tb-3P. SzendeW. MackensenF. NicolaiA. RapoportF. Mauthner    
 
SAMUEL ICHIYÉ HAYAKAWA
Die Abstraktionsleiter

Der Zweck der Abstraktionsleiter besteht darin, den Abstraktionsprozess bewußt zu machen.

Wie wir die Dinge benennen und wo wir die Unterscheidungslinie zwischen einer Klasse von Dingen und einer anderen ziehen, hängt von unserem Interesse ab. Zum Beispiel werden Tiere auf die eine Weise von der Fleischindustrie, auf eine andere Weise von der Lederindustrie, auf wieder eine andere Weise von der Pelzindustrie und auf eine noch andere Weise von den Biologen klassifiziert. Keine dieser Klassifikationen ist irgendwie endgültiger, als eine andere; jede von ihnen ist für ihren Zweck nützlich.

Dies gilt natürlich für alles, was wir wahrnehmen. Ein Tisch  ist ein Tisch für uns, weil wir seine Beziehung zu unserem Verhalten und Interesse verstehen können. Wir essen an ihm, arbeiten auf ihm, legen Gegenstände auf ihn. Aber für eine Person, die in einer anderen Kultur lebt, in der keine Tische gebraucht werden, mag er ein sehr großer Stuhl, eine kleine Plattform oder ein bedeutungsloses Gebilde sein. Wenn unsere Kultur und Erziehung eine andere wäre, so würde das heißen, daß unsere Welt auch eine andere wäre.

Viele von uns können zum Beispiel nicht unterscheiden zwischen jungen Hechten, Lachs, Heilbutt, Barsch und Makrelen; wir nennen sie einfach  Fisch. Für einen Fischliebhaber indessen sind diese Unterscheidungen wichtig, da sie für ihn den Unterschied zwischen einer guten Mahlzeit oder einer schlechten bedeuten. Für einen Zoologen werden selbst feinere Unterscheidungen von großer Wichtigkeit, da er andere Ziele verfolgt. Wenn wir dann die Aussage hören "Dieser Fisch ist ein Exemplar von Pompano, Trachinotus Carolinus", so nehmen wir dies als  wahr hin, selbst wenn es uns gleichgültig ist, nicht weil dies sein  richtiger Name ist, sondern weil er so in dem vollständigsten und allgemeinsten System der Klassifizierung klassifiziert wird, das Leute entwickelt haben, die an Fischen das größte Interesse haben.

Es gilt, die Abstraktionsebenen bewußt zu machen. Durch unsere Sinne erhalten wir Kenntnisse über die Welt. Indessen geben uns unsere Sinne nur lückenhafte Informationen über die physikalische Wirklichkeit. Was wir als einen Gegenstand wahrnehmen, ist in Wirklichkeit ein schrecklich kompliziertes Zusammentreffen von Vorgängen, die sich unmöglich in ihrer Vollständigkeit beschreiben lassen. Aber unser Nervensystem verarbeitet unsere Sinneseindrücke derart, daß wir einen Gegenstand als  etwas wahrnehmen. Dieser wahrgenommene Gegenstand ist die erste Abstraktionsebene. Namen von Klassen von Gegenständen, Eigenschaften, die Klassen definieren, Verallgemeinerungen, Theorien und so weiter stehen auf zunehmend höheren Abstraktionsebenen.

Das Universum ist in ständigem Fluß. Die Sterne wachsen, kühlen sich ab, explodieren. Selbst die Erde bleibt nicht gleich; Berge werden abgetragen, Flüsse wechseln ihr Bett, Täler vertiefen sich. Auch alles Leben ist im Prozess der Verwandlung durch Geburt und Wachstum zu Verfall und Tod. Sogar was wir als  leblose Materie - Stühle, Tische, Steine - zu nennen pflegen, ist nicht starr, wie wir jetzt wissen, denn auf submikroskopischer Ebene besteht sie aus einem Wirbel von Elektronen.

Wenn ein Tisch heute fast so aussieht, wie er gestern oder vielleicht vor hundert Jahren aussah, so nicht deshalb, weil er sich nicht verändert hat, sondern weil diese Veränderungen für unsere grobe Wahrnehmung allzu geringfügig gewesen sind. Für die moderne Naturwissenschaft gibt es keine  festen Körper.  Wenn die Körper für uns  fest aussehen, so nur deshalb, weil die Bewegung ihrer kleinsten Teilchen zu rasch oder zu sehr im Kleinen abläuft, um wahrgenommen zu werden. Sie sind  fest nur in dem Sinne, in dem eine schnell rotierende Farbkarte weiß ist oder eine sich schnell drehende Kreiselspitze  stillsteht.

Unsere Sinne haben enge Wahrnehmungsgrenzen, so daß wir ständig Instrumente wie Mikroskope, Teleskope, Tachometer, Stethoskope und Seismographen benutzen müssen, um die Vorgänge entdecken und aufzuzeichnen, die unsere Sinne nicht unmittelbar wahrnehmen können. Wir nehmen Unterschiede nicht wahr, bevor sie nicht eine gewisse endliche Größe überschritten haben. Die Art, in der wir Gegenstände wahrnehmen, ist das Ergebnis der Besonderheiten unseres Gehirns. Es gibt  Lichtwellen, die wir nicht sehen können, und, wie selbst Kinder heutzutage mit ihren Hochfrequenzpfeifen wissen,  Schallwellen, die wir nicht hören können. Es ist deshalb absurd zu glauben, daß wir jemals etwas wahrnehmen,  wie es wirklich ist.

So wenig ausreichend unsere Sinne sind, so sagen sie uns doch mit Hilfe von Instrumenten vielerlei. Die Entdeckung der Mikroorganismen mit Hilfe des Mikroskops hat uns eine gewisse Herrschaft über die Welt der Bakterien gegeben. Wir können keine elektromagnetischen Wellen sehen, hören oder fühlen, aber wir können sie für nützliche Zwecke erzeugen und umwandeln. Das meiste bei der Eroberung der äußeren Welt, in der Technik, in der Chemie und in der Medizin verdanken wir der Anwendung von allerlei ausgeklügelten Mechanismen, um die Leistungsfähigkeit unseres Gehirns zu erhöhen. Im alltäglichen Leben genügen unsere Sinne noch nicht einmal zur Hälfte, um ohne Hilfsgeräte in der Welt durchzukommen. Wir können nicht einmal den Vorschriften über die Geschwindigkeitsbegrenzungen nachkommen oder unsere Gas- und Elektrizitätsrechnungen ohne Meßinstrumente aufstellen.

Unser Interesse für den Abstraktionsprozess mag befremdlich erscheinen, da das Studium der Sprache allzuoft Fragen der Aussprache, der Rechtschreibung, des Wortschatzes, der Grammatik und des Satzbaus beschränkt ist. Die Methoden, nach denen in altmodischen Schulsystemen gelehrt wird, sind offenbar weithin für die verbreitete Vorstellung verantwortlich, daß die Methode des Sprachstudiums sich ausschließlich auf Wörter beschränkt.



Liesel, die Kuh
Um auf die Beziehungen zwischen Worten und dem, wofür sie stehen, zurückzukommen, wollen wir annehmen, daß vor uns "LIESEL", eine Kuh, steht. LIESEL ist ein lebender Organismus, der sich ständig verändert, ständig Futter und Luft verbraucht, umwandelt und wieder von sich gibt. Ihr Blut zirkuliert, ihre Sinnesorgane geben ihr Nachrichten. Durch das Mikroskop ist sie eine Masse von verschiedenartigen Korpuskeln, Zellen Bakterienorganismen; vom Standpunkt der modernen Physik aus gesehen, ist sie ein beständiger Elektronentanz. Was sie in ihrer Gesamtheit ist, können wir niemals wissen, selbst wenn wir in einem bestimmten Augenblick sagen könnten, was sie war. Im nächsten Augenblick hätte sie sich so sehr verändert, daß unsere Beschreibung nicht mehr genau wäre. Es ist unmöglich, vollständig zu sagen, was LIESEL oder irgend ein anderes Ding  wirklich ist. LIESEL ist kein  statisches Objekt, sondern ein  dynamischer Prozess.

Die LIESEL, die wir wahrnehmen, ist aber wieder etwas anderes. Wir nehmen nur einen kleinen Bruchteil der vollständigen LIESEL wahr: die Lichter und Schatten ihres Äußeren, ihre Bewegungen, ihre allgemeine Gestalt, ihre Geräusche, die sie macht, und die Empfindungen, die sie in unserem Tastsinn hervorruft. - Und infolge unserer früheren Erfahrung beobachten wir Ähnlichkeiten zwischen ihr und gewissen anderen Tieren, auf welche wir in der Vergangenheit das Wort  Kuh angewandt haben.



Der Abstraktionsprozess
Der  Gegenstand unserer Wahrnehmung ist also nicht das  Ding-ansich, sondern eine Wechselwirkung zwischen unserem Gehirn und etwas, das außerhalb unseres Gehirns ist.

LIESEL ist einmalig. Es gibt nichts im Universum, das ihr in jeder Hinsicht gleicht. Wir  abstrahieren aber und wählen aus der VerwandlungsLIESEL die Züge aus, in denen sie anderen Tieren ähnlich ist, und wir  klassifizieren sie als "Kuh".

Der  Gegenstand, den wir sehen, ist eine Abstraktion auf der untersten Ebene; aber es ist immer noch eine Abstraktion, weil sie Merkmale des Vorgangs ausläßt, der die wirkliche LIESEL ist.

Das Wort LIESEL (Kuh-1) ist die unterste verbale Abstraktionsebene, auf der weitere Merkmale ausgelassen sind - die Unterschiede zwischen LIESEL gestern und LIESEL morgen - und wobei nur die Ähnlichkeiten ausgewählt sind.

Das Wort  Kuh wählt nur die Ähnlichkeiten zwischen LIESEL (Kuh-1), Grete (Kuh-2) und so weiter aus und läßt daher noch mehr von LIESEL aus.

Das Wort  Viehbestand wählt (oder abstrahiert) nur die Züge aus, die LIESEL mit Schweinen, Küken, Ziegen und Schafen gemeinsam hat.

Der Begriff  Betriebsinventar abstrahiert nur die Züge, die LIESEL mit Scheunen, Zäunen, Betriebsinventar, Möbeln, Generatoren und Traktoren gemeinsam hat, und steht deshalb auf einer sehr hohen Ebene der Abstraktion.



Die Abstraktionsleiter
beruht auf einem von ALFRED KORZYBSKI erfundenen Diagramm

1. Die Kuh besteht letztlich aus Atomen, Elektronen usw. entsprechend der derzeitigen wissenschaftlichen Erkenntnis. Die Merkmale sind auf dieser Ebene unendlich und ändern sich beständig. Dies ist die Prozeß-Ebene.

2. Die Kuh, die wir wahrnehmen, ist nicht das Wort, sondern der Gegenstand unserer Erfahrung, das, was unser Gehirn aus der Totalität abstrahiert (auswählt), die die Verwandlungskuh darstellt. Viele Merkmale der Verwandlungskuh sind ausgelassen.

3. Liesel
Das Wort "Liesel" (Kuh-1) ist der  Name, den wir dem Gegenstand der Wahrnehmung auf Ebene 2 geben; der Name ist nicht der Gegenstand; er steht für den Gegenstand und läßt viele Merkmale des Gegenstandes außer Betracht.

4. Kuh
Das Wort  Kuh steht für die Merkmale, die wir von Kuh-1, Kuh-2, Kuh-3 etc. abstrahiert haben. Merkmale, die einzelnen Kühen zukommen, sind ausgelassen.

5. Viehbestand
Wenn von LIESEL nur als Viehbestand die Rede ist, dann wird nur darauf Bezug genommen, was sie mit Schweinen, Küken, Ziegen usw. gemeinsam hat.

6. Betriebsinventar
Wenn LIESEL als Betriebsinventar aufgeführt wird, dann wird nur darauf Bezug genommen, was sie mit allen anderen verkäuflichen Gegenständen der Farm gemeinsam hat.

7. Vermögen
Wenn LIESEL als Vermögensposten aufgeführt wird, werden die meisten ihrer Merkmale ausgelassen.

8. Reichtum
Der Begriff des  Reichtums liegt auf einer äußerst hohen Abstraktionsebene, auf der fast alle Merkmale von LIESEL ausgelassen sind.

Der Zweck der Abstraktionsleiter besteht darin, den Abstraktionsprozess bewußt zu machen. Wenn wir die Abstraktionsleiter benützen, können wir wohl Aussagen, wie auch Wörter verschiedenen Abstraktionsebenen zuweisen.  Frau Levin macht gute Kartoffelpuffer mag als eine Aussage auf einer ziemlich niederen Abstraktionsebene angesehen werden, obgleich sie sicherlich viele Merkmale ausläßt, wie die Bedeutung von  Güte bei Kartoffelpuffern und die seltenen Gelegenheiten, wenn ihr Kartoffelpuffer nicht gut geraten.

Frau Levin ist eine gute Köchin  ist eine Aussage auf einer höheren Abstraktionsebene, da diese Aussage sich nicht nur auf das Geschick von Frau Levin bei Kartoffelpuffern bezieht, sondern auch auf Braten, saure Gurken, Nudeln, Strudel und so weiter, wenn auch dabei nicht im einzelnen erwähnt wird, was sie fertigbringt.

Die Frauen von Chicago sind gute Köchinnen ist eine Aussage auf einer noch höheren Abstraktionsebene; sie kann nur (wenn üerhaupt) aus der Beobachtung der Kochkünste einer statistisch erheblichen Zahl von Frauen in Chicago gemacht werden.

Die Kochkunst in Amerika hat einen hohen Stand erreicht wäre eine noch höhere abstrakte Aussage und müßte, wenn man sie überhaupt macht, sich nicht nur auf die Beobachtung der Hausfrauen von Chicago, New York, San Francisco, Denver, usw. stützen, sondern auch auf die Beobachtung der Qualität der Mahlzeiten, die in Hotels und Restaurants serviert werden, der Qualität der Ausbildung an Oberschulen und College-Abteilungen für Hauswirtschaft, der Qualität der Aufsätze über Kochkunst in amerikanischen Büchern und Illustrierten und vieler anderer erheblicher Faktoren.

Abstraktionen auf mehr oder weniger hoher Ebene können bewußt oder unbewußt dazu benutzt werden, Menschen zu manipulieren. Ein Zugriff konkurrierender Mächte auf Ölvorkommen wird dann als  Schutz der Integrität kleiner Nationen bezeichnet. Die Ablehnung der Zahlung von Beiträgen zur Sozialversicherung kann als  Aufrechterhaltung des Systems des freien Unternehmertums bezeichnet werden. Wenn den Schwarzen in Verletzung der Verfassung der Vereinigten Staaten ihr Stimmrecht vorenthalten wird, so kann dies als  Bewahrung der staatlichen Rechte ausgegeben werden.

Wie die Abstraktionsleiter zeigt, ist alles, was wir wissen, eine Abstraktion. Was wir über den Stuhl wissen, auf dem wir sitzen, ist eine Abstraktion von seiner Totalität. Wenn wir Weißbrot essen, dann können wir nach dem Geschmack nicht beurteilen, ob es mit Vitamin B angereichert ist, wie es auf der Verpackung heißt oder nicht; wir müssen einfach darauf vertrauen, daß der chemische Prozess, aus dem die Worte Vitamin B abstrahiert sind, tatsächlich stattgefunden haben. Was wir über unsere Freundin oder Frau wissen, selbst wenn wir 30 Jahre mit ihr befreundet, bzw. verheiratet sind, ist wiederum eine Abstraktion. Das Mißtrauen aber auf alle Abstraktionen ohne Unterschied ausdehnen zu wollen, ist Unsinn. Wir dürfen nur nicht vergessen, daß Abstraktionen praktisch sein können, wenn wir uns bewußt sind, wie sie verwendet werden. Abstraktionen haben überhaupt nur praktischen Wert. Wenn es keine objektive Realität gibt, gibt es auch keine Trennung zwischen Theorie und Praxis, weil keine Theorie mehr als praktischen Wert besitzt.
LITERATUR: Hayakawa, Samuel I., Sprache im Denken und Handeln, Darmstadt 1984