ra-2 H. HöffdingF. Brentano    
 
GUSTAV von RÜMELIN
Über das Wesen der Gewohnheit

"Wenn wir näher darauf achten, welche Wirkungen sich an die Wiederholung eines psychischen Vorgangs als solche in den verschiedenen Arten und Formen ihres Vorkommens knüpfen, so tritt uns hier ein bedeutender, für unser ganzes Thema maßgebender und bestimmender Unterschied entgegen. Für das Vorstellen und Handeln wirkt die Wiederholung erleichternd, verstärkend, befestigend, für das Gefühl dagegen schwächend und abstumpfend. Wir bezeichnen die Wirkungen dieser beiden Formen sogar mit verschiedenen Namen. Aus der Wiederholung von Handlungen und intellektuellen Vorgängen entsteht Übung und Fertigkeit, aus der Wiederholung von Gefühlseindrücken entsteht die Gewohnheit. Es ist ungenau zu sagen, daß man durch Gewohnheit lernt, denn Lernen ist ein Fortschreiten, Gewohnheit ein Stehenbleiben. Übung ist ein mit Fortschritt verbundenes Wiederholen. Durch Gewohnheit lernt man nur etwas Negatives, das Dulden."

Die Psychologie stellt uns nicht nur die großen, ungelösten, vielleicht unlösbaren Rätsel vom Wesen, dem Woher und dem Wohin der Seele, sondern sie reizt uns auch durch eine Menge kleiner, der alltäglichen gemeinen Erfahrung entnommenen Probleme; nur daß auch sie, sobald wir ihnen näher treten, gleich nicht mehr so leicht und einfach erscheinen, wie wir zuerst denken mochten, daß insbesondere schon jede Wahl der Ausdrücke, mit welchen wir die Tatsache schildern oder eine Erklärung versuchen, entweder einen sehr vieldeutigen oder sehr vorgreifenden Sinn bieten wird. Den reichsten Stoff und Anlaß zu solchen kleinen Fragen und neckenden Aufgaben bietet uns die Spruchweisheit der Völker als der Niederschlag tausendjähriger Wahrnehmungen über den Lauf der Welt und das Herz des Menschen. Denn sie wimmelt von Sätzen, die uns ganz richtig und annehmbar erscheinen und doch andern, die uns ebenso einleuchten, geradezu widersprechen. Sie läßt sich darin mit der Statistik vergleichen, wenn diese sich auch nur um den Durchschnittsmenschen kümmert, und nur Tatsachen feststellt und ausspricht, ohne zu fragen, ob sie zusammenstimmen und wie sie in Einklang zu bringen sind. Das Sprichwort nennt die Stimme des Volkes eine Stimme Gottes, aber auch wieder eine Wetterfahne, da sie heute Hosianna rufe und morgen: kreuzige ihn. Dem Volk zu dienen, heißt der höchste Dienst, aber daneben steht, wer dem Volke diene, habe des Teufels Dank davon. Jeder ist seines Glückes Schmied, aber seinem Schicksal kann niemand entgehen und ein Tröpflein Glück gilt mehr als ein Faß voll Weisheit. Die Frauen werden wie die Engel vom Himmel gepriesen, aber es werden ihnen auch die ungalantesten Dinge nachgesagt. Jeder Stand und Beruf, jedes Lebensalter, jedes Volke wird gerühmt und zugleich gescholten. In ein wahres Nest von Widersprüchen aber scheinen sich mir die Aussagen der gemeinen Erfahrung zu verstricken, wenn sie das menschliche Verhalten zu den Reizen des Alten und Neuen, des Gewohnten und des Unversuchten beschreiben. Da heißt es: der Mensch ist nie zufrieden und will immer Veränderung, aber auch: er klebt fest am Alten und Hergebrachten, und verschmäht und bekämpft jede Neuerung. Die Gewohnheit macht alles leicht, aber jeder Zustand wird auf die Dauer lästig und unerträglich. Der Mensch ist ein Sklave der Gewohnheit, aber das Neue übt den mächtigsten Reiz auf ihn aus.

Sind das wirkliche Widersprüche oder nur scheinbare, und wenn sie, was wir im Voraus zu vermuten geneigt sein werden, nur scheinbar sind, wie sind sie dann zu erklären und in Einklang zu bringen? Es scheint mir nicht unnütz und einer kurzen Aufmerksamkeit vielleicht nicht unwert, wenn ich versuche, dieses kleine Problem, von dem ich nicht finden konnte, daß sich schon jemand damit befaßt hätte, etwas näher zu beleuchten und auszulegen.

Jedenfalls könnte ich das nicht als eine Erklärung gelten lassen, wenn man sagen wollte, es liegen hier eben Wahrnehmungen aus ganz verschiedenen Beobachtungskreisen vor; es sei in diesem Punkt bei dem einen so, bei dem anderen anders. Unzweifelhaft sind ja allerdings Individuen wie ganze Völker und Zeitalter darin verschieden, daß die einen starr am Alten festhalten, die andern unruhig nach Neuerung streben; ebenso gewiß ist, daß sich gerade darin die Lebensalter charakteristisch voneinander abheben, indem die Jugend den Wechsel, das Alter die Beharrung liebt. Aber damit ist über die Sache nicht wegzukommen und nur gesagt, daß die graduellen Unterschiede einen weiten Spielraum haben. In uns selbst finden wir dieses Doppelelement nebeneinander, die Macht der Gewohnheit und den Reiz der Veränderung, und wenn dem Einzelnen darüber noch irgendein Zweifel bliebe, so würde ihn das fast allgemeine Beispiel der Frauen überführen, die ja auch in anderen Dingen den Typus des reinen und unverfälschten Menschentums am deutlichsten vertreten und die uns von den entgegengesetzten Motiven der Anhänglichkeit an das Gewohnte und der Lust am Wechsel stets mit fast gleicher Stärke beseelt erscheinen.

Es muß offenbar im Wesen der Gewohnheit selbst etwas liegen, was jene Widersprüche erklärbar macht. Wenn ich nun versuche, das Widersprechende in Einklang zu bringen, so muß ich mir ferner erlauben, etwas weiter zurückzublicken und zusammenhängende Begriffe hereinzuziehen.

Man nennt es zwar nicht mit Unrecht eine wohlfeile und unergiebige Weisheit, eine Gattung von Seelenvorgängen daraus zu erklären, daß man eine denselben entsprechende besondere Kraft, einen Trieb oder ein spezielles Vermögen behauptet, also etwa das Gedächtnis aus einer Kraft, die Vorstellungen festzuhalten und wieder hervorzuholen, die Macht der Sitte und des Beispiels aus einem Nachahmungstrieb, oder mit den Phrenologen [Gehirnkundlern - wp] den Streit und Haß aus einem Bekämpfungs- oder Zerstörungstrieb ableitet. Allein so viel damit auch gesündigt werden mag, so muß ich mich doch zu der Überzeugung bekennen, daß die Psychologie nach ihrem jetzigen Stand das Mittel, durch die Hypothesen von Grundkräften die Ausgangspunkte ihrer Untersuchungen zu gewinnen, gar nicht entbehren kann. So gut der Physiker bei gewissen Grundtatsachen, wie die Gravitation, die Elektrizität, die Kohäsion Halt machen muß, die er nicht mehr weiter abzuleiten vermag, wie der Chemiker einen Stoff so lange als ein einfaches Element behandelt, als er es nicht weiter zerlegen kann, ohne damit die künftige Möglichkeit davon abzuleugnen, muß es auch dem Psychologen gestattet sein, auf Naturanlagen, die ein bestimmtes Können, auf Triebe, die ein bestimmtes Wollen begründen, zurückzugehen, und wenn mir nur die Wahl zwischen diesem Verfahren und der Methode gelassen ist, aus dem Begriff der Seele, des Geistes, des Selbstbewußtseins, aus der Vernunft, der Geschichte, aus der Zweckvorstellung, auf dem Weg einer genetischen Konstruktion die konkrete Fülle und Mannigfaltigkeit der Seelenvorgänge zu entwickeln, so ziehe ich den alten und anspruchslosen Weg mit seinen Mängeln der genialen aber willkürlichen und gewaltsamen Führung vor und möchte in diesem Sinne mit dem alten JOSEPH VERRINA sagen: "Fiesco ist tot, ich geh' zu Andreas."

Fürchten Sie nun ber darum doch nicht, daß ich Sie etwa mit der Entdeckung zu überraschen gedenke, die Gewohnheit sei aus einem Gewöhnungstrieb zu erklären. Es ist ja auch schon von einem solchen oder einem Trieb der Trägheit, der Beharrung, der Nachahmung gesprochen worden, wie denn überhaupt schon alle möglichen Grundkräfte der Seele formuliert worden sind. Ich wüßte mir aber bei einem Gewohnheitstrieb gar nichts Verständliches und Nachweisbares zu denken. Die Wiederholung eines inneren Vorgangs als solche und eben um der Wiederholung willen wird ja von niemandem begehrt. Kein Mensch wünscht sich ein unangenehmes Erlebnis zum zweitenmal; das Angenehme werden wir allerdings gerne repetieren [wiederholen - wp], doch womöglich auch nicht so genau, wie es gewesen ist, sondern mit einiger Abwechslung, in vermehrter oder verbesserter Auflage.  Varatio delectat  [Abwechslung erfreut - wp] heißt der Spruch, der ja sonst lauten müßte:  repititio delectat  [Wiederholung erfreut - wp].

Nicht auf einen ganz besonderen und spezifischen Triebreiz ist die Gewohnheit zurückzuführen, wohl aber ist sie nur als das Produkt aus dem gesamten inneren Spiel und den Gegenwirkungen unseres natürlichen Trieblebens verständlich zu machen.

Als die erste und elementarste Grundkraft unseres Seelenlebens ist, wie ich glaube, ein allgemeiner Tätigkeits- oder Funktionstrieb anzusehen, vermöge dessen alle in uns gelegten besonderen Anlagen und Kräfte einen Reiz und Druck ausüben, um in die ihrer Natur entsprechende Aktion versetzt zu werden. Das Auge will etwas sehen, das Ohr will hören, die Hände wollen etwas betasten, ergreifen, behandeln; alle Glieder drängen auf die Bewegungen hin, für welche sie geschickt und bestimmt erscheinen. Das Gleiche gilt von den rein psychischen Kräften. Das Zentrum unseres gesamten inneren Lebens, das selbstbewußte Ich, vermag einen Zustand völliger Leere nicht zu ertragen; es muß immer irgendetwas vorstellen, wollen und fühlen. Das Selbstbewußtsein kann nicht rein aus eigenen Mitteln leben, es bedarf eines Objekts, dem gegenüber es sich weiß und besitzt. Eine absolute Untätigkeit ist gar nicht möglich, obgleich es Leute gibt, denen eine gewisse Virtuosität, dieses Ziel wenigstens annähernd zu erreichen, nicht abzusprechen sein mag. Leben ist Bewegung; alles Lustgefühl haftet an einer inneren Tätigkeit als solcher; daraus folgt zugleich, daß wenigstens bis zu einer gewissen Grenze hin uns stets die stärkere und lebhaftere Anregung willkommener ist als die schwächere; das Ungewöhnliche und Auffallende reizt uns mehr als das Alltägliche und Bekannte. Darauf beruth alle Neugier und Wißbegierde, die Lust am Wandern und Abenteuerlichen, selbst an der Gefahr, das Gefallen an einer spannenden Erzählung, an Märchen, Wunder- und Schauergeschichten. Diese Scheu vor dem Leeren, vor der Langeweile dieses Bedürfnis immer etwas vorzustellen, zu erstreben und zu empfinden und dabei den stärkeren Reiz dem schwächeren vorzuziehen, ist das treibende und erste Grundmotiv, die Spannfeder im verwickelten Apparat unseres inneren Lebens. Ja in etwas erweiterter Fassung ist das nicht bloß ein menschlicher, sondern ein allgemein animalischer Zug, der in stetig anwachsendem Maß bei den intelligenteren Tiergattungen hervortritt, und seine höchste Entwicklung in der uns am nächsten stehenden Spezies unserer angeblichen Vettern oder Ahnen, dem allzeit unruhig beweglichen, spielenden und neugierigen Geschlecht der Affen erreicht.

Allein diesem ersten Grundzug unserer natürlichen Ausstattung tritt nun gleich ein zweiter von gleicher Kraft und Tragweite gegenüber; die Lust an der Tätigkeit und Bewegung unserer Kräfte ist stets begleitet von der Lust am Wechsel und der häufigen Veränderung dieser Bewegung. Etwas müssen und wollen wir immer treiben, aber nur nicht längere Zeit ein und dasselbe. Alle Organe wollen in Aktion treten, und da dies gleichzeitig nicht möglich ist, wenigstens nacheinander an die Reihe kommen. Für jeden Triebreiz aber folgt, wenn ihm stattgegeben wird, nach ziemlich kurzer Zeit, die jedenfalls eher nach Minuten und Sekunden als nach Stunden zu bemessen ist, ein Zustand der Sättigung, in welchem er zugleich erlischt, um sich erst nach einer kürzeren oder längeren Ruhezeit von Neuem einzustellen. Auch das Zentrum unseres inneren Lebens vermag  ein  Interesse und Lustgefühl nicht lange festzuhalten; das Gefühl der Leere und Langeweile entsteht nicht bloß, wenn ihm gar nichts geboten wird, sondern auch wenn sich ein und derselbe Reiz längere Zeit unverrückt behaupten will. Schlechterdings nichts, keine Art von Lustgefühl ist dagegen gesichert, in Bälde schaal und lästig zu werden. Selbst jeder Versuch, uns die Seligkeit vollkommener Geister als einen dauernden und gleichmäßigen Zustand auszumalen, stößt auf die geheime Furcht, es möchte, sobald Wechsel und unerfülltes Streben wegfallen, auch dem schließlichen Überdruß nicht zu entgehen sein.

Von dieser doppelten Grundlage aus, daß wir fortwährend okkupiert und angeregt sein wollen, aber nach kurzen Zwischenräumen einen Wechsel der anrgegenden Objekte verlangen, werden nun verschiedene Tatsachen unserer inneren Erfahrung verständlich.

Einmal ist hier der Punkt, der es erklärlich macht, wie jener Grundtrieb nach ununterbrochenen Anregung und Tätigkeit vereinbar ist und Hand in Hand geht mit der ebenso ausgesprochenen Abneigung des natürlichen Menschen gegen alle Arbeit. Denn die Arbeit widerspricht jenem zweiten Bedürfnis eines häufigen Wechsels unserer Tätigkeit; sie ist ein mit einer gewissen Folge und Ausdauer methodisch auf einen bestimmten praktischen Zweck fixiertes Handeln. Sie verlangt stets zweierlei von uns, einmal daß wir die in Aktion getretenen leiblichen oder geistigen Organe durch einen von der Zentralkraft des Ichs ausgehenden Druck zwingen, trotz ihrer Abspannung und des Gefüls der Ermüdung ihren Dienst fortzusetzen, sodann daß wir gegen die Reize der ausgeruhten, zu neuer Befriedigung sich heran- und aufdrängenden Organe die Schwelle unseres Bewußtseins verschließen und geschlossen halten müssen. Der Naturmensch wird daher dem Haustier gleich stets die Arbeit scheuen und nur durch die Not oder den Zwang eines fremden Willens daran festgehalten werden. Die angeborenen elementarsten Grundneigungen würden dahin weisen, im Leben nur zu spielen, die verschiedenen Kräfte und Triebe in buntem Wechsel nur soweit in Aktion zu setzen, daß sie stets vor dem Moment der Abspannung und Ermüdung anderen den Platz räumen. Allein auch der Kulturmensch, dem sich die Arbeit wie eine unvermeidliche und selbstverständliche Sache aufdrängt, selbst der Glückliche, dessen Arbeitsfeld mit der stärksten unter seinen natürlichen Neigungen zusammenfällt, sie sind genötigt, jenem Bedürfnis nach häufiger Ablösung der fungierenden Organe volle Rechnung zu tragen. Sie tun es nicht nur, indem sie die Arbeit durch Erholung oder Wechsel der Tätigkeit unterbrechen, sondern auch indem sie die einzelne Arbeit jeweils durch Teilung und Gliederung in sich selbst vervielfältigen und beleben, ungefähr wie man einen langen Weg durch Zerlegung in seine einzelnen Stationen für die Vorstellung abzukürzen versucht.

Die Arbeit und zwar keineswegs bloß die körperliche, sondern auch die geistige, führt ihrer natur nach in der Regel eine häufige Wiederkehr derselben Funktionen und einen gewissen festen Mechanismus derselben mit sich und zwar in umso stärkerem Maße, je weiter das Prinzip der Arbeitsteilung schon zur Entwicklung gelangt ist, sie wird dadurch der Hauptanlaß für die Wiederholung praktischer Vorgänge. Doch ist sie keineswegs der einzige dieser Anlässe und auch nicht einmal der nächstliegende. Denn der Verlauf des Lebens selbst bringt uns neben allem Wechsel im Kleinen eine Kette von Repetitionen, schon durch die Regelmäßigkeiten des Naturlebens, in die wir selbst mitverflochten sind, die Wiederkehr der täglichen physischen Bedürfnisse, durch das Wesen der Triebe, deren Reize zwar durch die Befriedigung momentan erlöschen, aber bald mit den gleichen Anforderungen wiederkehren. Insbesondere aber ist, was ich hier nicht näher auszuführen brauche, der ganze Zusammenhang und Gehalt unseres intellektuellen Lebens auf das Gedächtnis und die Konstanz der Begriffe, d. h. auf die Wiederholung der gleichen Vorstellungen im gleichen Sinn aufgebaut.

Wenn wir nun aber näher darauf achten, welche Wirkungen sich an die Wiederholung eines psychischen Vorgangs als solche in den verschiedenen Arten und Formen ihres Vorkommens knüpfen, so tritt uns hier ein bedeutender, für unser ganzes Thema maßgebender und bestimmender Unterschied entgegen. Für das Vorstellen und Handeln wirkt die Wiederholung erleichternd, verstärkend, befestigend, für das Gefühl dagegen schwächend und abstumpfend. Wir bezeichnen die Wirkungen dieser beiden Formen sogar mit verschiedenen Namen. Aus der Wiederholung von Handlungen und intellektuellen Vorgängen entsteht Übung und Fertigkeit, aus der Wiederholung von Gefühlseindrücken entsteht die Gewohnheit. Denn es ist ungenau zu sagen, daß man durch Gewohnheit lerne; Lernen ist ein Fortschreiten, Gewohnheit ein Stehenbleiben. Übung ist ein mit Fortschritt verbundenes Wiederholen, durch Gewohnheit lernt man nur etwas Negatives, das Dulden.

In Bezug auf die Wiederholung intellektueller Vorgänge glaube ich ohne näheres Eingehen nur an ganz bekannte Dinge erinnern zu dürfen. Die alltägliche Erfahrung zeigt, daß alles Lernen und Wissen, die Aneignung der Sprache, jede Art von Einprägung und Festhaltung empfangener Eindrücke auf Wiederholung zurückgeht, daß die Repetition als Mutter allen Lernens gelten kann, daß die Vorstellungen durch ihre Erneuerung an Klarheit, Sicherheit, Anschaulichkeit gewinnen, daß die sinnlichen Wahrnehmungen bei der Wiederkehr ihrer Objekte durch stets wachsendes Unterscheiden des Einzelnen zu einem dauernde Besitztum unseres Geistes werden, daß sich Assoziationen und feste Gruppen zusammengehöriger Gruppen bilden, die sich gegenseitig hervorrufen, unterstützen, ergänzen und berichtigen, um schließlich unserem gesamten Denken und wissen einen inneren Zusammenhang und gegliederte Einheit zu verleihen.

Ebenso bekannt und einleuchtend ist der Erfolg der Wiederholung für alles Handeln und Wirken, für die Bewegungen unserer leiblichen Glieder. Hier begegnet uns die wichtige Tatsache, daß während in der physikalischen Welt das Werkzeug durch den Gebrauch von Anfang an abgenützt und allmählich unbrauchbar wird, die Organe des animalischen Lebens durch wiederholte Leistungen erstarken. Die Ausübung führt hier zur Fertigkeit. Das hat eine physiologische und eine psychische Ursache. Jene beruth auf dem allgemeinen Gesetz, daß der Organismus dem in Aktion getretenen, ermüdeten, leidenden Glied eine verstärkte Nutrition [Nahrung - wp] zuführt und es dadurch innerhalb einer gewissen Grenze immer mehr kräftigt.  Ubi irritatio ibi affluxus  [Wo Reizung, da Fluß - wp]. Die Säfte fließen nach der Stelle hin, wo eine Störung, ein stärkerer Verbrauch stattfand. Daraus erklären wir nicht nur, daß die rechte Hand, weil sie mehr gebraucht wird, als die linke, größer, stärker und geschickter wird, daß der Arm des Fechters, des mechanischen Arbeiters, die Beine des Boten und Wanderers immer mehr erstarken, sondern auch daß die Sinnesorgane, das Auge des Malers, das Ohr des Musikers durch die Übung stets feiner und leistungsfähiger werden.

Das andere ist das psychologische Moment. Wenn wir eine körperliche Bewegung zum erstenmal ausführen, findet in der Regel noch eine Vergeudung oder unzweckmäßige Verwendung der Kräfte statt, wie derjenige, der einen unbebahnten Weg zum erstenmal zurücklegt, nicht gleich die kürzeste Linie trifft. Durch die Wiederholung aber lernt der Intellekt, auf was es ankommt; er unterscheidet die einzelnen Teile der Handlung und weiß die erforderliche Leistung abzumessen und auf die einfachsten Mittel zurückzuführen, den Kraftverbrauch genau dem Bedarf im einzelnen anzupassen. Es bilden sich nun ganze Gruppen zusammenhängender und ineinander greifender Bewegungen, die schon durch einen einzigen leichten Druck des Willens zur Ausführung kommen, die, obgleich mit bewußter Aufmerksamkeit entstanden, doch allmählich, den Reflexbewegungen ähnlich, unbewußt die kompliziertes Leistung vollbringen. Es gibt kein schlagenderes Beispiel als die Fertigkeit des raschen Lesens, bei dem ein einziger Blick ganze Reihen für sich sinnloser Zeichen in Gedanken und Empfindung umwandelt, oder des vom Blatt spielenden Virtuosen, der eben solche Zeichen sogar in Bewegung und Handlung umsetzt.

Allein durchaus anders als im Denken und Handeln wirkt nun die Wiederholung für das Gefühl. Jenes Zentrum unseres inneren Lebens, das sich im Selbstbewußtsein fühlend erfaßt, die ein- und ausgehenden Aktionen als seine Zustände weiß un mit den Affektionen von Lust oder Unlust begleitet, zeigt das eigentümliche, ihm spezifisch zukommende Verhalten, daß die Wiederholung desselben Vorgangs eine abschwächende und abstumpfende Wirkung ausübt. Das Angenehme wird durch Wiederkehr weniger angenehm, aber auch das Unangenehme weniger unangenehm. Lust und Unlust wird in gleichem Maße abgemindert, schon weil die Zutat der Spannung und Erwartung wegfällt, die den ersten Eindruck verstärkt hatte. Kein sinnlicher und kein geistiger Genuß kann diesem Schicksal entgehen, das Schöne in Natur und Kunst, so wenig wie Trank und Speise. Wir lesen ein Buch nur dann zum wiederholten Male, wenn wir noch Neues, Übersehenes oder Unverstandenes darin vermuten oder der Inhalt unserer Erinnerung schon entschwunden und nur der allgemeine günstige Eindruck noch zurückgeblieben ist.

Eine der schönen Künste scheint dabei freilich eine wenigstens relative Ausnahme zu machen, die Musik. Sie ist die stoffloseste unter den Künsten und überläßt der subjektiven Aufnahme und Empfänglichkeit den weitesten Spielraum. Der unendliche Wechsel der Gemütsstimmungen führt bei jeder Wiederholung musikalischer Genüsse neue Zutaten, Eindrücke und Erinnerungen mit sich. Die neue Melodie hat beim ersten Hören noch etwas Fremdes und Unverstandenes; sie erschließt erst der wiederholten Aufnahme ihren vollen Gehalt und wird auch in der Folge noch immer beziehungsreicher. Doch gilt dies auch nur bis zu einer bestimmten, auf diesem Gebiet weiter hinausgerückten Grenze, nur nach Pausen, in welchen wir selbst uns wieder verändert haben, und nicht absolut und für immer. Denn bei keinem Genuß ist der Reiz der ersten Empfindungen wieder ganz herzustellen; der gesamte Vorgang ist bereits als etwas Fertiges in die Vorstellung aufgenommen, wird mit  einem  Blick übersehen und antizipiert; es fallen Überraschung, Hoffnung und Neugier weg; das Lustgefühl ist von vornherein ein begrenztes, wir kennen auch seine Mängel und Einseitigkeiten. Wenn uns der Dichter sagt:
    Alles in der Welt läßt sich ertragen, Nur nicht eine Reihe von schönen Tagen,
so möchte man dies, zumal in reiferen Jahren, nicht erst von Tagen, sondern schon von Stunden gelten lassen.

Das Gleiche gilt nun auch von der Wiederholung der unangenehmen Eindrücke. Wir übersehen hier den ganzen Verlauf der Sache, wir wissen, welche Grenze nicht überschritten werden wird: die Furcht vor dem Unbekannten fällt weg: wir waffnen uns im Voraus mit den Gegenmitteln, die Organe richten sich darauf ein und halten sich gefaßt; das Übel findet uns gerüstet. Die Abstumpfung kann sich bis zu völligen Indolenz [Schmerzunempfindlichkeit - wp] steigern. Ein anfangs unerträglich scheinendes Geräusch, der Geruch, die Temperatur von Wohn- und Arbeitsräumen wird kaum mehr wahrgenommen. Der Gefangene, der Kranke, der Verwaiste findet sich allmählich in seine Lage ein und weiß den Tag rumzubringen, der ihm anfangs unüberstehbar erschien. Wo das nicht der Fall ist, pflegt der Grund darin zu liegen, daß durch hinzutretende Umstände der Vorrat an Kräften und Mitteln des Widerstandes in Abnahme begriffen ist und deshalb das gleiche Leiden immer fühlbarer wird, bis man ihm ganz unterliegt.

Nun ist aber bei allem innerlich Erlebten der Gefühlswert für uns weitaus die Hauptsache. Fürs Denken und Handeln bringt, wie wir sahen, die Wiederholung Klarheit, Sicherheit, Übung, Verstärkung der Kräfte, für das Empfinden wirkt sie abschwächend und depotenzierend, indem sie die Lust wie die Unlust vermindert. Es läßt sich daran die Frage knüpfen, für die Menschheit im Ganzen, wie für den Einzelnen, wie weit sich beides ausgleicht, ob der Vorteil, daß die wiederholte Empfindung die Leiden des Menschenlebens erträglicher macht, den Nachteil aufwiegt, daß sie auch dessen Freuden herabsetzt. Diese Bilanz im Allgemeinen ziehen zu wollen, würde auf das Thema der optimistischen und pessimistischen Weltanschauung führen, nur mit der eigentümlichen Wirkung, daß sowohl der Optimist wie der Pessimist in jener psychologischen Tatsache je ein Argument gegen seine eigene Auffassung erkennen müßte, da für jenen die Lust, für diesen die Unlust des Lebens einen Abzug erleidet. Ich möchte dieser Frage aber hier umso weniger näher treten, als ich sie überhaupt nicht für eine wissenschaftlich diskutierbare zu halten vermag. Denn indem uns die gütige Natur oder, besser gesagt, die göttliche Weisheit neben allen Übeln aus der Büchse der Pandora die unzerstörbare Lust am Leben, das unstillbare Streben nach einem höchsten Gut und Glück, und jene Schwester der Phantasie, die edle Treiberin, Trösterin Hoffnung in die Wiege legt, hat sie auf jene Frage eine tatsächliche Antwort gegeben, gegen welche alle dialektischen Künste und Schrullen blasierter Köpfe und geistreicher Sonderlinge stets wieder machtlos in ihr Nichts verduften.

Aber die bisherige Betrachtung erklärt die Tatsachen der Erfahrung noch keineswegs vollständig; sie läßt uns nur begreifen, wie uns durch Gewohnheit alles in wachsendem Maße gleichgültiger werden kann, aber nicht auch, wie uns dieselbe einen Zustand lieb und wert zu machen imstande ist. Und doch sagt es nicht nur die Spruchweisheit, sondern auch die gemeine Erfahrung scheint es jedem zu bestätigen, daß wir uns aus den gewohnten Verhältnissen und Beziehungen, wenn sie nicht durch ganz besondere Umstände erschwert sind, nun ungern losreißen, und, wenn es geschehen mußte, mit einem schmerzlichen Vermissen auf sie zurückblicken. Wie kann die Gewohnheit, wenn sie den Gefühlswert eines Eindrucks herabmindert, doch zugleich auch auf eben diesen Wert erhöhend wirken? Hier tritt nun die Bedeutung jenes charakteristischen Unterschiedes in den Vordergrund, wonach die Wiederholung nur den Empfindungsreiz abschwächt, aber das Vorstellen und Handeln erleichtert und verstärkt. Das dirigierende Zentrum unseres inneren Lebens erkennt eine Kollision von zwei einander widerstrebenden Motiven, hat sie unter sich zu vergleichen und abzuwägen, um schließlich den Ausschlag zu geben. Wohl hat alles Neue den Reiz des lebhafteren Eindrucks; es ist von den angenehmen Gefühlen der Hoffnung und Überraschung begleitet und erhöht den ganzen Ton unserer Lebensempfindung, aber zugleich drückt es den Wert dessen herab, was wir gelernt haben. Es dringt störend in den Kreis unserer erworbenen Vorstellungen herein und stellt die Zumutung, sich ein ihnen fremdartiges Element zu assimilieren. Ebenso werden die erworbenen praktischen Fertigkeiten unnütz oder ungenügen. Das Neue ist daher insoweit unwillkommen, als es uns zum Umlernen nötigt, unseren Besitz entwertet, unser Konzept verrückt. In diesem Konflikt von Motiven zieht nun das die Lustreize gegeneinander abwägende Ich die Bilanz gern zugunsten der Seite, welche ihm die Anstrengung und das Umlernen erspart. Es zieht das Alte nicht vor, weil es das Alte ist, sondern weil das Neue Unbequemlichketen bringt. Die Jugend nimmt dabei gern zuerst das Neue willig auf und stößt erst hinterher auf dessen Schattenseiten; das durch Erfahrung gewitzte Alter, dem alles Umlernen schwerer und lästiger fällt, bringt der Neuerung gleich an ihrer Schwelle Mißtrauen und Abneigung entgegen. Dies ist das große Prinzip der Beharrung, des Konservatismus, das die Entwicklung der Völker im Ganzen wie die Schicksale der Einzelnen mitbestimmt, einerseits als wohltätiges Schwergewicht das Bestehende gegen unruhige und übereilte Neuerung schützt, andererseits aber auch dem vernünftigen und berechtigten Fortschritt die größten Hindernisse in den Weg stellt; es ist die unentbehrliche Hemmung in der Uhr der menschlichen Entwicklung. Diese Seite der Sache hat das Dichterwort im Auge:
    "Denn aus Gemeinem ist der Mensch gemacht
    Und die Gewohnheit nennt er seine Amme."
Jene den Gefühlswert abschwächende Wirkung der Wiederholung und Dauer bleibt daneben in voller Geltung. Denn wir lieben das Bestehende nicht und haben immer viel an ihm auszusetzen, solange uns dessen ruhiger Besitz gesichert scheint. Erst wenn es gefährdet wird oder verloren geht, kommt uns sein Wert zu Bewußtsein und tritt in eine ideale und rosige Beleuchtung, so wie wir meist gleichgültig die Fluren und Berge der Heimat vor uns sehen und durchwandern und erst in der Fremde das Heimweh und die Sehnsucht nach den gewohnten Umgebungen erwacht, oder wie wir das, was wir zuerst eifrigst erstrebt haben, wenn es errungen ist, bald gleichgültig zu unserem alten und selbstverständlichen Besitztum zählen, immer noch allerhand daran auszusetzen haben, und seinen Wert, erst wenn es gefährdet wird, wieder von Neuem voll empfinden.

Aber die Sache hat nun noch eine anderen und beachtenswerte Seite von höherer Tragweite. Ich habe bis jetzt nur von der Wirkung derjenigen Wiederholungen gesprochen, welche aus dem wechselnden Spiel und Konflikt unserer natürlichen Triebreize, aus den Notwendigkeiten, die das Leben von selbst mit sich führt, auch ohne unser bewußtes Eingreifen folgen. Es gibt noch eine zweite Art von Gewohnheit, die von uns selbst gewählte und gewollte, die uns aus der Psychologie in die Ethik hinüberleitet.

Ein Stammbegriff des Menschengeistes, der unser gesamtes höheres Triebleben beherrscht, ist die Idee der Ordnung, die uns anweist, in dem bunten Wechsel flüchtiger Erscheinungen und Eindrücke nach Zusammenhang und Einheit zu suchen, und unser inneres Leben wie die Wirkung nach Außen durch allgemeine Begriffe und Prinzipien zu regeln. Dem logischen Gesetz von der Konstanz der Begriffe, das uns gebietet vom Gleichen Gleiches zu denken und den festgestellten Begriff ohne Abzug und Zutat im gleichen Sinne zu gebrauchen, solange kein bestimmender Grund seiner Veränderung vorliegt, stellt sich das allgemeine ethische Gesetz zur Seite, im gleichen Fall gleich zu handeln, uns nicht ohne einen bestimmenden Grund das eine Mal so, das andere Mal anders zu verhalten. In diesem wenn auch nur die formale Seite unseres Denkens und Wollens betreffenden und noch keine materielle Richtigkeit des Gedachten oder Gewollten verbürgenden Prinzip liegt von selbst auch die Forderung eingeschlossen, die gleiche Handlung zu wiederholen, so oft die gleichen Bedingungen gegeben sind.

Das nächste Objekt ihrer Anwendung findet diese Forderung an der Reihenfolge, in welcher jene zur abwechselnden Aktion drängenden Reize und Kräfte sich abzulösen haben. Wir haben gesehen, wie unsere Seele immer einen Inhalt haben, nie unbeschäftigt sein will, daß aber jeder Reiz, dem sie sich hingibt, in Bälde nachläßt und einem andern Platz macht. Welcher der mannigfaltigen Reize nun die leer gewordene Stelle erfüllen soll, dies ist nicht durch eine feste, schon von der Natur gegebene Ordnung geregelt. Die ausgeruhten Kräfte drängen sich verworren umd die Schwelle des Bewußtseins und verlangen ihre Zulassung. Wer aber die Wahl hat, hat die Qual. Unschlüssig steht der Naturmensch vor dem Chaos möglicher Motive und überläßt die Entscheidung meist der zufälligen Anregung. Zwar machen sich die im Einzelnen stärker vertretenen Triebe auch mit stärkerem Andrang geltend, aber auch sie treten ebenso bald gesättigt und ermüdet zurück und füllen den Tag und das Leben lange nicht aus. In dieses lästige und verwirrende Gedränge tritt nun der Gedanke und das Verlangen einer festen Ordnung für die Aufeinanderfolge der Motive, der Stabilität im Wechsel herein. Wir bedürfen einer Norm und Regel, um den Ablauf der wandelbaren Anregungen dem Zufall zu entziehen. Überhaupt aber gehen unsere Triebreize meist gar nicht auf genau bestimmte Objekte, sondern lassen der Wahl und dem Belieben einen weiten Spielraum. Und hier greifen nun die geselligen Neigungen entscheidend ein. Man handelt gern so, wie der andere handelt, zumal in Dingen des willkürlichen und unsicheren Ermessens. Es ergibt sich eine übereinstimmende Lebens- und Tagesordnung, welche den Ablauf der gebotenen Funktionen in Arbeit und Erholung, in Essens- und Schlafenszeit, in Wohnungs- und Kleidungsweise, in geselligen Verkehr, nach Geschlecht, Alter und Stand regelt und einem täglich neuen Besinnen entzieht. Es entsteht die Gewohnheit im sozialen Sinn, deren Begriff auf Sitte, Brauch, Herkommen, Mode hinweist. In dem weiten Umfang und der gewaltigen Macht der Sitte offenbart sich das tiefe Bedürfnis unserer Natur nach Ordnung und gleicher Behandlung des Gleichen, auch in Dingen, wo Willkür und beliebiger Wechsel unschädlich erscheinen müßte. Indem sich nun zu diesem sozialen Element noch jener Reiz der Bequemlichkeit und Leichtigkeit gesellt, die alles wiederholte Handeln in stets wachsendem Maße mit sich führt, erzeugt diese Verschmelzung nun erst jenen vollen Druck und inneren Zwang, den wir im Auge haben, wenn wir von einer unüberwindlichen Macht der Gewohnheit sprechen. Die Vorstellungen wie die körperlichen Bewegungen bilden sich allmählich zu einer geschlossenen Kette von Assoziationen, die wie ein aufgezogenes Uhr- und Spielwerk von selbst ablaufen; es entstehen so auch die Karikaturen der sogenannten Gewohnheitsmenschen, deren Tagewerk sich bis ins Kleinste nach dem Glockenschlag in unverrückbarer Reihenfolge abwickelt.

An diesen sozialen Gewohnheitsbegriff schließt sich auch noch ein anderer Gebraucht des Wortes an, der wenigstens nicht ganz unerwähnt bleiben darf. Es gibt ein Lebensgebiet, auf welchem die Gewohnheit nicht bloß eine Macht in jenem freien psychologischen Wortsinn, sondern eine wirkliche, offiielle, anerkannte Autorität ist. Es ist die Gewohnheit im  Recht Es ist damit nicht die subjektive Gewöhnung des Einzelnen gemeint, wie sie durch Wiederholung desselben psychischen Vorgangs entsteht, sondern ein Gewohnheitsrecht wird angenommen, wenn viele und verschiedene Organe der Rechtsverwaltung ohne Abrede unter sich und bewußte Absicht, wiederholt und jedesmal eine gleichmäßige Auffassung eines Rechtsverhältnisses, wie wenn es gar nicht anders sein könnte und von der Natur der Sache gefordert wäre, zur Anwendung bringen. Indem wir im Deutschen nicht nur die lateinische  assuetudo,  sondern auch die  consuetudo  mit Gewohnheit übersetzen, lassen wir das in der Vorsilbe des letzteren Ausdrucks angezeigte Moment der Übereinstimmung, des Zusammenwirkens Vieler unberücksichtigt und brauchen das Wort nur im Sinn von Sitte und Herkommen. Wenn dabei geschlossen werden wollte, daß was Viele oder Alle übereinstimmend denken, das Rechte und Wahre sein müsse, so wäre es ein Schluß, welchen die Logik nicht gestattet. Da aber bloß geschlossen werden will, daß, was Alle als selbstverständlich ansehen, von ihnen für das Rechte gehalten werde und als Ausdruck eines gesellschaftlichen Gesamtwillens gelten dürfe, ist jene Einwendung der Logik nicht zutreffend.

Eine noch höhere Bedeutung als im Recht kommt der Gewohnheit auf einem engeren  sittlichen  Gebiet, in der Pädagogik und Ethik zu. Jene drei psychologischen Grundtatsachen, daß durch Wiederholung die Vorstellungen Klarheit und Sicherheit gewinnen, das Handeln für die geistigen wie die leiblichen Organe zu wachsender Kraftersparnis, Leichtigkeit und Fertigkeit gelangt, der Gefühlswert aber für die Eindrücke der Lust wie der Unlust abgeschwächt wird, werden zu Prinzipien von großer praktischer Wirkung und vielseitigster Anwendbarkeit. Auf ihnen beruth Unterricht und Erziehung wie auf ihren Grundpfeilern. Denn das Wesen aller Erziehung ist schließlich eine Gewöhnung, indem der Erzieher bemüht ist, dem Zögling die in der Wiederholung des Vorstellens und Handelns liegenden Hilfen und Vorteile zuzuwenden, dagegen die Wirkungen der Abstumpfung der Gefühle von Lust und Unlust nach den bestimmten Erziehungsgegenständen zu benützen und zu leiten.

Dagegen durchaus eigenartig und charakteristisch erweist sich das Wesen der Wiederholung auf einem engeren, der Pädagogik nur verwandten Gebiet der eigentlichen Moral, der sittlichen Bildung und Selbsterziehung, und die ganze bisher dargelegte Theorie von der Gewohnheit erleidet an dieser Stelle Modifikationen von eingreifender Bedeutung und größter Tragweite.

Die unmittelbare Anwendung dieser Theorie auch auf das sittliche Handeln müßte nämlich zu den auffallendsten und widerspruchsvollsten Folgerungen führen. Denn wenn wir das psychologische Gesetz von der Abstumpfung wiederholter Gefühlseindrücke auch für die Regungen des Gewissens gelten lassen müßten, so wüßte ich nicht, wie man der Konsequenz ausweichen könnte, daß das rückfällige und gewohnheitsmäßig verübte Verbrechen, weil es die Entschuldigung eines unvermeidlichen psychischen Vorgangs für sich hätte, nicht strenger, sondern milder zu bestrafen wäre, als die erste und einmalige Tat, während doch das allgemeine sittliche Urteil gerade die Abstumpfung des Gewissens selbst wieder als etwas in unsere Verantwortung Fallendes, als eine Verstärkung der Schuld betrachtet.

Ebenso müßte aber auch umgekehrt der sittliche Fortschritt, die wachsende Erstarkung und Veredlung des Charakters von Schritt zu Schritt wertloser werden, wenn die aus der Wiederholung fließende Leichtigkeit und Sicherheit des Handelns immer weniger Kraftanstrengung forderte und dabei schließlich von einem Verdienst gar nicht mehr die Rede sein könnte. Andererseits aber würde das Gesetz der Abstumpfung auch das die edle Tat begleitende Lustgefühl treffen und eine wachsende Gleichgültigkeit für den Wertreiz eines guten Gewissens zur Folge haben müssen.

In diesen verschiedenen Richtungen greifen nun die wichtigsten Abweichungen Platz.

Die sittliche Handlung ist immer ein Akt der Selbstbeherrschung, in den meisten Fällen aber der Selbstüberwindung. Diese kann niemals zu einem mechanischen und automatischen Vorgang werden, nach Art derjenigen Handlungen, bei welchen unser Intellekt und unsere Muskelbewegungen durch Wiederholung bis zur unbewußten Sicherheit gelangen. Sie ist immer von Neuem eine freie, bewußte Eigentat und tritt auch immer wieder unter veränderten Umständen zutage, so daß hier nur von Ähnlichkeiten, nicht von einfachen Wiederholungen die Rede sein kann. Es ist der internste Akt unseres Seelenlebens, dem aller Mechanismus seiner Natur nach fremd ist, da einem solchen nur die abhängigen, dem Zentrum dienenden Organe, nicht diese leitende Zentralkraft selbst verfallen können.

Aber auch jene zweite Regel, daß jedes Lust- und Unlustgefühl bei Wiederholung des erregenden Eindrucks ein schwächeres wird, trifft für die sittlichen Gefühle der Befriedigung und Nichtbefriedigung, die wir nicht als Lust- sondern als Wertreize richtig bezeichnen, nicht zu. Die Lust am Guten ist das Einzige, was durch fortgesetzte Übung nicht abstumpft, sondern verstärkt und befestigt wird. Es geht die Veränderung vor sich, daß das, was sich uns zuerst als Gesetz und Pflicht, wie ein fremdes und drohendes Machtgebot gegenüberstellte, diesen Charakter in stetigem Fortgang verliert und uns als etwas unserer wahren Natur, unserem innersten Wesen Verwandtes und Entstammendes erscheint. Der Dualismus des Gesollten und Gewollten erlischt oder wie es der Dichter ausdrückt:
    "Des Gesetzes strenge Fessel bindet
    Nur den Sklavensinn, der es verschmäht."
Die Liebe zum Rechten und Vernünftigen wird in den Willen selbst aufgenommen, als das ihm allein Gemäße, als das Selbstverständliche.

So steht der  einen  Ausnahme vom Gesetz der Gewohnheit, daß das sittliche Handeln nicht den Vorteil der aus der Wiederholung fließenden Leichtigkeit genießt, sondern stets von Neuem wieder in freien Akten der Selbstbeherrschung besteht, die andere kompensierend und neutralisierend gegenüber, daß auch die Abstumpfung für die sittlichen Wertgefühle nicht Platz greift, sondern der sittliche Fortschritt auch die wachsende Liebe zum Guten zur Begleiterin hat.

Und so findet das Wesen der Gewohnheit und damit auch unsere Betrachtung ihren Abschluß im Ideal des sittlichen Charakters, der sich bei einem inneren Zwang frei fühlt und weiß, dem die Gewohnheit des Guten zur zweiten Natur geworden ist, der nicht mehr anders kann, weil er nicht mehr anders will.
LITERATUR - Gustav Rümelin, Über das Wesen der Gewohnheit, in Reden und Aufsätze, Neue Folge, Freiburg i. Br. / Tübingen 1881