gewesen. Fassen wir folgende Möglichkeiten ins Auge: Es gäbe zweidimensionale Wesen, die die Unterscheidung oben-unten, den Begriff der gekrümmten Fläche nicht kennen, oder mehrdimensionale Wesen, denen der gekrümmte Raum anschaulich vorstellbar ist, schließlich unbewegliche Wesen, welche die Ortsveränderungen der anderen Körper nicht als Veränderungen der Lage, sondern die des Zustandes deuteten.  Dann hätten alle diese nichteuklidischen Wesen andere Sinnesempfindungen, andere Abstraktionen, Begriffssysteme, Weltanschauung und Gesellschaftsordnung als wir. 

Die Anhänger gewisser Geheimwissenschaften besonders die Spiritisten glauben an die übersinnlichen Fähigkeiten bestimmter mediumistisch angelegter Menschen. DUPREL gibt dieser Auffassung eine breitere, wissenschaftlich begründete Grundlage. Nach ihm gibt es keinen Organismus, der der Totalität der Natur, allen Ätherschwingungen angepaßt wäre. Gelänge es, diese Anpassungen reichhaltiger zu gestalten, dann ergäben sich andere Beziehungen zur Natur, andere Weltbilder und Abstraktionen. Die jetzt getrennten Weltbilder würden dann ineinanderfließen, nach DUPREL könnte jedes Wesen, sowohl dem Jenseits als auch dem Diesseits angehören. Es ist unbestreitbar, daß im menschlichen Organismus noch Kräfte und Anlagen von erstaunlicher Ausdehnung und Mannigfaltigkeit schlummern, die noch nicht genügend verwertet sind (EDUARD von HARTMANN, DESSOIR). Die Ausbildung derselben würde den Abstraktionsprozeß grundlegend verändern, jedoch erst, wenn sich diese Umbildung nicht auf einzelne Medien beschränken, sondern auch die großen Massen ergreifen möchte.

Wir können auch von einer  sozialen Sinnestätigkeit  sprechen, da unsere Begriffe und Instrumente den physiologischen Prozeß der Sinneswahrnehmung modifizieren, verbessern, schärfer und anpassungsfähiger gestalten. Das Mikroskop und Teleskop können als  soziale Augen  gelten, die eine grundlegende Umwälzung der Wissenschaften hervorgerufen haben.  Jede Vervollkommnung der Instrumente bringt eine anders gerichtete Abstraktionstätigkeit, andere Merkmale werden hervorgehoben und vernachlässigt.  Die Erfassung ultrasinnlicher Eigenschaften durch Apparate, die Entwicklung der Röntgenologie und der Radiumtechnik sind wichtige Beispiele dafür. Die Entwicklung der Mikrotechnik befähigte PASTEUR den Nachweis zu führen, daß kein Leben aus anorganischen Stoffen entstehen kann und so mit der Theorie der Urzeugung aufzuräumen. Infolge unvollkommener Beobachtungen wurde früher das Vorhandensein organischer Keime vernachlässigt, die das unbewaffnete Auge nicht wahrnehmen konnte.

POINCARÉ wiederholt einen bekannten Ausspruch, daß, wenn TYCHO zehnfach genauere Instrumente gehabt hätte, so würde es keinen KEPLER, keinen NEWTON gegeben haben und fügt hinzu: "Es ist für die Wissenschaft ein Unglück zu spät geboren zu werden, nachdem z. B. die Beobachtungen zu genau geworden sind." Wir können diese Meinung nicht eilen. Es könnte der Menschheit nur zum Vorteil gereichen, wenn der wissenschaftliche Fortschritt in einem schnelleren Tempo vor sich ginge. Es hätte vielleicht noch größere Genies als KEPLER und NEWTON gegeben, die weniger im Bannkreis der überlieferten Abstraktionen befangen gewesen wären.

Unsere Sinne sind Abstraktionsapparate, sie vermitteln nur relative Erkenntnis. Wird der Abstraktionsvorgang durch einseitige psychische Einflüsse determiniert, so ist zu befürchten, daß diese Einwirkung die Sinneswahrnehmungen einseitig verändern, umdeuten und verfälschen wird. Diese Gefahr liegt umso näher, weil das Denken auch eine Produktion auf Vorrat ist (JERUSALEM), zwischen der Deutung und der Verwertung der Eindrücke schaltet sich eine größere Wartezeit ein. Wie die psychischen Einflüsse wirksam sind, darüber müssen wir nun berichten.


III. Die psychologischen Grundlagen der Abstraktion

1. Die soziologische Bedingtheit der psychischen Vorgänge. Die individualpsychologische Richtung vertritt den Standpunkt, daß die typischen Unterschiede des individuellen Bewußtseins, des Temperaments und des Charakters den Denkprozeß entscheidend beeinflussen. Sie abstrahiert davon, daß diese Unterschiede - mögen sie in der isolierten Betrachtung noch so hervorteten - auch soziologisch bedingt sind (so verfährt z. B. das grundlegende Werk von KARL JAPSPERS über die "Psychologie der Weltanschauungen") und in den Hintergrund treten, wenn man geschichtliche Tendenzen und Gesetzmäßigkeiten festzustellen sucht. Die Rationalisten und KANT wieder stützen sich auf die Tatsache, daß die psychophysische Organisation der Menschen eine sehr hohe Übereinstimmung zeigt und machen dieselbe zur Grundlage der Apriorität des Denkens und Erkennens. Sie gehen von einer Abstraktion aus; diese Übereinstimmung ist nur eine sehr weitgehende Ähnlichkeit, keineswegs aber eine allgemeingültigt-notwendige Identität; sie vernachlässigen daher sowohl die individuellen Unterschiede als auch die Abweichungen, welche unter der Einwirkung sozialer Faktoren entstanden sind.

Zwischen diesen beiden Richtungen steht die Völkerpsychologie, welche diejenigen geistigen Vorgänge hervorhebt, die Erzeugnise einer größeren menschlichen Gemeinschaft sind. Der Träger der geistigen Vorgänge ist nicht mehr das Individuum oder der abstrakte Mensch, sondern das Volk, die Nation, die Rasse. Besonders die Rassenpsychologie hat in den letzten Jahrzehnten, durch die politische Reaktion unterstützt, einen raschen Aufschwung erlebt. Der Begriff der Rasse ist eine Abstraktion mit einer äußerst schwankenden Grundlage. Als ihr entscheidendes Merkmal werden bald die Sprache, bald die anthropologischen Eigenschaften, bald der Charakter oder der Geist hervorgehoben, mit gleichmäßig gewaltsamer Unterdrückung der zuwiderlaufenden Merkmale. Weniger gewaltsam sind die Begriffe des Volkes und der Nation, doch auch diese vernachlässigen Tatsachen, die bei der Gestaltung des sozialen Lebens von grundlegender Bedeutung sind.

Jede Gesellschaft, jede Nation spaltet sich in mehrere Klassen, die sich voneinander nicht nur in Bezug auf ihre wirtschaftliche Rolle, sondern auch in ihrer Denkweise und Weltanschauung dermaßen unterscheiden, daß es  eine übertriebene Abstraktion ist, die Gesellschaft, die Nation oder das Volk als einen einheitlichen Begriff zu betrachten.  Auch MARX rügt an FEUERBACH, daß er, indem er das religiöse Wesen in das menschliche auflöst, den Umstand vernachlässigt, daß das menschliche Wesen kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum, sondern in seiner Wirklichkeit das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse ist.

In einer längeren Abhandlung (Verhüllung und Enthüllung", Kampf der Ideologien in der Geschichte, Grünberg, Archiv für die Geschichte des Sozialismus, 1922) habe ich eingehender ausgeführt, daß die führenden Ideologien und Einrichtungen der Gesellschaftsordnung einen absoluten und apriorischen Charakter besitzen. Durch ihre überragende Bedeutung ist das menschliche Denken größtenteils in absolutistischen und apriorischen Vorurteilen befangen. Es werden sowohl im gewöhnlichen als auch im wissenschaftlichen Denken die dieser Tendenz entsprechenden Bewußtseinsinhalte hervorgehoben, die zuwiderlaufenden vernachlässigt.

Im Kampf der Ideologien winkt der Sieg jener Idee, die über den stärksten sozialen Rückhalt und über die sicherste Machtgrundlage verfügt.  Nach den Wechselfällen dieses Kampfes ändern sich die Geistesrichtungen und Weltanschauungen, die letzten Endes den Verlauf des Abstraktionsvorganges bestimmen.

Die Erkenntnisse, Werturteile und Zwecksetzungen sind Produkte der Vergangenheit und des Milieus, die besonders im Unterbewußtsein fest verankert sind. Der Einfluß dieser Faktoren ist erheblich größer als der eigener Erfahrungen. Es gibt keine geistige Tatsache, die nicht durch irgendeine schon vorhandene Kultur bedingt wäre (BERNHEIM). SPENGLERs hochinteressantes Werk "Der Untergang des Abendlandes" liefert ein typisches Beispiel für die Vernachlässigung der oben hervorgehobenen Tatsachen. Er teilt die Geschichte in morphologische Epochen ein, jede Kultur besitzt nach ihm eine eigene und einzige Grundform, eine eigene Schicksalsidee, die keine Fortsetzung der vorausgegangenen ist. Diese Methode - eine soziologische Neuauflage der CUVIERschen Katastrophentheorie - beruth auf einer höchst gesteigerten Abstrakton. Zwei Gruppen von Tatsachen werden mit der äußersten Folgerichtigkeit unterdrückt. Erstens die philogenetische Entwicklung, die Vererbung, die Identität des natürlichen Milieus, die geistigen Auswirkungen der Vergangenheit, welche die Kontinuität der geschichtlichen Entwicklung dermaßen sichern, daß keine Kultur als von den vorausgehenden unabhängig betrachtet werden kann. Ebenso irrig ist seine Auffassung über die Einheitlichkeit einer bestimmten Kultur. Sie läßt außer acht den Umstand, den wir folgendermaßen formulieren möchten:  quot classes, tot ideologiae [Soviele Klassen, soviel Ideologie - wp] Herrschende Klasses und Proletariat haben in jeder Kultur eigene "Schicksalsideen", die voneinander mehr abweichen als von irgendeiner der früheren Epochen.

Diese allgemein gefaßten Bemerkungen wollen nur zur Kennzeichnung des eigenen Standpunktes dienen. Die Beweisführung wird durch die nachfolgenden Erörterungen versucht.

2. Ziele und Motive des Denkens. Die Abstraktion ist eine "zweckrationale" (MAX WEBER) Wahlhandlung, die teils bewußt, teils triebartig vor sich geht.  Die Zwecke und Motive des Denkens bestimmen, welche Elemente hervorgehoben oder vernachlässigt werden. 

Auf primitiver Stufe dienen das Denken und die Begriffsbildung rein utilitarischen Zwecken. Das auf diese Weise entstandene, natürliche, richtiger "gewöhnliche" Weltbild, mit seinem Begriffssystem gibt nur eine erste Annäherung ab, die durch die Wissenschaft allmählich verfeinert wird, d. h. vernachlässigte Elemente in Betracht gezogen und bisher bevorzugte unterdrückt werden, womit wir keineswegs behaupten wollen, daß diese "Verfeinerung" in jedem Fall einen Fortschritt bedeutet.

Auf niederen Kulturstufen wird das Verhalten und Denken der Menschen vornehmlich durch den  Nahrungstrieb  beeinflußt, der sich allmählich zum  wirtschaftlichen Trieb  entwickelt. Die Unterscheidung der Gegenstände und Vorgänge, ihre begriffliche Festlegung und Einteilung richtet sich nicht mehr danach, ob dieselben für die unmittelbare Stillung des Hungers geeignet sind, sondern hängen davon ab, ob und in welchem Maß sie im Produktionsprozeß zu verwerten sind. Der Denkzweck verschiebt sich aus der unmittelbaren Nähe in einen zeitlich weiter liegenden Abschnitt. Diese Verlegung beeinflußt entscheiden die Auswahl der Merkmale.

Alle Wissenschaft entsteht entweder zu praktischen Zwecken oder zur Beseitigung des intellektuellen Unbehagens (MACH). Die praktischen Zwecke und Aufgaben, die die Wissenschaft zu lösen hat, variieren nach  Zeit, Gesellschaft  und  Klassen.  Ebenso verschieden ist das intellektuelle Unbehagen. In den Ländern des Hochkapitalismus fühlen viele Wissenschaftler dieses Unbehagen, wenn sie die Fragen, die an sie die stürmisch fortschreitende industrielle Produktion in der Chemie, Elektrodynamik, im Flugwesen usw. gebieterisch stellt, nicht beantworten können. In einer Zeit, wo die theologische Auffassung unumschränkt herrschte, fühlte man Unbehagen, wenn man nicht alle Vorgänge mit den Kirchenlehren in Einklang bringen konnte, in der Aufklärungszeit wendete man sich mit dem größten Behagen gegen diese Lehren.

Es werden dem bewußten oder instinktiven Denkzweck entsprechend verschiedene Elemente hervorgehoben und vernachlässigt.  In der Blütezeit der Alchemie war man blind gegen alle Erscheinungen, die nicht die Verwandlung der Metalle in Gold betrafen. Allmählich kam die Ernüchterung; man sah die Unlösbarkeit der Aufgabe ein und aus den bisher vernachlässigten Tatsachen erwuchs die moderne Chemie. Die mechanistische Naturwissenschaft forschte unausgesetzt nach wirkenden Ursachen, nach verborgenen substantiellen Kräften und vernachlässigte, unterdrückte sogar hartnäckig alle Tatsachen, welche die Unhaltbarkeit dieses Standpunktes kundgaben. Die teleologische Geschichtsauffassung - vielfach eine modernisierte Auflage der theologischen, - ist immer bereit, nur diejenigen Ereignisse hervorzuheben, welche die Herrschaft der Zwecke bekräftigen.

Die Motive der abstraktiven Denkhandlung sind Werturteile.  Die Maßstäbe der Wertung, die Hierarchie der Werte, besonders aber die obersten Werte sind immer soziale Produkte  und hängen mit der bestehenden Gesellschaftsordnung zusammen. Diesem Umstand ist es zuzuschreiben, daß ethische Bewertungsmomente in die Erkenntnistheorie und Naturwissenschaft hineingetragen wurden. Die Unterscheidungen Leib-Seele, Vernunft-Sinnlichkeit, Geist-Natur usw. anfänglich Abstraktionen des erkennenden Subjekts, werden zu sittlichen Gegensätzen und Wertmaßstäben. Dieser Umstand stärkt die Neigung, alle Erfahrungen zu vernachlässigen, welche diese fremde Invasion aufzudecken vermögen. Solange die Theologie die Wissenschaften in ihrem Bann hält, werden ihre Werturteile auf die alltäglichsten Naturereignisse übertragen. In der griechischen Naturwissenschaft sind Himmel und Erde kugelrund, die Sternenbahnen kreisförmig, weil sie als göttliche Körper vollkommen sein müssen; die vervollkommensten Gestalten sind aber die Kugel und der Kreis. Die Griechen glaubten, daß ein sich selbst überlassener Körper die vornehmste aller Bahnen, die kreisförmige beschreibt. Welch gewaltiger sozialer und geistiger Umwälzungen bedurfte es, ehe GALILEI auszusprechen wagte, daß diese Bahn eine geradlinige ist. Und welche weitere Umwälzung und tiefgehende Erschütterung des Absolutheitsprinzips mußte wieder auf allen Gebieten des sozialen Lebens erfolgen, bis unter Hervorhebung vernachlässigter Erfahrungen die relativistische Ansicht aufkam, daß die Trägheitsbahn als eine geodätische [theoretisch kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten auf gekrümmten Flächen - wp] Linie zu betrachten ist.

Das Prinzip der kleinsten Wirkung, der Glaube an die Einfachheit der Natur, der Ausspruch:  natur non facit saltus [Die Natur macht keine Sprünge. - wp], mögen sie in neuerer Zeit in rationalistischer, biologischer oder ökonomischer Einkleidung erscheinen, sind Werturteile und Überreste der theologischen Auffassung. Der anthropomorphen Denkweise entspringend sind sie ohne Zweifel wertvolle heuristische Mittel. Ihre absolute Herrschaft läßt sich nur so erklären, daß sich die Theologie ihrer bemächtigt hatte und diese Thesen auf die Weisheit Gottes zurückführte. Nur der ungeheuerliche Druck dieser Verknüpfung kann erklären, daß die gegenteiligen Erfahrungen solange und hartnäckig vernachlässigt wurden. Überhaupt, was als  einfach  oder  kompliziert  zu betrachten ist, wechselt in der Geschichte der Wissenschaften, hauptsächlich nach der technischen Vollkommenheit der Forschungsmittel.

3. Ökonomie des Denkens. Dieses Prinzip ist ein zeitgenössisches Produkt; es konnte nur in einer Zeit zur allgemeinen Geltung gelangen, in der die Ökonomisierung der Produktion, die Herabsetzung der Betriebskosten zum höchsten sozialen Gebot geworden ist. Früher betrachtete man das Denken als ausschließlich dem logischen Gebiet angehörend und die Wissenschaft hätte sich entrüstet dagegen aufgelehnt, wenn ihr solche banausische Absichten zugemutet worden wären. Man vernachlässigte daher alle diejenigen Momente, welche die ökonomische Tendenz des Denkens verrieten. Erst nachdem der Siegeszug des Kapitalismus die Aufmerksamkeit auf anderen Gebieten auf diese Frage lenkte, wurden sie hervorgehoben und zu einem logischen Prinzip vereinigt. Die Rangordnung wurde umgekehrt und nun besteht bei vielen Denkern die gegenteilige Bestrebung von den nicht-ökonomischen Denktätigkeiten vollständig zu abstrahieren. Dieses Prinzip wird auch darwinistisch gedeutet als natürliche Zuchtwahl im Kampf, der zwischen den verschiedenen Abbildungen derselben Tatsachen stattfindet. Die natürliche Zuchtwahl ist auf sozialem Gebiet erheblich eingeengt. Es ist nicht immer die passendste, die den Kampf der verschiedenen Abbildungsmodalitäten überlebt. Die Geschichte der menschlichen Irrtümer liefert dafür unzählige Beweise.

4. Das Begreifen. Alles Denken besteht in Vergleichen und in einer Zurückführung der neuen Vorstellungen auf bekannte Vorstellungsgebilde. Die begriffliche Festlegung und Benennung muß sich dieses Vorgangs bedienen, weil aus denkökonomischen Gründen nicht jede Vorstellung durch ein allein ihr zugeordnetes Wort ausgedrückt werden kann. Dieser Vorgang entspricht dem biologischen Bedürfnis nach Stabilität und Sicherheit des Denkens, was besonders dadurch erreicht wird, daß die Charakteristik des Vertrauten, Gewissen, Selbstverständlichen vom Alten auf das Neue übergeht (PETZOLDT).

Dieser Vorteil wird meistens teuer erkauft, da die Gefahr besteht, daß jeder neue Eindruck durch die Zurückführung assimiliert oder verfälscht wird. Vergleichen und Subsumtion bewirken, daß bei der Deutung einer neuen Vorstellung und bei ihrer begrifflichen Klassifizierung grundlegende, dem alten Begriff widersprechende Momente vernachlässigt werden müssen. So wiederholt sich der Fehler, der beim ersten Abstraktionsprozeß, bei der Bildung des alten Begriffs begangen wurde, unausgesetzt. Es muß der neue Eindruck überwältigend, jedem bisher Bekannten zuwiderlaufend sein, daß er seine Selbständigkeit trotz des Vergleichens bewahrt und sich durchsetzt.  Das Bekannte ist die Vergangenheit, das Neue die Gegenwart.  Auf allen Gebieten des sozialen Lebens vergewaltigt die Vergangenheit die Gegenwart mit Hilfe der eingefleischten Werturteile. Schule, Kirche, die Preisse der jeweils herrschenden Klasse trachten die Menschen in blinder Verehrung der Vergangenheit zu erziehen. Nur in solchen Zeiten, wo die bestehende Ordnung erschüttert ist, ändert sich das "soziale" Sehen der Menschen; überall, wo sie bisher Ähnlichkeiten sahen, erblicken sie nun Unterschiede und Gegensätze, sie befreien sich von der Perspektive der Vergangenheit.

Aus denkökonomischen Rücksichten und unter dem Druck des Stabilitätsbedürfnisses werden bei diesem Vergleichen die konstanteren Merkmale den weniger beständigeren gegenüber hervorgehoben. Auch dieser Vorteil wird meistens dadurch aufgewogen, daß die überlieferten Ansichten bestimmen, welche Merkmale als konstant und ursprünglich anzusehen sind. Früher betrachtete man die militärischen, kirchlichen und juristischen Einrichtungen als Grundlage des staatlichen Lebens. Es mußte der Wirbelwind der französischen Revolution mit allen ihren Folgeerscheinungen kommen, bis endlich die Erkenntnis und zwar zuerst bei SAINT-SIMON durchbrach, daß die ökonomische Struktur, die trotz des Wechsels zahlreicher Verfassungen eine große Beständigkeit aufwies, als Grundlage der Gesellschaft anzusehen ist (TROELTSCH).

5. Der Anthropomorophismus führt auch Neues, Unbekanntes auf Bekanntes zurück. Der Mensch kann nur sich selbst erfassen, jede neue Vorstellung, jeder neue Eindruck und Gegenstand wird ihm dadurch vertraut und selbstverständlich, daß er sie auch sich bezieht. Alle Merkmale, welche das Gefühl der Vertrautheit nicht erwecken können, vernachlässigt er mit Vorliebe.

Auch die exakten Wissenschaften wimmeln von anthropomorphen Begriffen und Anschauungen.  Die Mechanik führt alle Bewegungsvorgänge auf Druck, Stoß und Zug zurück, weil eben den Menschen diese Betätigungen die vertrautesten sind. Der Kraftbegriff, die Anziehung, die Bewegung überhaupt, sind anthropomorphen Ursprungs. Die kinetische Gastheorie, den Laien durch ihre mathematische Einkleidung schwer verständlich, beruth auf sehr naiven Anthropomorphismen. Die Lebenskraft,  vis vitalis,  gelangte in der letzten Zeit und zwar in den modernsten Wissenschaften (Physiologie, Biochemie) wieder zur Geltung. Dieser Neovitalismus ist allerdings als Reaktion gegen den Materialismus erklärlich, der infolge seiner politischen Auswirkungen, besonders durch seine kirchenfeindliche Haltung, in konservativen Kreisen den heftigsten Widerspruch auslöste.

Anthropomorphismus ist ein unverwüstlicher Hang des menschlichen Denkens; doch er kann erst dann nützliche Dienste leisten, wenn er  bewußt  betrieben wird. Nur in diesem Fall besteht die Möglichkeit, daß die vernachlässigten Elemente wieder zum Vorschein kommen. Zur Zeit der Bildung der herrschenden Begriffe war die Kenntnis des Menschen von sich selbst und über sein Verhältnis zur Umwelt eine sehr primitive. Ähnlichkeiten, die damals als schlagend erschienen, würden heute als sehr naiv, unzutreffen, sogar als nicht vorhanden betrachtet werden, heute würde man bestimmt von den damals hervorgehobenen Merkmalen abstrahieren.  Die Anpassung des Anthropomorphismus an den heutigen Stand der Erkenntnis  ist eine äußerst wichtige wissenschaftliche Forschung.

Die grundlegenden Begriffe des sozialen Lebens sind alle Anthropomorphismen,  primitive personifikative Abstraktionen: Gott, Himmel und Hölle, Teufel und Engel, weiters der Staat, die Rechtsordnung (KELSEN), das Vaterland, die führenden philosophischen Begriffe, z. B. Seele, Geist, Ding-ansich, Wille. und trotz seiner abstrakten Erhabenheit, das Absolute von HEGEL. Diese Begriffe könnten eine Modernisierung im obigen Sinne sehr wenig vertragen, die meisten würden nicht einmal die Operation überleben. Ihr immenses Beharrungsvermögen wirkt auf allen Gebieten des menschlichen Wissens hinderlich.

6. Wissenschaft. Der Vorrat des Wissens ist unübersehbar, der Durchschnittsmensch kann es nicht beherrschen und muß sich der Autorität der Berufeneren anvertrauen. Der Fachgelehrte befindet sich in Fragen, die über sein Fach hinausgehen, in derselben Lage. Jede Wissenschaft kann nur durch ein geduldiges und hartes Studium angeeignet werden; fehlt es dem Schüler an kritischem Sinn, dann nimmt er alle Begriffe und Sätze als selbstverständlich an. Die Autorität der Wissenschaft fußt meist nicht auf der überzeugenden Kraft des mitgeteilten Wissens, sondern  auf der Distanz, der Unnahbarkeit, auf dem Esoterischen,  kurz: auf solchen Umständen, die auch den meisten sozialen Einrichtungen Ansehen und Prestige verleihen. Die Mathematik verdankt ihre Autorität nicht nur dem Umstand, daß der Mensch sich mit ihrer Hilfe in der Natur zurechtfinden kann, sondern auch dem, daß sie infolge ihrer komplizierten Symbolsprache den Massen unzugänglich und in ihren Augen von einem mystischen Schimmer umwoben ist.

Die Wissenschaft ist in ihren psychologischen Auswirkungen immer ein sozialer Faktor,  sie began sich erst in einem Zeitalter zu entwickeln, wo die Elemente der noch heute bestehenden Gesellschaftsordnung bereits gegeben waren. Diese Gesellschaftsordnung besitzt einen überwiegend absolutistisch-apriorischen Charakter und baut sich auf dem Herrschaftsprinzip auf. Die Pflege der Wissenschaften oblag solchen Gruppen, die entweder der herrschenden Klasse angehörten, oder ihre Geschäfte besorgten, meistens dem Priestertum. Die Massen wurden entweder vom Wissen ganz ausgeschlossen. Was sie überhaupt bekamen, wurde ihnen von oben her vielfach in desinfizierter Zubereitung verabreicht. Noch heute unterscheidet sich die Wissensmaterie, die den Massen verabreicht wird, vollkommen von der, welche sich die besitzenden Klassen und der intellektuelle Mittelstand aneignen können. Dieser Zusammenhang wird meist geleugnet und man behauptet die Notwendigkeit und Existenz einer "reinen" Wissenschaft, der Wissenschaft und der Wissenschaft willen. Dies ist aber eine  irreführende Abstraktion.  Bereits TOLSTOI erklärte sie für ein Unding, weil wir nicht alle Tatsachen kennen können und daher eine Auswahl notwendig ist. Die Frage ist nur, von welchem Standpunkt aus diese Wahl vorgenommen werden soll.

Zuerst entwickelte sich jede Wissenschaft unter dem Druck der  praktischen  Bedürfnisse des Lebens, das dem menschlichen Geist immer neue Probleme aufdrängt. Auch die religiösen und politischen Bedürfnisse waren von jeher stärker als die wissenschaftlichen. Mögen die grundlegenden wissenschaftlichen Ansichten welchen Ursprung sie auch immer gehabt haben, ein dauernder Bestand war bisher nur denjenigen beschieden, die zur Gesellschaftsordnung nicht im Gegensatz standen.

Der überwiegend apriorische Charakter der Wissenschaften ist außerdem einem anderen Umstand zuzuschreiben. Die Theologie lieferte eine vollständige Weltanschauung, ein lückenloses Weltbild, erklärte jede neue Erscheinung mit der größten Leichtigkeit. Um diese Konkurrenz bewältigen zu können, waren die Wissenschaften und besonders die Philosophie gezwungen, auch eine  Universalität  anzustreben, die nur durch eine übermäßig gesteigerte Abstraktion zu erzielen war. Der Rationalismus, die kantische Transzendentalphilosophie, in letzterer Zeit die monistischen Systeme von HÄCKEL und OSTWALD, alle sind dieser Versuchung verfallen.

Es besteht eine  Wechselwirkung  zwischen den einzelnen Wissenschaften; bestimmte Abstraktionen, wie auch gewisse Arten des Abstraktionsvorganges werden übernommen. Die Führerrolle fällt in verschiedenen Zeiten verschiedenen Wissenschaften zu. Früher war die Theologie alleinherrschend. Später errangen sich die Naturwissenschaften und zuletzt die Nationalökonomie einen entscheidenden Einfluß. Die Medizin lag im Mittelalter ganz im Bann der Theologie und Astrologie, heute ist sie naturwissenschaftlich orientiert. Die Fortschritte der Mechanik bewogen DESCARTES, ihre Hilfsmethoden und Abstraktionen auf die organischen Vorgänge anzuwenden. Die Biologie gewinnt heute einen täglich wachsenden Einfluß auf die Physik, was hauptsächlich MACHs Verdienst ist und den Weg zur EINSTEINschen Relativitätstheorie ebnete. Neue Perspektiven eröffnen sich, bisher vernachlässigte Momente und Tatsachen drängen sich auf. Im System der Differentialgleichungen mit mehreren Variablen schuf sich die Naturwissenschaft die Mittel, diese Tatsachen, die bisher infolge ihrer Winzigkeit vernachlässigt werden mußten, vollständig auszuwerten, andererseits wurde die Vervollkommnung dieses Mittels durch das nicht mehr unterdrückbare Hervortreten dieser Elemente - was eine Folge der geänderten Einstellung und Perpektive war - erheblich beschleunigt.

7. Autorität. Sie beruth auf einen Glauben, der immer gewillt ist, Beziehungen in den Vordergrund zu rücken, höchst wichtige, doch ihm zuwiderlaufende Tatsachen zu unterdrücken. Die Geschichte der Wissenschaften im Mittelalter ist ein Leidenswege; der Dreibund  Bibel, Kirchendogmen, Aristoteles  machte die selbständige Forschung unmöglich. Jahrhunderelang wurden Tatsachen immer gleichmäßig beobachtet, Eperimente fielen immer gleich aus.  Selbst den eigenen Sinnen wollte man nicht glauben, wenn ihre Zeugenschaft den autoritären Wahrheiten widersprach.  Es ist eine bekannte Tatsache, daß der Jesuitenprior, als Pater SCHREINER ihm die Entdeckung der Sonnenflecken meldete, antwortete, daß darüber im ARISTOTELES nichts zu lesen ist, daher nur ein Beobachtungsfehler vorliegen kann. Erst, nachdem die Alleinherrschaft der Theologie erschüttert wurde, sah man anders. GALILEI gab diesem Gedanken Ausdruck, als er im Vorwort seines grundlegenden Buches sagte: Wir bringen über einen sehr alten Gegenstand eine neue Wissenschaft; denn die durch ihn aufgestellten Gesetze beziehen sich auf Tatsachen des alltäglichen Lebens, die jeder Mensch hätte richtig beobachten können.

Einen ebenso nachhaltigen Einfluß übte im Mittelalter die  Astrologie  aus, welche die Naturwissenschaften und besonders die Medizin beeinflußte. Sämtliche Naturvorgänge und körperliche Veränderungen wurden von der Stellung der Himmelskörper abhängig gemacht, alle Wahrnehmungen in einem astrologischen Sinn gedeutet. Die Lehre von den kritischen Tagen, die von HIPPOKRATES und GALENUS stammt, verführte die Ärzte, daß sie mehr die Himmelskörper als die körperlichen Zustände beobachteten. Die ungünstigen Krankheitserscheinungen, welche an solchen Tagen auftraten, die nach der Konstellation der Gestirne als günstig galten, wurden vernachlässigt. F. A. LANGE sagt, daß es im Mittelalter zahlreiche Mediziner gab, die eine Leibesfrucht von sieben Monaten für eher lebensfähig hielten als eine von acht Monaten, weil den siebenten Monat der milde Mond, den achten aber der Verderben bringende Saturn regiert. Solche Feststellungen galten als Erfahrungstatsachen.

Die Autorität bestimmter wissenschaftlicher Systeme trägt oft dazu bei, den Fortschritt der menschlichen Erkenntnis zu hemmen.  Die Jatrochemie [von Paracelsus begründete chemische Heilkunst - wp] verdrängte die Alchemie und machte den Weg zur modernen Chemie frei. Durch ihre Lehre aber, daß sowohl die organischen als auch die nichtorganischen Körper aus drei Elementen (Schwefel, Quecksilber, Salz) bestehen, lenkte sie die Beobachtungen auf falsche Bahnen. Kaum um ein Jahrhundert später, als es GALILEI gelang, die Wissenschaft aus dem Joch der Kirchendogmen und des ARISTOTELES zu befreien, bildete sich bereits eine neue Autorität heraus, die NEWTONs. Obgleich er hoch über ARISTOTELES steht, sich ohne Spekulationen streng an die Erfahrung zu halten trachtet, wurde sein überwältigendes Ansehen später doch zum Hemmschuh, da auch er, viele Anhängsel der theologischen Auffassung in seine Theorie übernahm. Die Lehre von der unvermittelten Fernwirkung, besonders durch die Übertreibung seiner Schüler, zeitigte schädliche Folgen. Auch die Astronomen gewöhnten sich, Tatsachen, die nicht in das NEWTONsche System paßten, einfach zu vernachlässigen. Seine Lichtemissionstheorie unterdrückte mehr als ein Jahrhundert lang die Undulationstheorie von HUYGHENS, welche die optischen Erscheinungen besser zu erfassen vermochte.

Es ist das Schicksal jeder Autorität, daß sie einmal erschüttert wird und zusammenbricht.  In Revolutionsperioden fallen auch die wissenschaftlichen Dogmen,  weil die Menschen Mut fassen, sie mit den gesellschaftlichen Einrichtungen zugleich beiseite zu schieben. Die Revolutionen sind nur die eruptiven Schlußakte eines schon längst vor sich gehenden Vorganges. Die Macht der bisherigen Abstraktionen wird allmählich untergraben, die verdeckten Zusammenhänge werden enthüllt, das erschütterte biologische Stabilitätsbedürfnis verlangt vom Denken neue Begriffe, neue Hervorhebungen und Vernachlässigungen, um eine neue stabile Lage zu schaffen.

Die Umwälzung, die Revolution bedeutet immer die Änderung des Standpunktes, der Perspektive.  Die wissenschaftliche Leistung von MARX besteht darin, daß er in die Geschichtsbetrachtung neue Perspektiven, neue Bezugskörper hineinbrachte (FRIEDRICH ADLER). Es waren immer Tatsachen, die sich nicht mehr in das bestehende autoritäre Schema hineinpressen ließen und welche den Menschen neue Perspektiven aufdrängten. POINCARÉ nennt die X-Strahlen und das Radium die großen Revolutionäre, sie stießen die Dogmen der Atomtheorie und die grundlegenden Postulate der Mechanik um. Der ungeheure Fortschritt der Chemie nach LAVOISIER wurde dadurch herbeigeführt, daß die von den *Phlogistikern als Elemente angesehenen Körper als zusammengesetzt, zusammengesetzte Körper wieder als Elemente nachgewiesen wurden. Die künstliche Herstellung des Harnstoffes räumte mit der Legende der  vis vitalis  auf und eröffnete den Siegeszug der organischen Chemie. Die großen Erfolge FARADAYs stammen daher, daß er als Autodidakt des traditionellen Schulunterrichts nicht teilhaftig wurde und sich daher leichter von den herrschenden Abstraktionen losmachen konnte. Die EINSTEINsche Relativitätstheorie räumte mit der alten Auffassung, welche die Naturerscheinungen aus der Perspektive der absoluten Zeit und des absoluten Raumes betrachtet hat, auf. Sie konnte mit solcher Wucht nur in einer Zeit aufkommen, wo infolge grundstürzender Ereignisse der Glaube an jedwede überlieferte Autorität erschüttert war. Die Mathematiker quälten sich beinahe zwei Jahrtausende damit, das fünfte Postulat von EUKLID zu beweisen, bis endlich LOBATSCHEWSKIJ und BÓLYAI der Gedanke kam, eine neue Perspektive anzunehmen, daß dieses Postulat kein beweisbarer Satz, sondern nur eine Annahme, eine Definition ist, daher mehrere Geometrien möglich sind, die alle gleich richtig und widerspruchslos sind. Als der Feudalismus in Frankreich die Entwicklung der Wirtschaft hemmte und ihren Ansprüchen nicht mehr gerecht werden konnte, entstand eine neue Staatsphilosophie und Wirtschaftslehre mit neuen Perspektiven und zerstörte die alten Abstraktionen. Diese neuen Ideen wurden von der sozialistischen Theorie verdrängt und enthüllt, als der Kapitalismus und mit ihm der Sozialismus unaufhaltsam vordrang.

Jede Revolution, jede grundlegende Umwälzung wurde zugleich zum Massengrab politischer und wissenschaftlicher Abstraktionen und wird es auch in Zukunft sein.  Die Relativitätstheorie ist heute revolutionär, doch wäre es möglich, eine Überlichtgeschwindigkeit festzustellen, von der diese Theorie vollkommen abstrahiert, dann wäre sie überholt. Die Absichten und Vorurteile der Menschen können diesen Prozeß nur verzögern, doch nicht aufhalten. Die politische und wissenschaftliche Geschichte ist übervoll von  Kolumbus-Gestalten.  Meistens gehen sie aus, um Indien zu erreichen, doch müssen sie notgedrungen Amerika entdecken oder so ähnlich.

8. Aufmerksameit, Interesse, Gedächtnis. Infolge der  Enge des Bewußtseins  lassen sich nur verhältnismäßig wenige Inhalt mit Aufmerksamkeit erfassen. Aufmerksamkeit bedeutet Konzentration um eine  dominierende Vorstellung;  alle verwandten Vorstellungen werden hervorgehoben, die zuwiderlaufenden vernachlässigt oder unterdrückt. Diese dominierenden Vorstellungen sind bereits durch die Vererbung, das Milieu, durch den Einfluß der Religion, Wissenschaft und Gesellschaftsordnung gegeben, die apperzeptive Tätigkeit bewegt sich in dem durch diese geschaffenen Rahmen. Jede Steigerung einer bestimmten Geistestätigkeit muß notwendig zur Verringerung der anderen führen. Die religiöse oder metaphysische Abkehr von der Welt bedeutet zugleich die Abstrahierung von den bestehenden Zuständen, die Beschäftigung mit den Geheimwissenschaften zeitigt dasselbe Ergebnis. Alle diese Geistesrichtungen wirken autoritär, der Gläubige unterwirft sich den gottgewollten oder anerkannten Führern und nimmt ohne Kritik die von ihnen auferlegten Abstraktionen an.

Doch andererseits hat auch LAMPRECHT recht, wenn er von der  Weite des Bewußtseins  spricht; denn das Bewußtsein birgt reiche potentielle Möglichkeiten in sich, durch deren Hilfe das Denken mit den dominierenden Abstraktionen stets aufräumen kann. MÜLLER-LYER stellt das Gesetz der Bewußtseinserweiterung fest, das Bewußtsein erweitert und vertieft sich mit steigender Entwicklung immer mehr. Werden die alten Ideologien erschüttert, dann ist durch diese Erweiterung die Möglichkeit vorhanden, sie durch neue, gegenteilige zu ersetzen.

Das  Interesse  bestimmt, welchen Dingen und Vorgängen die Menschen ihre Aufmerksamkeit zuwenden. Der Mensch ist in erster Linie darum bemüht, seine Bedürfnisse zu befriedigen, sein Interesse ist vor allem durch diese Bestrebungen bedingt. Er hebt die nützlichen, angenehmen und bedeutungsvollen Vorgänge hervor, vernachlässigt die übrigen. Der Mensch ist aber auch diesbezüglich ein soziales Produkt,  die Überlieferung, Erziehung, die Autorität anderer bestimmen meistens, was ihm als nützlich oder schädlich erscheint.  diese Umstände bewirken, daß dem Menschen ein "Scheinegoismus" anerzogen wird, der sein Interesse lenkt. Religiöse Bauern erwarten gute Ernten, großen Viehzuwachse, die Vermeidung von Seuchen von dem durch ihre Gebete und Opfer beeinflußten göttlichen Willen, wenden ihr Interesse einzig den religiösen Handlungen zu und bleiben blind allen Vorgängen gegenüber, welche auf einen naturhaften Zusammenhang zwischen den erwünschten Resultaten und bestimmten nützlichen menschlichen Betätigungen hinweisen. Schwindet das religiöse Interesse, so wird der Weg zum intensiven Feldbau, zur Agrikulturchemie und Tierphysiologie freigemacht.

Meistens bestimmt das Interesse und der Geschmack der führenden Klassen, welchen Vorgängen eine besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden soll. PLATO war darüber, daß die Geometrie auf die Maschinenkunst angewendet und dadurch vom Unkörperlichen zum Sinnlichen herabgedrückt wurde. Die Überschätzung des Ästhetischen ist die Folge einer Auffassung, die nur die Lage der besitzenden Klassen, die Zeit und Muße für Kunstgenüsse übrig haben, berücksichtigt. Die großzügige Entwicklung der Physik ist eine Begleiterscheinung der Entwicklung des kapitalistischen Wirtschaftssystems. Die Lehren der Mechanik entwickelten sich aus den angesammelten Erfahrungen des Handwerks. Der Aufschwung der Gewerbetätigkeit beschleunigte die weitere Entwicklung der Mechanik, die Herausbildung der Manufaktur und der Fabrikbetriebe die Ausgestaltung der Wärmelehre (Dampfmaschine), endlich das Hervortreten des Überkapitalismus den Ausbau der Elektrodynamik und des Elektromagnetismus. Tatsachen und Vorgänge, denen früher kein Interesse geschenkt wurde, rücken jetzt in den Blickpunkt des Bewußtsein. Solange die unteren Volksklassen nicht in der Politik mitzusprechen hatten, wurden ihre Verhältnisse, ihr Schicksal vollkommen vernachlässigt. Seit dem Anwachsen ihrer Bedeutung ist  Sozialpolitik  Trumpf geworden.

Was von der Enge des Bewußtseins gesagt wurde, gilt auch vom  Gedächtnis Dieses bewahrt die Begriffe meist in ihrer abstrakten Beschaffenheit, losgelöst von der Vorstellungsgruppe, aus der sie hervorgehoben worden sind. Die Herrschaft der autoritären Ideologien ist darum so nachhaltig, weil die Menschen vergessen, wie sie zu ihren Anschauungen gekommen sind und auf welche Weise dieselben entstanden sind.

9. Gewöhnung, Erziehung. Der Mensch paßt sich an das natürliche und künstliche Milieu auch durch Begriffe und Sätze an, die später eine große Beständigkeit aufweisen. So entstanden die wichtigsten philosophischen Begriffe, wie Kausalität, Substanzvorstellung usw. Der "gesunde Menschenverstand" ist eine Sammelstätte durch  Gewöhnung  entstandener Abstraktionen, er dient nur als erste Annäherung, besitzt keine Absolutheit, sondern spiegelt immer den intellektuellen Grad, das Gemütsleben und die Interessen einer bestimmten Zeit, Gesellschaft und Klasse wider. Die durch Gewöhnung erworbenen Begriffe sind stabil und zählebig; was im Laufe der Entwicklung vernachlässigt wurde, liegt begraben, seine Auferstehung ist erschwert.

Das künstliche Milieu übt noch in einer anderen Beziehung eine Gewöhnung und Suggestion aus, es veranlaßt die Menschen zur  Nachahmung.  Diese geht immer auf autoritärer Grundlage vor sich, sie fußt auf Bewunderung und Anerkennung der Mächtigen, Vornehmen, Berufenen. Was diese hervorgehoben und vernachlässigt haben, wird lückenlos übernommen.

Jede  Erziehung  ist eine  Schematisierung,  sie kann nur einen Ausschnitt des Wissens und der moralischen Prinzipien geben. Die individuelle Erziehung bezweckt die verhüllten Anlagen des Kindes zum Vorschein zu bringen, welche die Gewöhnung vernachlässigt hat. Doch diese Tätigkeit bewegt sich selbst bei den besten Methoden in einem engen Rahmen und ist durch die soziale Lage des Kindes und des Erziehers determiniert. Die Massenbildung, der  Schulunterricht  bezweckt die Elemente des Wissens durch einen Mechanisierungsprozeß zu vermitteln, er will das Denken der Kinder in ein Schema einpressen, aus dem alle Ideen und Gedankengänge, welche die Schulherren für ihre Interessen als schädlich erachten, verbannt werden. Der Sozialismus trachtet durch eine ungemein rührige Organisierung die Fessel dieses Mechanismus zu sprengen, den vernachlässigten Elementen zu ihrem Recht zu verhelfen.

10. Der Assoziationsvorgang bevorzugt die Vorstellungen, die mit unseren Neigungen, Stimmungen und Gefühlen übereinstimmen. Geht der Prozeß mechanisch vor sich, dann überwiegen die Einflüsse der Vergangenheit, der Gewöhnung; bei der bewußten aktiven Apperzeption fällt die Führung einer gefühlsbetonten Vorstellung zu, die sozial determiniert ist. Die Assoziation ist eine Anpassung der neuen Gedanken an die alten. Es muß der neue Eindruck, welcher die Assoziation erweckt, sehr neuartig, sehr abweichend vom Gewohnten sein, um im Kampf mit den alten Gedankengängen nicht völlig zu unterliegen.

Um bildlich zu sprechen: die absolutistisch-apriorischen Ideologien sind stets auf der Hut, sie ergreifen die neue Vorstellung, pressen sie in die vorhandenen Weltanschauungsschachtel ein, fesseln und unterdrücken die widerstreiteden Elemente. Jede herrschende Abstraktion ist durch eine ganze Reihe von Befestigungswerken des Assoziationsmechanismus geschützt.

Jeder Mensch ist ein  biologisches, sozialökonomisches, religiösen  und  moralisches  Individuum, Schicksalsgenosse einer Rasse, Nation, Klasse, Nutznießer oder Unterdrückter einer Gesellschaftsordnung. Alle diese Eigenschaften sind in ihm durch das Netz der Assoziationsbahnen verbunden. Jeder neue Gedanke geht zuerst mit solchen Elementen der Vorstellungsmasse Verbindungen ein, die ihm inhaltlich nahestehen, die übrigen werden nicht assoziiert. Bedeutet aber der neue Eindruck eine grundlegende Umwälzung, eine Erschütterung der festgewurzelten Abstraktionen, dann werden die Alarmsignale gegeben, die Seismographen des Assoziationsbahnnetzes registrieren unausgesetzt. Es ist eine allgemeine Erfahrung, daß im Denken der meisten Menschen disparater Elemente, Bestandteile der gegensätzlichsten Weltanschauungen enthalten sind. Doch bezieht sich diese  "Personalunion (MAX ADLER) nur auf geringfügige Sachen, handelt es sich um grundlegende Fragen, dann wird reiner Tisch gemacht. Der Assoziationsmechanismus gleicht den Kommunikationsgefäßen, der Flüssigkeitsstand muß überall gleich sein.

Die Macht der Kirche, mag sie noch so solide erscheinen, hat eine schwankende Grundlage, die alltägliche Erfahrung widerlegt unausgesetzt ihre Lehren. Sie muß daher die größte Sorgfalt und durch die Kenntnis psychologischer Gesetze gebotene Vorsicht ausüben. Ihre Maxime ist:  Principiis obsta! [Wehret den Anfängen! - wp] Daher opponiert sie solchen politischen und wissenschaftlichen Neuerungen, die für das religiöse Leben ungefährlich oder zumindest indifferent sind und hilft Zustände aufrechterhalten, welche die echte Religiosität ungemein schädigen; denn sie weiß, daß die Lockerung bestehender Zustände und das Aufgeben fester Abstraktionen durch eine Vermittlung des Assoziationsmechanismus auf andere Gebiete übergreifen und eine Explosion auf entfernt liegenden Gebieten unerwarten bewerkstelligen kann. Luther, ein fanatischer Vorkämpfer des Autoritätsprinzips, verurteilte scharf die kopernikanische Theorie, weil er um die Autorität der Bibel fürchtete. Sich auf die christlichen Dogmen und die Logik stützend, verwarf BERKELEY die Fluxionsrechnung. Daher der wilde Haß gegen den Materialismus, besonders gegen HÄCKEL, daher die unausgesetzte Herabsetzung des Positivismus.  Die Dreidimensionalität des Raumes, die Absolutheit des Raumes und der Zeit, die Substantialität von Seele und Leib usw. sind in diesem Sinn auch Bestandteile der bestehenden Gesellschaftsordnung.  Metaphysik ist mehr eine politische als philosophische Wissenschaft. Sind die naturwissenschaftlichen und metaphysischen Abstraktionen erschüttert, so müssen die politischen und wirtschaftlichen folgen. Jeder bisherigen Revolution ist eine stürmische wissenschaftliche Umwälzung vorausgegangen, sie hat ihr den Weg geebnet.

11. Gefühle. Wir wollen nur einige Bemerkungen über den Einfluß der zwei mächtigsten Gefühle,  Furcht  und  Hoffnung machen. In der wissenschaftlichen Betätigung äußert sich die Hoffnung in der  Erwartung  des Resultates, das eine Beobachtung oder ein Experiment zeitigen soll. Diese Erwartung wird durch die Gewohnheit, durch den Stand der Wissenschaften, durch soziale Einwirkungen beeinflußt. Widerlaufen die Sinnesempfindungen dieser Erwartung, dann werden sie in der Beobachtung meistens vernachlässigt oder umgedeutet.

Furcht und Hoffnung haben sich zu einer besonderen sozialen Geltung emporgeschwungen, seitdem sie sich mit Vorstellungen über höhere Wesen und übernatürliche Kräfte verbanden. Jede Religion hatte ursprünglich den Zweck, das unheimliche Wesen der Natur in ein Bekanntes, Heimliches zu verwandeln (FEUERBACH). Animismus, Fetischismus, Totemismus, jede Art der Magie, des Aberglaubens entsprangen diesen Gefühlen. Sie spielen noch heute ein große Rolle, nicht nur im gewöhnlichen Denken, ihre Spuren sind auch in den modernsten Theorien anzutreffen. Mit Recht bringt SPENGLER die Atomzerfallhypothese und die Entropie (beides übrigens Musterbeispiele echter-rechter Abstraktion), mit der Schicksalsidee, bzw. mit dem Mythos der Götterdämmerung in Zusammenhang.

Furcht und Hoffnung beeinflussen in einem hohen Maß das Denken, das auf primitiver Stufe vollständig damit beschäftigt ist, aus den Naturvorgängen den guten oder feindlichen Willen der unsichtbaren Mächte zu erforschen. Die Primitivität der Medizin im Altertum und noch mehr im Mittelalter ist darauf zurückzuführen, daß die Krankheiten als Strafe Gottes oder als Einwirkungen böser Geister und Dämone aufgefaßt, alle anderen Erklärungen unterdrückt worden sind. Die durch die Priester geschürte religiöse Unduldsamkeit des griechischen Volkes verhinderte, daß die Grundsätze der kopernikanischen Lehre bereits im Altertum zum Allgemeingut der Menschheit wurden. Dieser Terror herrschte unumschränkt im Mittelalter, verminderte sich nur allmählich und ist heute noch wirksamer, als man es allgemein annimmt. GALILEI, DESCARTES, SPINOZA, NEWTON, LOCKE, BERKELEY, HUME, KANT mußten diesem Druck teils bewußt, teils instinktiv weichen und Elemente in ihre Systeme aufnehmen, die sich später als verhängnisvoll erwiesen. In der Geschichte der Medizin ist verzeichnet, daß der Arzt in China, wenn er von der Tradition abwich und seine Behandlung ungünstig ausfiel, die strengste Strafe zu gewärtigen hatte. Dieser Umstand hemmte selbstverständlich den Fortschritt der Medizin. In einem ähnlichen oder geringeren Maße ist jedermann diesem Risiko ausgesetzt, der gegen die Überlieferung kämpft und vernachlässigte Elemente zum Vorschein bringen will.

Auf dem Gebiet der Geisteswissenschaften und des sozialen Lebens sind andere Gefühle (Liebe, Sympathie, Haß, Mitleid) tätig, um die vorhandenen Abstraktionen zu schützen. Ihre Vorstellungsgrundlagen sind mächtige Ideologien (Vaterland, Nation, Rasse usw.). Aus der Verbindung dieser Gefühle und Vorstellungen entstehen  Nationalismus, Chauvinismus, Rassenhaß, Imperialismus  usw. Ihr Einfluß ist vielfach größer als der der Kirche und der religiösen Abstraktionen.

12. Phantasie, Mystik, Parapsychologie. Der Phantasietätigkeit kommt in den Abstraktionsvorgängen eine besondere Bedeutung zu. Oft ist es ihre Leistung, daß das Grundlegende, Wichtige einer Erscheinung erfaßt, hervorgehoben und isoliert werden kann. Der überwältigende Eindruck der Schöpfungen der  Dichtkunst  stammt eben daher, daß sie dem Publikum neue Perspektiven eröffnen und ihm durch die symbolische Form die Erfassung der wichtigsten Lebensprobleme erleichtern.

Die Phantasie läßt sich aber oft hinreißen, sie hebt Momente hervor, die unwesentlich sind, übersieht und vernachlässigt wesentliche, ja sie bevorzugt sogar solche Merkmale, die in der Wirklichkeit gar nicht existieren. Aus der Erfindung und Erdichtung wird Irrtum, Irreführung und Lüge. Diese Gefahr ist besonders vorhanden,  wenn die Phantasietätigkeit auf sozial wichtigen Gebieten waltet. 

Die  Mystik  ist die Phantasie in religiöser Einkleidung, eine Abkehr von der Wirklichkeit, daher unter gewöhnlichen Umständen ein der bestehenden Gesellschaftsordnung günstiges Verhalten, das von den Machthabern mit allen Mitteln gefördert wird.

Die  Parapsychologie  berücksichtigt die aus dem normalen Verlauf des Seelenlebens heraustretenden Erscheinungen. Die Geheimwissenschaften wollen das Weltbild mit Einschluß der bisher mißachteten übersinnlichen Tatsachen ergänzen (DESSOIR).  Die Vorliebe für die Geheimwissenschaften und für das okkulte Denken ist bei einer bestimmten seelischen Verfassung und sozialen Schichtung der Gesellschaft eine historische Notwendigkeit.  Der Spiritismus behauptet, daß ein und dasselbe Wesen beiden oder mehreren Welten angepaßt sein kann, ihm sind solche Merkmale und Vorgänge zugänglich, welche nicht den mediumistisch veranlagten Wesen verschlossen bleiben. Die Kabbalisten und ähnliche Geheimlehren behaupten, daß durch eine besondere Eignung oder sorgfältiges Studium aus den heiligen Büchern, besonders aus der Bibel, ein geheimer Sinn zu entnehmen sei, der eine vollständige Erkenntnis gewährt. Jedwede Art der Zauberei und Magie, sowie die Traumdeutung gehören hierher. Alle diese esoterischen Abstraktionen bergen die Gefahr in sich, daß sie zugunsten sozialer Zwecke und Machtbestrebungen mißbraucht werden.

13. Unterbewußtsein. Das Unterbewußtsein ist der Inbegriff von Vorstellungen und Empfindungen, von Reaktionen auf innere und äußere Eindrücke, von ihren Verbindungen und Verdichtungen, welche infolge der Enge des Bewußtseins nicht im Blickpunkt stehen können. Diese Elemente besitzen die Möglichkeit und haben die Richtung unter günstigen Umständen in das Bewußtsein zu treten, welches durch sie assoziativ beeinflußt wird. Das Unterbewußtsein ist auch das Reservoir solcher Vorstellungen und Empfindungen, welche durch die Mittel der Sprache bisher nicht ausgedrückt werden konnten. Sie treten erst dann ins Bewußtsein, wenn die begriffliche Festlegung sie durch Abstraktion hof- und bewußtseinsfähig macht, wie z. B. die überschätzten Produkte der Intuition. Andererseits sind diese Elemente Überreste bereits erfolgter Abstraktionen, Merkmale, die bei früheren Denkvorgängen unterdrückt und verdrängt worden sind.

Das Unterbewußtsein ist von der größten biologischen Bedeutung. Alle vererbten und erworbenen Anlagen, Fähigkeiten und aufgespeicherte Energien sind in ihm enthalten, das bewußte Denken und das Handeln ist die kinetische Umwandlung dieser potentiellen Energien.

Das Unterbewußtsein ist eine vornehmlich historische Kategorie, deren Inhalt und Umfang nach der Verschiedenheit des Zeitalters, der Völkerklassen, Gesellschaftsordnung wechseln.  Sein Bewegungsmechanismus gleicht einer Rolle oder einer Schaukel, die motorische Kraft liefert der Abstraktionsapparat. Mit dem Wechsel der herrschenden Abstraktionen geht diese Schaukelbewegung auf und ab, vernachlässigte und unterdrückte Elemente steigen hinunter, neu hervorgehobene tauchen empor. Auf allen Gebieten des menschlichen Wirkens macht sich diese periodische Bewegung fühlbar.

Die  psychoanalytische  Methode analysiert das Unterbewußtsein vom Isolationszentrum der sexuellen Triebe aus. Sie war eine Auflehnung gegen die heuchlerischen Abstraktionsmethoden der überlieferten Wissenschaft und Ethik, welche sowohl die normalpsychischen als auch die psychopathologischen Probleme mit einer Umgehung der sexuellen Beziehungen lösen wollten. Das unvergängliche Verdienst der Psychoanalyse besteht darin, daß sie die soziale  Bedingtheit des Unterbewußtseins  und des Verdrängungsprozesses, der mit der sexuellen Befriedigung (richtiger Unbefriedigung) verbundenen hysterischen und psychischen Erkrankungen aufzeigte. Ihre Zensurinstanz ist ein ausgesprochen sozialer Faktor. Sie demonstrierte die Auswirkungen der sexuellen Triebe auf den entlegensten Geistesgebieten und hatte den Mut, den großen Anteil der Sexualität auch in der Kinderpsychologie zu würdigen. Durch ihre großen Erfolge verblendet, maßte sie sich Allgemeingültigkeit an, strebte nach absoluter Geltung und vergaß dabei vollständig ihren Ursprung. Zwei Abstraktionen verdankte sie ihre Existenz.  Sie ist eine vornehmlich großstädtische Wissenschaft,  hervorgegangen aus der Betrachtung der sexuellen Befriedigungsmöglichkeiten und der damit verbundenen psychischen und hysterischen Erkrankungen  der ausnehmend geistig gerichteten, regsamen, überfeinerten, meistens jüdisch intellektuellen Schichten.  Die Lebenslage derselben ist so gestaltet, daß das sexuelle Problem sie übermäßig beschäftigt, andererseits sind die Hindernisse der Befriedigung mannigfaltiger als bei der Oberklasse und bei den großen Volksmassen. Sie ließen außer acht, daß die sexualpsychologische Betrachtung nur ein Isolationszentrum ist, nur einen Ausschnitt der reichhaltigen Wirklichkeit gibt und daß noch andere wichtige Bedürfnisse und Triebe die psychischen Vorgänge beeinflussen. Je mehr die Psychoanalyse nach Allgemeingültigkeit strebte, desto stärker ließ sie sich verleiten, alles Widerstrebende zu vernachlässigen, so gar gewaltsam hinwegzudekretieren. Nur ein Beispiel: Jeder Kenner weiß, wie die Psychoanalyse die Träume über Fliegen und Hindurchgehen durch enge Passagen deutet. Die mittelalterliche Medizin, die zwecks Diagnose und Therapie die Träume untersuchte, führte den ersten Fall auf eine krankhafte Leichtigkeit der Lebenssäfte, den Passagetraum auf Erkrankungen der Atemwege zurück. Ein objektives Urteil wird nicht verfehlen, festzustellen, daß die primitivere Methode nicht die der mittelalterlichen Medizin war.

Daß man den Weg der Absolutheit nicht ungestraft betreten kann, zeigt das letzte Buch FREUDs, das eine regelrechte Metaphysik ist; die Natur, der Mensch wird hylozoistisch verbrämt, alles geht in einem All-Eros auf. Er gibt vollständig die empirische Grundlage auf, der die Psychoanalyse ihre großen Erfolge und ihre historische Bedeutung zu verdanken hat.
LITERATUR - Paul Szende, Die soziologische Theorie der Abstraktion, Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, Bd. 50, Tübingen 1923
    Anmerkungen
    1) Wir bringen die Abhandlung von Dr. Paul Szende zum Abdruck, weil sie - trotz sehr großer Bedenken, welche sich gegen die Methode und Einzelheiten der Gedankenführung ergeben - doch ein sehr wichtiges, für die Soziologie entscheidendes Problem in origineller Weise zur Diskussion stellt. Daß auch für den Inhalt dieser Abhandlung, genauso wie für den jeder anderen nur der Verfasser die Verantwortung trägt, bedarf keiner besonderen Hervorhebung. (die Herausgeber)