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WILHELM JERUSALEM
Über psychologische und
logische Urteilstheorien

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"Die Verzweigungen des Urteils in das Gebiet des Fühlens und Wollens, die Entstehung des Vorgangs aus elementaren Prozessen und endlich die biologische Bedeutung der Urteilsfunktion sind dabei für den Psychologen das Wichtigste. Von all dem lehrt aber eine logische Betrachtung des Urteils nichts und darf nichts davon lehren. Der Logiker muß das Urteil vielmehr aus seinem psychischen Zusammenhang möglichst loslösen. Er fragt nicht, was das Urteil  ist,  sondern was es  bedeutet.  Er erblickt darin nur eine Form des Erkennens und wünscht zu bestimmen, unter welchen Bedingungen und Formen ihr Erkenntniswert am leichtesten geprüft werden kann."

"Die Begriffe, welche die Logik als Bestandteile des Urteils auffaßt und auffassen muß, führen für den Logiker eine Art selbständigen Daseins, wobei sogar davon abstrahiert werden muß, daß ein bestimmtes Individuum dieselben denken müsse. Die Logik sucht also das Denken nicht nur von allen Gefühlselemenen zu befreien, sie will dabei sogar vom Denker selbst abstrahieren."

" Allgemeine Tatsachen  ist, bei Licht besehen, eine contradictio in adjecto."


I.

Seit den Tagen des ARISTOTELES gilt die Lehre vom Urteil als ein wichtiger Bestandteil der  Logik.  Zwar haben hervorragende Logiker der Gegenwart schon lange das Bedürfnis empfunden, eine breite und tiefe  psychologische  Grundlage für die Lehre vom Urteil zu gewinnen und haben zu diesem Zweck gerade dem Urteilsakt eingehende psychologische Untersuchungen gewidmet; allein diese von logischen Gesichtspunkten und zu logischen Zwecken unternommenen Untersuchungen haben die verbreitete Ansicht nicht geändert. Jedenfalls wird auch heute noch jede Untersuchung, die sich mit dem Urteil beschäftigt, als ein Beitrag zur Logik betrachtet.

Wenn ich nicht irre, war BRENTANO der erste, der das Urteilen als psychisches Phänomen ganz ohne Rücksicht auf logische Zwecke untersuchte. Das Resultat dieser Untersuchung halte ich, wie in meinem Buch "Die Urteilsfunktion" des näheren ausgeführt ist, allerdings für verfehlt, aber die Inanspruchnahme des Urteilsproblems für die Psychologie muß ich als hervorragendes Verdienst bezeichnen. (1)

Wenn nun mein Buch von mehreren Kritikern als ein Beitrag zur Logik bezeichnet, von einem andern wieder behauptet wurde, daß "eine einheitliche Bestimmung dessen, was das Urteil sei, nur innerhalb der Logik und zu logischen Zwecken durchführbar ist", so scheint es nicht überflüssig, die Möglichkeit und Notwendigkeit einer rein psychologischen Behandlung des Urteilsproblems hier nochmals zu begründen und das Verhältnis einer solchen Betrachtungsweise zur logischen Seite der Frage erörtern.

Daß Millionen Menschen täglich Urteile fällen, wird wohl niemand in Abrede stellen wollen. Ebenso gewiß ist es aber auch, daß diese Urteile psychische Phänomene sind, daß dieselben im Zusammenhang stehen mit anderen gleichzeitig sich abspielenden Vorgängen. Schon aus diesen unzweifelhaften Tatsachen ergibt sich für den Psychologen die Pflicht zu untersuchen, welcher Art diese Vorgänge sind, aus welchen Elementen sie bestehen und entstehen. Daß alos in der analytischen und genetischen Beschreibung der psychischen Vorgänge überhaupt auch das so häufig vorkommende Phänomen des Urteilens nicht übergangen werden darf, das braucht wohl nicht erst bewiesen werden.

Streiten kann man allerdings darüber, ob sich in allen Urteilen, die wirklich gefällt werden, eine Gleichartigkeit des psychischen Geschehens nachweisen läßt. Das Wort  Urteil  (und die ihm entsprechenden Ausdrücke in anderen Sprachen) verdankt ja tatsächlich mehr grammatischen und logischen Reflexionen seine Entstehung und Einbürgerung in die philosophische Terminologie und gehört nicht zum Inventar jener Ausdrücke, in denen sich die Anschauungen des Volkes über psychische Vorgänge verdichtet haben. In meinem Buch habe ich mich nun allerdings bemüht zu zeigen, daß derselbe Typus sich in den einfachsten wie auch in den kompliziertesten Urteilen nachweisen lasse, allein dieser Nachweis könnte ja mißlungen sein und in der Tat haben mir in diesem Punkt bis jetzt nur wenige Kritiker zugestimmt. Ich wage freilich zu hoffen, daß es mir noch gelingen wird, die Fachgenossen von der Richtigkeit meiner Überlegung zu überzeugen; allein selbst wenn meine Behauptung hier falsch ist, so ist damit eine Psychologie des Urteilens keineswegs überflüssig geworden. Im Gegenteil. Dann muß die Psychologie die verschiedenen Phänomene, welche mit dem Namen Urteil bezeichnet werden, erst recht untersuchen und zeigen, worin die psychische Verschiedenheit der verschiedenen Urteilsformen besteht.

Selbstverständlich muß die Psychologie den Urteilsakt in seinem Zusammenhang mit dem gesamten Seelenleben zu erfassen bestrebt sein. Die Verzweigungen des Urteils in das Gebiet des Fühlens und Wollens, die Entstehung des Vorgangs aus elementaren Prozessen und endlich die biologische Bedeutung der Urteilsfunktion sind dabei für den Psychologen das Wichtigste. Von all dem lehrt aber eine logische Betrachtung des Urteils nichts und darf nichts davon lehren. Der Logiker muß das Urteil vielmehr aus seinem psychischen Zusammenhang möglichst loslösen. Er fragt nicht, was das Urteil  ist,  sondern was es  bedeutet.  Er erblickt darin nur eine Form des Erkennens und wünscht zu bestimmen, unter welchen Bedingungen und Formen ihr Erkenntniswert am leichtesten geprüft werden kann. Die Begriffe, welche die Logik als Bestandteile des Urteils auffaßt und auffassen muß, führen für den Logiker eine Art selbständigen Daseins, wobei sogar davon abstrahiert werden muß, daß ein bestimmtes Individuum dieselben denken müsse. Die Logik sucht also das Denken nicht nur von allen Gefühlselemenen zu befreien, sie will dabei sogar vom Denker selbst abstrahieren. In das Begriffsverhältnis, als welches zu logischen Zwecken das Urteil betrachtet werden muß, sucht man so tief als möglich einzudringen. In der Verfeinerung der Formeln für alle möglicen Begriffsverhältnisse, wobei sich auch mit großem Vorteil mathematische Denkmittel anwenden lassen, liegt auch die Aufgabe und der Ausbau der Logik und man wird wohl anerkennen müssen, daß die moderne Logik hier manchen Schritt über ARISTOTELES hinaus gemacht hat.

So fruchtbringend nun auch die Eliminierung alles Persönlichen aus den Denkformen für die Ausbildung streng wissenschaftlicher Prüfungsmethoden geworden ist, die Psychologie des Denkens ist durch die logische Betrachtungsweise eher gehemmt und irregeleitet, als gefördert und geregelt worden. Wer zu logischen Zwecken an eine derartige psychologische Untersuchung herantritt, ist meist schon zu sehr an die oben charakterisierte Abstraktion gewöhnt, als daß er sich ganz davon befreien könnte. So wertvoll deshalb auch die betreffenden psychologischen Abschnitte bei JOHN STUART MILL, bei SIGWART, WUNDT, BENNO ERDMANN ohne Zweifel sind, so machen sie trotzdem eine von allen Rücksichten auf logische Zwecke vollständig freie, rein psychologische Untersuchung keineswegs überflüssig. Schon HORWICZ (Psychologische Analysen II, Seite 1f), der nur eine Psychologie des Denkens liefern will, hat die Bedeutung des Gefühls für den Denkprozeß klarer erkannt, als andere Forscher; aber auch er ist im Verlauf seiner Untersuchung doch wieder in das logische Schema hineingekommen. "Eben deshalb aber glaube ich, daß die psychologische Untersuchung des Urteilsaktes zunächst als selbständige Aufgabe in Angriff genommen werden muß. Der Urteilsakt soll zunächst als ein Teil unseres ganzen Seelenlebens begriffen werden, der an der Entwicklung desselben teilnimmt, es sollen die Beziehungen desselben zu den übrigen Vorgängen aufgedeckt und dabei ohne jede Rücksichtnahme auf bestimmte logische und erkenntnistheoretische Lehren eine Beschreibung dessen gegeben werden, was in uns vorgeht, wenn wir urteilen" (Urteilsfunktion Seite 2f).

Für den Psychologen sind die Umstände, unter denen ein Urteil gefällt wird, von der allergrößten Bedeutung. Nur durch genaue Berücksichtigung alles dessen, was dem Urteil vorangeht und durch sorgfältige Analyse des Vorstellungsinhaltes, der dem Urteil zugrunde liegt, sowie durch Beachtung der Zwecke, welche der Urteilende gelegentlich durch das Urteilen erreichen will, kann es gelingen, zu annähernd vollständigen Beschreibungen zu gelangen. Von all dem muß aber der Logiker streng abstrahieren. Für ihn steht das Urteil nur in Beziehung zu den wirklichen Vorgängen, welche darin nachgebildet werden oder zum sonstigen Denkinhalt. Er fragt nicht, wer das Urteil gefällt hat oder unter welchen Umständen es gefällt wurde, sondern untersucht nur das zugrunde liegende Begriffsverhältnis, um dann entscheiden zu können, ob dieses Begriffsverhältnis dem tatsächlichen Verhalten der Dinge entspreche oder ob dasselbe mit den möglichen Denkinhalten und mit den allgemeinen Denkgesetzen übereinstimme. Daher kommt es, daß die Beispiele der Logiker oft künstliche Konstruktionen sind, die im wirklichen Denken wenig oder gar nicht vorkommen. Die psychologische Natur des Urteilsaktes läßt sich aber nur an solchen Urteilen finden, die tatsächlich gefällt werden, am besten an solchen, welche man selbst einmal unter bestimmten Umständen gefällt oder von anderen gehört hat.

Ein und dasselbe Urteil, d. h. sprachlich nicht verschiedene Aussagen, können unter verschiedenen Umständen gebildet werden und es liegen dann für den Psychologen verschiedene Phänomene vor. Mein Kritiker im Literarischen Zentralblatt hat gewiß vollkommen recht, wenn er sagt, daß "der psychologische Tatbestand, der bei der Bildung, Aussprache oder Aufnahme von Urteilen vorliegt, bei einem und demselben Urteil eine sehr veränderliche Beschaffenheit haben kann" (2).

Dem Psychologen tritt daher der Akt des Urteilens in einer großen Mannigfaltigkeit entgegen und es gehört zu seinen wichtigsten Aufgaben, eine Übersicht über diese Fülle von Formen zu gewinnen, d. h. eine Klassifikation der Urteile zu geben. Auch dieses Bedürfnis ist von Logikern gefühlt, aber nur in unzureichendem Maße befriedigt worden. Selbst BENNO ERDMANN, der eine von der grammatischen und logischen getrennte, rein psychologische Einteilung der Urteile gegeben hat (Logik I, Seite 192f), übersieht sehr wichtige und häufige Formen. So werden die gewiß zahlreichen und häufigen Urteile über  zukünftige  Ereignisse gar nicht erwähnt und auch für die Urteile über selbsterlebte psychische Phänomene bietet sein Schema keinen Platz. Diese letzteren sind aber in Bezug auf den ganzen sich dabei abspielenden Vorgang doch wesentlich verschieden von dem, was allgemein und auch bei ERDMANN unter Wahrnehmungsurteilen verstanden wird.

Meinen eigenen Klassifikationsversuch, wie er im vierten Abschnitt meines Buches vorliegt, bin ich weit entfernt, für lückenlos zu halten, allein so viel glaube ich doch sagen zu können, daß darin auf Urteilsformen hingewiesen wird, die bisher so gut wie gar nicht berücksichtigt waren und daß manche der bereits bekannten in neuem Licht erscheinen. Ich bin bei diesem Versuch vom Gesichtspunkt der Entwicklung ausgegangen und wollte den Urteilsakt gleichsam von seinen instinktiven Ursprung bis zu dem Punkt verfolgen, wo die logische Prüfung der Urteile zu beginnen hat. Eben darum tritt aber das klassifikatorische Ergebnis, das gleichsam nur ein Nebenprodukt ist, nicht mit genügender Deutlichkeit hervor und ich möchte deshalb die Gelegenheit benützen und das dort Gesagte hier auf die Form eines übersichtlichen Schemas zu bringen versuchen.


II.

Zu den psychischen Zuständen, welche jedem Urteil vorangehen, gehört ohne Zweifel irgendein  Vorstellungsinhalt.  Dies wird auch von allen Forschern, die sich mit der Psychologie des Urteilens beschäftigt haben, zugegeben oder vielmehr als selbstverständlich vorausgesetzt. Im Urteil und durch das Urteil nehmen wir mit diesem Vorstellungsinhalt etwas vor und in der Bestimmung dessen, was wir damit vornehmen, gehen eben die Meinungen auseinander. Nach BRENTANOs Lehre wird dieser Vorstellungsinhalt im Urteil anerkannt oder verworfen, nach SIGWART werden die Elemente desselben in Eins gesetzt, nach WUNDT wird der Vorstellungsinhalt zerlegt, nach BENNO ERDMANN die logische Immanenz des einen Elementes im anderen behauptet, nach meiner Theorie wird der Vorstellungsinhalt geformt, gegliedert und objektiviert. Man kann also vielleicht zu einer Klassifikation gelangen, die auf allgemeine Zustimmung Aussicht hat, wenn man den von allen Seiten zugestandenen Vorstellungsinhalt zum Ausgangspunkt nimmt und fragt, in welcher Weise derselbe uns gegeben sein kann.

Es lassen sich nun, glaube ich, im ganzen  drei  verschiedene Arten unterscheiden, in denen der dem Urteil zugrunde liegende Vorstellungsinhalt dem Bewußtsein gegeben sein kann:
    1.  In der Anschauung, 
    2.  im Denken, 
    3.  in der inneren Wahrnehmung. 
Diese Einteilung liegt meiner Klassifikation zugrunde, ist aber, wie gesagt, nicht mit dieser Deutlichkeit in meinem Buch ausgesprochen. Es wird sich durch eine kurze Erläuterung zeigen lassen, daß diese drei Gruppen voneinander wesentlich verschiedene Urteile hervorbringen. Die sich dabei ergebenden Formen sind fast sämtlich in meinem Buch ausführlich besprochen, worauf ich verweisen muß. Zur leichteren Auffindung füge ich bei jeder einzelnen Klasse die Seitenzahl meines Buches bei, wo dieselbe behandelt ist.

1.  In der Anschauung  gegeben sind jene Inhalte, welche individuell bestimmt sind. Was ich jetzt in meiner Umgebung wahrnehme, die Dinge und Vorgänge, die ich von bestimmten eigenen Erlebnissen her in der Erinnerung habe, was ich mir mit meiner Einbildungskraft jetzt so und nicht anders vorstelle, alles das nenne ich anschaulich gegeben. Objektiv entspricht dem in der Anschauung gegebenen Inhalt ein räumlich und zeitlich genau bestimmtes, mit der Persönlichkeit des Urteilenden irgendwie zusammenhängendes, d. h.  individuell bestimmtes und individuell gefärbtes Geschehen. 

Die Urteile, zu denen solche Vorstellungsinhalte Anlaß geben, zerfallen wieder in drei Gruppen. Wenn mich ein Bestandteil meiner gegenwärtigen Umgebung zu einem Urteil veranlaßt, welches eben diesen jetzt und hier von mir wahrgenommenen Vorgang zum Gegenstand hat, dann liegt ein  Wahrnehmungsurteil  vor (108f, 127f). Das Präsens, welches die indogermanischen Sprachen zum Ausdruck solcher Urteile verwenden, enthält den Hinweis auf das Hier und Jetzt des Urteilenden und sagt implizit, daß er den beurteilten Vorgang eben jetzt wahrnehme.

Wo ein früheres Erlebnis den Inhalt des Urteils bildet, da entsteht ein  Erinnerungsurteil.  Der Vorgang ist ebenfalls mit allen Einzeleiten und persönlichen Beziehungen anschaulich dem Bewußtsein gegeben und es ändert sich nur das zeitliche Verhältnis (130 - 134). Die Tempusform des Präteritums [das Vorhergegangene - wp], welche den sprachlichen Ausdruck dieser Urteile charakterisiert, enthält in sich ganz deutlich die Beziehung auf den Urteilenden und bezeichnet den beurteilten Vorgang als selbsterlebten.

Wo hingegen die gegenwärtige Umgebung oder der psychische Zustand des Urteilenden dazu anregt, sich die künftige Gestaltung der Gegenwart mit der Phantasie vorzustellen, da entsteht ein  Erwartungsurteil  (134 - 138). Die Tempusform dieser Urteile ist das Futurum und es wird darin die Zukunft als ein in der Gegenwart liegender Keim, als eine Tendenz des gegenwärtigen Zustandes aufgefaßt. Auch hier ist sowohl die gegenwärtige Umgebung als auch die Phantasievorstellung des Zukünftigen anschaulich, d. h. mit voller individueller Bestimmtheit und Färbung gegeben.

Als Gesamtnamen für diese Gruppe möchte ich vorschlagen:  Urteile  der Anschauung.

Zum Teil deckt sich diese Gruppe mit der Klasse von Urteilen, welche ALOIS RIEHL als "Urteile" schlechtweg von den "begrifflichen Sätzen" und von KRIES als "Realurteile" von den "Beziehungsurteilen" unterscheidet. O. K., der diese Unterscheidung zweckmäßiger findet, als die in meinem Buch vorgeschlagene Einteilung, formuliert in der bereits zitierten Rezension die Sache so, daß hier "Aussagen über Tatsachen" und "Aussagen über Begriffe" geschieden werden. In diesem Klassifikationsversuch ist das psychologische Moment vom logischen und erkenntnistheoretischen nicht scharf genug abgegrenzt, es sind vielmehr alle diese Momente berücksichtigt und manchmal ein wenig durcheinander geworfen. Für mich kommt hier nur das psychologische in Betracht und in dieser Beziehung bin ich genötigt, zu der mir besonders empfohlenen Klassifikation Stellung zu nehmen.

RIEHL unterscheidet in seinen "Beiträgen zur Logik" zwei "Gebiete von Aussagen". "Das erste wird durch den Zusammenhang unserer Wahrnehmungen gebildet und die Bedeutung einer Aussage innerhalb dieses Gebietes ist die Einordnung des vorgestellten Inhaltes in diesem Zusammenhang, mit anderen Worten: die Behauptung von Existenz oder Wirklichkeit des Inhaltes. Das zweite besteht im Denkzusammenhang, dem Universum unserer begrifflichen Vorstellungen als solcher. Hier ist der Sinn einer Aussage die Unterordnung eines Begriffsverhältnisses unter die gesetzliche Form des Denkens und Anschauens". Die Aussagen der ersten Gruppe nennt RIEHL "Urteile", die der zweiten "begriffliche Sätze), das Prädikat der Urteile ist "Wirklichkeit", das der begrifflichen Sätze "Wahrheit". "  Wirklichsein  und  in den Zusammenhang der Wahrnehmungen gehören  bedeutet ein und dasselbe". In der Klassifikation der Urteile berühren sich RIEHLs Ausführungen mehrfach mit dem von mir Vorgebrachten, weichen aber auch vielfach davon ab. RIEHL spricht von Wahrnehmungs- und Erinnerungsurteilen, geht dann aber zu Benennungsurteilen und zu Urteilen von empirischer Allgemeinheit über. Seine "Urteile" können also auch Aussagen allgemeiner Natur sein und das unterscheidet sie von meinen "Urteilen der Anschauung", deren Vorstellungsinhalt ein individuell bestimmter und individuell gefärbter ist. Etwas näher scheint meine Einteilung derjenigen zu stehen, die von KRIES vorgeschlagen hat. Im Anschluß an RIEHL unterscheidet auch von KRIES zwei Gebiete von Aussagen, will aber für beide den Namen Urteil beibehalten. Er spricht daher von "Realurteilen" und von "Beziehungsurteilen". Unter Realurteilen versteht er die auf die Wirklichkeit bezüglichen Aussagen, unterscheidet aber gleich zwei Arten derselben. Diejenigen, welche etwas über eine bestimmte, konkrete Gestaltung der Wirklichkeit aussagen, nennt er "ontologische Realurteile". Von diesen verschieden sind solche, welche nur die "Verknüpfung zweier Realitäten" behaupten. Solche nennt er, meiner Ansicht nach sehr treffend, "nomologische Urteile" und bemerkt sehr richtig, daß dahin auch Aussagen gehören, wie "Alle Menschen sind sterblich"; denn der Sinn dieser Aussage sei nur der, daß mit gewissen, den Begriff Mensch ausmachenden Eigenschaften stets auch die Eigenschaft der Sterblichkeit verbunden sei.

Was von KRIES ontologische Realurteile nennt, das deckt sich nah den Erklärungen, die der Verfasser gibt, ziemlich genau mit meinen Urteilen der Anschauung. Auch meine Urteile der Anschauung sind Aussagen über eine konkrete Gestaltung der Wirklichkeit. Eine solche konkrete Gestaltung der Wirklichkeit oder, wie es KÜLPE nennt, eine Tatsache ist, wenn man die Sache streng nimmt, nur da gegeben, wo ein individuell bestimmtes und individuell gefärbtes Geschehen vorliegt. Unter den Beispielen aber, die von KRIES gibt, findet sich auch der Satz "Rom liegt am Tiber". Wer diesen Satz fern von Rom ausspricht, der bezeichnet aber damit schon mehr als eine solche konkrete Gestaltung der Wirklichkeit: Es liegt darin die Behauptung, daß jeder, der nach Rom kommt, dort auch den Tiberfluß finden wird, daß dies nicht etwa hier und jetzt, sondern immer der Fall ist. Rom ist in diesem Beispiel nicht mehr eine einzelne bestimmte Vorstellung, sondern ein Individualbegriff, als dessen ständiges, bleibendes Merkmal die Lage am Tiber bezeichnet. Sowie der Satz in die Sphäre der Allgemeinheit erhoben wird, erhält er sofort nomologischen Charakter und bedeutet nicht mehr eine Tatsache, sondern ein  Gesetz des Geschehens.  von KRIES hat dies ja auch von Urteilen wie "alle Menschen sind sterblich" zugegeben, indem er dieselben als  nomologische Realurteile  bezeichnet. Jedes Urteil, das eine wirkliche Tatsache nachbildet, muß ein individuell bestimmtes und individuell gefärbtes sein. Das Präsens solcher Urteile enthält, wie bereits gesagt, in sich stets den Hinweis auf das Hier und Jetzt des Sprechenden und damit hat schon die Sprache diese Art von Urteilen deutlich charakterisiert. "Allgemeine Tatsachen" ist, bei Licht besehen, eine contradictio in adjecto [ein Widerspruch in sich - wp] Was man gemeinhin so nennt, das sind nichts anderes, als Gesetze des Geschehens und diese finden ihren adäquaten Ausdruck in  Begriffsurteilen.  ALOIS RIEHLs Einteilung in "Urteile" und "begriffliche Sätze" scheint mir also deshalb nicht fruchbringend zu sein, weil der Unterschied kein durchgreifender ist und auch das Wesen der Funktion nicht trifft. Die "Urteile" sind nach RIEHLs eigenen Beispielen keineswegs bloaß Aussagen über Tatsachen, sindern oft auch Aussagen über Begriffe und damit über Gesetze des Geschehens. Die "begrifflichen Sätze" andererseits können aus dem Zusammenhang der Wirklichkeit nicht losgelöst werden, sondern sind in letzter Linie ebenfalls Aussagen über Gesetze des Geschehens.

von KRIES' Unterscheidung zwischen "ontologischen" und "nomologischen" Realurteilen finde ich sehr zutreffend und verwendbar. Nur muß meiner Ansicht nach die Klasse der ontologischen Realurteile auf jene Aussagen beschränkt werden, die individuell bestimmte und individuell gefärbte Vorgänge zum Gegenstand haben. Sowie die Behauptung etwas aussagt, was nicht nur hier und jetzt, sondern immer der Fall ist, wird das Urteil zu einem nomologischen und damit zu einem Begriffsurteil.

Was ich also vom psychologischen Gesichtspunkt aus als Urteile der Anschauung bezeichne, dasselbe kann vom logischen und erkenntnistheoretischen Standpunkt aus ein ontologisches Realurteil genannt werden. Dieser Begriff konnte eben aufgrund der vorgenommenen psychologischen Analyse genauer bestimmt werden und so zeigt es sich schon hier, daß die rein psychologische Betrachtung der Urteilsfunktion auch für die Logik bedeutsam werden kann.

Die Urteile der Anschauung können, da sie eben nur wirklich erlebte Einzeltatsachen aussagen, nicht zum Gegenstand logischer Prüfung gemacht werden. Wenn man nun hier vielleicht darauf hinweist, daß an die sprachliche Formulierung dieser Urteile bereits begriffliche, also allgemeine, gedankliche und nicht bloß anschauliche Elemente herangebracht werden, so gebe ich das ohne weiteres zu. Allein in dieser Heranbringung liegt eben eine der Leistungen der Urteilsfunktion. Wer beim Anblick eines bestimmten Wetterzustandes ausruft, es regnet, der fällt ein Urteil der Anschauung. Er will damit nur behaupten, daß es jetzt und hier in seiner Umgebung regnet und zwar in der Weise, wie es eben gerade regnet. Dadurch aber, daß die sprachliche Wendung "es regnet" bereits längst gebildet und allgemein verständlich ist, bringt man zur Bezeichnung eines individuellen Vorgangs eine Vorstellung herauf, die infolge früherer Erfahrungen mannigfache Assoziationen und Anlässe zu Urteilen in sich birgt. Gemeint ist aber immer nur der jetzt strömende Regen; dieser ist durch Anschauung gegeben und diese Anschauung wird durch das Urteil eben geformt, gegliedert und durch Anknüpfung an frühere Erfahrungen zum geistigen Eigentum und damit biologisch verwendbar gemacht. Die Funktion bleibt dieselbe, nur wird sie auf verschieden gegebene Inhalte angewendet und diese Verschiedenheit ist der Einteilungsgrund für unseren Klassifizierungsversuch.

Die zweite Gruppe wird von denjenigen Urteilen gebildet, deren Vorstellungsinhalt nicht anschaulich, sondern  im Denken  gegeben ist. Unter Denken verstehe ich jene psychische Tätigkeit, durch welche die Sinnesdata miteinander verknüpft, überhaupt so verarbeitet werden, daß dieselben zu unserem geistigen Eigentum und biologisch verwertbar werden. Es ist dies, um dasselbe in der Sprache möglichst entgegengesetzter Weltanschauungen auszudrücken, jene Arbeit, welche nach PLATO die Seele selbst ohne Vermittlung eines Organs, nach PAUL FLECHSIG die von den Sinneszentren getrennten Cogitationszentren [Reflexionszentren - wp] verrichten.

Da jedes Urteilen Denken ist, wenn auch Vorstufen desselben in der Wahrnehmung vorgebildet sein mögen, so sind natürlich auch bei den "Urteilen der Anschauung" Denkprozesse beteiligt. Die uns jetzt vorliegende Klasse von Urteilen ist aber dadurch charakterisiert, daß der Vorstellungsinhalt oder, wie man auch sagen kann, der Stoff des Urteils durch das Denken gegeben ist. Die Urteile dieser Gruppe nenne ich  Begriffsurteile,  weil die Elemente, aus denen sie bestehen, hier nicht individuell bestimmte Wahrnehmungen, sondern eben Begriffe sind. (38 -163)

Alle Begriffe sind aber Niederschläge und Verdichtungen vorangegangener Wahrnehmungsurteile und eben deshalb glaube ich, daß da, wo sie wieder zu Urteilen Anlaß geben, immer dieselbe Funktion wirksam sein muß. Doch davon soll später noch die Rede sein.

Die Begriffsurteile bilden das eigentliche Gebiet der Logik und hier ist noch auf lange hinaus Stoff für fruchtbringende logische Arbeit gegeben. Hier liegen, wie gesagt, Formulierungen von Gesetzen des Geschehens vor und die wissenschaftliche Forschung hat die Aufgabe, zu immer höheren und immer allgemeineren Gesetzen vorzudringen.

Daß alle Begriffsurteil wirklich nichts anderes sind, als Gesetze des Geschehens, ist zwar weder allgemein bekannt, noch anerkannt, scheint mir aber trotzdem zweifellos richtig. Bei den Urteilen und Urteilsgefügen, die das Vorhandensein bestimmter Beziehungen behaupten, wird das leicht zugegeben werden. Daß ein Urteil wie "wenn ein Körper erwärmt wird, vergrößert er sein Volumen" ein Gesetz des Geschehens zum Ausdruck bringt, liegt auf der Hand. Aber auch die sogenannten Subsumtionsurteile wie "Gold ist ein Metall" sind, genau besehen, nichts anderes als Formeln für Gesetze des Geschehens. "Gold ist ein Metall" heißt so viel als: wo man einen Körper findet, der die Eigenschaften hat, die man mit dem Namen Gold zusammenfaßt, wird man an ihm auch die Eigenschaften finden, die dem Begriff Metall zukommen, d. h. etwa die Eigenschaft des Glanzes und der gelben Farbe, an der ich Gold erkenne, ist immer verbunden mit den allgemeinen Eigenschaften der Metalle (großes spezifisches Gewicht, geringe Härte, Dehnbarkeit und Schmelzbarkeit).

Unter den Begriffsurteilen nehmen die Urteile über Beziehungen eine hervorragende Stelle ein, ohne daß sie jedoch dabei den Typus änderten. Sehr häufig sind die Beziehungsurteile Urteilsgefüge, indem beide Glieder der Beziehung Vorgänge sind, die selbst durch Urteile gedacht und bezeichnet werden müssen.

Charakteristisch für die Begriffsurteile ist ferner, daß die sprachliche Bezeichnung - wenigstens in den indogermanischen Sprachen - immer das Verbum im  Präsens  enthält. Dieses Präsens enthält jedoch durchaus keinen Hinweis auf das Jetzt und Hier des Sprechenden, sondern ist eben der Ausdruck für die allgemeine Geltung des im Urteil formulierten Gesetzes. Daß sich ein solches Begriffspräsens zum Unterschied vom anschaulichen Präsens in der Sprache ausgebildet hat, daß dieser Unterschied schon längst von den Grammatikern bemerkt wurde, scheint mir mit eine Gewähr dafür zu bieten, daß die Unterscheidung von Urteilen der Anschauung und Begriffsurteilen psychologisch richtig ist und daß das unterscheidende Merkmal eben in der Art liegt, wie der Vorstellungsinhalt gegeben ist.

Eine weitere Eigentümlichkeit im sprachlichen Ausdruck der Begriffsurteile ist schon oft hervorgehoben, aber soviel ich weiß, noch nicht psychologisch erklärt worden. Ich meine die so überaus häufige Zerlegung des Prädikats in die Kopula und den Prädikatsbegriff. Man hat seit ARISTOTELES, diese Form des Urteils für die typische gehalten und das hat wesentlich dazu beigetragen, das Urteil als eine Verbindung von Begriffen zu betrachten.

Wie immer diese Form entstanden sein mag, sicher ist, daß der Prädikatsbegriff, mag er nun sprachlich durch ein Adjektiv oder durch ein Substantig bezeichnet sein, immer einen Komplex von Eigenschaften oder Zuständen bedeutet, die dem Subjekt inhärieren. Wer aus irgendeinem Anlaß das Urteil fällt: Der Hund ist ein Säugetier, der meint damit, daß der Hund jene Eigenschaft besitze, welche den Säugetieren gemeinsam sind. Es ist möglich, ja wahrscheinlich, daß der Urteilende dabei auch assoziative an andere Säugetiere denkt, aber diese Assoziation ist nicht das Wesentlich des Urteilsaktes, sondern nur die Behauptung der Immanenz des Prädikates im Subjekt.

Dies führt mich auf zwei Klassen von Urteilen, die ich als Übergangsformen zwischen Anschauungs- und Begriffsurteilen bezeichnen möchte. Die eine dieser Klassen bilden die sogenannten Benennungsurteile, in denen ein wahrgenommener Gegenstand, wie man sich gewöhnlich ausdrückt, unter einen Begriff subsumiert wird. Über den psychischen Prozeß und das eigentümliche Verhältnis von Subjekt und Prädikat bei diesen Urteilen habe ich bereits in meinem Buch (112f) gesprochen. Hier will ich nur bemerken, daß das Prädikat in dieser Klassen von Urteilen, obzwar es sprachlich immer durch ein Substantiv ausgedrückt wird, doch nur einen Komplex von Eigenschaften oder nach meiner Theorie einen Komplex von Kräften bezeichnet, von denen das Urteil behauptet, daß sie dem wahrgenommenen Objekt inhärieren. Wenn wir in der Dunkelheit von ferne einen Gegenstand auf der Straße erblicken und denselben nicht gleich erkennen, beim Näherkommen aber sehen, daß es ein Baum ist, dann fällen wir ein Benennungsurteil "Das ist ein Baum". Wir sagen damit, daß diesem Objekt alle die Eigenschaften inhärieren, welche wir eben mit dem Namen  Baum  zusammenzufassen gewohnt sind. Das Präsens solcher Urteile enthält zwar eine Beziehung zu unserem Hier und Jetzt, allein es ist doch wieder auch jenes begrifflich Präsens, da ja diesem jetzt hier wahrgenommenen Objekt die Eigenschaften z. B. des Baumes nicht nur jetzt, sondern überhaupt inhärieren. Eben deshalb bezeichne ich diese Klasse von Urteilen als Übergangsform zwischen Anschauungs- und Begriffsurteilen. Der Vorstellungsinhalt ist anschaulich gegeben, wir machen aber das Subjekt zu einem Individualbegriff und schreiben diesem eine Gruppe von Merkmalen zu, die wir zwar jetzt anschaulich vorstellen, die ihm aber doch immer inhäriert. Wir wissen jetzt, wessen wir uns vom früher unbekannten Kraftzentrum zu versehen haben, wissen, welche potentiellen Wirkungen in ihm latent sind und wir wissen das aufgrund unserer früheren Erfahrungen und früher erworbenen Kenntnisse. Ebenso verhält es sich, wenn der Botaniker eine Pflanze bestimmt. Er schreibt der jetzt wahrgenommenen Pflanze, indem er sie benennt, eine Anzahl bekannter Eigenschaften zu, die aber dieser Pflanze nicht nur hier und jetzt, sondern immer zukommen.

Das begriffliche Moment dieser Urteile liegt einerseits darin, daß das wahrgenommene Objekt zum Individualbegriff erhoben wird, andererseits darin, daß diesem Individualbegriff nicht eine bestimmte einzelne Eigenschaft, sondern ein Komplex von Eigenschaften zugeschrieben ist, der bereits in einen Begriff zusammengefaßt ist. Man könnte nun einwenden, daß das bei jedem Urteil der Fall ist und es ist auch gesagt worden, daß das Prädikat eines jeden Urteils immer ein Begriff sei. Sage man z. B. beim Anblick des blauen Himmels: "Der Himmel ist blau", so sei zwar das Subjekt der eben wahrgenommene Teil der sich über mir wölbenden Luftschicht, allein das Prädikat bezeichne doch die allgemeine Eigenschaft blau, in der alle möglichen Nuancen dieser Farbe zusammengefaßt seien. Darauf habe ich bereits oben erwidert und möchte nur hier wiederholen, daß der Urteilende ebensogut, wie er mit dem Subjekt nur den jetzt wahrgenommenen Himmel, auch mit dem Prädikat die eben wahrgenommene Nuance von Bläue bezeichnet und daß trotz der - sprachlich ja nicht anders möglichen - allgemeinen Bezeichnung das Prädikat der wirklichen Wahrnehmungsurteile ebenso individuell bestimmt und gefärbt ist, wie das Subjekt. Anders is das bei den Benennungsurteilen und eben deshalb betrachte ich dieselben als Übergangsform.

Eine zweite Übergangsform finde ich in solchen Urteilen, wo das Subjekt eine typische Vorstellung, also ein Mittelding zwischen Wahrnehmung und Begriff ist. BENNO ERDMANN hat, soviel ich weiß, zuerst auf diese Klasse von Urteilen aufmerksam gemacht und ihr den Namen "symbolische Erfahrungsurteile" gegeben (Logik I, Seite 194). Solche Urteile sind z. B. "Sigmaringen (gegeben durch den Namen auf der Karte) liegt an der Donau". Wenn wir dieses Urteil aufgrund eigener Wahrnehmung auf der Karte fällen, so liegt ein Wahrnehmungsurteil vor, dessen Elemente aber symbolische Bedeutung haben, d. h. etwas anderes vorzustellen auffordern, als wir tatsächlich wahrnehmen. Nicht den Punkt, den wir sehen, sondern eine Häusermasse sollen wir uns unter Sigmaringen und nicht eine dicke schwarze Linie, sondern einen Fluß sollen wir uns unter Donau vorstellen. BENNO ERDMANN bemerkt sehr richtig, "wie leicht und wie häufig wir uns mit dem Abbild begnügen", allein über die wirkliche Bedeutung der Zeichen besteht ja nicht der mindeste Zweifel. Ein ähnlicher Vorgang vollzieht sich, wenn wir an einem schematischen Bild des Menschen etwa den Blutkreislauf demonstrieren, dessen Weg etwa durch rote Striche markiert ist. Das Schema oder der Typus sind psychologisch sehr wichtige Gebilde und ihre Bedeutung für das Seelenleben ist noch nicht genügend untersucht. Sie vereinigen die res dissociabiles [eine Sache der Unverträglichkeit - wp] der Anschaulichkeit und Allgemeinheit und sind einerseits für die künstlerische Darstellung, andererseits für den Unterricht von der größten Bedeutung. Die Urteile, zu denen solche Vorstellungen Anlaß geben, sind deshalb als Übergangsform oder Mittelglied zwischen Anschauungs- und Begriffsurteilen zu betrachten, weil eben der Inhalt anschaulich gegeben ist, die Vorstellungen aber nicht das bedeuten, als was sie sich den Sinnen bieten, sondern Begriffe. Der Präsens dieser Urteile hat dabei wieder seine beiden Bedeutungen vereinigt. Es geht auf das Jetzt und das Hier des Urteilenden, bedeutet aber doch wieder das bleibende, dauernde Inhärieren des Prädikates im Subjekt.

Wir gehen zur Besprechung der dritten Gruppe von Urteilen über, welche von den Urteilen der inneren Wahrnehmung gebildet wird. Unter diesen Urteilen verstehe ich Aussagen über selbsterlebte psychische Phänomene (163 - 169). Der Vorstellungsinhalt ist also hier in einer ganz anderen Weise gegeben, nämlich in der inneren Wahrnehmung. Der psychologische Prozeß bei diesen Urteilen ist schon deshalb ein verschiedener, weil eben die beurteilten Phänomene selbst andere sind. Das Charakteristische dieses Unterschiedes habe ich in meinem Buch (4 - 13) darin zu finden geglaubt, daß die physischen Phänomene uns an  ein Substrat gebunden,  die psychischen dagegen als  substratlos  erscheinen. Diese Behauptung ist vielfach mißverstanden worden und ich möchte demgemäß ein Wort zur Erläuterung dessen sagen, was ich gemeint habe.
LITERATUR - Wilhelm Jerusalem, Über psychologische und logische Urteilstheorien, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 21, Leipzig 1897
    Anmerkungen
    1) In der von O. K. unterzeichneten Rezension meines Buches (Literarisches Zentralblatt, 1896, Nr. 28) wird allerdings behauptet, daß die sachliche Differenz zwischen meiner Lehre und der BRENTANOs nicht sehr groß sein. Diese Behauptung kann jedoch nur auf einem Mißverständnis oder auf unvollständiger Kenntnis der in Frage kommenden Urteilstheorien beruhen. Die "sachliche Differenz" zwischen meiner Lehre und der BRENTANOs bezieht sich auf die allerwesentlichsten Merkmale des Urteils. BRENTANOs Schule hält das Urteil für eingliedrig, ich notwendigerweise für zweigliedrig. Nach BRENTANO wird im Urteil der vorgestellte Inhalt "anerkannt" oder "verworfen", nach meiner Theorie geformt, gegliedert und objektiviert. Für BRENTANO ist das Urteilen eine eigene, nicht weiter zurückführbare Grundklasse von psychischen Phänomenen, für mich liegt im Urteil ein Apperzeptionsakt vor, der aus Vorstellungs-, Gefühls- und Willenselementen zusammengesetzt ist. Endlich hält BRENTANO die Existentialurteile für die einfachste und also wohl ursprünglichste Form der Urteile, während dieselben nach meiner Theorie eine späte Entwicklungsphase dieses Prozesses darstellen. Wenn O. K. mir zur Begründung seiner Behauptung die Meinung zuschreibt, daß auch nach meiner Theorie jedes Urteil seinem psychologischen Sinne nach ein Existentialurteil sei, so hat er das betreffende Kapitel meines Buche (Seite 207 - 217) entweder nur flüchtig gelesen oder nicht verstanden. Der Satz, den er daraus anführt ("der Existenzbegriff prädiziert vom Subjekt eigentlich nur seine Subjektsfunktion", Seite 213) ist, aus dem Zusammenhang gerissen, einfach unverständlich; im Zusammenhang beweist er genau das Gegenteil von dem, was mein Kritiker behauptet.
    2) Unbegreiflich ist es freilich, wie der Herr Rezensent behaupten konnte, daß mir dieser Unterschied "nicht zu Bewußtsein gekommen" sei. Schon aus dem Inhaltsverzeichnis meines Buches (Seite XII) ist zu ersehen, daß der Unterschied des psychischen Tatbestandes bei er  Bildung  und bei der  Aufnahme  von Urteilen in einem besonderen Kapitel behandelt wird, welches die Überschrift trägt "Selbsterzeugte und überlieferte Urteile (Seite 169f). In diesem Kapitel wird nun der psychische Vorgang, der sich in unserem Innern abspielt, wenn wir ein Urteil hören und zu verstehen suchen, ausführlich und umständlich beschrieben und die Bedeutung dieser Vorgänge für unser intellektuelles Seelenleben zu würdigen versucht. - Der Kritiker des Buches sollte doch, bevor er eine Behauptung darüber aufstellt, was im Buch  nicht  steht, wenigstens das Inhaltsverzeichnis genauer durchsehen.