ra-2HegelL. BrentanoF. CuhelA. Döring    
 
OSKAR KRAUS
(1872-1942)
Das Bedürfnis
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"Daß unter den psychischen Phänomenen das Bedürfnis vor allen anderen den Nationalökonomen interessieren müsse, scheint schon früher erkannt worden zu sein. So nannte man die Nationalökonomie System der Bedürfnisse und den Menschen ein wandelndes Bedürfnis."

"Denken wir uns einen Asketen par excellence, einen Menschen, der der völligen Entsagung lebt; von diesem würde man mit Recht sagen, er habe keine Bedürfnisse oder besser er habe nur ein Bedürfnis, nämlich keine Bedürfnisse zu haben; denn sein einziger Wille ist darauf gerichtet nichts zu wünschen und zu wollen. Hier ist der springende Punkt: Wo kein Wunsch vorhanden ist, ist auch kein Bedürfnis vorhanden, aber auch dort werden wir von einem Bedürfnis nicht sprechen dürfen, wo zwar ein Wünschen vorliegt, aber die Verwirklichung dieses Wunsches, trotzdem man sie als möglich erachtet, nicht angestrebt wird; mit anderen Worten: Ein Bedürfnis, im technischen Sinne des Wortes, ist nur dort vorhanden, wo entweder ein Wille vorliegt oder ein Wunsch, der nur deshalb darauf verzichtet sich durchzusetzen, weil die Durchsetzung nicht für möglich gehalten wird."

Vorbemerkung

Der vorliegende Versuch entsprang dem Bemühen, gewisse Unklarheiten, die mir an der Schwelle der Wirtschaftslehre Halt zu machen geboten, zu beseitigen; es war der wissenschaftliche Begriff des Bedürfnisses, dessen scharfe Fassung ich vermißte und die mir nicht allein für den Nationalökonomen von fundamentaler Bedeutung zu sein schien, sondern auch von großem Interesse für den Psychologen; als psychologische Studie habe ich die Analyse unternommen und nur als solche will die Arbeit gelten. Durch MARTY lernte ich das psychologische Seziermesser nach der Methode BRENTANOs zu gebrauchen und dieser unvergleichlichen Schulung ist zuzuschreiben, was etwa Richtiges im folgenden gefunden werden kann; wogegen die Meister für die Ungeschicklichkeit des Schülers nicht verantwortlich gemacht werden können. - Selbstverständlich teile ich das Los all der zahlreichen Schüler BRENTANOs, mich nur auf dessen veröffentlichte Werke ausdrücklich beziehen zu können, während die durch Vorlesungen sonst mündlich vermittelten Entdeckungen und neuen bedeutungsvollen Erkenntnisse, die in seinen Schriften niedergelegten noch übertreffen. -

In ursprünglicher, von der jetzigen Form und auch teilweise dem Inhalt, abweichender Gestalt wurde nachstehende Arbeit als Vortrag im deutschen akademischen Juristenverein in Prag gehalten im April 1893.



Motto: Das Haupthindernis in psychologischen und metaphysischen
Wissenschaften liegt in der Dunkelheit der Begriffe
und Zweideutigkeit der Worte. - David Hume


I.
Das Bedürfnis als Wunsch und Wille

§ 1.

Wie jede praktische Disziplin, umfaßt auch die politische Ökonomie mannigfache Gruppen von Erkenntnissen, deren einigendes Band nicht in der Erkenntnis selbst, sondern in einem außerhalb derselben liegenden Zwecke zu suchen ist. Es ist das Verdienst österreichischer Nationalökonomen, in den Kreis der propädeutischen, theoretischen Untersuchungen psychologische Fragen miteinbezogen und die Wichtigkeit der Psychologie überhaupt als Hilfswissenschaft der Wirtschaftslehre eindringlich betont zu haben. Es ist eine Konsequenz des empirischen Standpunktes, zu dem sich diese Schule bekennt, daß die Psychologie als Grundpfeiler der Nationalökonomie erkannt wurde und es ist zu erhoffen, daß von nun an die Wirtschaftslehre sich ihrem Ziel, zum guten Teil "angewandte Psychologie" zu werden (allerdings mit Vermeidung eines vorzeitigen deduktiven Verfahrens), fortschreitend nähern werde.

Daß der Psychologie dieser Rang mit Recht eingeräumt wird, ist leicht ersichtlich. Die Tatsache der Wertschätzung, eines der wichtigsten Phänomene der Wirtschaft, ist ein seelisches Ereignis und selbst nur aus der Natur der menschlichen Bedürfnisse zu begreifen.

Es könnte übrigens von vornherein klar erscheinen, daß die Wirtschaftslehre als Disziplin des menschlichen Geistes notwendig einige Kenntnis desselben voraussetzt.


§ 2.

Daß unter den psychischen Phänomenen das "Bedürfnis" vor allen anderen den Nationalökonomen interessieren müsse, scheint schon früher erkannt worden zu sein. So nannte man die Nationalökonomie "System der Bedürfnisse" und den Menschen ein "wandelndes Bedürfnis."

BASTIAT sagt: "Die Ökonomie hat zum Gegenstand, den Menschen mit dem Mitteln zur Befriedigung seiner Bedürfnisse auszustatten." Jedoch erst die österreichische Schule hat das Bedürfnis als "obersten Grundbegriff" bezeichnet und festgehalten. Trotzdem ist bis heute eine richtige Definition und erschöpfende Analyse des Bedürfnisbegriffes nicht gegeben worden. "Die Gewinnung wirklich allgemeiner ökonomischer Grunbegriffe in voller Reinheit" bezeichnet daher noch SAX als "eine der dringendsten Aufgaben der Nationalökonomie."


§ 3.

Der erste, der eine eigentliche Definition des Bedürfnisses zu geben versucht hat, ist HERMANN im Jahr 1832. Nach ihm ist von verschiedenen Seiten die Behandlung dieses Begriffes in Angriff genommen worden; mit ihm beschäftigen sich KUDLER (1846), STEIN (1852), MISCHLER (1857); BASTIAT widmet 1850 den menschlichen Bedürfnissen viele Seiten seiner "Harmonies economiques", aber eine psychologische Analyse kann man das Gebotene nicht nennen; 1860 beklagt sich JULIUS KAUTZ darüber, daß die Lehre von den menschlichen Bedürfnissen bis auf die neueste Zeit von den meisten Nationalökonomen kaum einer Erwähnung gewürdigt wurde. - Zwar wenden nunmehr; wie schon erwähnt, die österreichischen Forscher (BÖHM-BAWERK, SAX, WIESER) den psychologischen Grundbegriffen ihre volle Aufmerksamkeit zu, aber "die nähere Erklärung des im Bedürfnis vorliegenden seelischen Vorgangs" erfordert, wie SAX selbst gesteht, "ein  tieferes  Eindringen in die  psychologischen  Grundlagen unseres Wissensgebietes und bildet auch heute noch "eine würdige Aufgabe der Spezialforschung."

An diesem Stand der Dinge ist, wie mir scheint, durch die letzten Arbeiten NEUMANNs nichts geändert worden. Daß sich die Spezialforschung "der Bedürfnisse" sonst nicht bemächtigt hat, beweist am deutlichsten die Tatsache, daß ihnen im neuen "Handwörterbuch der Staatswissenschaften" kein selbständiger Artikel gewidmet wurde; umsoweniger findet man in jenem vom RENZSCH oder im "Dictionaire de l'économie politique" von COQUELIN etwas über die Bedürfnisse gesagt. Die kleine Monographie in der  Revue politique  "Über die menschlichen Instinkte" steht zu dem hier zu behandelnden Gegenstand in entfernter Beziehung.


§ 4.

Wenn wir den Begriff des Bedürfnisses bestimmen und umgrenzen wollen, so dürfen wir keineswegs, wie einige Nationalökonomen es fordern, ihn vielleicht aus dem Begriff der Wirtschaftslehre abzuleiten versuchen. Die Wirtschaftslehre im eigentlichen Sinne des Wortes dürfte wohl am besten als die Anleitung zum richtigen Wirtschaften definiert werden. (Man könnte sie auch bezeichnen als die Disziplin von der richtigen Verfügung über die Mittel der Bedürfnisbefriedigung, d. h. über die Güter und Nutzleistungen oder als die Lehre von der bestmöglichen Befriedigung der Bedürfnisse oder als die Anleitung zur Erhaltung und Vermehrung der Bedürfnisbefriedigungsmittel.) (1)

Hieraus den Begriff des Bedürfnisse entwickeln zu wollen, wäre ganz analog, als wollte man aus dem Begriff der Ethik - als der Anleitung zum richtigen Wollen den Begriff des Willens gewinnen; offenbar ein verkehrtes Beginnen.

NEUMANN, ein Vertreter der eben erwähnten Auffassung, kommt zu der Konsequenz, es müsse, da das Gebiet einer jeden Wissenschaft sich beständig erweitert, auch der Begriff der einzelnen Wissenschaften in beständigem Fluß sein und man müsse daher einsehen, "daß keine Definition als absolut richtig betrachtet werden dürfe"; man dürfe also nicht schlechthin definieren: "Geld, Wert, Preis, Gut ist dieses oder jenes." Wollte man der Meinung NEUMANNs beipflichten, so hieße das auf jede Erkenntnis verzichten; nichts ist gewisser, als daß, wo eine Wissenschaft möglich sein soll, es feste Begriffe geben muß und diese Begriffe wieder an feste Termini geknüpft sein müssen.


§ 5.

Das Wort "Bedürfnis" wird im wissenschaftlichen und im populären Sprachgebrauch in mehrfacher Bedeutung äquivok [ähnlich - wp] verwendet.

In der Umgangssprache des täglichen Lebens mag eine gewisse Laxheit in der Terminologie noch hingehen, in der Wissenschaft ist sie einer der gefährlichsten Gegner wahrhafter Erkenntnis; aber um den Feind zu bekriegen, muß man ihn kennen.

Welches sind die sprachgebräuchlichen Verwendungen des Wortes "Bedürfnis"?

Es wird in mehrfacher Weise äquivok gebraucht (vgl. GRIMM). Vornehmlich
    1) Bedürfnis im Sinne des Entbehrten und Begehrten, z. B. Brot ist ein Bedürfnis des Menschen - die nötigen Bedürfnisse erlangen.

    2) Bedürfnis im Sinne des Instinktes, des instinktiven Drangs, der natürlichen Nötigung; z. B.: man spricht von einem geschlechtlichen Bedürfnis der Tiere.

    3) Bedürfnis im Sinne des Begehrens; z. B.: der Mensch hat ein Bedürfnis nach Nahrung; oder: der Hunger nach Brot ist ein Bedürfnis; hierbei denkt man nicht an das Hungerleiden, sondern an das Streben, das Hungern zu beseitigen an das Interesse, welches man daran hat, an den Wunsch, den Willen.
Manchmal ist es möglich, anstelle eines äquivoken Wortes ein mit ihm synonymes aber eindeutiges zu wählen oder neu zu prägen; so lange es aber tunlich ist, empfiehlt es sich, dem Sprachgebrauch Rechnung zu tragen und unter den mehrfachen Bedeutungen die empfehlenswerteste festzuhalten.

In unserem Falle ist es nicht schwer, sich zu entscheiden. Jeder wird bei einiger Überlegung einsehen, daß nur das Bedürfnis im Sinne des Begehrens, des Interesses, der Grundbegriff der Nationalökonomie sein kann. Überdies sagt WIESER: "Nach dem Sprachgebrauch der volkswirtschaftlichen Schriftsteller bedeutet Bedürfnis jedes menschliche Begehren." Dieser Satz ist jedoch nur so zu verstehen, daß die volkswirtschaftlichen Schriftsteller in neuester Zeit dazu neigen, das Bedürfnis im Sinne eines Begehrens zu gebrauchen; eine allgemeine Übereinstimmung - auch SAX betont das - existiert nicht, ja nicht einmal ein konsequenter Gebrauch bei ein und demselben Autor. (2)


§ 6.

An welches psychische Phänomen haben wir also beim Wort "Bedürfnis" zu denken? Fast alle Begriffsbestimmungen des Bedürfnisses, die bisher gegeben wurden, knüpfen an die Definition HERMANNs an: "Das Gefühl eines Mangels, mit dem Streben, ihn zu beseitigen, heißt ein Bedürfnis; in der Abhilfe eines solchen Mangels besteht die Befriedigung des Bedürfnisses."

Es wird sich empfehlen, vorerst diese allgemein akzeptierte Definition auf ihre Haltbarkeit hin zu prüfen.

Was bedeutet Gefühl eines Mangels? Es kann vorerst die Bedeutung haben "Mangelgefühl", d. h.: Gefühl als mangle einem etwas.

Wenn HERMANN auf Seite 4 seiner staatswirtschaftlichen Untersuchungen sagt: "allem Streben nach der Verwendung von Sachen liegt ein Gefühl des Mangels, der Schwäche zugrunde", so meint er offenbar ein solches Schwäche- oder Mangelgefühl.

Aber in der Definition selbst kann "Gefühl eines Mangels" keinen anderen Sinn haben als "Gefühl, geknüpft an einen Mangel". Sonst dürfte es nicht heißen: "Gefühl eines Mangels mit dem Streben, ihn zu beseitigen." HERMANN meint demnach ein Gefühl, geknüpft an eine absentia [Abwesenheit - wp]. Dies wird durch folgende Zeilen bestätigt, wo HERMANN zeigt, wie weit der Begriff des Mangels zu fassen sei. "Es mangelt", sagt er, "die Aufnahme von materiellen Gegenständen in den Lebenskreis des Individuums, es mangelt der unmittelbare Genuß von Dienstleistungen usw.

Es ist dem Entwicklungsgang unserer Wissenschaft ganz entsprechend, daß die psychologische Unzulänglichkeit der HERMANNschen Definition erst in neuester Zeit erkannt wurde. SAX (Grundzüge der theoretischen Staatswirtschaft) weist darauf hin, indem er bemerkt: "Eis ist dies freilich keine aufschlußgebende Definition, sondern nur eine Ahnung des Wesens der Erscheinung; denn es frägt sich ja erst, was denn ein Mangel sei und worin der konkrete Mangel bestehe? Eben in diesem Vorhandensein eines unbefriedigten Bedürfnisses." Ich werde auf diese etwas befremdlich klingenden Worte noch zurück kommen. (§ 43); vorläufig bemerke ich, daß nach meiner Ansicht der Begriff des Mangels,  wie ihn HERMANN versteht,  gar nicht in die Definition des Bedürfnisses gehört, aber ich leugne nicht, daß irgendein Mangel vorhanden sein muß, wo ein Bedürfnis vorliegt, sondern nur, daß ich diesen Mangel kennen muß, um ein Bedürnis zu haben und daß der Begriff des Bedürfnisses den eines Mangels im Sinne HERMANNs voraussetzt.

Wenn also HERMANN definiert: "Bedürfnis ist das Gefühl eines Mangels, mit dem Streben,  ihn  zu beseitigen," so korrigiere ich das vorerst dahingehend, daß ich sage: "Bedürfnis ist das Gefühl eines Mangels mit dem Streben es zu beseitigen," und weiter, indem ich das Wort "Mangel" als überflüssig streiche. "Bedürfnis ist ein Unlustgefühl mit dem Streben, es zu beseitigen." Denn ein anderes Gefühl kann HERMANN nicht gemeint habe. Aber auch hierbei werden wir uns nicht beruhigen; hieße das doch nichts anderes, als das Bedürfnis sei das, was das Begehren veranlaßt, verbunden mit dem Begehren. Nun muß aber das, was das Begehren veranlaßt, vom Begehren unterschieden werden; wir wollen und sollen nicht beides Bedürfnis nennen; umsoweniger, als, wie wir im Folgenden zeigen werden, das, was das Begehren veranlaßt, durchaus nicht immer ein Unlustgefühl ist. (3)


§ 7.

Das psychische Phänomen, an das wir beim Wort Bedürfnis zu denken haben, ist ein Begehren. Untersuchen wir nun, welcher Art dieses Begehren eigentlich ist. Hierbei sind präzise psychologische Termini unerläßlich; ich werde mich daher der Terminologie der BRENTANO-MARTYschen Schule bedienen und verstehe:
    1. Unter Vorstellung das, was CARTESIUS mit  idea  bezeichnet: jedes Sehen, Hören, jedes Riechen, Tasten, Schmecken, also die sogenannten Empfindungen; aber auch jede Phantasievorstellung, jede anschauliche, wie jede begriffliche unanschauliche, - jede eigentliche, jede uneigentliche Vorstellung.

    2. Unter Urteil (judicium) jedes Anerkennen oder Verwerfen, Bejahen oder Verneinen, Zusprechen oder Absprechen, mag das Urteil ein einsichtiges oder blindes, z. B. ein gewohnheitsmäßiges sein, mag es sich worauf auch immer beziehen und worauf auch immer gegründet sein.

    3. Unter den Phänomenen des Liebens oder Hassens verstehe ich jedes psychische Phänomen, das weder ein Vorstellen noch ein Urteilen ist. MARTY nennt diese Klasse "Phänomene des Interesses".
Hierher gehört jede Lust oder Unlust, jede Freude und jeder Schmerz, höherer oder niederer Art, jedes Gefallen oder Mißfallen, jede Abneigung oder Zuneigung, jede Hoffnung oder Furcht, jedes Begehren, d. h. jedes Wünschen oder Wollen, daß etwas sei, bzw. nicht sei. (4)

Kein Zweifel, das Bedürfnis gehört in diese Klasse: es ist ein Phänomen des Interesses; was für eines, wird uns die folgende Analyse sagen, in welcher wir jenes Phänomen, in welchem das Bedürfnis seinen Ursprung hat, aufdecken und genetisch bis zu jenem Stadium verfolgen werden, wo aus ihm jenes Begehren entspringt, das allein den Namen Bedürfnis verdient.


§ 8.

Denken wir uns folgenden Fall: Ein Mensch, der noch nie eine Unlust erfahren hat, empfinde sie in diesem Augenblick zum erstenmal. Eine Unlust ist ein Akt des Hasses im Glauben an die Existenz des Gehassten, ein Phänomen, dessen besonderer Charakter jedem aus der inneren Erfahrung bekannt ist und nicht weiter definiert werden kann. So wie nun eine derartige Unlust auftritt, wird der Mensch, der sie erleidet, sie vorerst notwendig selbst wieder hassen müssen. Da er aber noch nie eine Unlust erfahren hat, hat er auch das Aufhören einer Unlust noch nie erfahren;  ignoti nulla est cupido  [Unbekanntes wird nicht begehrt. - wp] Er kann daher, trotzdem er die bestehende Unlust haßt, ihr Aufhören noch nicht wünschen. Von einem Bedürfnis kann hier noch nicht die Rede sein. Es könnte einer Fragen: "Genügt nicht der Umstand, daß ja dieser Mensch, wenn er auch das Aufhören der Unlust nicht kennt, doch einen Zustand kennt, wo diese Unlust nicht vorhanden war? Der also das  Nichtsein  der Unlust kennt und daher dasselbe lieben kann?" Ich antwortete: Gewiß, das  Nichtsein  der Unlust wird er lieben; aber  Nichtsein  und  Aufhören zu sein  ist etwas grundverschiedenes. Er wird das Nichtsein der Unlust lieben; das ist nämlich äquivalent der Tatsache, daß er das Sein der Unlust haßt, er wird aber nicht das Aufhören der Unlust lieben können.

Dagegen würde folgende Überlegung mit mehr Recht angestellt werden können: Nämlich dieser Mensch, obzwar er das Aufhören einer Unlust noch nicht erfahren hat, hat doch schon das Aufhören irgendeines anderen psychischen Phänomens erfahren und er kann daher per analogiam die Vorstellung des Aufhörens auch auf die Unlust übertragen und daher ihr Aufhören lieben; dies wäre zuzugeben.

Ja, man könnte noch weiter gehen und sagen, dieser Mensch, da er ja den Übergang eines Zustandes, wo die Unlust nicht vorhanden war in einen Zustand, wo sie vorhanden ist, kennt, dieser Mensch vermöchte sich durch begriffliche Konstruktion den Übergang des Zustandes, wo die Unlust vorhanden ist, in einen solchen, wo sie es nicht ist, irgendwie vorstellen und diesen Übergang d. h. das Aufhören der Unlust wünschen; auch das ist denkbar, vorausgesetzt daß dieses Wesen einer so weit gehenden Begriffskonstruktion fähig ist.

Wie dem auch immer sei, gewiß ist, daß wenn diese Unlust durch irgendeinen Umstand aufhört und das nächste Mal sie selbst oder irgendeine andere Unlust auftritt, der Mensch nicht nur die Unlust hassen, d. h. ihr Nichtsein lieben, sondern auch ihr Aufhören wünschen wird. Den ersten Fall, daß ein Mensch noch nie eine Unlust erfahren habe, können wir diesem gegenüber vernachlässigen.  Beim Menschen ist im allgemeinen bereits jede Unlust mit dem Wunsch des Aufhörens der Unlust verbunden;  die Liebe zum Aufhören verbindet sich mit der Unlust zu einer untrennbaren Einheit, wo die Unlust das primäre, der Wunsch sie möge enden das sekundäre Moment ist; dürfen wir dieses Phänomen bereits ein Bedürfnis nennen? SAX sagt (Grundlegung Seite 173): Wenn jemand z. B. noch so sehr hungert und sich durch Enthaltung von Nahrung töten will, so können wir ihm dieses Nahrungsbedürfnis nicht zuschreiben." Das ist eine sehr bedeutsame Bemerkung. Denken wir uns einen Asketen par excellence, einen Menschen, der der völligen Entsagung lebt; von diesem würde man mit Recht sagen, er habe keine Bedürfnisse oder besser er habe nur  ein  Bedürfnis, nämlich keine Bedürfnisse zu haben; denn sein einziger Wille ist darauf gerichtet nichts zu wünschen und zu wollen. Hier ist der springende Punkt:  Wo kein Wunsch vorhanden ist, ist auch kein Bedürfnis vorhanden,  aber auch dort werden wir von einem Bedürfnis nicht sprechen dürfen, wo zwar ein Wünschen vorliegt, aber die Verwirklichung dieses Wunsches, trotzdem man sie als möglich erachtet, nicht angestrebt wird; mit anderen Worten:  Ein Bedürfnis, im technischen Sinne des Wortes, ist nur dort vorhanden, wo entweder ein Wille vorliegt oder ein Wunsch, der nur deshalb darauf verzichtet sich durchzusetzen, weil die Durchsetzung nicht für möglich gehalten wird. 


§ 9.

Was ist der Unterschied zwischen Wunsch und Wille? Wünschen heißt lieben, daß etwas sei oder werde, respektive nicht sei oder nicht werde, ohne jedoch die Durchsetzung zu lieben, sei es entweder nur deshalb, weil letztere nicht für bewirkbar gehalten wird oder sei es, daß trotz des Glaubens an die Durchsetzbarkeit, die Liebe zur Verwirklichung aus anderen Gründen hinzutritt.

Der Wille aber ist eine komplizierte Erscheinung.

Er ist vorerst (nach BRENTANO) ein Wünschen von etwas; zu diesem tritt hinzu vermöge des Glaubens, die Verwirklichung des Geliebten liege im Bereich der Möglichkeit und werde infolge, d. h. mittels der Liebe auch durchgesetzt werden können, die Liebe zur tatsächlichen Verwirklichung des Geliebten.

Kürzer: der Wille ist eine Betätigung der Liebe im Glauben, daß das Geliebte infolge, wenn auch no so entfernter Folge, der Liebe eintreten werde.


§ 10.

Der Wille zum Aufhörenmachen der Unlust ist ein Bedürfnis. Der bloße Wunsch, die Unlust möge aufhören, wird nur dann ein Bedürfnis genannt werden können, wenn der Wunsch unbedingt zum Willen würde, falls der Glaube an die Durchsetzbarkeit hinzukäme. Der Asket vermag gewiß das zu wünschen und zu wollen, dessen er sich enthält, sonst wäre er keiner; er wünscht und will es aber nicht, obwohl, ja  weil  es wünschen und wollen kann; darum dürfen wir ihm auch kein Bedürfnis zuschreiben.

Ein durch Blendung des Augenlichtes Beraubter kann aber sehr wohl das Bedürfnis haben, wieder das Sonnenlicht zu schauen; er will nur deshalb nicht, weil er nicht wollen kann. Von den Bürgern eines Staates, dem die Zufuhr eines sehr gesuchten Artikels durch eine Blockade abgeschnitten wird, würde man daher ebenso sagen dürfen, sie hätten ein Bedürfnis nach den betreffenden Waren, wie der Geblendete ein Bedürfnis zu sehen hat.

Die Nationalökonomen pflegen jedoch in eben erwähnten Fall der Blockade von "latenten Bedürfnissen" zu sprechen. Das "latente Bedürfnis" der Bürger des blockierten Staates würde zum "effektiven", sowie mit der Blockade der Glaube an die Unmöglichkeit der Realisierung wegfiele; das "latente Bedürfnis" des Geblendeten kann ebensowohl zum effektiven werden, wenn der Glaube an die Realisierung seines Wunsches hinzutritt; letzteres ist nicht ausgeschlossen: wallfahrten doch nicht nur Sehende zum heiligen Rock nach Trier, es werden auch Blinde darunter sein. - Im Interesse der begrifflichen Schärfe werde ich diese Unterscheidung zwischen "effektiven" und "latenten" Bedürfnissen beibehalten.

Im folgenden wird in der Regel von effektiven Bedürfnissen die Rede sein; es ist leicht die Anwendung hiervon auf die latenten Bedürfnisse zu machen.
LITERATUR Oskar Kraus, Das Bedürfnis - ein Beitrag zur beschreibenden Psychologie, Leipzig 1894
    Anmerkungen
    1) Der Begriff der Wirtschaftslehre ist noch immer nicht geklärt. Man ist sich über das Wesen dieser Disziplin nicht im Klaren, indem man einerseits auch heute noch (wohl als Nachwirkung des früheren Irrtums) Fragen rein ethischer natur in sie aufnimmt, andererseits aber - vielleicht um den Schein dieses Fehlers zu meiden, geradezu von "theoretischer Nationalökonomie" spricht, was eine contradictio in adjecto [Widerspruch in sich - wp] ist, ungefähr so, als wollte man von "theoretischer Ethik" sprechen. Die Nationalökonomie kennt theoretische Untersuchungen nur, sofern sie derselben zu ihrem Zweck bedarf - sie ist eben eine Kunstlehre, wie die Ethik; als solche aber ist sie von der Ethik  ebenso zu unterscheiden,  wie die Heilkunst, wenn sie auch, gleich der letzteren und allen übrigen Künsten, in den Dienst derselben zu stellen ist.
    2) ARISTOTELES, PASCAL, LOCKE, LEIBNIZ, VOLTAIRE, HUME und viele andere der schärfsten Köpfe sind sich einig über die ungeheure Bedeutung feststehender Definitionen; und doch ist nichts so bezeichnend für die meistbewunderten Erzeugnisse des philosophischen Marktes wie der Mangel jeder begrifflichen Schärfe. Ja, was macht sie zu den meistgelesenen? Eben dieser.
    3) Ein Beispiel möge noch die Wichtigkeit einer präzisen Terminologie illustrieren. WIESER sagt (Ursprung des Wertes, Seite 82): "Das Bedürfnis und das Interesse an der Bedürfnisbefriedigung sind zwei wesentlich verschiedene Tatsachen des Innern. - Das erstere ist ein Leiden, ein passiver Zustand, das letztere ein Streben, eine tätige Regung ..." SAX erwähnt diese Unterscheidung in seinem Werk, ohne sie aber diskutieren zu wollen; WIESER hat Recht: das Interesse ist von dem zu unterscheiden, was  er  Bedürfnis nennt, aber das, was er Bedürfnis nennt, würde ich nicht so nennen. Das, was WIESER Interesse nennt, ist das Bedürfnis; was er Bedürfnis nennt, ist ein Unlustgefühl; letzteres ist, wie WIESER treffend bemerkt, ein Leiden, ein passiver Zustand, ersteres ein Streben, eine tätige Regung. Im "natürlichen Wert" versteht WIESER jedoch selbst, wie schon erwähnt, unter Bedürfnis jedes Begehren. Man bedenke, wenn ich Zahnschmerz habe, ist der Zahnschmerz das Bedürfnis oder das Streben, ihn zu beseitigen? wenn ich Hunger leide, ist der Hunger das Bedürfnis oder das Streben ihn zu beseitigen?
    4) Die "psychologische Studie" von Dr. CHRISTIAN von EHRENFELS, "Über Fühlen und Wollen" (Wien 1887), in welcher die Lehre BRENTANOs bezüglich dieser Phänomene angegriffen wird, beruth, insofern sie sich gegen BRENTANO wendet, auf einem Mißverständnis seiner Lehre.