ra3-2 cr-2M. SchelerK. MannheimW. JerusalemRokitanskyH.-J. Lieber    
 
WERNER STARK
Die Wissenssoziologie
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"So etwas wie einen isolierten Menschen gibt es ja in Wirklichkeit gar nicht. Von Zeit zu Zeit sind zwar vereinzelte Individuen aufgefunden worden, die außerhalb der menschlichen Gesellschaft aufgewachsen sind, aber sie hatten in der Regel nicht jenen klaren Intellekt, jene Vernunftbegabung, die gerade Kant als Wesensmerkmal des Menschen anzusehen geneigt war. Sie waren vielmehr Halb- oder Dreivierteltiere, die zwar ein dunkles und beschränktes Bewußtsein von äußeren Dingen besaßen, aber kein Wissen von ihnen - kein Wissen im kantischen, oder selbst im laufenden Sinn des Wortes, das ja ein vom Licht der Vernunft erhelltes Gesamtbild der Wirklichkeit bedeutet."

"Es ist nach der Wissenssoziologie falsch, um nicht zu sagen absurd, den Menschen als erkennendes und wissendes Subjekt vom Menschen als Gesellschaftswesen abzusondern, als ob zwei getrennte Iche vorhanden wären. Niemand kann Wissen erwerben, es sei denn, daß er lebe; aber leben heißt, im Fall des Menschen, inmitten gesellschaftlicher Prozesse leben. Diese Prozesse sind mehr als nur ein Hintergrund seines persönlichen Bewußtseins. Sie sind vielmehr in ihm selbst wirksam und helfen sogar es aufzubauen und zu dem zu machen, was es im reifen, vernunftbegabten Individuum ist."

"Niemand ist besser in der Lage, entscheidende Fortschritte im Wissen und Können einzuleiten, als der Gelehrte, der Querverbindungen zwischen Phänomenen entdeckt, die nie vorher bemerkt worden waren. Aber gerade Gelehrte dieser Art sind akademisch  schwierig,  Menschen, wie man zu sagen pflegt, von denen man nicht weiß, was man mit ihnen anfangen soll und die  schwer  unterzubringen sind. Sie gehören zu mehreren Fakultäten und zugleich zu keiner; niemand will sie haben, es sei denn, sie hätten sich bereits durchgesetzt. Aber das dauert lange, und inzwischen müssen sie einen hohen Preis für ihre Originalität und Kühnheit zahlen. Ihre  Verwegenheit  wird bestraft."


Erster Teil
Der Problemkreis der Wissenssoziologie

1. Kapitel
Allgemeine Einführung

a) Einleitung

Jeder von uns hat wohl hie und da einmal einem Konzert beigewohnt, bei dem sowohl eine Symphonie des achtzehnten, als auch eine Symphonie des neunzehnten Jahrhunderts zur Aufführung gelangte. Kapellmeister lieben Kontraste dieser Art, und zwar mit Recht, denn nichts kann besser dazu dienen, die Eigenart eines Kunstwerks ins Licht zu rücken, als seine Gegenüberstellung mit einem anderen Kunstwerk von gleicher Bedeutung, aber anderem Gehalt und Stil. Wer nun auf die Unterschiede zwischen der älteren und der neueren Form der Symphonie aufmerksam geworden ist und sich fragt, worin denn eigentlich der Gegensatz besteht, wird bald gewahr werden, daß er nirgendwo so klar hervortritt, wie im dritten Satz dieser Tondichtungen. Im Zeitalter MOZARTs und HAYDNs war der dritte Satz in der Regel ein Menuett; ein paar Jahrzehnte später, im Zeitalter BEETHOVENs, verschwindet das Menuett, und an seine Stelle tritt das Scherzo, d. h. eine dem Menuett zwar ähnliche, aber keineswegs mit ihm zusammenfallende Form. Dieses Verschwinden des Menuetts, das etwa um das Jahr 1800 - man könnte fast geneigt sein zu sagen, um das Jahr 789 - herum festzustellen ist, deutet über den Bereich der Musik- und Kunstgeschichte hinaus auf weitere und tiefere Lebenszusammenhänge hin. Das Menuett war, wie allgemein bekannt ist, ein Ausdruck des Daseins- und Geselligkeitsstiles des Ancien Régime. Es konnte die gesellschaftliche Ordnung, zu der es gehörte, und deren Wesen auch sein Wesen war, nicht überleben; es mußte zugrunde gehen, sobald seine historische Grundlage sich auflöste und verschwand. Und so kommt es, daß eine soziale und politische Revolution auch im Kulturbereich sinnverwandte Entwicklungen nach sich zieht - Entwicklungen, die nicht einmal die Musik unberührt lassen, obwohl sie doch die abstrakteste aller Künste zu sein scheint und vom Gewirr der Tageskämpfe weitab liegt.

Aber die Ersetzung des Menuetts durch das Scherzo stellt nur einen vergleichsweise oberflächlichen Unterschied zwischen der älteren und der jüngeren Symphonie dar. Der Kontrast geht tiefer. Er betrifft nicht nur die Form, sondern auch das Verhältnis von Form und Inhalt. Wir sprechen im Zusammenhang mit HAYDN und MOZART gewöhnlich vom klassischen Stil. Was wir damit meinen, ist, daß in der Kunst dieser Komponisten die Form den Inhalt durchaus beherrscht, daß die Leidenschaften dem formgebenden Geist ganz untergeordnet sind. Freilich regen sich manchmal in der Musik eines Mozart tiefe Gemütskräfte und streben nach einem freieren Ausdruck, wie zum Beispiel in seiner vierzigsten Symphonie.
    "Aber obwohl diese Bewegtheit auch hie und da einen hohen Grad erreichen mag, . . . so wird sie doch in disziplinierter Weise, mit unvergleichlicher klassischer Harmonie vor uns hingesetzt; und der Komponist findet es nicht notwendig, seine Spannungen dadurch zum Ausdruck zu bringen, daß er die Formgesetze drastisch verletzt." (1)
Bei BEETHOVEN liegen die Dinge andres. Freilich erlaubt auch er es dem Inhalt nicht, die Form völlig zu zerbrechen; freilich läßt auch er der Leidenschaft nicht völlig freien Lauf. Aber wie groß, wie titanisch, ist doch der Kampf zwischen beiden! Aus der Tiefe kommende Kräfte stoßen gegen die Formen, in denen sie sich ausleben sollen, wie ein wildbewegtes Meer gegen die Küste schäumt, die ihm eine Grenze aufzwingt.
    "Der Hauptunterschied zwischen Beethovens Auffassung und der seiner Vorgänger zeigt sich weniger in der Form selbst, als im Spannungsgrad zwischen den in ihr enthaltenen musikalischen Elementen oder Ideen . . . Was in einer Haydn-Sonate ein belebtes Gespräch ist und in einer Mozart-Sonate ein buntes Abenteuer, gestaltet sich unter seiner Hand zu einer Szene von ungeheurer Dramatik." (2)
Wir wollen sofort zugestehen, daß viel hiervon auf persönlich-psychologische Wesenszüge zurückgeführt werden muß. BEETHOVEN war nun einmal ein dramatischerer Mensch als der ruhigere HAYDN oder der sanguinische MOZART. Aber ist es nicht auch offensichtlich und unleugbar, daß sich die zeitgenössischen Umstände gesellschaftlicher Art sowohl in der formellen Gebundenheit der Symphonie des achtzehnten Jahrhunderts widerspiegeln, als auch im Bestreben des 19. Jahrhunderts, sich in der Kunst (wie im Leben) mehr Freiheit zu verschaffen? Kann man sich vorstellen, daß die "Eroica" im Jahre 1780 geschrieben und im Spiegelsaal zu Versailles in der Gegenwart gepuderter Herren und Damen uraufgeführt worden sei? Sicher doch nicht. Es war erst der vulkanische Ausbruch der Französischen Revolution, der die zerstörenden und aufbauenden, teuflischen und engelhaften Energien freisetzte, welche der Musik eine LUDWIG van BEETHOVEN ihr Gesicht geben.

Aber man könnte noch weitergehen. Die Musik der vor- und der nachrevolutionären Periode ist nicht nur verschieden, weil die Formen anders geworden sind, und weil sich Veränderungen im Verhältnis von Form und Inhalt geltend machen. Im Inhalt selbst zeigen sich Kontraste. Sie betreffen Gedanken, Gefühl und Erlebnis in gleicher Weise. Wenn der Gegensatz zwischen BEETHOVEN und HAYDN nicht noch größer und hervorstechender ist, so ist dies nur auf die Tatsache zurückzuführen, daß die geistige Revolution Europas viel früher stattgefunden hatte als die politische - um die Mitte des Jahrhunderts, nicht am Ende. Als ROUSSEAU den Kampfruf ausstieß - Laßt uns zur Natur zurückkehren! - brachte er eine Tendenz zum Ausdruckk, die sich unter den Musikern ebenso fühlbar machte wie unter den Politikern. Komponisten wie CARL PHILIPP EMANUEL BACH kehrten in den vierziger Jahren dem strengen Kontrapunkt ihrer Väter den Rücken und wirkten, in Dr. GALs beredter Sprache, "für die Befreiung der Melodie aus ihrer beengenden Zwangsjacke" (3). Die geistige Revolution war schon vorüber, als HAYDN auf der Bildfläche erschien. Zwar behielt er die überkommenen Formen der musikalischen Komposition bei; diese wurden erst abgeschüttelt, nachdem der Sturmwind von 1789  tabula rasa  gemacht hatte; aber er goß in die alten Schläuche neuen Wein. "Ein gewisser Typus von Menuett, den man in seinen Symphonien vorfindet, ist grobschlächtig wie ein Bauer bei einem Tanz und markiert ohne Zweifel das erste Auftreten der Musik unterer Klassen in der Gestaltung und Idealisierung durch einen großen Meister." (4) Damit aber gehörte HAYDN bereits, wie BEETHOVEN nach ihm, zu der Epoche, die man lose als das bürgerliche Zeitalter bezeichnen kann.

Das soll nun freilich nicht heißen, daß ein Vergleich des Gedankeninhaltes ihrer Musik ohne interessante und zum Verständnis beitragende Ergebnisse bleiben würde, denn die zwei Komponisten repräsentieren nacheinander geordnete und gegensätzliche Phasen in der Entwicklung der bürgerlichen Geistigkeit. HAYDN zeigt sie im Aufstieg, im optimistischen Stadium: er ist noch voll von Vertrauen, Erwartung und Zuversicht.
    "Es gibt keinen tieferen Ausdruck der philosophischen Ideale des rationalistischen achtzehnten Jahrhunderts als die vollendete logische Ordnung eines HAYDN'schen Streichquartetts oder einer HAYDN'schen Symphonie. Unsere Welt, die von Gott nach dem Prinzip der prästabilierten Harmonie geschaffen wurde, ist die beste aller möglichen Welten. Diese Vorstellung, die Quintessenz der LEIBNIZ'schen Philosophie, ist nicht nur die klar formulierte Grundidee von HAYDNs größten Werk,  Die Schöpfung.  Sie steht wie ein ungeschriebenes Motto über jeder Seite seiner Musik - ein Glaubensbekenntnis auf die erhabene Überzeugung gegründet, daß die allgemeine Glückseligkeit um die nächste Ecke auf uns wartet, wenn wir nur die Vernunft zum Sieg gelangen lassen wollen."
Dr. GAL hat recht, wenn er an dieser Stelle (5) HAYDN mit LEIBNIZ zusammenbringt. Ihre geistige Verwandtschaft muß allen offenbar sein, die sie kennen. Aber LEIBNIZ war auch der Philosoph der hinter FRANCOIS QUESNAY und ADAM SMITH (6), hinter Nationalökonomen und Politikern und Weltverbesserern im allgemeinen verborgen war: er war der Philosoph, der der Welt versicherte, man könne und solle den  ordre positif  Europas, die überkommene feudale Ordnung, hinwegfegen, denn unter ihr liege ja der viel bessere  ordre naturel,  welchen die all-weise und all-liebende Gottheit ins Werk gesetzt hat - mit einem Wort, der Philosoph, der den revolutionären Kräften jenes souveräne Selbstvertrauen gab, ohne das sie ihr Unterfangen nie zu Ende geführt hätten.

In einem gewissen Sinne hat auch BEETHOVENs Denken seine Wurzeln noch in dieser Weltanschauung - aber ein tiefer Schatten liegt nun über ihr; Zweifel durchdringt sie, ja selbst Verzweiflung hat sie angerührt! In der zweiten, vierten und achten Symphonie zeigt sie noch ihr lächelndes Antlitz von ehedem; aber wie anders ist die Stimmung der dritten und der fünften Symphonie! Und die neunte Symphonie - hört sie sich nicht an wie ein Trotzruf, wie ein Bekenntnis zum Optimismus angesichts einer Welt, die immer tiefer ins Übel hinein versinkt? (7) Tot war der allzu leichtfertige Glaube des 18. Jahrhunderts, daß eine Gesellschaft von Freiheit und Gleichheit (d. h. eine auf jene Ideale gebaute Gesellschaft, an denen BEETHOVEN leidenschaftlich hing) auch eine Gesellschaft von Brüderlichkeit und Seligkeit sein werde.
    "In  Egmont,  in  Coriolanus,  in der dritten, fünften, siebten, neunten, ja selbst in der achten Symphonie finden wir, daß sich Beethoven im Augenblick seines überschwänglichsten und ekstatischsten Erlebnisses plötzlich mit einer Frage unterbricht." (8)
Die Französische Revolution ist vorüber: die magische Formel ist angewandt worden, aber das erwartete Wunder ist ausgeblieben. Es wäre natürlich ganz falsch, das rein persönliche Element in BEETHOVENs künstlerischem Schaffen zu leugnen, ja selbst es geringzuschätzen oder wegzuargumentieren. Gewiß spricht er immer auch über sein eigenes Schicksal; aber er spricht zugleich, und zwar ganz bewußt, über das Schicksal seines Zeitalters und über das Schicksal des Menschengeschlechts. "Beethovens Lieblingsthema", so schreibt TURNER in seinem Buch über den Meister, "war die Politik. Aber es war nicht die Politik, wie sie Politiker verstehen, die intrigieren, um sich selbst und ihre Freunde zu bereichern. Es war die Politik, verstanden als die Kunst der Schöpfung gesellschaftlicher Formen, in denen ein bunteres und volleres Leben zur Verwirklichung gelangen kann." (9) Die Geschehnisse der napoleonischen Dekade machten es klarer und immer klarer, daß die Leiden der Revolution nicht die Geburtswehen einer besseren Welt gewesen waren. Was zum Leben gekommen war, war eine Wirklichkeit, die um nichts weniger häßlich und abstoßend war, als der Feudalismus, der sich zu Tode geblutet hatte. Es war die bittere Erkenntnis dieser Tatsache, die BEETHOVENs Wesen durchdrang und erfüllte. Eine ausschließlich persönlich-biographische Interpretation seines künstlerischen Werkes wird nie den ganzen Sinngehalt seiner Musik begreifen können. Er selbst betrachtete sich niemals als ein isoliertes Individuum; das taten nur andere. Er gehörte zu seiner Zeit uns sprach mit ihrer Stimme; was er unternahm, war, die Gefühle einer Klasse und einer Generation zum Ausdruck zu bringen, deren Ideale gewogen und zu leicht befunden worden waren. Nicht nur die  Eroica,  sondern sein ganzes Dichten und Schaffen muß von der Französischen Revolution und ihren Nachwirkungen her verstanden werden, denn nur auf diese Weise kann man seine ganze Tiefe erforschen. Und dergestalt sist selbst das Innerste der Musik mit ihrem Hintergrund in der zeitgenössischen gesellschaftlichen Wirklichkeit auf das Engste verbunden und nur im Zusammenhang mit ihr wirklich erkennbar und erklärlich.

Zum Studium dieser und ähnlicher Zusammenhänge zwischen Gesellschaftsleben einerseits und Geisteslebenn andererseits hat sich nun eine besondere wissenschaftliche Disziplin gebildet, nämlich die Wissenssoziologie (10). Sie ist oft als ein Produkt des 20. Jahrhunderts angesehen worden, aber ihre Wurzeln gehen viel weiter in die Vergangenheit zurück. Sie lehrt nicht, wie man annehmen könnte, daß es neben dem Individuum noch andere, überindividuelle Kulturschöpfer oder Kulturträger gäbe (obwohl es einige ihrer gröberen Vertreter versucht haben, in der Richtung zum Kollektivismus vorzustoßen). Sie betont nur, daß es zum Verständnis des Individuums selbst notwendig ist, es in seinem sozialen Umkreis - im Neben-, Mit- und Gegeneinander mit anderen Individuen - ins Auge zu fassen. Sie behauptet, daß man die volle Bedeutung und den vollen Sinn von Kulturphänomenen nur dann würdigen kann, wenn man über sie hinausgeht und die soziale Verumständung studiert, mit denen sie genetisch verbunden sind; oder, wie man es auch ausdrücken kann, um noch vorsichtiger zu sein und ja nicht zuviel zu sagen, daß es im Zusammenhang mit der Erforschung von Kulturphänomenen fruchtbar und wünschenswert ist, die soziale Verumständung zu studieren, innerhalb derer sie sich gebildet und geformt haben. Das Endziel der Wissenssoziologie ist ein doppeltes: sie strebt danach, sowohl eine Theorie wie auch eine Methodik auszuarbeiten. Die Theorie soll zeigen, und zwar so klar als dies nur irgendwie möglich ist, was für Zusammenhänge zwischen sozialem Unterbau und gedanklichem Überbau denn wirklich bestehen, ob diese Zusammenhänge eng oder lose sind, einseitig oder gegenseitig und dgl. mehr. Die Methodik soll lehren, wie man die sozialen - "existentiellen" - Wurzeln einer gegebenen Denkstruktur oder Kunstleistung auffinden und aufdecken kann und dadurch eine tiefere Einsicht in ihre Entstehung und Wesensart, in ihren Wert und ihre Wirkung vermitteln.

Es mag im gegenwärtigen Stadium unserer Untersuchung nützlich sein, dem Leser ohne viel Kommentar ein paar Definitionen des Gegenstandes, die versucht worden sind, vorzulegen. Sie werden für sich selber sprechen. "Die Wissenssoziologie", sagt KARL MANNHEIM in einem kurzen programmatischen Satz, "ist eine . . . soziologische Disziplin, die . . . eine Lehre von der sogenannten  Seinsverbundenheit  des Wissens aufzustellen . . . bestrebt ist." Sie bemüht sich, "die aufkommenden Theorien und ihren Wandel in engster Verknüpfung mit den Kollektivgruppen udn typischen Gesamtsituationen und deren dynamischen Wandel (dessen Exponent sie waren) zu erfassen . . . Denken und Sein müssen . . . in ihrer innigen Verflochtenheit wiederhergestellt werden". Und, in einem anderen Zusammenhang: "Ihr eigentliches Thema ist, zu beobachten, wie und in welcher Gestalt zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt die geistig-seelischen Elemente im Zusammenhang mit den sozialen und politischen Kollektivkräften vorhanden waren." (11) Nach SPROTT beschäftigt sich die Wissenssoziologie mit der Art und Weise, in welcher Gedankensysteme, ob sie nun auf Erkenntnis oder Bewertung oder beides gerichtet sind, von anderen gesellschaftlichen Tatsachen bedingt sind (12). Für DAHLKE und BECKER ist "die Wissenssoziologie die Analyse der Funktionszusammenhänge zwischen gesellschaftlichen Prozessen und Strukturen einerseits und den Formen des Geisteslebens, einschließlich der Modalitäten des Erkennens, andererseits", wobei "weder der Gesellschaft nach dem Geist logische Priorität zugeschrieben wird" (13). Eine interessante und gut ausgedachte Definition hat auch HELMUT SCHOECK gegeben: "Es geht um die Frage, ob und inwieweit sich in den menschlichen Denkakten die Eigenschaft des Menschen als soziales Wesen nachweisen läßt." (14) Alle diese Formulierungen haben ihre eigenen Schwierigkeiten. Um nur eine zu nennen: der Gebrauch der Worte "Funktion" und "funktionell" bringt ernsthafte Probleme mit sich, die gelöst werden müssen. Einige der Definitionen setzen auch viel zuviel voraus und können darum leicht angegriffen werden. Aber im Augenblick brauchen wir uns nicht damit aufzuhalten, Feinheiten dieser Art zu diskutieren. Alle entscheidenden Punkte sollen im späteren Verlauf unserer Untersuchung besprochen und bereinigt werden. hier sollte nur eine erste rohe Beschreibung des Feldes gegeben werden, innerhalb dessen der Wissenssoziologe an seine Arbeit geht.

Es ist offensichtlich, daß die Wissenssoziologie, die auf diese oder ähnliche Weise definiert werden kann, jenem altehrwürdigen Teil der Philosophie sehr nahe steht, der als Erkenntnislehre oder Epistemologie bekannt ist. Die philosophische Erkenntnistheorie befaßt sich mit dem Verhältnis des erkennenden oder wissenden Subjekts zur Gesamtheit der Gegenstände, die es zu erkennen oder von denen es zu wissen bestrebt ist. Wie geschieht es, so fragt, sie, daß die objektive Welt in das subjektive Bewußtsein eintritt und darin in der Form eines geordneten, strukturhaft aufgebauten und einheitlichen Bildes auftritt? Die klassischen Epistemologen, die diese Frage zu beantworten suchten, verstanden unter "Subjekt" in diesem Zusammenhang das Individuum, und zwar das isolierte Individuum, den Menschen gewissermaßen als solchen. Es ist diese Auffsasung vom Menschen, wie sie sich zum Beispiel bei KANT vorfindet, welche die Wissenssoziologie einer kritischen Prüfung unterzogen sehen möchte. So etwas wie einen isolierten Menschen gibt es ja in Wirklichkeit gar nicht. Von Zeit zu Zeit sind zwar vereinzelte Individuen aufgefunden worden, die außerhalb der menschlichen Gesellschaft aufgewachsen sind, aber sie hatten in der Regel nicht jenen klaren Intellekt, jene Vernunftbegabung, die gerade KANT als Wesensmerkmal des Menschen anzusehen geneigt war. Sie waren vielmehr Halb- oder Dreivierteltiere, die zwar ein dunkles und beschränktes Bewußtsein von äußeren Dingen besaßen, aber kein Wissen von ihnen - kein Wissen im kantischen, oder selbst im laufenden Sinn des Wortes, das ja ein vom Licht der Vernunft erhelltes Gesamtbild der Wirklichkeit bedeutet. Der Wissenssoziologe wird geneigt sein, zu behaupten, daß KANTs "Mensch ansich" eine künstliche Konstruktion ist und keine Realität. In der Welt, wie sie ist, finden wir keinen abstrakten Menschen (Einzahl), sondern nur konkrete Menschen (Mehrzahl) - Menschen, die durch alle möglichen gesellschaftlichen Einflüsse gestaltet und durch Erziehung (im weitesten Sinn des Wortes) nach bestimmten Richtungen hin entwickelt worden sind und darum von Epoche zu Epoche, von Land zu Land und von Gesellschaft zu Gesellschaft verschieden erscheinen. Was ein solches Wesenfühlt, was es denkt, ja selbst wessen es gewahr wird, muß, oder zumindest kann, vom Charakter abhängen, den sein Bewußtsein im Verlauf seines sozialen Lebens erworben hat. Mit anderen Worten: es ist nach der Wissenssoziologie falsch, um nicht zu sagen absurd, den Menschen als erkennendes und wissendes Subjekt vom Menschen als Gesellschaftswesen abzusondern, als ob zwei getrennte Iche vorhanden wären. Niemand kann Wissen erwerben, es sei denn, daß er lebe; aber leben heißt, im Fall des Menschen, inmitten gesellschaftlicher Prozesse leben. Diese Prozesse sind mehr als nur ein Hintergrund seines persönlichen Bewußtseins. Sie sind vielmehr in ihm selbst wirksam und helfen sogar es aufzubauen und zu dem zu machen, was es im reifen, vernunftbegabten Individuum ist. Von diesem Gesichtspunkt aus erscheint die Wissenssoziologie als eine Ergänzung der herkömmlichen Erkenntnislehre, oder selbst als ihr Korrektiv (15).

Des kann nun möglicherweise gegen dieses ganze Argument eingewendet werden, daß zwar der Mensch und seine Mentalität sicherlich in das Sozialsystem verstrickt sind, das sie umgibt, daß aber diese Verfangenheit doch auf den Prozeß des Wissenserwerbens keinen Einfluß hat. Idealisten wie KANT können behaupten, daß die menschliche Vernunft in allen Menschen die gleiche ist, und daß darum auch alle Menschen der Welt mit denselben geistigen Kategorien, mit demselben "transzendentalen Bewußtsein", begegnen. Materialisten wie BENTHAM mögen darauf hinweisen, daß die menschlichen Sinne in allen Menschen auf die gleiche Weise arbeiten, so daß sie die Wirklichkeit alle mit den gleichen Augen ansehen. Das mag wahr sein: der Wissenssoziologe will den Epistemologen nicht über diese Dinge belehren und hat dazu auch gar kein Recht. Aber er wird darauf bestehen, daß hier ein Unterschied gemacht werden kann und muß, der weiterhilft. Sowohl KANT als auch BENTHAM, sowohl Idealisten als auch Materialisten, haben ihre Aufmerksamkeit herkömmlicherweise vorwiegend auf die Entstehung eines geistigen Gegenbildes der  materiellen  Welt gelenkt: und es versteht sich von selbst, daß dort, wo es sich um eine rein  materielle  Erkenntnis handelt, das  soziale  Bewußtsein des Menschen nicht so wichtig sein mag. (Das gleiche trifft auch auf das rein formale Wissen zu, d. h. das Wissen um den formellen und mathematischen Aspekt der Dinge nach Zahl, Maß und Gewicht, das innerhalb des kantischen Lehrsystems eine so große Rolle spielt.) Aber ist es nicht ebenso selbstverständlich, uns zwar sofort, ohne lange Reflexion, daß der Fall des spezifisch  sozialen  Wissens ganz anders liegt, und daß die  menschliche  Erfahrung des Menschen, die Kenntnis von der historischen Wirklichkeit im weitesten Sinne des Wortes, ganz andere Voraussetzungen hat? Nehmen wir ein einfaches Beispil: irgendeine der großen Schlachten, die die Welt erschüttert haben, die von Marathon zum Beispiel oder die von Sedan. Ein solches Geschehnis hat seine materiellen und formellen Kennzeichen: die Anzahl der Soldaten, die auf beiden Seiten in den Kampf geworfen werden, die Anzahl der Pfeile oder Kugeln, die man feuert; das Volumen des Schmerzes, der gelitten wird; der Wert des Eigentums, das zugrunde geht, und dgl. mehr. Alle diese Umstände - alle diese Tatsachen - kann man erkennen, ohne daß der sozial geformte Sektor des Geistes (wenn man so sagen darf) ins Spiel zu kommen braucht. Die Vernunft und die Sinne genügen dazu. Und alle Menschen müssen selbstverständlich anerkennen, daß es nur eine Wahrheit geben kann, soweit es sich um solche Tatsachenkomplexe handelt. Aber alles liegt anders, sobald wir nicht die materiellen und formellen Tatsachen, sondern die  Bedeutung  dieser Geschehnisse zu erfassen suchen. Diese Bedeutung wird Persern und Griechen, Deutschen und Franzosen in einem verschiedenen Licht erscheinen, und nicht nur ihnen, sondern auch individuellen Historikern je nach dem Gesichtspunkt, den sie einnehmen, und dieser Gesichtspunkt wiederum wird von der geistigen Formung abhängen, die sie im Laufe ihrer sozialen Erziehung und ihres sozialen Lebens empfangen haben.

Damit soll nun aber nicht gesagt sein, daß Vorurteile sich in die Erfassung des Sinnes und der Bedeutung historischer Begebenheiten einmischen müssen: Vorurteile sind überwindbar und sollen überwunden werden. Selbst wo eine vollkommene Unparteilichkeit besteht und reinste Objektivität garantiert ist, wird die Sinneserfassung ein Aktus der  ganzen  Person sein, unter Einschluß des spezifisch sozialen Sektors der Geistigkeit. Ja, es ist nicht falsch zu behaupten, daß der spezifisch soziale Sektor des Geistes hier eine größere Rolle spielen wird als der Sinnesapparat oder die formale Vernunft. Philosophisch gewendet: es ist nicht ein transzendentales Bewußtsein, welches die Bedeutung, und das heißt das Wesen, einer solchen Tatsache erfaßt, sondern ein immanentes Bewußtsein - ein Bewußtsein, das sozial bestimmt, sozial geprägt, von sozialem Gehalt angefüllt ist, das Bewußtsein eines Menschen, der in einer konkreten sozialen Ordnung lebt und alle sozialen Geschehnisse nach ihren Begriffen auffaßt. Was hier eingewendet werden wird, ist wohl, daß ein die Sinnbedeutung anlangendes  Urteil  nicht  Wissen  ist, sondern ganz etwas anderes, nämlich  Wertung.  Der entscheidende Gedanke hinter einer solchen Einwendung wäre die Überzeugung, oder besser gesagt, die Annahme, daß wir - auch in gesellschaftlich-historischen Dingen - erst von den Tatsachen Kenntnis nehmen, und dann nachher zu einer Abschätzung des Sinngehaltes gelangen, welche dergestalt einen späteren und nur sekundären Akt darstellt. Aber dieser Glaube ist nichts als eine Art von naivem Dogmatismus (wie KANT zu sagen pflegte) und darum ein Schulbeispiel von jenen Ideen, welche eine kritische Epistemologie zu exponieren und korrigieren hat. Zumindest in sozial-historischen Dingen gibt es eine Wertung (eine besondere Art von Wertung, die von dem, was man Vorurteilt nennt, ganz getrennt ist), welche dem Erkenntnisakt nicht nachfolgt, sondern ihm vorausgeht. Aus der Unmasse und grenzenlosen Vielgestalt der sozial-historischen Tatsachen untersuchen wir, ja, bemerken wir, nur jene, welche nach dem Wertesystem, mit dem wir an sie herantreten, Bedeutung haben. Wir sehen das weite und breite Gebiet der Geschichte sozusagen durch ein geistiges Koordinatensystem, d. h. durch ein Wertsystem, das in unseren Geist eingebaut ist,  bevor  wir es zu überblicken beginnen; und dieses Koordinatensystem entscheidet, was in unser Blickfeld fallen wird, und ermöglicht es uns, unsere Erkenntnisse zusammenzuordnen und zu einem zusammenhängenden Bild zu gestalten, so daß sich ein Wissen ergibt, welches in seiner Einheit und Klarheit jenem verglichen werden kann, welches unsere Kategorien und unsere Sinne und von einem körperlich-materiellen Universum vermitteln. Wenn man von uns fordern sollte, daß wir dieses Koordinatensystem aufgeben und das Studium des menschlich-gesellschaftlichen Universums mit offenen Augen, aber ohne Hilfsschema vor unseren Augen angehen, dann können wir zwar ein quasi-naturwissenschaftliches Bild der sozialen und historischen Geschehnisse erwerben, d. h. ihre physischen Charakteristika und formellen Dimensionen erkennen, aber es wird uns für immer unmöglich sein, ihre soziale Seite, d. h. ihre sozialen Charakteristika und historischen Dimensionen zu entdecken. Dies ist eine Wahrheit, die um nichts weniger sicher und unentrinnbar ist als die zwingendsten Gesetze der Logik.

Wo die Einbildung bestanden hat, daß es möglich ist, die Tatsachen der Geschichte ohne ein im Bewußtsein vorgeformtes Wertsystem zu erkennen, da ist dieses Wertsystem einfach unbemerkt gewesen. Es ist in der Tat eine Tatsache, daß diese Wert- und Koordinatensysteme durch die Jahrhunderte hindurch unterhalb der Schwelle der Beobachtung geblieben sind. Das ist der Grund, warum der Wissenssoziologe, der sie ins Licht hebt, es wirklich und wahrhaftig verdient, als Erbe KANTs kritischer Erkenntnislehre anerkannt zu werden: er lenkt ja auch die Aufmerksamkeit auf ein  a priori  hin, nur daß sein  a priori  von dem des Königsberger Weltweisen verschieden ist. Aber das soziale  a priori  ist ebenso real und für den Erwerb gesellschaftlich-geschichtlichen Wissens ebenso grundsätzlich, wie das Kantische für den Erwerb körperlichen oder formhaften Wissens. Warum konzentrieren wir denn überhaupt unsere Aufmerksamkeit auf die Vorgänge bei Marathon im Jahre 490 v. Chr., oder bei Sedan im Jahre 1870 oder 1914 oder 1940? Warum nicht lieber auf irgendwelche anderen Vorgänge, die zu gleicher Zeit stattfanden? Doch nur, weil wir im Voraus die Annahme gemacht haben, daß Geschehnisse dieser Art mehr Bedeutung besitzen als der Rest: weil in unserem Denken eine Vorentscheidung in diesem Sinne enthalten ist. Ohne eine solche Vorentscheidung - mit anderen Worten, ohne ein Wertsystem - wären wir nie imstande, irgendeine gesellschaftlich-geschichtliche Tatsache wirklich zu erfassen. Unsere Aufmerksamkeit würde hilflos über die weiten Gefilde der Welt und Weltgeschichte hinschweifen, ohne irgendwo zu verweilen, d. h. ohne irgendwo konkrete, greif- und definierbare Eindrücke zu empfangen.

Und nicht nur wäre es für unser geistiges Auge unmöglich, auf irgendeinem Komplex von Eindrücken zur Ruhe zu kommen, unser Geist könnte auch den Zusammenhang und die Einheitlichkeit eines solchen Komplexes nicht erfassen. Physisch und formell gesehen besteht eine Schlacht wie die von  Marathon  oder Sedan aus einer langen Reihe - oder, noch besser gesagt, aus einem grenzenlosen Gewirr - von individuellen Handlungen, die alle in sich selbst geschlossen sind, nichts miteinander zu tun haben und bedeutungslos sind. Was bringt sie zusammen und gestaltet sie in ein definierbares Geschehnis, das wir als Einheit sehen oder verstehen? Lediglich ihre gemeinsame  Bedeutung welche das ausmacht, was wir gemeinhin eine Schlacht nennen. Aber Bedeutung ist nicht etwas, das an den Dingen selbst haftet: sie wird vielmehr vom menschlichen Bewußtsein, das sie sieht, und zwar als Ganzes sieht, den Dingen auferlegt.  Wir  geben den Elementen der Geschehnisse ihre Teil- und Mitbedeutung; in der Tat,  wir  sind es, die diese Elemente erst zu einem Bild zusammenfügen, von dem aus eine solche Teil- und Mitbedeutung prädiziert werden kann, und was uns dazu befähigt, ist nicht der Kategorien-Apparat unseres Intellekts, noch jene Gehirnfunktion, welche die Tätigkeit unserer Sinnesorgane zusammenordnet (obwohl beide mit der Sache auch etwas zu tun haben), sondern in erster Linie das Wertsystem, das wir schon besitzen, wenn wir an die Dinge herantreten. Ohne einen Vorbegriff also von dem, was mehr oder weniger Bedeutungsvoll ist, und ohne Vorgriff auch von dem, was Mit- und Zusammenbedeutung besitzt, könnten wir bestenfalls gewisser gesellschaftlich-geschichtlicher Tatsachen gewahr werden, aber wir könnten sie nicht  wissen.  Denn Wissen ist ja ein klares und bewußtes und vor allem ein strukturhaft aufgebautes Kennen. Aber der strukturhafte Aufbau des Wissens setzt ein Prinzip der Auswahl und ein Prinzip der  Ordnung  voraus, und beide sind in dem enthalten, was wir das "Koordinatensystem" vor dem Auge des Betrachters der Menschenwelt genannt haben, und das sein soziales  a priori  darstellt. es ist, kurz gesagt, seine grundlegende Wertordnung. Diese Wertordnung nun ist von Gesellschaft zu Gesellschaft verschieden. Gerade darin sind Sozialsysteme ja am meisten voneinander getrennt, daß sie gegensätzliche Grundauffassungen von dem haben, was gut und schlecht ist, oder richtig oder falsch, was wert ist, angestrebt zu werden oder vermieden werden soll. Und der Prozeß von sozialer Bildung, durch den jedes menschliche Wesen hindurchgeht und der es aus einem Bündel leerer Möglichkeiten in einen Menschen von voller Geisteskraft umgestaltet, der aus einem farblosen Säugling eine farbenvolle Persönlichkeit - einen THUKYDIDES oder LIVIUS oder OTTO von FREISING oder MACHIAVELLI oder RANKE - macht, ist gerade die Erfüllung seines Geistes mit derart charakteristischen konkreten Wertvorstellungen und Prinzipien der Auswahl und der Ordnung.

Das alles besagt noch nicht, daß der Mensch für immer den Vorentscheidungen der Gesellschaft, die ihn geformt hat, verschrieben ist und sich nicht von ihnen befreien könnte; und es besagt auch nicht, daß die Unterschiede in den Welt- und Geschichtsauffassungen der verschiedenen Gesellschaften, welche sich aus den Gegensätzen in den zugrundeliegenden Wertordnungen ableiten, endgültig und unüberwindbar wären. Nichts dieser Art kann  ab initio  [von Anfang an - wp] für unmöglich erklärt werden. Aber es will besagen, daß die naive und unreflektierte Haltung, mit der 999 von tausend Gelehrten an das Feld der sozialen Erfahrung herantreten, - daß die "natürliche" Haltung zur vergangenen und gegenwärtigen Menschenwelt - einer "kritischen" Analyse bedarf, und daß aufgezeigt werden muß, in welcher Weise diese Haltung auf ein vorgegebenes Wertsystem gebaut und von ihm bestimmt ist, ein Wertsystem, welches mit jenem identisch zu sein tendieren wird, nach welchem der Gelehrte selbst und die ihn umschließende Gesellschaft leben. Es will besagen, daß extra-theoretische, "existentielle" Faktoren sich unerkannt selbst in jenen Geschichts- und Gesellschaftsbildern vorfinden, die auf dem bewußten Niveau ganz "rein" und ganz "theoretisch" oder "wissenschaftlich" sind; und daß selbst dort, wo von einem individuellen Vorurteil keine Rede sein kann, dennoch gewisse grundlegende soziale Vorbewertungen stattfinden, mit denen gerechnet werden muß. Es besagt daher vor allem anderen, daß eine soziale Erkenntnislehre (die im wesentlichen eine Lehre von der sozialen Kenntnis sein wird) nottut, welche die Entstehung und das Wesen unseres Wissens um die Menschenwelt kritisch untersucht. Und diese Theorie wird nicht nur für das Verständnis des ursprünglichen Prozesses wichtig sein, in dem wir eine Weltschau erwerben, d. h. in dem wir sozusagen die Welt erfahren oder sehen, sondern auch für das Verständnis des weiteren Prozesses, im Verlauf dessen sich unsere Weltanschauung im übertragenen oder metaphorischen Sinn des Wortes, d. h. unsere Lebensphilosophie, unsere Art des Denkens und Fühlens, bildet und gestaltet. Denn es ist ja klar, daß alle Geistigkeit, ob sie sich nun in philosophischer oder künstlerischer Einkleidung zeigt, ob sie sich in einer Metaphysik oder einer Symphonie niederschlägt, von der zugrundeliegenden Art und Weise abhängen wird, in welcher wir die Wirklichkeit erleben. Die Wissenssoziologie sucht darum den Schlüssel, oder, um nur ja nicht unbescheiden zu sein, einen Schlüssel zum Verständnis aller Kulturphänomene zur Verfügung zu stellen.

Alle diese Probleme werden später im einzelnen und systematisch diskutiert werden; ich verweise insbesondere auf das dritte Kapitel. Hier sollte lediglich erklärt werden, was in den angeführten Definitionen gemeint sein kann, wenn von einer "sozialen Bedingtheit des Wissens", einem "Zusammenhang zwischen Wissen und Leben" und dgl. mehr die Rede ist.

Unser nächster Schritt sollte logischerweise die Vorführung eines Beispiels sein, welches dartut, in welchem Geist und mit welchen Mitteln die Wissenssoziologie an die Analyse der Kultur- und Ideenwelt herangeht. Ein solches Beispiel kann viel besser demonstrieren, was das Wesen und die Sendung und den Ehrgeiz unserer Disziplin ausmacht als selbst die bestausgedachte Definition oder abstrakte Diskussion. Wir haben im vorangehenden die Aufgabe der Wissenssoziologie mit Hilfe des parallelen, aber konstrastierenden Begriffs der philosophischen Erkenntnislehre zu erklären gesucht. Aber wir haben dabei nicht den Eindruck erwecken oder behaupten wollen, daß die Wissenssoziologie, wie sie sich bisher entwickelt hat, vorwiegend eine philosophische Disziplin ist. Es ist zwar klar, daß sie mit der Philosophie sowohl in ihrem Ursprung als auch in ihren Auswirkungen zusammenhängt, aber ihre Vertreter haben sie seit jeher eher als eine positive denn als eine philosophische Wissenschaft betrachtet. Sie haben sich mit verschiedenen konkreten Problemen befaßt und darzulegen versucht, wie sich dieser oder jener Ideenkomplex oder Kunststil  de facto  als Überbau des sozialen Unterbaus erklären läßt, auf dem er offensichtlich ruhte. Diese Betonung und Bevorzugung der empirischen Forschung ist offenbar berechtigt und gesund, denn philosophische Ableitungen sollen ja der Kentnisnahme der Wirklichkeit nachfolgen und nicht ihr voraneilen. Wir müssen zuerst den Beweis dafür erbringen, daß Gedankengehalte und Gedankenprozesse  tatsächlich  von sozialen Lebensformen und Lebensprozessen abhängen, und können erst dann vernünftigerweise die Frage stellen, was denn die erkenntnistheoretischen Auswirkungen dieser Abhängigkeit sein mögen. Jedes andere Vorgehen würde den Karren vor das Pferd spannen. Wir wollen daher erst einmal anhand eines konkreten Beispiels sehen, wie die Wissenssoziologen ihr Material angepackt haben. Bevor wir aber zur Entfaltung dieser Jllustration unseres Themas übergehen können, müssen wir einen Punkt ins Reine bringen, der bisher in der ganzen Literatur unbereinigt geblieben ist. Wenn man sagt, daß der Theorie zufolge das menschliche Denken irgendwie von seinem sozialen oder existentiellen Unterbau abhängt, so hat dieser Begriff des "sozialen Unterbaus" zunächst eine leidige Zweideutigkeit an sich, die aus dem Weg geschafft werden muß, ehe ein wirklicher und gesicherter Fortschritt in der Entwicklung der Theorie ermöglicht werden kann.


b) Die zwei Spielarten der Wissenssoziologie

Ein Beispiel wird sehr schnell zeigen, worin diese Zweideutigkeit besteht. Seit etwa 880 steht die amerikanische Philosophie ganz im Zeichen der Bewegung, die als Pragmatismus bekannt ist, und es drängt sich die Frage auf, ob Ursprung und Erfolg dieser Bewegung nicht teilweise von der soziologischen Seite her erklärt werden können. Dies ist in der Tat der Fall. Der Pragmatismus verficht eine extrem aktivistische Lehre vom Menschen: der Mensch ist in allem und jedem von seiner alltäglichen Handlungsweise bestimmt, selbst dann, wenn er sich einbildet, daß er "reines Denken" betreibt, z. B. etwa der Wahrheit "um der Wahrheit willen" nachgeht. Denn die Sätze, die ihm als theoretisch wahr erscheinen, sind einfach jene, welche sich in der Praxis als anwendbar, nutzbar und erfolgreich erwiesen haben. Selbst das geistige Leben ist ein Kampf ums Dasein, in dem zur Auslese kommt, was zweckhaft und praktisch ist, und in dem alles, was unzweckhaft und unpraktisch ist, als solches erkannt und ausgetilgt wird. Gedanken sind dergestalt im wesentlichen Werkzeuge, die zur Beherrschung der Objektwelt dienen sollen, und nicht Ideen über sie: ein System der Metaphysik ist von einer Schaufel oder einem Spaten weit weniger verschieden, als man gewöhnlich angenommen hat. Diese ganze Denkweise ist offensichtlich mit der amerikanischen Lebensweise voll und ganz in Übereinstimmung. Die Amerikaner sind Tatmenschen, nicht Träumer. Ihre Gesellschaft war von Anbeginn der ungeheuren Aufgabe gegenübergestellt, einen mächtigen Kontinent den menschlichen Zwecken dienstbar zu machen; die Lösung dieser Aufgabe konnte nur durch technische Leistungen gelingen, und damit war eine allgemeine Werk- und Willensrichtung gegeben, die nicht nur das Wirtschafts-, sondern auch das Kultursystem durchdrang und erfüllte. Das allumfassende Zielstreben des sozialen Lebens legte einen allseitigen Pragmatismus nahe und rief ihn hervor. Zur gleichen Zeit war die amerikanische Gesellschaft auch höchst individualistisch. In den achtziger Jahren, von denen wir hier sprechen, glich sie wie keine andere in der ganzen Welt einem Kampf aller gegen alle, in dem die Starken imstande waren, sich durchzusetzen, und die Schwachen sich dazu verdammt sahe, unterzugehen. Ein Mensch mußte sich im praktischen Leben "als wertvoll erweisen" (prove himself), wenn er sich in der Gesellschaft erhalten wollte. Kann es wundernehen, daß die Philosophen eine ähnliche Theorie hinsichtlich philosophischer Propositionen und Urteile entwickelten? Auch von diesen erwartete man, daß sie sich im praktischen Leben "als wertvoll erweisen" sollten, ehe sie in den Kanon "gesicherter Wahrheiten" aufgenommen werden konnten. Man kann also sagen, daß der Pragmatismus als Ideensystem die zeitgenössische gesellschaftliche Wirklichkeit der Vereinigten Staaten zur Grundlage - zum Unterbau - gehabt hat.

Aber der Ursprung und die Verbreitung des Pragmatismus können vielleicht auch in einer anderen Weise erklärt werden. Philosophie wird vorwiegend, um nicht zu sagen ausschließlich, von Professoren betrieben; Professoren arbeiten in Universitäten und erhalten ihren Lebensunterhalt von disen; Universitäten wiederum werdenvon Leuten beherrscht, die gewisse Prinzipien und Zwecke vor sich sehen. Kann es nicht so sein, daß diese Prinzipien und Zwecke das geistige Leben in den Universitäten und unter den Professoren beeinflussen, ja bestimmen? Die Hochschulen der Vereinigten Staaten werden zum größten Teil von Geschäftsleuten geleitet, wobei es wenig Untreschied macht, ob diese Leitung offen und direkt oder mehr verdeckt und indirekt ist. Geschäftsleute aber können Forschungen, die keinen handgreiflichen Zweck haben, nicht recht verstehen und werden darum unwillens sein, sie zu finanzieren. Sie werden dauernd fragen: was leistet denn diese Universität, was leistet diese Schule, was leistet dieser Professor für die Gemeinschaft? Die bei der Anstellung und Beförderung des Lehrpersonals befolgte Politik wird selbstverständlich in derselben Grundhaltung ihr Prinzip finden. Angestellt und befördert werden wird nur, wer seine Ansteellung und Beförderung und sein Gehalt "rechtfertigt" - wer sich "als wertvoll erweist". Es ist unter diesen Umständen durchaus verständlich, wenn die Hochschullehrer aller Arten ihre Arbeit, zumindest innerhalb gewisser Grenzen, den harten Gegebenheiten der Lage anpassen. Wer tut denn nicht lieber, was ihm in der Welt vorwärts hilft, als das Gegenteil? Auf diese Weise kann es geschehen, daß die ganze Ausrichtung des akademischen Lebens mit dem pragmatischen Geist der Gründer und Leiter der Universitäten in eine Linie kommt, und eine philosophische Richtung wie der Pragmatismus kann in einem gewissen Sinne und zu einem gewissen Grad als Ergebnis einer solchen Gleichschaltung interpretiert werden. Insofern aber als der Pragmatismus eine Auswirkung derartiger Tendenzen darstellt, ist sein "Unterbau" nicht das soziale Leben im allgemeinen und im ganzen, sondern eine besondere Art von sozialer Institution und Organisation - die Verfassung jener Lehr- und Forschungsanstalten, in denen Wissen  ex professo  [professionell - wp] erarbeitet und erhalten wird.

Auf diese Weise sind zwei voneinander ziemlich verschiedene Formen der Wissenssoziologie nebeneinander möglich. Um sie scharf zu unterscheiden, könnte es nützlich sein, die eine die Makrosoziologie des Wissens zu nennen, weil sie ihre Aufmerksamkeit auf die ganze Gesellschaft und die von ihr ausgehenden Einflüsse lenkt, auf den sozialen Makrokosmos, wenn man so sagen darf, - die andere aber die Mikrosoziologie des Wissens, weil sie sich mit der engeren Sphäre der Gelehrsamkeit und des Kunstbetriebes befaßt uns sozusagen die häusliche Welt des Gelehrten und Künstlers in den Mittelpunkt stellt.

Was wir soeben die Mikrosoziologie des Wissens genannt haben, wird wahrscheinlich gegen noch viel stärkere Widerstände stoßen als selbst ihre Schwester, die Makrosoziologie. Die Menschen hören es schon nicht gerne, wenn man sagt, daß das "reine" Denken mit außerhalb des Geistes gelegenen Faktoren in Verbindung steht; aber sie werden noch viel ungehaltener werden, wenn man behauptet, daß Gelehrte sich in ihrer Arbeit von ihren Brotherren beeinflussen lassen und ihre Forschung und ihr Denken nach denen richten, die an der Kasse sitzen. Freilich darf die Grundthese der Mikrosoziologie des Wissens nie in dieser krassen Weise ausgedrückt werden. Abgesehen von allem andern, wäre es ganz unrealistisch zu sagen, daß die materiellen Arbeits- und Erwerbsbedingungen des akademischen Personals wirklich einen entscheidenden Einfluß auf den Wissenserwerb und die Wissensgehalte ausüben: die akademische Freiheit und die akademische Würde sind glücklicherweise in der westlichen Welt wohl gesichert. Aber obwohl kein Grund vorliegt, "Korruption" zu schreiben, obwohl in aller Regel kein bewußter Zusammenhang besteht zwischen den Gedanken eines Denkers einerseits und der Art von Anstalt, in der er und für die er arbeitet andererseits, so gibt es doch unzweifelhaft Beziehungen zwischen dem geistigen Überbau und seinem organisatorischen Unterbau, die ebenso kühl und furchtlos untersucht werden sollten wie irgendein anderer Aspekt der Wirklichkeit und des Lebens.

Es ist nicht der Zweck meines Buches, tiefer in diesen Gegenstand einzudringen. Es soll sich mit der Makrosoziologie und nicht mit der Mikrosoziologie des Wissens befassen. Nichtsdestoweniger mag eine kurze Übersicht einiger einschlägiger Themen an dieser Stelle gerechtfertigt sein. Eine  Jllustration,  die naheliegt, ist die Entwicklung der Soziologie als Universitätsfach in Westeuropa. In Frankreich hat sie ich bereits durchgesetzt, in England aber noch nicht. Die Haupterklärung für diesen Unterschied muß in makrosoziologischen Erwägungen gefunden werden. Frankreich ist seit der großen Revolution immer ein innerlich gespaltenes Land gewesen; zwei unversöhnbare Wertsysteme liegen dauernd miteinander im Kampf; selbst im letzten Dorf findet man einen Konflikt zwischen Abbé und Lehrer. Das Gesellschaftsleben wird darum als problematisch empfunden. Anders in Großbritannien, das eine weitgehend ausgeglichene Gesellschaft mit einem einigermaßen einheitlichen Wertsystem als Grundlage besitzt und den Kompromiß als die allseits annehmbare Technik für die Lösung aller Konflikte betrachtet. Nördlich des Ärmelkanals fehlte deswegen ein wichtiger Stimulus für die Entwicklung einer Gesellschaftstheorie. Aber die Art und Weise, in der die Hochschulen organisiert sind, hatte auch etwas mit der Sache zu tun. In Frankreich war es der Soziologie höchst förderlich, daß sie in den philosophischen Fakultäten ihren Unterschlupf fand, denn dadurch wurde jeder Konflikt mit der Nationalökonomie und den Nationalökonomen vermieden. Die Philosophen, als Vertreter eines hochangesehenen Faches, hatten keinen Grund, einen Neukömmling niederzuhalten, der ja schließlich und endlich als naher Verwandter angesehen werden konnte. In England und Schottland kam der Widerstand gegen die Einführung der Gesellschaftswissenschaft ins akademische Leben oft von den Ökonomen, und in Deutschland lagen die Dinge manchmal ziemlich ähnlich (16). Die Ökonomen betrachteten die Soziologie als einen Parvenu, der ihnen bei der Geldverteilung ins Gehege kommen würde, und einige von ihnen konnten sich auch nicht damit abfinden, daß es eine Sozialwissenschaft geben soll, die weiter und darum "höher" sein soll als die ihre. Es würde zu weit gehen, zu behaupten, daß dies als ein entscheidender Faktor angesehen werden muß; andererseits ist es unmöglich zu bezweifeln, daß es in der Tat  ein  wirksamer Faktor neben anderen gewesen ist. Freilich gab es eine Zeit, in der die Nationalökonomie selbst hart um einen Platz ander Sonne zu kämpfen hatte (17); und es ist keine Übertreibung zu sagen, daß alle neuen Wissenszweige auf Schwierigkeiten dieser Art gestoßen sind - Schwierigkeiten, die nicht nur ihre Lebensmöglichkeiten gehemmt, sondern auch auf ihren geistigen Gehalt und ihre Entwicklung eingewirkt haben.

Es ist nun leicht zu sehen, daß dieser Sonderfall auf viel allgemeinere Tendenzen verwandter Art hinweist. Jede wirklich groß angelegte Organisation muß schon aus praktisch-technischen Gründen in Abteilungen zerlegt werden, und selbst die Hochschulen können sich dieser Notwendigkeit nicht entziehen. Aber das Abteilungswesen, der Departementalismus, führt zum Ressortgeist, oder besser gesagt, zum Ressort-Ungeist. "Mein" und "dein" werden dann viel zu wichtige Worte und Begriffe. Es wird sich eine Tendenz zeigen, die zwar oft unbewußt sein wird, aber dadurch nichts an Wirksamkeit verliert, alle Forschungs- und Entwicklungsprogramme in den Rahmen der gegebenen Spezialisierung zu spannen. Aber das Leben geht nie restlos in einem Abteilungsschema auf, auch nicht im besten; es ist mehr als die Summe aller Spezialfächer. Es ist in seinem tiefsten Wesen nach ein Ganzes, ein Kleid ohne Naht. Aus diesem Grunde sind große neue Einsichten oftmals von Männern erzielt worden, die sich über die aus organisatorischen Gründen gezogenen, ganz künstlichen Grenzlinien hinweggesetzt haben, Zäune niedergerissen haben oder über sie hinweggschritten sind. Niemand ist besser in der Lage, entscheidende Fortschritte im Wissen und Können einzuleiten, als der Gelehrte, der Querverbindungen zwischen Phänomenen entdeckt, die nie vorher bemerkt worden waren. Aber gerade Gelehrte dieser Art sind akademisch "schwierig", Menschen, wie man zu sagen pflegt, von denen man nicht weiß, was man mit ihnen anfangen soll und die "schwer unterzubringen sind. Sie gehören zu mehreren Fakultäten und zugleich zu keiner; niemand will sie haben, es sei denn, sie hätten sich bereits durchgesetzt. Aber das dauert lange, und inzwischen müssen sie einen hohen Preis für ihre Originalität und Kühnheit zahlen. Ihre "Verwegenheit" wird "bestraft." (18) In dieser Weise zeitigt der organisatorische Grundriß unserer akademischen Einrichtungen Tendenzen, welche den geistigen Fortschritt hemmen und ihn in gewisse Richtungen drängen, die oft weit weniger Erfolg versprechen, als manche andere es vielleicht würden.

Es wäre vom Standpunkte der Mikrosoziologie des Wissens auch interessant, einen Vergleich anzustellen zwischen den Denkprozessen und Erfolgen der Privatgelehrten einerseits und der akdademisch tätigen Gelehrten andererseits. Wahrscheinlich würde sich ergeben, daß die Unterschiede zwischen beiden Gruppen sich keineswegs alle auf die offenbare Tatsache zurückführen lassen, daß die einen viel mehr Zeit zur Verfügung haben als die anderen. Man kann zumindest die Vermutung aussprechen, daß der Privatgelehrte bei der Verfolgung seiner Ideen kühner und hemmungsloser sein wird, als der beamtete Gelehrte - man denke an NIETZSCHE, nachdem er Basel verlassen hatte, oder an SPENGLER, oder auch an BENTHAM und SPENCER - während der akademische Lehrer, der alltäglich versuchen muß, sich jungen Menschen verständlich zu machen, wohl in seiner Darstellung disziplinierter und didaktischer sein wird. (19) Solte dies im Augenblick noch nicht als erwiesen gelten dürfen, so hat die Erfahrung uns schon etwas mehr über ein verwandtes Phänomen gelehrt. In Großbritannien und den Vereinigten Staaten hat man in Kriegszeiten regelmäßig akademische Personal zur Stärkung der Beamtenkader verwendet, und jedesmal hat sich gezeigt, daß ihre Art und Weise, Probleme in Angriff zu nehmen, eine ganz andere ist, als die der Dauer- und Berufsbeamten. ROBERT MERTONs ausgezeichnetes Buch "Social Theory and Social Structure" (1949) enthält viel Instruktives zu diesem Thema. Der Berufbeamte hat es gelernt, mit einer bescheidenen Rolle zufrieden zu sein. Er dient Ministern, die Politiker sind und die politische Entscheidungen treffen. Er wird nur über technische Dinge befragt und ist so erzogen, daß er technische Antworten gibt und nicht über sie hinausgeht. Er soll sich mit den Mitteln befassen, nicht mit den Zwecken und Zielen. Er wird im Idealfall, ja selbst in der Regel, ebenso hart an der Durchführung einer Maßregel arbeiten, die mit seinen persönlichen Wertvorstellungen und Überzeugungen unvereinbar ist, als an der Durchführung einer Entscheidung, die er gutheißt. Nicht umsonst nennt der Engländer einen Beamten  a civil servant;  er ist ein Diener und stolz auf seinen Dienst. Universitätsprofessoren dagegen, die an Freiheit gewöhnt sind, fällt es schwer, sich in diese Mentalität hineinzufinden. Sie haben die Tendenz, die Dinge freier und umfassender zu betrachten, sowohl Ziele als auch Wege zu erwägen und zu bewerten und nicht nur über das  Wie,  sondern auch über das  Was  und  Wohin  Aussagen zu machen. Sie sind nicht bereit, von den Politikern Anweisungen hinzunehmen; sie sind viel eher geneigt zu glauben, daß sie ihrerseits den Politikern Anweisungen geben sollten. Ja, es ist sogar wahrscheinlich, daß sie sich auf ihren Standpunkt versteifen werden. Wer es gewöhnt ist, vom Katheder aus zu sprecen, wird oft ein Doktrinär sein. Beamte sind viel mehr gezwungen, "realistisch" zu sein; sie stehen dem politischen Lebenszentrum nahe und müssen praktisce Lösungen für praktische Probleme vorschlagen können. Kurz gesagt, die Denkprozesse akademischer Menschen sind verschieden von denen, welche typische Beamtennaturen charakterisieren, und diese geistige Verschiedenheit ist auf den Unterschied der organisatorischen Formen zurückzuführen, in denen die zwei Menschentypen zu Hause sind und denken gelernt haben.

Diese Tatsache kann unter gewissen Umständen höchst wichtig werden, ja geradezu welthistorische Bedeutung annehmen. MAX WEBER war überzeugt, daß die allzu große Rolle, die die Bürokratie im deutschen Staatsleben spielte, weitgehend für die deutsche Katastrophe im Jahre 1918 verantwortlich gemacht werden muß. Unabhängige Politiker und selbst Professoren, wie er einer war, hätten dem Kaiser gesagt, daß er falsch handelt und so die Dinge zum Besseren gewendet. Aber die Beamten, die WILHELM II. umgaben, waren überzeugt, daß sie dies nicht dürfen (und erwiesen sich damit als typische Beamte). Es war also seit der Verabschiedung BISMARCKs niemand da, der das Staatsschiff in die richtige Richtung gesteuert hätte, und der Schiffbruch der Revolution war die natürliche Folge.

Ein weiterer wichtiger Gegensatz in geistiger Arbeit, der als Auswirkung des Organisationsfaktors angesehen werden muß, und auf den MERTON unsere Aufmerksamkeit hinlenkt, ist der Kontrast zwischen dem Einzelgelehrten und der Forschergruppe. Der Einzelgelehrte, der sein Material selbst zusammenträgt, hat es nicht nötig, einen Apparat von Definitionen und Kategorien auszuarbeiten, ehe er an die Arbeit geht. Er weiß ja, was er will, und kann seine Entscheidungen selber treffen. Aber wo mehrere sich an der Suche nach dem Quellen- und Tatsachenmaterial beteiligen sollen, da ist es unerläßlich, ganz sicher zu machen, daß sie sich alle nach denselben Auswahlprinzipien richten werden. Es steht hier nicht zur Debatte, welches der beiden Verfahren besser ist. Wahrscheinlich hat jedes von ihnen seine wesenseigenen Vor- und Nachteile. Die Gruppe wird vielleicht mehr Disziplin an den Tag legen, der Einzelgelehrte mehr Inspiration. Was wir herausbringen und unterstreichen wollen, ist, daß die zwei verschiedenen Formen der Organisation der Forschung kontrastierende Denkgewohnheiten hervorrufen werden, und zwar nicht nur kontrastierende Techniken, sondern auch kontrastierende Geistigkeiten. MERTON neigt dazu anzunehmen, daß die Logik der Gruppenarbeit in den in sie verstrickten Forschern eine Mentalität hervorrufen wird, wie sie sich klassisch in den exakten Naturwissenschaften ausgebildet hat, wo sowohl Methoden als auch Resultate streng objektiviert sind, während der Einzelgelehrte sich eher zur künstlerischen Geistigkeit hin entwickeln wird, für die ein persönliches Erlebnis mehr Bedeutung hat als das unpersönliche Wissen, und die es begreifen kann, wenn verschiedene Menschen die gleichen Dinge mit verschiedenen Augen ansehen.

Wir haben bisher unsere Jllustrationen ausschließlich aus der Sphäre der wissenschaftlichen Arbeit genommen. Es ist aber nicht schwer, das Bild durch die Anführung einiger Belege aus den schaffenden Künsten zu ergänzen. Der Übergang von der Kunst des 18. zu der des 19. Jahrhunderts, von der Klassik zur Romantik, ist von einem Wechsel in der gesellschaftlichen Stellung des Künstlers begleitet. Vor der Französischen Revolution arbeitete er in der Regel für einen persönlichen Auftraggeber aus dem Adelsstand; nach ihr in allen typischen Fällen für ein anonymes Publikum, für einen unpersönlichen Markt (20). HAYDN war noch ein  domestique  des Grafen ESTERHAZY, trug seine Livrée und aß mit den Kammerzofen und Stallknechten an einem Tisch; MOZART war in einer ähnlichen Lage, solange er in Salzburg lebte, aber nach 1781 konnte er diese Verhältnisse nicht mehr ertragen und ging nach Wien, um sich als freier Künstler zu versuchen; BEETHOVEN war von Anfang an selbständig und, wie viele Vorfälle aus seinem Leben beweisen, stolz auf seine Unabhängigkeit (21). Nur der wirklichkeitsfernste Ästhet könnte leugnen, daß diese grundstürzende Veränderung in den Lebensbedingungen des Künstlers auf das Wesen seines Schaffens Einfluß gehabt hat. Dr. GAL leugnet es jedenfalls keineswegs. "Das erste Werk", so schreibt er von BEETHOVEN, "in dem er seine Vision eines monumentalen Gedankens voll verwirklichte, die  Eroica,  war wohl die ungeheuerste Neuerung in der Musikgeschichte. Sie bringe nicht nur einen neuen Stil, einen neuen Klang, eine neue Art von Größe in Form und Entwurf, sondern auch eine vollkommen neue Stellung zur Welt . . . Kein gehorsamer Bediensteter seines Lehnsherren war je imstande gewesen, solche Musik zu konzipieren. Hier fühlt sich der Künstler den größten seines Lebenskreises ebenbürtig." (22) Die Zeit, in der ein LEOPOLD MOZART etwa gewzungen war, "die herkömmliche Doppelrolle . . . von Kammerdiener und Musikus" (23) anzunehmen, ist vorüber. Aber es ist nicht nur der Körper, von dem die Fesseln abgefallen sind. Auch der Geist ist ihrer ledig geworden, und damit war eine neue Welt- und Lebensschau und ein neuer Kosmos musikalischen Erlebens möglich geworden.

Aus all dem kann man leicht ersehen, wie groß die Dienste sind, die die Mikrosoziologie des Wissens der Geistesgeschichte leisten kann, und wie tief die Einblicke sind, die sie in den Geist des Künstlers und Denkers tun läßt. Sie wirft, wenn man es so sagen darf, viel soziales Licht auf die persönliche Entwicklung. Die Stellung eines Menschen im Leben ist schicksalshaft für ihn: seine Seele kann ihrem Einfluß nicht entgehen. Mit Recht schreibt man viele Eigenschaften eines Kunstwerks der Persönlichkeit des Künstlers zu, der es hervorgebracht hat. Aber diese Persönlichkeit selbst bildet sich in und durch ihre Auseinandersetzung mit den Umständen, und zu diesem Umständen gehörend u. a. auch die soziale Stellung und die Arbeitsbedingungen. FRANZ SCHUBERT war in eine leichtlebige Welt hineingeboren worden und brachte zunächst ihren Frohsinn in seiner Musik zum Ausdruck, zum Beispiel in seiner so heiteren fünften Symphonie. Aber bald macht sich ein tragisches Gefühl geltend und wirft tiefe Schatten über sein Werk; manchmal wird es geradezu zum Schrei des Weltschmerzes. Diese Wendung zum Düsteren hin ist nicht ohne Zusammenhang mit dem Scheitern seiner Versuche, sich eine soziale Stellung zu schaffen oder doch zumindest sein Brot zu verdienen. Nach 1814, so sagt Dr. GAL, "übernahm die neue, wohlhabende Mittelklasse die Führung (in Österreich), und die erste Folge war eine Katastrophe für die Musiker. In dieser blühenden Bürgerwelt war kein rechter Platz für sie. Alles, das sie ihnen zu bieten hatte, war ein karges, sehr unsicheres Einkommen als Lehrer, seltene Gelegenheiten zur öffentlichen Aufführung ihrer Werke und ein ziemlich bescheidenes Verlagswesen . . . Als SCHUBERT, als junger Mann von 19 Jahren, seinen Posten als Schullehrer aufgab, hätte diese vorwärtsdrängende, harte moderne Gesellschaft ihn zu Tode hungern lassen, wenn ein paar treue Freunde ihm nicht dauernd geholfen hätten und ihn, wenn auch stets am Rande des Hungers, ernährt hätten" (24). Was Wunder, daß das Lächeln von seinen Zügen wich und ein schmerzlicher Ausdruck sich über sein Gesicht verbreitete - über sein Gesicht, aber auch über seine Musik!

MOZARTs Fall war ganz ähnlich gewesen. Die "dunklen Gedanken" und die Gefühle der Verzweiflung, die manchmal in seiner Musik auftreten, zum Beispiel in seinem Streichquartett in g-Moll und im Kyrie seiner Totenmesse, spiegeln die Tatsachen wider, daß er auf der Brotsuche an viele Türen zu pochen genötigt war und ihm nirgendwo aufgetan wurde. Wenn wir hier MOZART und SCHUBERT zusammenbringen, so wollen wir sie aber damit keineswegs zum "Typus" stempeln. Dr. GALs Buch zeigt, wie kompliziert die Verhältnisse sind, die sowohl Makrosoziologie wie auch Mikrosoziologie der Ideenwelt zu studieren haben. "Es ist interessant zu sehen", so schreibt er, "daß MOZARTs Musik genau die umgekehrte Haltung zur feudalen Ordnung ausdrückt als die HAYDNs, obwohl sie doch beide unter ihr lebten. HAYDN akzeptierte sie ohne Diskussion. Aber in seiner Musik is er ein unbeschämter Plebejer, der keine Art populären Melodiensmaterials verachtet und sich selbst in einer Atmosphäre bäuerlicher Vulgarität voll und ganz wohlfühlt. Mit MOZART steht es umgekehrt . . . MOZART, mit seiner kleinbürgerlichen Erziehung und Empfindlichkeit, litt furchtbar unter den Demütigungen, die . . . der Dienst des Erzbischofs von Salzburg mit sich brachte. Er verabscheute die grobe Redeweise und die unverschämte Intimität der Dienerstube, (während) HAYDN einer von ihnen war und nichts dagegen hatte." MOZART "revoltierte (darum) gegen die Aristokratenherrschaft, aber " - und das ist so interessant hier - "er gibt sich in seiner Musik als der blaublütigste Aristokrat aller Zeiten, mit all der  Sensitivität  einer überzivilisierten Abstammung. HAYDNs köstliche Bauernhaftigkeit ist ihm schlechthin unverständlich. Er bleibt selbst in seinen volkstümlichsten Weisen ein Aristokrat" (25). "Typische", objektive Umstände können vielleicht einen guten Teil dieses Gegensatzes erklären, z. B. daß HAYDN im Jahre 1732 geboren war und MOZART erst im Jahre 1756, d. h. viel näher der Auflösung der feudalen Gesellschaft und der bürgerlichen Revolution, oder daß HAYDN ein Kind des Dorfes war, wo die alte Ordnung der Dinge noch fest gefügt dastand, und MOZART ein Kind der Stadt, wo der Feudalismus seit jeher Widerstände erregt hatte. Es mag sogar berechtigt sein, hier darauf hinzuweisen, daß der Bauer seiner ganzen Psychologie nach viel weniger geneigt ist, den Geschmack der Aristokratie hinzunehmen und nachzuäffen als der Kleinbürger, denn die zum Vorbild zu nehmen, die auf der sozialen Stufenleiter höher stehen, ist immer ein hervorstechender und auch verständlicher Wesenszug des Kleinbürgertums gewesen. Trotzdem fühlt man bei dieser Diskussion, daß die Grenzen soziologischer Erklärbarkeit hier vielleicht erreicht sind. Nachdem alle gesellschaftlichen Umstände voll in Anschlag gebracht sind und die wissenssoziologische Analyse soweit getrieben worden ist, als dies nur irgendwie möglich war, bleibt letzten Endes doch die unleugbare Tatsache bestehen, daß verschiedene Persönlichkeiten ungleich auf die nämlichen Lebensbedingungen reagieren. In anderen Worten, man stößt am Ende auf die elementare Selbstgesetzlichkeit des Individuums. Vielleicht kann die Psychologie hier weiter helfen; die Wissenssoziologie aber mag ihre Möglichkeiten erschöpft sehen.

Aber wie wir auch die Disziplin umschreiben, die wir die Mikrosoziologie des Wissens genannt haben, ob wir ein weites Gebiet in sie einschließen oder ein enges, eins ist sicher, nämlich daß sie in den ihr gesteckten Grenzen einen Beitrag zur Analyse des Ursprungs und des Inhalts geistiger Prozesse zu machen hat. Ja, es hat sogar eine Tendenz bestanden, die Mikrosoziologie des Wissens mit der Wissenssoziologie selbst zu identifizieren und zu sagen, daß diese mit jener zusammenfällt. J. KRAFT z. B. hat es geleugnet, daß es so etwas wie die Makrosoziologie des Wissens, d. h. die Ableitung von Gedankeninhalten aus einer genetischen Situation im Gesellschaftsganzen geben kann. Wissen, so argumentiert er, ist ein psychisches Phänomen; es befindet sich sozusagen in den Köpfen der Menschen, und so kann es nicht gut aus dem erklärt werden, was außerhalb dieser Köpfe vorgeht - eine Behauptung, die überhaupt nichts Zwingendes an sich hat. Ferner dürfe man die Gedanken nicht mit sozialen Wesenheiten in Verbindung setzen, denn soziale Wesenheiten seien nur sprachliche Fiktionen, also nichts "Wirkliches" im materiellen Sinne des Wortes, zumindest nichts, woraus man etwas anderes ableiten könnte - ein Materialismus, der so grob ist, daß er sich selbst  ad absurdum  führt. Aber KRAFT gibt zu, daß es eine Soziologie der Wissens organisationen  (Kirchen, Schulen und dgl.) geben kann, mit anderen Worten: daß eine Mikrosoziologie des Wissens möglich ist, die Teil der besonderen oder angewandten Gesellschaftslhre zu sein hätte (26).

Ein Soziologe von weit größerer Bedeutung, FLORIAN ZNANIECKI, hat seither eine ganz ähnliche These entwickelt, insbesondere in seinem Buch "The Social Role of the Man of Knowledge" (1940). ZNANIECKI betrachtet die Ideenwelt an und für sich als ein Reich, das von der gesellschaftliche Wirklichkeit durchaus getrennt ist: Wissen ist der Besitz von oder die Teilhabe an Wahrheiten, die sozusagen über uns am Himmel stehen, aber die wir sehen können, wie wir etwa die Sterne erblicken. Eine Soziologie des Wissens im eigentlichen Sinne des Wortes kann es darum nicht geben, nur eine Soziologie der Wissensträger, d. h. jener Menschen, die Wissen erwerben, erhalten und lehrend weitergeben. Diese Menschen,  the men of knowledge,  haben im Gesellschaftsleben eine Funktion zu erfüllen; sie treten in soziale Verumständungen ein und werden von ihnen geformt, und es ist diese Tatsache, von der eine Untersuchung der sozialen Aspekte des Wissens auszugehen und auf die sie sich zu beschränken hätte, Bereits der Titel von ZNANIECKIs Buch zeigt, in welche Richtung er abzielt. Die Wissenssoziologie soll auf das Studium eines bestimmten Teilbereichs oder Komplexes von menschlichen Beziehungen reduziert werden, nämlich auf "das Studium der sozialen Rolle der pragmatischen und moralischen Führer, Theologen, Philosophen, Gelehrten und Wissenschaftler", und ihrer "Schulen, betrachtet als gesellschaftliche Gruppenbildngen, die für die besondere Aufgabe, das bestehende Wissen zu erhalten und zu verbreiten, oder neues Wissen zu entwickeln, organisiert sind" (27). "Wissenssysteme können nicht auf soziale Tatsachen zurückgeführt werden, wenn man sie nach ihrem objektiven Gehalt, ihrem Aufbau und ihrer Gültigkeit ansieht", sagt ZNANIECKI, und nimmit damit sehr viel als bewiesen an, das es keineswegs ist. "Aber ihre historische Existenz innerhalb der gegebenen Kulturwelt muß weitgehend soziologisch erklärt werden, insofern als sie von den Menschen abhängt, die sie aufbauen, durch Übertragung und Anwendung erhalten, entwickeln oder vernachlässigen." Demzufolge ist die Hauptfrage, die ZNANIECKI erhebt, die folgende: "Bestehen Beziehungen funktioneller Abhängigkeit zwischen der sozialen Rolle, die die Wissenschaftlicher spielen, und der Art des Wissens, die sie pflegen? Genauer ausgedrückt: sind die Wissenssysteme, die die Wissenschaftler aufbauen, und die Methoden, die sie dabei anwenden, von den Gesellschaftsformen beeinflußt, von denen man fordert, daß sie sich ihnen als Glieder einer gegebenen Sozialordnung einfügen sollen . . . ?" (28)

Von diesem besonderen Gesichtspunkt aus (der in einem viel engeren und prägnanteren Sinn soziologisch ist, als es die Makrosoziologie des Wissens je sein könnte), versuch ZNANIECKI, auch auf die Kulturinhalte, die sich in neueren Zeiten gebildet oder zu bilden tendiert haben, Licht zu werden. "Der Gehalt des theologischen Wissens", so schreibt er, wird immer weniger umfassend: viel von praktischer und wissenschaftlicher Gelehrsamkeit ist aus den theologischen Lehrsystemen ausgeschieden worden. Man vergleiche zum Beispiel die modernen Theologien der westlichen Religionen mit der alten Theologie des Brahmanentums, nach der alles, selbst die materielle Technik, eine religiöse Bedeutung besaß. Dies", so fährt er fort, zur Erklärung übergehend, "mag die Folge der schrittweisen Verengung der Gedamtfunktion sein, welche religiöse Gruppen ausüben, und sie ist ihrerseits das Ergebnis des Wettbewerbs dieser Gruppen mit verschiedenen spezialisierten Laiengruppen in der Politik, Technik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kunst." (29) Wie die Rückbildung der Theologie, so interpretiert ZNANIECKI auch die Ausbildung der Naturwissenschaft und ihr wachsendes Übergewicht über die kulturellen Disziplinen als einen Reflex gewisser Prozesse der gesellschaftlichen Mit- und Gegeneinanderarbeit. Vielleicht ist es möglich, eine soziologische Erklärung dieser wachsenden historischen Vorherrschaft der Naturwisenschaften zu geben, sagt er in seiner bescheidenen Art. "Ich glaube, daß sie durch ein vergleichendes Studium . . . der gesellschaftlichen Rolle der Naturwissenschaftler und Kulturwissenschaftler gefunden werden kann . . . Der springenden Punkt ist der, daß die Wissenschaftler, die sich mit Naturphänomenen befassen, es nicht schwer fanden, das allgemeine Prinzip der theoretischen Voraussetzungslosigkeit anzunehmen, sobald sie von der magisch-religiösen Interpretation der Natur frei geworden waren . . . Es war viel schwerer, beim Studium von Kulturphänomenen zu theoretischer Vorurteilslosigkeit zu gelangen, weil der Gelehrte seine Rolle als Forscher nicht leicht von der eines aktiven Teilnehmers an einer bestimmten Kultur trennen konnte. Wenn er es versuchte, so rief er eine feindliche Reaktion von seiten seiner Mitgenossen hervor; wenn er es nicht versuchte, so geriet er in unlösbare . . . Widersprüche mit Gelehrten, die fremde Kulturen mit anderen Wertsystemen angehörten . . . Solche Widersprüche hemmten natürlich den (kultur-) wissenschaftlichen Fortschritt und hemmen ihn noch." (30)

Es muß zugegeben werden, daß dies richtig und wichtig ist. Trotzdem zeigen die Stellen, die eben zitiert worden sind, wie eng die Grenzen sind, in denen ZNANIECKIs Erklärungsprinzipg zur Anwendung gebracht werden kann. Der Nebensatz "sobald sie von der magisch-religiösen Interpretation der Natur frei geworden waren . . ." geht allzu unachtsam am Hauptproblem der ganzen Entwicklung vorüber, mit dem die Wissenssoziologie sich doch gerade auseinandersetzen sollte. Wenn man nun behaupten wollte, daß ZNANIECKI schließlich doch eine Art von Erklärung liefert, wenn er auf den Machtverlust hinweist, den die verschiedenen priesterlichen und priesterähnlichen Gruppen im Konkurrenzkampf erlitten haben, so geriete man nur in einen fehlerhaften Zirkel. Denn warum haben denn die Zauberer und Priester an Grund verloren? Sicher doch nur, weil die Gesellschaft "von der magisch-religiösen Interpretation der Natur frei geworden" ist. ZNANIECKI nimmt einfach als gegeben hin, was er analysieren sollte. Seine Methode zwingt ihn, dort einzuhalten, wo er eigentlich anfangen sollte zu arbeiten, weil sie auf das mikrosoziologische Element beschränkt ist.

Damit ist nun freilich  nicht  gesagt, daß diese Methode richtig gehandhabt, wertlos wäre. Wenn man sie für das nimmt, was sie ist, nämlich ein sekundäres Hilfsmittel, das erst dann ins Spiel gebracht werden kann, wenn die gesamte geistige Atmosphäre einer Gesellschaft bereits erklärt ist, und zwar in der einzig möglichen Weise im Hinblick auf die historische Gesamtbewegung des Systems erklärt ist; mit anderen Worten: wenn die Mikrosoziologie des Wissens in einen weiteren, umfassenderen makrosoziologischen Rahmen eingefügt ist, kann sie zu viel Einsicht und Erkenntnis führen. Denn es ist eine Tatsache, die man nicht leugnen kann, daß die  république de professeurs,  wie THIBAUDET sie nannte, eine Gesellschaft, oder zumindest eine Quasigesellschaft darstellt, die sowohl nach innen hin soziale Formen und selbst ein Machtsystem entwickelt, als auch nach außen hin soziale Beziehungen und Machtbeziehungen zur Gesamtgesellschaft unterhält. MERTON hat mit Recht von einem Ethos und einer Moral der Wissenschaft gesprochen (31): Wer an der wissenschaftlichen Arbeit teilnehmen will, wie sie in der westlichen Welt herkömmlich unternommen wird und institutionell organisiert ist, muß sich gewissen Normen unterwerfen, ebenso wie das jedes Mitglied irgendeiner anderen Gesellschaft auch muß, und diese Unterwerfung, die durch wirksame Sanktionen positiver und negativer Art, durch Belohnungen und Strafen, gesichert ist, wird das ihre dazu tun, um die Geistigkeit des Wissenschaftlers zu prägen. Es ist ja klar, daß das, was MERTON "die letztliche Verantwortung der Wissenschaftler ihren Kollegen gegenüber" (32) genannt hat, nämlich die Notwendigkeit , alle Forschungsergebnisse einer allgemeinen Überprüfung anheimzustellen, ihnen gewisse geistige Merkmale gegeben hat, die aus mikrosoziologischen Gründen bei anderen Typen fehlen, zum Beispiel, um ein extremes Beispiel anzuführen, bei den Mystikern. Aber der moderne wissenschaftliche Ausblick als ganzer kann auf diese Weise nicht restlos erklärt werden, denn seine Wurzeln reichen tief in die gesamte Lebensphilosophie des modernen Menschen hinein, und diese wiederum wurzelt in noch tieferen Strömungen innerhalb der sozialen Lebensweise der letzten Jahrhunderte.

Daß die soziale und organisatorische Struktur der gelehrten Gesellschaft innerhalb der westlichen Kultur (und  a fortiori  [im Nachhinein - wp] alles was von ihr ausgeht) nicht als eine primäre, sondern nur als eine sekundäre, d. h. abgeleitete Erscheinung angesprochen werden muß, kann leicht aus der Tatsache ersehen werden, daß sie sich immer harmonisch in den Rahmen der gleichzeitigen Gesamtgesellschaft hineingepaßt hat. Wie die weitere Gesellschaft war, so tendierte auch die engere Gesellschaft der Wissensträger zu sein. Im Mittelalter zum Beispiel zeigte die Universität viele Wesenszüge der "Gemeinschaft" (in dem FERDINAND TÖNNIES dem Wort beigelegten Sinn), während sie in den letzten dreihundert Jahren mehr und mehr ein Aussehen angenommen hat, wie es für die "Gesellschaft" bezeichnend ist. Solange ARISTOTELES herrschte und damit die Einheit und Geschlossenheit des mittelalterlichen Lebens auf einem geistigen Niveau zum Ausdruck brachte, hielt sich die Arbeit aller Teile und Teilinstitute der Hochschulen im Rahmen der gleichen Geistesstruktur. Alle gingen von denselben Grundannahmen und Grundprinzipien aus und alle strebten denselben Endzielen zu; alle hatten darum auch die Tendenz, sich zu einer hierarchischen Ordnung zusammenzufügen, innerhalb derer jeder das seiner Wissenschaft gemäße Ansehen genoß, je nach der Schicht des Seins, mit der er sich zu befassen hatte, eine Schicht, die "höher" oder "tiefer" liegen konnte. Im Jahre 1348, als die Prager Universität gegründet wurde, zweifelten wenige daran, daß ein Theologieprofessor eine "höhere" Stellung innehatte, als ein Lehrer der Tierarznei. Selbst im 17. Jahrhundert wurden die naturwissenschaftlichen Fakultäten oft noch die "unteren" Fakultäten genannt, denen gegenüber die Theologie und Rechtsgelehrsamkeit die "oberen" Fakultäten ausmachten (33). Derartige Vorstellungen sind an der modernen Universität verschwunden, denn sie ist ja jetzt eine  république des professeurs.  Alle Lehrgebäude und alle Hochschullehrer werden im Prinzip als gleichberechtigt betrachtet. Die einstige gemeinschaftliche Basis der wissenschaftlichen Arbeit ist durch gewisse lockere Konventionen ersetzt, und nur diese Konventionen sind noch gemeinsam. Sonst sind alle Spezialismen grundsätzlich autonom, und innerhalb ihrer selbst herrscht ein freier Wettbewerb, der auf Originalität und Fortschrittlichkeit abgestellt ist. PLESSNER spricht darum sehr richtig von einer mittelalterlichen  Werkgemeinschaft  und einer modernen  Werkgesellschaft  der Forschung und Lehre (34): die eine entsprach der "Gemeinschaft" des Mittelalters, die andere der "Gesellschaft" der neuen Zeit.

Es will also scheinen, daß ZNANIECKI die Bedeutung der Mikrosoziologie des Wissens sehr überschätzt hat. Nicht nur ist sie außerstande, die Makrosoziologie des Wissens zu ersetzen, sondern sie darf sich ihr nicht einmal als ebenbürtig zur Seite stellen, weil mikrosoziologische, d. h. berufliche und organisatorische Faktoren, nur innerhalb der von makrosoziologischen Determinanten gezogenen Grenzen wirksam werden können. Vielleicht kann man das Verhältnis der zwei Fächer zueinander am besten mit Hilfe jener Begriffe charakterisieren, die G. C. HOMANS in seinem Buch "The Human Group" verwendet hat. Er unterscheidet da das Außensystem und das Innensystem einer Gruppe, und die aus den Intellektuellen und Künstlern einer Gesellschaft bestehende Gruppe hat natürlich auch so ein Außen- und Innensystem. Die gleichzeitige Gesamtgesellschaft ist das Außensystem; die beruflichen und organisatorischen Teilgesellschaften sind das Innensystem. Beide entwickeln kulturelle Züge, Gewohnheiten und Normen etc. etc. Das Innensystem wird sicherlich dem Außensystem manches beifügen, es wird vielleicht eigene Varianten der Themen entwickeln, die das Außensystem zur Verfügung stellt, ja, es mag sogar geschehen, daß es Teile des äußeren Kultursystems in neue Formen gießt, aber es ist schwer, sich vorzustellen, daß es in seinem Einfluß, d. h. der Gesamtgesellscaft und -kultur, gleichkommen wird.

Ein paar Beispiele werden wohl genügen, um diese Beweisführung zu Ende zu bringen. Nach einer Übersicht über die Forschungsarbeit NEEDHAMs und FARRINGTONs spricht sich SPROTT in folgender Weise aus:
    "Die Suche nach wissenschaftlicher Einsicht . . . kann durch ein mit ihr unvereinbares Klima der Gesinnung unmöglich gemacht werden. Sie wird im Keim erstickt werden . . . , wo anstelle der schöpferischen Demiurgen, von deren Arbeit auch die Wissenschaft herkommt, Sklaven stehen, auf deren Tätigkeit die Herrenklasse mit Verachtung herabblickt. Die Herrenklasse wird dan verfolgen, was man im Gegensatz zur Sklavenarbeit als das reine Denken bezeichnet."
So stand es im Griechenland der Antike.
    "Aber als die Bourgeoisie die Fesseln des Feudalismus sprengte . . . , als persönliche Initiative hochgewertet und individuelle Freiheit . . . gefordert zu werden begann, und als sich neue Möglichkeiten in der Industrie und im Handel darboten, wurde es möglich, den Betrieb der Wissenschaft in institutionellen Formen zu organisieren." (35)
Hier ist gezeigt, wie institutionelle Einflüsse gar nicht erst auftreten können, wenn nicht gewisse soziale Umstände vorerst als Hintergrund gegeben sind. Ein weiteres charakteristisches Beispiel bietet die Entwicklung der mittelalterlicen Philosophie. Wie allgemein bekannt ist, bewegte sie sich von einer typisch "realistischen" Erkenntnislehre, vom Universalienrealismus, zu einer nominalistischen Einstellung hin, welche den folgerichtigeren Nominalismus der späteren Jahrhunderte ankündigte. Wie wir im letzten Teil dieses Kapitels sehen werden, kann diese Entwicklung aus makrosoziologischen Tatsachen heraus erklärt werden; aber mikrosoziologische Einflüsse waren auch dabei im Spiel. PAUL LANDSBERG hat darauf hingewiesen, daß sich der Universalienrealismus in den Klöstern länger hielt als auf den sich in der Hand der Weltpriester befindlichen Universitäten, daß aber der reine Nominalismus erst den Sieg errang, als kirchenfremde Professoren, die aus Bürgerkreisen stammten, Forschung und Lehre zu beherrschen begannen (36). Richtung und Inhalt der Geistesentwicklung waren dergestalt durch die Umformung der Gesamtgesellschaft bestimmt, aber das Tempo zumindest hing auch vom akademischen Personal und seiner Organisation ab.

Die Sphäre des künstlerischen Schaffens mag uns nun unseren letzten Beleg liefern. Die zarte Musik eines MOZART und HAYDN weicht im 19. Jahrhundert den ungeheuren Tongemälden eines BERLIOZ und WAGNER. Während die zwei älteren Komponisten mit einer kleinen Truppe von Musikern zufrieden waren, fordern die jüngeren ganze Batallione, einschließlich sozusagen einer Abteilung schwerer Artillerie. Dieser Wechsel mag etwas mit der Änderung in den Arbeitsbedingunen der Komponisten zu tun gehabt haben: der individuelle Mäzen ist verschwunden, und an seiner Stelle steht das große Publikum. Ungeheure Konzerthallen müsen nun angefüllt werden, und zwar sowohl mit Hörern als auch mit Schall. Aber der wirklich ausschlaggebende Grund für die ganze Entwicklung ist nicht mikrosoziologisch. BERLIOZ und WAGNER waren die Wortführer einer aggressiven und ikonoklastischen Generation; sie waren Revolutionäre voll phantastischer, ja größenwahnsinniger Ambitionen; alle Beschränkungen waren ihnen verhaßt, und sie wollten in ihrer Musik dartun, daß das Zeitalter der Freiheit gekommen ist, in dem der Mensch sich nun endlich über die kleinlichen Grenzen erheben würde, die ihre Vorgänger so lange niedergehalten hatten. Sie sind also nur aus allgemeinen sozial-historischen Tendenzen heraus zu verstehen und nicht von der Konzertorganisation oder vom Billettverkauf her. Freilich bleibt es dabei wahr, daß sie die Massen anziehen und zu ihren Füßen sehen wollten, und insofern als dieser Wunsch  de facto  auf ihr künstlerisches Schaffen eingewirkt hat, muß das kikrosoziologische Erklärungsprinzip neben dem makrosoziologischen zur Anwendung gebracht werden. Aber selbst in diesem Wunsch steckt noch ein makrosoziologisches Element, denn BERLIOZ und WAGNER stehen inmitten einer Epoche, die nicht nur individualistisch war, sondern auch zur Demokratie neigte, und beide glaubten, der Demokratenhut stehe ihnen gut zu Gesicht.

Zusammenfassen können wir also sagen, daß mikrosoziologische Untersuchungen wichtig, ja unerläßlich sind, daß wir aber nicht erwarten dürfen, daß sie allein imstande sein werden, uns zu einem vollen Verständnis der Genese ganzer Kulturen und Kulturkomplexe zu verhelfen. Und da es gerade diese Genes ganzer Kulturen ist, die den Hauptgegenstand der Wissenssoziologie darstellt, - insofern nämlich, als sie ihrem Wesen nach als sozialer Prozeß angesehen und einer soziologischen Analyse zugänglich gemacht werden kann, - ist es die Makrosoziologie und nicht die Mikrosoziologie des Wissens, auf die wir unsere Hoffnungen setzen müssen. Ihr allein soll darum dieses Buch gewidmet sein.


c) Die Wissenssoziologie an der Arbeit:
ein Beispiel

Nach dieser langen, aber keineswegs unnötigen Abschweifung können wir nun zu unserer Hauptaufgabe, der Diskussion der Wissenssoziologie im engeren oder eigentlichen Sinn des Wortes, zurückkehren. Was wir zunächst anhand eines Beispiels zeigen wollen, ist, auf welche Weise sie konkrete Probleme der Analyse behandelt und bewältigt, und wir haben zum Zweck der Jllustration die geschichtliche Entwicklung der Epistemologie, oder besser der Epistemologien, gewählt, wie sie PAUL LANDSBERG in seinem Artikel "Zur Soziologie der Erkenntnistheorie" behandelt, den er im Jahr 1931 in SCHMOLLERs "Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft" veröffentlicht hat.

Die Logik, die LANDSBERGs Untersuchung zugrunde liegt, ist ziemlich einfach. Die philosophische Erkenntnislehre, deren gesellschaftliche Wurzeln er bloßzulegen sucht, ist die Selbstanalyse des Menschen als eines die Wirklichkeit in sich aufnehmenden, Wissen sammelnden Wesens. Aber diese Selbstanalyse wird tief von der allgemeinen Idee beeinflußt sein, welche sich der Mensch zur gegebenen Zeit am gegebenen Ort von seinem Ich macht, oder muß doch mit ihr im Einklang stehen. Diese allgemeine Idee vom Ich wiederum wird mit den Vorstellungen verbunden sein, die sich der Mensch von sich als Gesellschaftswesen gebildet hat, und diese Vorstellungen endlich werden die gesellschaftliche Wirklichkeit, d. h. das Verhältnis vom einzelnen Selbst zum sozialen All, in welches er verwoben ist, widerspiegeln. Dergestalt besteht eine Kette von Verbindungen, welche vom sozialen Leben durch soziale und individuelle Begriffe hindurch zu dem emporreicht, was KANT Anthropologie, d. h. die Lehre des Menschen vom Menschen, genannt hat, und welche von da aus in solch technischen Disziplinen wie die Epistemologie, das heißt in das philosophische Studium des Menschen als eines Wissenden, weiterführt.

Dies ist LANDSBERGs allgemeine Theorie, und er sucht sie anzuwenden, indem er zeigt, daß die geschichtlichen Formen und Umformungen epistemologischen Denkens nach ihr erklärbar sind. Im zwanzigsten und noch mehr im 19. Jahrhundert war dieses Denken, insbesondere wenn wir die naiven Vorstellungen der Alltagsmenschen mit einbeziehen, von einem folgerichtigen und extremen Nominalismus beherrscht. Nach dieser Auffassungsweise bildet sich ein Universalbegriff dadurch, daß eine Anzahl von individuellen Wesenheiten (die allein wirklich existieren) geistig unter einem Wort - gleichsam unter einem verbalen Dach - zusammengesammelt werden. Dieser technischen Epistemologie entspricht dann eine allseits akzeptierte Soziologie, die mit ihr aus einem Guß ist. Eine Gesellschaft ist einfach die Summe der ihr zugehörenden Individuen (die allein wirklich existieren), ihre Zusammenfassung in einer formellen Definition. Diese Sozialtheorie aber ist im wesentlichen nichts anderes als die intellektuelle Verarbeitung einer entsprechenden sozialen Lebenserfahrung. Denn unter modernen Bedingungen wird der Mensch nicht in eine prädeterminierte Stellung hineingeboren, wie das in der primitiven und feudalen Gesellschaft der Fall war. Er muß sich seinen eigenen Platz im Ganzen vielmehr erst schaffen, und der tritt ins Leben ein, indem er sich durch Vertragsabschlüsse mit anderen Menschen irgendwo zwischen sie hineinfügt. Oft tritt er freilich in soziale Gruppierungen, die schon bestehen, schon fertig sind, wenn er auf der Bildfläche erscheint; aber auch sie sind in der Regel aus Verträgen aufgebaut, wie nicht schwer zu ersehen ist. Aktiengesellschaften, Konsumvereine, Gewerkschaften etc. sind Schöpfungen ihrer Mitglieder, Kinder ihres gemeinsamen Willens. Die Gesellschaft wird und muß unter diesen Umständen als etwas Sekundäres erscheinen, als etwas, das in einem sehr prägnanten Sinn des Wortes, von den unabhängigen Individuen  gemacht  ist, die in sie eintreten. Dieser Prozeß der Gesellschaftsbildung, der in der Außenwelt vor sich geht, ist nun ganz offenbar jenem Prozeß der Bildung von Universalbegriffen parallel, der sich in der Innenwelt des Menschen, im menschlichen Geist, abspielt. (37) In beiden Fällen werden viele unter einem Kollektivausdruck zusammengebracht, und dieser Kollektivausdruck steht, als Sammelbegriff, nicht für eine reale Wesenheit, sondern ist nur ein Wort, ein Name, eine Fiktion. Wir brauchen uns nun nicht mit der vagen und zahmen Feststellung begnügen, daß die zwei Prozesse, der gesellschaftliche und der geistige, einander parallel liegen. Wir dürfen kühn behaupten, daß der letztere auf dem ersteren beruth und von ihm inspiriert ist. Denn nur wenige werden leugnen, daß in der Ordnung des Seienden die Wirklichkeit dem Gedanken vorhergeht, insbesondere wenn die Wirklichkeit als Gesellschaftswirklichkeit definiert wird, d. h. als eine Wirklichkeit, die bereits ein geistiges Element in sich trägt, wenn selbst auch dieses Element als außertheoretische, aktivistische Geistigkeit auftritt.

Diesem allumfassenden und logisch zu Ende geführten Nominalismus des modernen Menschen ist der ebenso allumfassende und zu Ende geführte Begriffsrealismus des Primitiven diametral entgegengesetzt. Obwohl LEVY-BRUHLs Buch "L'Ame Primitive", auf das LANDSBERG sich im wesentlichen stützt, in der Zwischenzeit von der Völkerkunde in manchen Einzelheiten überholt und korrigiert worden ist, so kann seine Argumentation im Großen und Ganzen doch nach wie vor als gültig angesehen werden. Für den Primitiven ist eine Schlange nicht so sehr diese  bestimmte  Schlange als eine Verkörperung des  Genus  "Schlange": in seinem Denken geht die Art dem Individuum vor. Wenn ein Mensch oder auch ein Tier getötet worden ist, so ist sofort die ganze Sippe oder die ganze Spezies in Mitleidenschaft gezogen und muß als Ganzheit wieder versöhnt werden. Viele Riten zielen gerade darauf ab. Ja, selbst jene Vorgänge, die wir gewöhnt sind, als die Hauptereignisse im Leben des Individuums anzusehen, sind für den Primitiven Geschehnisse am Körper der Gemeinschaft: die Geburt ist das Erscheinen einer neuen Sprosse am Baum der Familie, eine Fleischwerdung des gemeinsamen Mana; der Tod ist das Abfallen eines trocken gewordenen Zweiges, die Rückkehr eines abgetrennten Teils in das gemeinsame Mana. All diese Vorstellungen spiegeln natürlich die das soziale Leben auf dem Niveau des Primitiven durchwaltende Solidarität der Gesellschaft wider: Klan und Sippe sind nicht Vielheiten, sondern Einheiten. Das Bild, das sich der Sippengenosse von der Schlange macht, ist von der Idee bestimmt, die er von sich selbst hat: jeder MacDONALD ist sich selbst in erster Linie eine Inkarnation des Lebens der Donalds, und erst in zweiter Linie ist er dieser oder jener, IAN oder ANGUS oder SEUMAS. Der Totemismus ist lediglich die ausgebildete Form - der Brennpunkt sozusagen - in und durch den diese Weltanschauung klar ins Bewußtsein tritt. Sein heißt Glied sein, Glied eines Ganzen, das eine substantielle Einheit ist und eine einheitliche Substanz besitzt.

LANDSBERG berührt an dieser Stelle, obwohl nur flüchtig, das große Problem, das mit dieser Gegensätzlichkeit der Weltanschuungen verbunden ist, das Problem des Relativismus. Ist nicht unsere (nominalistische) Auffassungsweise klüger, vernünftiger, wirklichkeitsgemäßer als die der Primitiven? Ist es nicht weit "natürlicher" zu sagen, das Individuum sei eine substantielle Einheit und die Gesellschaft lediglich ein Wortbegriff als umgekehrt? Als moderne Menschen sind wir ohne Zweifel versucht, diese Frage mit "ja" zu beantworten. Aber als Philosophen müssen wir uns hüten, einem gemeinen Vorurteil zu verfallen. Wenn wir von einem Stein sagen, er sei ein einheitliches Ding, so tun wir nicht mehr als dem einen einheitlichen Namen beizulegen, was in Wirklichkeit eine Vielheit von Atomen, Protonen und Elektronen darstellt. Ja, selbst unser persönliches Selbst kann - viele würden sagen, muß - in gleicher Weise in seine konstituierenden Bestandteile zerlegt werden, die es erst durch ihr Zusammensein "erzeugen": man denke an die wichtige Tradition in der Seelenkunde, die Assoziationspsychologie heißt; man denke an JAMES JOYCE und sein atomisiertes Individuum. Unsere Art, an die Wirklichkeit heranzugehen, ist aus diesem Grund  prima facie  weder mehr realistisch noch weniger fiktiv als die des Primitiven. Und es muß doch auch die weitere Frage erhoben werden, ob der bewußte Nominalismus nicht zumindest ein gewisses Maß von unterbewußtem Realismus voraussetzt: es ist ja schwer, sich eine Induktion vorzustellen, die nicht innerhalb eines bestimmten Rahmens von Unterscheidungen und Ordnungskategorien vor sich geht, die schon im Bewußtsein bestehen, wenn sie anhebt, so daß die Universalbegriffe gar nicht so zustande kommen, daß  ab ovo  [vom Ei an - wp] vom Einzelfall zur umfassende Klasse vorangeschritten wird, sondern vielmehr lediglich eine Zusammenfassung innerhalb eines bereits vorgegebenen und vorgeformten Klassifikationsschemas stattfindet.

Der wertvollste und ideenreichste Teil von LANDSBERGs Artikel ist seine Untersuchung der Erkenntnislehre des platonischen Zeitalters und der Diskussionen und Meinungsverschiedenheiten, zu denenn sie Anlaß gab. Als jene glänzende Epoche in der Geschichte des menschlichen Denkens anbrach, hatten die Griechen bereits das primitive Stadium der sozialen Entwicklung hinter sich: das Prinzip der Gemeinschaft war im Zurückweichen, der Individualismus im Vordringen. Es kann darum nicht wundernehmen, daß wir vorausblickende Philosophen finden wie DEMOKRIT, die in ihrem ganzen Ausblick eine überraschende Ähnlichkeit mit der Aufklärung des 18. Jahrhunderts zeigen, und zu gleicher Zeit auch rückwärtsblickende Philosophen wie den großen PLATO. LANDSBERG betrachtet diese zwei Deker als Gegenspieler: DEMOKRIT kämpft für die nun erworbene Freiheit des Individuums und all das, was sie mit sich bringt; PLATO sehnt sich nach der dahingefallenen oder noch dahinfallenden Gebundenheit des Gemeinschaftslebens in enggefügten Lebensformen, ist aber in seinem Denken bereits gezwungen, den neuen Gegebenheiten Rechnung zu tragen.

DEMOKRIT nun entwickelt, als der Vertreter und das Sprachorgan der progressiven Gesellschaftskräfte seiner Epoche, einen weitreichenden Nominalismus. (Sein Atomisus ist im wesentlichen eine höhere Form der nominalistischen Denkweise.) Hand in Hand mit ihm geht eine starke Betonung demokratischer und weltbürgerlicher Ideale, eine Ethik indivdualistischer Prägung, welche es dem Individuum anempfiehlt, sein eigenes Glück durch ein vernunftgemäßes Leben zu fördern, und welche darum unpolitisch ist, und ein scharfer Nominalismus in der Sprachphilosophie. "Er prägt wohl zuerst den entscheidenden Satz: "Namen sind Zufall, nicht aus der Natur." (Seite 779). In EPIKUR verbindet sich dann das unpolitische und gemeinschaftsfeindliche Ideal des privaten Lebens mit einer Vertragstheorie vom Staat, und damit sind viele, um nicht zu sagen alle die Elemente gegeben, welche den modernen Nominalismus und Kontraktualismus von HOBBES, LOCKE und ROUSSEAU, jener Philosophen der aufsteigenden Bourgeoisie, kennzeichnen. "Die ganze Vorstellungsart und die ihr entsprechende Ethik konnte nur in Zeiten individuellen Strebens nach Ungebundenheit gegenüber älteren Gesellschaftsbindungen aufkommen." (Seite 780)

Wie anders ist doch das Streben, und infolgedessen auch das Denken, des aristokratischen PLATO! Sein Ziel ist die wohlgeordnete  Polis  unter der Herrschaft der Optimaten, und nicht eine demokratische Gesellschaft freier Individuen. Die Lockerung des Sozialgefüges war aber schon so weit fortgeschritten, daß es unmöglic geworden war, den integralen Universalienrealismus, wie er der Stammesgesellschaft gemäß gewesen war, aufrechtzuerhalten. Die Kategorie des Individuellen hatte sich im (sozialen) Leben weitgehend durchgesetzt und konnte nicht länger aus dem philosophischen Weltbild ferngehalten werden. Soziale und natürliche Genera konnten nicht mehr als Einheiten konzipiert, sondern mußten als Vielheiten anerkannt werden. Trotzdem will PLATO, dessen Geist tief in der Wirklichkeit und im Ideal der Gemeinschaft verankert ist, den alten philosophischen Realismus, d. h. das realistische Prinzip in der Epistemologie, nicht preisgeben. Und so bildet sich dann in seinen Händen die charakteristische Ideenlehre des Platonismus. Ideen sind "real" in dem Sinne, daß sie dem Bereich des Seienden angehören. Universalbegriffe werden nicht durch Induktion gebildet oder durch Definitionen geschaffen, sondern spiegeln einen Sektor der Wirklichkeit wider, der als "das Reich der Ideen" bezeichnet werden kann. Ideen sind dergestalt dem geistigen Auge in der gleichen Weise gegeben wie körperliche Dinge dem physischen Auge. In der historischenn Lage, in der sie entwickelt wurde, war es nun die eigentümliche Schwierigkeit dieser Erkenntnislehre, irgendwie mit der Selbständigkeit individueller Objekte, die nicht mehr geleugnet werden konnte, fertig zu werden. Diese Selbständigkeit der Dinge, die von einer Generation halbselbständiger Menschen entdeckt worden ar, machte es unmöglich, das Verhältnis des Konkreten und Individuellen zum Abstrakten und Universalen als die Relation des Teils zum Ganzen oder des Gliedes zum Körper aufzufassen. Das Konkrete und Individuelle wurde nunmehr als zu "real" empfunden, als zu unabhängig von der Kategorie, der Klasse, dem Genus, erlebt, um in dieser Weise gehandhabt zu werden. PLATO löste die Schwierigkeit, der er gegenüberstand, indem er die Vorstellung des Teils als eines  Gliedes  im Ganzen durch den Begriff seiner  Teilnahme  - der Teilnahme des Individuellen und Konkreten - am Ganzen, an der "Idee", ersetzte. Das Individuelle ist zwar wirklich, aber es ist, was es ist, kraft seines Anteiles an den "Ideen", welche, unbewegt und unvergänglich, das wahre Sein, das Sein in seiner Reinheit, darstellen.
    "So ist auch der Einzelne zwar ein Einzelner, aber er  ist  nur (im ontologischen Sinn des Wortes), wenn er sich dem Staat anschließt und von ihm durch Teilhabe sein eigentliches Sein empfängt. In diesem scharfen Sinn ist das Sein des Menschen staatlich. Das Ethos der platonischen Staatsschriften, die realistische Begriffsauffassung, die in der Ideenlehre mitenthalten ist, und das Sein des griechischen Stadtstaates bilden eine ebenso unzerreißbare Struktur wie die des nominalistischen Individualismus, oder des primitiv realistischen Solidarismus." (Seite 778)
Nachdem er diesen Faden der Entwicklung weiter durch die Jahrhunderte verfolgt hat, wendet sich LANDSBERG in einem zweiten Teil seines Aufsatzes einem weiteren Aspekt der Geschichte der Erkenntnislehre zu und beginnt wiederum mit der  communis opinio  der neueren Zeiten. Heute ist es die allgemeine Überzeugung, daß  jede  Art des Wissens  allen  Menschen offensteht. Diese Überzeugung tritt entweder in einer sensualistischen Form auf, und dann wird betont, daß alle Menschen den gleichen Sinnesapparat besitzen und so Wissen in derselben Weise sammeln können, oder sie erscheint in einer rationalistischen Verbrämung, und dann ist es die grundlegende Annahme und Behauptung, daß alle Menschen in gleicher Weise mit Vernunft begabt sind und die Vernunft in allen auch mehr oder weniger in derselben Weise arbeitet, so daß sie wiederum hinsichtlich des Wissens- und Wahrheitserwerbs auf eine Stufe gestellt sind. In beiden Fällen ergibt sich für die Epistemologie ein weitreichender Glaube an die menschliche Gleichheit. Es wird natürlich zugestanden, daß manche Menschen mehr detalliertes und technisches Wissen besitzen als andere, aber dieses Wissen ist, schon seiner Definition nach,  nur  detailliert und technisch, und die allgemeine Überzeugung fügt hinzu, daß auch diese Art des Wissens im Prinzip allen Menschen zugänglich ist und von allen Menschen erworben werden kann, wenn sie nur die richtige Unterweisung erhalten. EINSTEINs Relativitätstheorie z. B. "findet Glauben . . . , weil man überzeugt ist, daß ihre Theorien auf Sinneserfahrung, Denken und Rechnen, also doch auf die Betätigung allgemein menschlicher und für durchsichtig gehaltener Fähigkeiten nur in ungewöhnlichem Grad und in extremer Komplikation zurückzuführen sind." (Seite 793f)

Anders die platonische Philosophie. Sie ist nicht egalitär, sondern aristokratisch. Der Wissenserwerb steht nicht allen Menschen in gleicher Weise offen, sondern nur jenen, die in ihrem Wesen dem Sein verwandt sind, das Gegenstand ihres Wissens werden soll. "Es ist unmöglich, daß die Menge philosophiert. Ihr fehlt die Gottes- und Ideenverwandtschaft", lehrt PLATO. "Nur wer des Gottes fähig ist, kann das Göttliche erkennen." (Seite 791 und 795). Die Formel, daß wahre Erkenntnis eine  adaequatio rei et intellectus,  eine Übereinstimmung von Ding und Gedanke sei, hat hier einen besonders engen und präzisen Sinn, einen Sinn, der nicht nur technisch, sondern auch menschlich verstanden werden muß. Nicht alle Augen sehen und nicht alle Intelligenzen verstehen gleich gut, sondern manche Menschen sehen und verstehen besser als andere, wiewohl die Wahrheit für alle dieselbe ist. "Tiefgehende Erkenntnisdifferenzen gehen auf Seinsdifferenzen, nicht auf bloße Differenzen in der Ausbildung und Anwendung einer allgemeinen Vernunft zurück." (Seite 790f) Die Wahrheit kann nur von jenen erkannt und erfaßt werden, die, neben der normalen Sinnes- und Verstandesbegabung des Menschen, noch ein besonderes Charisma besitzen: die Philosophen, die eine Klasse, einen Stand, eine Kaste bilden und für eine erfolgreiche Suche nach den höheren Wahrheiten sozusagen prädisponiert sind. (LANDSBERG betont hier, daß sich der Platonismus damit wieder als eine Theorie erweist, welche die Denkart des Primitiven hinter sich gelassen hat, aber ihr noch nahe steht. In der Urgesellschaft besitzt der Schamane oder Seher ein magisches Privilegium hinsichtlich des Wissens, insbesondere des Wissens um die übersinnliche Wirklichkeit. PLATO teilt ihre Rolle der rationalistischen Laienklasse der Philosophen zu, während er aber doch wiederum am Gedanken ihrer privilegierten Stellung festhält.)

Es ist besonders instruktiv zu sehen, wie verschieden diese aristokratische Anschauung von der demokratischen ist, soweit es sich um das Verhältnis von Grund- und Allgemeinwissen einerseits, Spezial- und technischem Wissen andererseits handelt. Spezialwissen und technisches Wissen, so gibt sie zu, kann in der Tat weit verbreitet sein; der Schuster weiß, was er mit Leisten und Zwecken zu machen hat. Aber Grund- und Allgemeinwissen, das Wissen um die ersten und die letzten Dinge, wird stets nur der Vorbehalt der Wenigen sein. Nach der demokratischen Theorie dagegen ist gerade das technische Wissen der Besitz von Wenigen, während philosophische Erkenntnis - z. B. das Wissen um Gott, um den Weg zur Erlösung, um den Unterschied zwischen Gut und Böse - dem Zugriff aller Menschen ausgesetzt ist. Man denke an den Protestantismus; man denke an KANT. In dieser Hinsicht ist der Sensualismus noch viel gleichheitlicher gesinnt als der Rationalismus, der ihm zeitlich vorherging. Denn der Rationalismus muß zumindest ein (wenn auch beschränkte) aristokratisches Prinzip anerkennen - die Notwendigkeit, die niederen Strebungen dem höheren Streben nach der Wahrheit unterzuordnen, denn ohne eine solche Selbstbeherrschung kann der Geist keine Klarheit erringen und die Dinge nicht sehen, wie sie wirklich sind.

Wenn die Frage erhoben wird, warum denn diese Unterschiede im epistemologischen Denken überhaupt auftreten, warum PLATO einerseits, KANT und z. B. CONDILLAC andererseits als Antipoden erscheinen, die so weit voneinander entfernt sind wie Nord- und Südpol, so muß die Antwort weitgehend in der gesellschaftlichen Verumständung gesucht werden. PLATO sieht den Menschen vor allem anderen und im wesentlichen als Mitglieder einer besonderen Standesgruppe, als Krieger oder Herrscher oder Handwerker. Das allgemein menschliche Element des Bürgerseins ist lediglic ein schattenhafter Zug im Hintergrund, der sich der Aufmerksamkeit nicht aufzwingt. Für KANT und CONDILLAC dagegen ist der Mensch in erster Linie Bürger, und der ihm besondere Platz im sozialen Stufenbau ist lediglich eine Zufälligkeit, die wenig bedeutet oder doch bedeuten sollte. Darum wird ein PLATO ganz natürlicherweise auch den Wissenserwerb als die besondere Aufgabe einer besonderen Klasse ansehen, während ein KANT oder ein CONDILLAC ihn als eine Möglichkeit und Mission aller betrachten wird und sogar unwillens sein wird, dem Genie eine Sonderstellung in der Verfolgung der Wahrheit und Erkenntnis zuzubilligen. Hinter diesen sich scharf voneinander abhebenden Vorstellungen - hier der Mensch als an seinen Stand gebunden, dort als Gleicher unter Gleichen - stehen nun aber die kontrastierenden Umstände der betreffenden Zeitalter: hier die im Niedergang begriffene, aber noch geliebte und geschätzte Klassen- und Standeseinteilung der ionischen Polis, dort die Aufstrebende und mit Ungeduld erwartete Gleichheit des bürgerlichen Staates. "Keine Stände der Gesellschaft, keine Stände der Erkenntnis" (Seite 796, ist sein Grundgesetz. Der demokratischen Auffassung vom Wissen entspricht, sei es als Zustand, sei es als Ziel, eine demokratische Auffassung vom sozialen Leben, und umgekehrt. Wir sehen hier von neuem, daß die Erkenntnislehre, selbst in ihrer spekulativsten und abstraktesten Form Wurzeln besitzt, die durch die Zwischenschicht der Lehre vom Menschen im allgemeinen hindurch, tief in den Mutterboden der gesellschaftlichen Wirklichkeit hinunterreichen, die dieser Art einen der bestimmenden Faktoren der philosophischen Forschung darstellt.

Die Wissenssoziologie kann hier zu Einsichten führen, die von mehr als nur historischem Interesse sind. Wo die demokratische Denkweise die Oberhand hat, werden wir jene Formen des Wissens und Wissenserwerbs zum Ausschluß aller anderen vorherrschen finden, die in der Tat allen Menschen zugänglich sind: die Mathematik und die mathematische Technik; Beobachtung mit oder ohne eigens verfertigte Beobachtungsinstrumente. Die für das moderne - bürgerliche - Zeitalter so bezeichnende Konzentration auf sie hat sich ökonomisch als sehr lohnend erwiesen, da sie Wissenschaft und Technologie zu hoher Entfaltung gebracht hat. Aber sie hat nicht nur zu Gewinn geführt, sondern auch zu Verlust. Alle die Wege des Erkennens und der Einsicht in die Wirklichkeit, welche eine besondere Eignung oder Eigenschaft voraussetzen, sind verlassen worden und versandet: zum Beispiel die mystische Schau, ebenso wie die anderen Sonderformen der Offenbarung, ob triebhaft, künstlerisch, ekstatisch oder auf Sympathie und Empathie gebaut, aber auch die viel nüchternere philosophische Intuition, die PLATO und PLOTIN so teuer war. Solche in das Reich des Seienden führende Forschungsmethoden findet es der Durchschnittsmensch von heute unmöglich zu verstehen; ja er begegnet ihnen manchmal geradezu mit Hohn. Wo der Versuch gemacht wird, Wege dieser Art wieder zu eröffnen, wie in der Philosophie von HUSSERL und SCHELER mit ihrer Lehre von der "Wesensschau", handelt es sich regelmäßig um Oppositionsbewegungen gegen den Geist und die Sozialordnung der Zeit. Es ist zum Beispiel kein Zufall, daß SCHELER in seinem ganzen Denken und Wirken aristokratische Tendenzen zeigt. Er muß als Teil jener Strömung im sozialen und politischen Leben angesprochen werden, welche die antidemokratische Propaganda eines NIETZSCHE hervorrief und schließlich zur antidemokratischen Realität des autoritären 20. Jahrhunderts hinüberführte.

Die letzten Erwägungen eröffnen einen ersten Durchblick auf die tiefere Bedeutung, die der Wissenssoziologie vielleicht zukommen kann. Es ist zumindest möglich, daß ihre Methoden nicht nur den Ursprung und Inhalt der in der Geschichte einander folgenden Gedankensysteme erhellen, sondern auch auf ihre wesensnotwendigen Beschränkungen Licht zu werfen vermögen. Im Augenblick soll aber versucht werden, das Vorhergehende zusammenzufassen. Vielleicht kann dies am besten unter der Zuhilfenahme des Stilbegriffs geschehen, der von der Kunst- und Literaturgeschichte her bekannt ist. In der Baukunst, im Buchdruck, in der Musik hat jeder Künstler sein eigenes Kennzeichen; aber neben ihm machen sich in aller Regel auch Züge geltend, die seine Arbeit mit dem Schaffen anderer Künstler seiner Schule oder Klasse oder Generation oder Kultur verbinden, und diese gemeinsamen Charakteristika nennen wir einen Stil. Die persönliche Arbeits- und Ausdrucksweise steht zumeist mit der kollektiven nicht in Widerspruch: sie veralten sich vielmehr zueinander wie Thema und Variation. Das Grundthema, der gemeinsame Stil in einer bestimmten Kunst, weist nun in der Regel wiederum über sich selbst hinaus auf eine noch weitere thematische und stilistische Einheit hin: es gibt nicht nur Gemeinsamkeiten in Geschmack und Gestaltung, welche alle Maler innerhalb einer gegebenen sozialen Gruppierung (was immer diese sein mag) verbinden, sondern auch Familienähnlichkeiten, welche sie mit den Musikern, den Baumeistern, den Bildhauern usw., die um sie herum leben und wirken, in Verbindung bringen. Aber auch damit kommt die einende Kraft eines charakteristischen Stiles nicht zu Ende. Wie viele Beobachter es gesehen und gesagt haben (und zwar oft ohne von der Möglichkeit einer wissenssoziologischen Analyse je gehört zu haben und rein auf die augenfälligen Tatsachen gestützt): der Kunststil einer Periode ist in der Regel dem Denkstil parallel und verwandt, der sich in der Literatur, der Wissenschaft, der Philosophie und der Religion der Zeit geltend macht. Einige der besten Historiker haben faszinierende Gesamtbilder solcher totalen Geistesstile und Kulturgeistigkeiten entworfen. Der Wissenssoziologe folgt ihnen, aber - und dies ist für seine besondere Mission bezeichnend - er geht über sie hinaus. Er denkt an eine noch weiter gespannte Totalität oder Lebenseinheit, eine Einheit, die nicht nur die geistigen Phänomene zusammenhält, sondern den Geist und seine Formen (den Überbau) auf der anderen. Wie DESCARTES verbindet er "Denken" und "Sein", aber "Sein" bedeutet ihm, in Übereinstimmung mit der Auffassung des Menschen, die in allen Sozialwissenschaften unerläßlich ist, ein "gesellschaftliches Sein", ein Gliedsein in der Gesellschaft. Was er vermutet, ist, daß Ideen im sozialen Leben erzeugt und aus ihm geboren werden, und daß sie ihrem Inhalt nach das Bild der geschichtlichen und gesellschaftlichen Wirklichkeit widerspiegeln, innerhalb derer sie geworden sind.
LITERATUR: Werner Stark, Die Wissenssoziologie, Stuttgart 1960
    Anmerkungen
    1) ERIC BLOM in HILL, The Symphony, 1949, Seite 88
    2) HANS GAL, The Golden Age of Vienna, 1948, Seite 51
    3) HANS GAL, The Golden Age of Vienna, 1948, Seite 18
    4) HANS GAL, The Golden Age of Vienna, 1948, Seite 21
    5) HANS GAL, The Golden Age of Vienna, 1948, Seite 25
    6) Vgl. STARK, The Ideal Foundations of Economic Thought, Essay I
    7) Vgl. WALTER JAMES TURNER, Beethoven: The search for Reality, 1927, insbes. Seite 317
    8) TURNER, a. a. O. Seite 263
    9) TURNER, a. a. O. Seite 261
    10) Warum wir sie Wissenssoziologie nennen und nicht Denksoziologie oder dgl., soll später erklärt werden.
    11) Vgl. VIERKANDT (Hg), Handwörterbuch der Soziologie, 1931, Seite 659 und MANNHEIM, Ideologie und Utopie, 1930, Seite 148f und 21
    12) WALTER J. H. SPROTT, Science and Social Action, 1954, Seite 141
    13) HOWARD BECKER & HELMUT OTTO DAHLKE, Philosophy and Phenomenological Research, Band 1941/42, Seite 310
    14) HELMUT SCHOECK, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Band 1950, Seite 37
    15) Wir werden diese vielleicht ein wenig zu hoch gespannte Behauptung später auf das richtige Maß zurückführen.
    16) Vgl. GEORG EISERMANN, Wirtschaftstheorie und Soziologie, Heft 205 der Sammlung "Recht und Staat", 1957, inbes. Seite 5. Es braucht wohl kaum betont zu werden, daß dieser Bruder- oder Schwesterzwist im Haus der Sozialwissenschaften höchst unglückliche Folgen haben muß, und daß nur die vollste und vorbehaltloseste Zusammenarbeit der beiden Disziplinen zu gesicherter Erkenntnis führen kann. EISERMANN hat dies in der genannten Studie überzeugend bewiesen. Vgl. auch seinen weiteren Beitrag "La Sociologie de la Connaissance et la Théorie Économique, Cahiers Internationaux de la Sociologie, 1955, Seite 17f
    17) Vgl. hierzu JOACHIM GEORG DARJES' interessantes Buch: Erste Gründe der Cameralwissenschaften, 1756. DARJES bemüht sich nach Kräften zu zeigen, daß die Nationalökonomie eine "respektable" Wissenschaft ist. Einige der Argumente, die er bekämpft, sind auch gegen die Soziologie vorgebracht worden.
    18) LOVEJOY hat in einem Artikel in der ersten Nummer des Journal of the History of Ideas (1940, Seite 4 und 5) manche Belege dafür eingebracht.
    19) Gutes Material hierzu aus dem Gebiet der Geschichtsforschung und -schreibung ist in HASHAGENs Beitrag zu "Versuche zu einer Soziologie des Wissens" zu finden (1924, Seite 240 - 244). HELMUTH PLESSNER untersucht dasselbst allgemeinere Aspekte dieses Themas (Seite 417 - 423).
    20) BEETHOVEN charakterisierte die neue Lage treffend, wenn er sagte, man müsse heutzutage "ein halber Geschäftsmann" sein, wenn man Künstler bleiben will. Vgl. TURNER, Beethoven - the Search for Reality, 1954, Seite 58.
    21) TURNER, a. a. O. Seite 35, 38, 39, 54, 55, 59, 219.
    22) TURNER, a. a. O. Seite 52
    23) TURNER, Mozart - the Man and his Work, 1938, Seite 14
    24) TURNER, a. a. O. Seite 61f
    25) HANS GAL, a. a. O. Seite 22 und 28
    26) Vgl. ERNST GRÜNWALD, Das Problem der Soziologie des Wissens, 1934, Seite 115
    27) FLORIAN ZNANIECKI, Soziologische Forschung in unserer Zeit, 1951, Seite 250
    28) ZNANIECKI, The social Role of the Man of Knowledge, 1940, Seite 10 und 22
    29) ZNANIECKI, Soziologische Forschung, Seite 253
    30) ZNANIECKI, Soziologische Forschung, Seite 254
    31) MERTON, a. a. O. Seite 309
    32) MERTON, a. a. O. Seite 314
    33) MAX SCHELER, Die Wissensformen und die Gesellschaft, 1926, Seite 215
    34) JUSTUS HASHAGEN, Versuche zu einer Soziologie des Wissens, hg. SCHELER, 1924, Seite 424
    35) SPROTT, Science and Social Action, 1954, Seite 147
    36) PAUL LANDSBERG in SCHMOLLERs Jahrbuch, 1931, Seite 786f
    37) LANDSBERG versucht, diese Parallele noch konkreter und eindrucksvoller zu machen, indem er einige Denkprozesse in der modernen Wissenschaft mit gleichzeitigen Realprozessen in der Wirtschaft vergleicht. Hier wie dort sind es Zweckvorstellungen, die die Zusammenfassung der Individuen in Kollektivbegriffen oder -verbänden bedingen etc. In diese Einzelheiten können wir ihm hier nicht folgen und verweisen den Leser auf a. a. O. Seite 774f.