tb-2M. PlanckP. KampitsJanik/ToulminA. Berlage    
 
ERNST MACH
(1838-1916)
Die ökonomische Natur
der physikalischen Forschung


Erkenntnis und Irrtum
Vergleichung als Prinzip
Alle physikalischen Sätze und Begriffe sind gekürzte Anweisungen, die oft selbst wieder andere Anweisungen eingeschlossen enthalten...

Vortrag, gehalten in der feierlichen Sitzung der
kaiserlichen Akademie der Wissenschaften zu Wien
am 25. Mai 1882

Die wunderbarste Ökonomie der Mitteilung liegt in der Sprache. Dem gegossenen Letternsatze vergleichbar, welcher, die Wiederholung der Schriftzüge ersparend, den verschiedensten Zwecken dient, den wenigen Laute ähnliich, aus denen die verschiedensten Worte sich bilden, sind die Worte selbst.

Mosaikartig setzt die Sprache und das mit ihr in Wechselbeziehung stehende begriffliche Denken das Wichtigste fixierend, das Gleichgültige übersehend, die starren Bilder der flüssigen Welt zusammen, mit einem Opfer an Genauigkeit und Treue zwar, dafür aber mit Ersparnis an Mitteln und Arbeit. Wie der Klavierspieler mit  einmal  vorbereiteten Tönen, erregt der Redner im Hörer  einmal  für viele Fälle vorbereiteter Gedanken, die mit großer Geläufigkeit und geringer Mühe dem Rufe folgen.

Die Grundsätze, welche der ausgezeichnete Wirtschaftsforscher E. HERRMANN für die Ökonomie der Technik als gültig betrachtet, sie finden auch volle Anwendung auf dem Gebiete der gemeinen und der wissenschaftlichen Begriffe. Gesteigert ist natürlich die Ökonomie der Sprache in der wissenschaftlichen Terminologie. Und was die Ökonomie der schriftlichen Mitteilung betrifft, so ist kaum zu zweifeln, daß eben die Wissenschaft den schönen alten Traum der Philosophen von einer internationalen Universalbegriffsschrift verwirklichen wird. Nicht mehr allzuferne liegt diese Zeit.

Die Zahlenzeichen, die Zeichen der mathematischen Analyse, die chemischen Symbole die musikalische Notenschrift, der sich eine entsprechende Farbenschrift leicht zur Seite stellen ließe, die BRÜCKEsche phonetische Schrift sind wichtige Anfänge. Sie werden, konsequent erweitert und verbunden mit dem, was die schon vorhandene chinesische Begriffsschrift lehrt, jedes besondere Erfinden und Dekretieren einer Universalschrift überflüssig machen.

Die wissenschaftliche Mitteilung enthält stets die Beschreibung d.i. die Nachbildung einer Erfahrung in Gedanken, welche Erfahrung  ersetzen  und demnach  ersparen  soll. Die Arbeit des Unterrichts und des Lernens selbst wieder zu sparen, entsteht die  zusammenfassende  Beschreibung. Nichts anderes sind Naturgesetze.

Wenn wir uns etwa den Wert der Schwerebeschleunigung und das GALILEIsche Fallgesetz merken, so besitzen wir eine sehr einfache und kompendiöse Anweisung, alle vorkommenden Fallbewegungen in Gedanken nachzubilden. Eine solche Formel ist ein vollständiger Ersatz für eine noch so ausgedehnte Tabelle, die vermöge der Formel jeden Augenblick in leichtester Weise hergestellt werden kann, ohne das Gedächtnis im geringsten zu belasten.

Die verschiedenen Fälle der Lichtberechnung könnte kein Gedächtnis fassen. Merken wir uns aber die Brechungsexponenten für die vorkommenden Paare von Medien und das bekannte Sinusgesetz, so können wir jeden beliebigen Fall der Brechung ohne Schwierigkeit in Gedanken nachbilden oder ergänzen. Der Vorteil besteht in der Entlastung des Gedächtnisses, welche noch durch schriftliche Aufbewahrung der Konstanten unterstützt wird. Mehr als den umfassenden und verdichteten Bericht über Tatsachen enthält ein solches Naturgesetz nicht. Ja, es enthält im Gegenteil immer weniger als die Tatsache selbst, weil dasselbe nicht die ganze Tatsache, sondern nur die für uns wichtige Seite derselben nachbildet, indem absichtlich oder notgedrungen von Vollständigkeit abgesehen wird.

Die Naturgesetze sind intellektuellen, teils beweglichen, teils stereotypen Letternsätzen höherer Ordnung vergleichbar, welche letztere bei neuen Auflagen von Erfahrung oft auch hinderlich werden können.

Wenn wir ein Gebiet von Tatsachen zum erstenmal überschauen, erscheint es uns mannigfaltig, ungleichförmig, verworren und widerspruchsvoll. Es gelingt zunächst nur, jede einzelne Tatsache ohne Zusammenhang mit den übrigen festzuhalten. Das Gebiet ist uns, wie wir sagen,  unklar.  Nach und nach finden wir die einfachen sich gleich bleibenden Elemente des Mosaiks, als welchen sich das ganze Gebiet in Gedanken zusammensetzen läßt. Sind wir nun soweit gelangt, überall in der Mannigfaltigkeit  dieselben  Tatsachen wieder zu erkennen, so fühlen wir uns in dem Gebiete nicht mehr fremd, wir überschauen es ohne Anstrengung, es ist für uns  erklärt. 

Erlauben Sie mir eine Erläuterung durch ein Beispiel. Kaum haben wir die geradlinige Fortpflanzung des Lichtes erfaßt, stößt sich der gewohnte Lauf der Gedanken an der Brechung und Beugung. Kaum glauben wir mit  einem  Brechungsexponenten auszukommen, so sehen wir, daß für jede Farbe ein  besonderer  nötig ist. Haben wir uns daran gewöhnt, daß Licht zu Licht gefügt die Helligkeit vergrößert, bemerken wir plötzlich einen Fall der Verdunklung. Schließlich erkennt man aber in der überwältigenden Mannigfaltigkeit der Lichterscheinungen überall die Tatsache der räumlichen und zeitlichen Periodizität des Lichtes und dessen von dem Stoffe und der Periode abhängige Fortpflanzungsgeschwindigkeit. Dieses Ziel, ein Gebiet mit dem geringsten Aufwand zu überschauen und alle Tatsachen durch  einen  Gedankenprozeß nachzubilden, kann mit vollem Recht ein ökonomisches genannt werden.

Am meisten ausgebildet ist die Gedankenökonomie in jener Wissenschaft, welche die höchste formelle Entwicklung erlangt hat, welche auch die Naturwissenschaft so häufig zur Hilfe heranzieht, in der Mathematik. So sonderbar es klingen mag, die Stärke der Mathematik beruht auf der Vermeidung aller unnötigen Gedanken, auf der größten Sparsamkeit der Denkoperationen. Schon die Ordnungszeichen, welche wir Zahlen nennen, bilden ein System von wunderbarer Einfachheit und Sparsamkeit. Wenn wir beim Multiplizieren einer mehrstelligen Zahl durch Benützung des Einmaleins die Resultate schon ausgeführter Zähloperationen verwenden, statt sie jedesmal zu wiederholen, wenn wir bei Gebrauch von Logarithmentafeln neu auszuführende Zähloperationen durch längst ausgeführte ersetzen und ersparen, wenn wir Determinanten verwenden, statt die Lösung eines Gleichungssystems immer von neuem zu beginnen, wenn wir neue Integralausdrücke in altbekannte zerlegen, so sehen wir hierin nur ein schwaches Abbild der geistigen Tätigkeit eines LAGRANGE oder CAUCHY, der mit dem Scharfblick eines Feldherrn für neu auszuführende Operationen ganze Scharen schon ausgeführter eintreten läßt.

Man wird keinen Widerspruch erheben, wenn wir sagen, die elementarste wie die höchste Mathematik sei ökonomisch geordnete, für den Gebrauch bereitliegende  Zählerfahrung. 

In der Algebra führen wir soweit als möglich formgleiche Zähloperationen ein für allemal aus, so daß nur ein Rest von Arbeit für jeden besonderen Fall übrig bleibt. Die Verwendung der algebraischen und analytischen Zeichen, die nur Symbole von auszuführenden Operationen sind, entsteht durch die Bemerkung, daß man den Kopf entlasten, für wichtigere, schwierigere Funktionen sparen, und einen Teil der sich mechanisch wiederholenden Arbeit der Hand übertragen kann.

Nur eine Konsequenz dieser Methode, welche den ökonomischen Charakter derselben bezeichnet, ist die Konstruktion von Rechenmaschinen. Der Erfinder einer solchen, der Mathematiker BABBAGE, war wohl der erste, der dies Verhältnis klar erkannt und, wenn auch nur flüchtig, in seinem Werke über Maschinen- und Fabrikenwesen berührt hat.

Wer Mathematik treibt, den kann zuweilen das unbehagliche Gefühl überkommen, als ob seine Wissenschaft, ja sein Schreibstift, ihn selbst an Klugheit überträfe, ein Eindruck, dessen selbst der große EULER nach seinem Geständnisse sich nicht immer erwehren konnte. Eine gewisse Berechtigung hat dieses Gefühl, wenn wir bedenken, mit wie vielen fremden oft vor Jahrhunderten gefaßten Gedanken wir in geläufigster Weise operieren.

Es ist wirklich teilweise eine  fremde  Intelligenz, die uns in der Wissenschaft gegenübersteht. Mit der Erkenntnis dieses Sachverhalts erlischt aber wieder das Mystische und Magische des Eindruckes, zumal wir jeden der fremden Gedanken, sobald wir nur wollen, nachzudenken vermögen.

Physik ist ökonomisch geordnete Erfahrung. Nicht nur die Übersicht des schon Erworbenen wird durch diese Ordnung ermöglicht, auch die Lücken und wünschenswerten Ergänzungen treten wie in einer guten Wirtschaft klar hervor. Die Physik teilt mit der Mathematik die zusammenfassende Beschreibung, die kurze kompendiöse, doch jede Verwechslung ausschließende Bezeichnung der Begriffe, deren mancher wieder viele andere enthält, ohne daß unser Kopf dadurch belästigt erscheint.

Jeden Augenblick aber kann der reiche Inhalt hervorgeholt, und bis zu voller sinnlicher Klarheit entwickelt werden. Welche Menge geordneter, zum Gebrauch bereit liegender Gedanken faßt z.B. der Begriff  Potential  in sich. Kein Wunder also, daß mit Begriffen, die so viele fertige Arbeit schon enhalten, schließlich einfach zu operieren ist.

Aus der Ökonomie der Selbsterhaltung wachsen also die ersten Erkenntnisse hervor. Die Mitteilung häuft die Erfahrungen  vieler  Individuen, die aber irgend einmal wirklich gemacht werden mußten, in  einem  auf. Sowohl die Mitteilung als das Bedürfnis des Einzelnen, seine Erfahrungssumme mit dem kleinsten Gedankenaufwand zu beherrschen, zwingt zu ökonomischer Ordnung. Hiermit ist aber auch die ganze rätselhafte Macht der Wissenschaft erschöpft. Im einzelnen mag sie uns nichts zu bieten, was nicht jeder in genügend langer Zeit auch ohne alle Methode finden könnte.

Jede mathematische Aufgabe könnte durch direktes Zählen gelöst werden. Es gibt aber Zähloperationen, die gegenwärtig in wenigen Minuten vollführt werden, welche aber ohne Methode vorzunehmen die Lebensdauer eines Menschen bei weitem nicht reichen würde. So wie ein Mensch allein auf  seine  Arbeit angewiesen, niemals ein merkliches Vermögen sammeln würde, sondern die Ansammlung der Arbeit vieler Menschen in einer Hand die Bedingung von Reichtum und Macht ist, so kann auch in endlicher Zeit und bei endlicher Kraft nur durch ausgesuchte Sparsamkeit in Gedanken, durch Häufung der ökonomisch geordneten Erfahrung Tausender in  einem  Kopfe eine nennenswertes Wissen erlangt werden.

So ist also alles, was Zauberei scheinen könnte, wie es ja genügen oft im bürgerlichen Leben auch vorkommt, nichts als vortreffliche Wirtschaft. Die Wirtschaft der Wissenschaft hat aber vor jeder anderen das voraus, daß durch Häufung  ihrer  Reichtümer niemand den geringsten Verlust erleidet. Darin liegt ihr Segen, ihre befreiende, erlösende Kraft.

Die Erkenntnis der ökonomischen Natur der Wissenschaft im allgemeinen mag uns nun behilflich sein, einige physikalische Begriffe leichter zu würdigen.

Was wir  Ursache  und  Wirkung  nennen, sind hervorstechende Merkmale einer Erfahrung, die für unsere Gedankennachbildung wichtig sind. Ihre Bedeutung blaßt ab, und geht auf andere neue Merkmale über, sobald eine Erfahrung geläufig wird. Tritt uns die Verbindung solcher Merkmale mit dem Eindruck der Notwendigkeit entgegen, so liegt dies nur daran, daß uns die Einschaltung längst bekannter Zwischenglieder, die also eine höhere Autorität für uns haben, oft gelungen ist. Die  fertige  Erfahrung im Setzen des Gedankenmosaiks, mit welcher wir jedem neuen Fall entgegenkommen, hat KANT einen angeborenen Verstandesbegriff genannt.

Die imposantesten Sätze der Physik, lösen wir sie in ihre Elemente auf, unterscheiden sich in nichts von den beschreibenden Sätzen des Naturhistorikers. Die Frage nach dem "warum", die überall zweckmäßig ist, wo es sich um Aufklärung eines Widerspruchs handelt, kann wie jede zweckmäßige Gewohnheit aucch über den Zweck hinausgehen, und gestellt werden, wo nichts mehr zu verstehen ist.

Wollten wir der Natur die Eigenschaft zuschreiben, unter gleichen Umständen gleiche Erfolge hervorzubringen, so wüßten wir diese gleichen Umstände nicht zu finden. Die Natur ist nur  einmal  da. Nur unser schematisches Nachbilden erzeugt gleiche Fälle. Nur in diesem existiert also die Abhängigkeit gewisser Merkmale voneinander.

Alle unsere Bemühungen, die Welt in Gedanken abzuspiegeln wären fruchtlos, wenn es nicht gelänge, in dem bunten Wechsel  Bleibendes  zu finden. Daher das Drängen nach dem Substanzbegriff, dessen Quelle von jener der modernen Ideen über die  Erhaltung  der Energie nicht verschieden ist. Die Geschichte der Physik liefert für diesen Trieb auf fast allen Gebieten zahlreiche Beispiele, und die liebenswürdigen Äußerungen derselben lassen sich bis in die Kinderstube verfolgen.
    "Wo kommt das Licht hin, wenn es gelöscht wird und nicht mehr in der Stube ist?"
So frägt das Kind. Das plötzliche Schrumpfen eines Wasserstoffballons ist dem Kinde unfaßbar; es sucht überall nach dem großen Körper, der eben noch da war. "Wo kommt die Wärme her?" "Wo kommt die Wärme hin?" Solche Kinderfragen im Munde reifer Männer bestimmen den Charakter des Jahrhunderts.

Wenn wir in Gedanken einen Körper lostrennen von der wechselnden Umgebung, in welcher sich derselbe bewegt, so scheiden wir eigentlich nur eine Empfindungsgruppe von verhältnismäßig größerer  Beständigkeit,  an welche wir unser Denken anklammern, aus dem Gewoge der Empfindungen aus. Eine absolute Unveränderlichkeit hat die Gruppe nicht. Bald dieses, bald jenes Glied derselben verschwindet und kommt, erscheint verändert, und kehrt eigentlich in voller Gleichheit niemals wieder.

Doch ist die Summe der bleibenden Glieder gegenüber den veränderlichen, namentlich wenn wir auf die Stetigkeit des Übergangs achten, immer so groß, daß sie uns zu Anerkennung des Körpers als  desselben  vorerst genügend erscheint. Weil wir aus der Gruppe jedes einzelne Glied ausscheiden können, ohne daß der Körper aufhört, für uns derselbe zu sein, können wir leicht glauben, daß auch bei Ausscheidung  aller  noch etwas übrig bliebe, außer jenen Gliedern.

So kann es kommen daß wir den Gedanken einer von ihren Merkmalen verschiedenen Substanz, eines "Dinges an sich", fassen, für dessen Eigenschaften die Empfindungen Symbole sein sollen. Umgekehrt müssen wir vielmehr sagen, daß Körper oder Dinge abkürzende Gedankensymbole für Gruppen von Empfindungen sind, Symbole, die außerhalb unseres Denkens nicht existieren.

So wird auch jeder Kaufmann die Etiquette einer Kiste als Symbol des Wareninhaltes betrachten und nicht umgekehrt. Er wird dem Inhalt, nicht aber der Etiquette realen Wert beilegen. Dieselbe Sparsamkeit, die uns veranlaßt, eine Gruppe aufzulösen und für deren auch in anderen Gruppen enthaltene Bestandteile  besondere  Symbole zu setzen, kann uns auch treiben, durch  ein  Symbol die ganze Gruppe zu bezeichnen.

Auf den alten ägyptischen Monumenten sehen wir Abbildungen, die nicht aus einer  Gesichtswahrnehmung zusammengesetzt sind. Die Köpfe und die Beine der Figuren erscheinen im Profil, die Kopfbedeckung und die Brust von vorn gesehen usw. Es ist sozusagen ein mittlerer Anblick, in welchem der Künstler das ihm Wichtige festgehalten, das Gleichgültige vernachlässigt hat.

Wir können den auf den Tempelwänden versteinerten Vorgang bei den Zeichnungen unserer Kinder lebendig wahrnehmen und das Analogon desselben bei der Begriffsbildung in unseren Köpfen beobachten. Nur in dieser Geläufigkeit des Übersehens dürfen wir von  einem  Körper sprechen. Sagen wir von einem Würfel, wir hätten dessen Ecken abgestutzt, obgleich er nun kein Würfel mehr ist, so beruht dies auf der natürlichen Sparsamkeit, welche es vorzieht, der fertigen geläufigen Vorstellung eine Korrektur hinzuzufügen, statt eine gänzlich neue zu bilden. Alles Urteilen beruht auf diesem Vorgang.

Die Malerei der Ägypter und Kinder kann dem kritischen Blicke nicht standhalten. Dasselbe begegnet der rohen Vorstellung eines Körpers. Der Physiker, welcher einen Körper sich biegen, ausdehnen, schmelzen und verdampfen sieht, zerlegt ihn in kleinere bleibende Teile, der Chemiker spaltet ihn in Elemente. Allein auch ein solches Element, wie das Natrium, ist nicht unveränderlich.

Aus der weichen, silberglänzenden Masse wird bei Erwärmung eine flüssige, die bei größerer Hitze unter Luftabschluß in einen vor der Natriumlampe violetten Dampf sich verwandelt, und bei weiterer Erwärmung selbst mit gelbem Licht glüht. Wenn immer noch der Name Natrium festgehalten wird, so geschieht dies wegen der Stetigkeit des Überganges und aus notwendiger Sparsamkeit. Der Dampf kann sich wieder kondensieren, und das weiße Metall ist wieder da. Ja, sogar nachdem das Metall, auf Wasser gelegt, in Natriumhydroxid übergegangen ist, können bei geeigneter Behandlung die gänzlich verschwundenen Eigenschaften wieder zum Vorschein kommen, wie ein Körper, der bei der Bewegung eine Zeitlang hinter einer Säule verborgen war, wieder sichtbar werden kann.

Es ist nun ohne Zweifel sehr zweckmäßig, den Namen und Gedanken für eine Gruppe von Eigenschaften, wo dieselben hervortreten können, stets bereit zu halten. Mehr als ein ökonomisch abkürzendes Symbol für alle jene Erscheinungen ist aber dieser Name und Gedanke nicht. Es wäre ein leeres Wort für jenen, dem er nicht eine ganze Reihe wohlgeordneter sinnlicher Eindrücke wachriefe. Und ähnliches gilt von den Molekülen und Atomen, in welche das chemische Element noch zerlegt wird.

Zwar pflegt man die Erhaltung des Gewichtes oder genauer die Erhaltung der Masse als einen direkten Nachweis der Beständigkeit der Materie anzusehen. Allein dieser Nachweis verflüchtigt sich, wenn wir auf den Grund gehen, in eine solche Menge von instrumentalen und intellektuellen Operationen, daß er gewissermaßen nur eine  Gleichung  konstatiert, welcher unsere Vorstellungen, Tatsachen nachbildend, zu genügen haben. Den dunklen Klumpen, den wir unwillkürlich hinzudenken, suchen wir vergebens außerhalb unseres Denkens.)

So ist es überall der rohe Substanzbegriff, der sich unbemerkt in die Wissenschaft einschleicht, der sich immer als unzulänglich erweist und sich auf immer kleinere Teile der Welt zurückziehen muß. Die niedere Stufe wird eben nicht entbehrlich durch die höhere, welche auf dieselbe gebaut ist, sowie durch die großartigsten Transportmittel die einfachste Lokomotion, das Gehen, nicht überflüssig geworden ist. Dem Physiker muß der Körper als eine durch Raumempfindungen verknüpfte Summe von Licht- und Tastempfindungen, wenn er nach demselben greifen will, so geläufig sein als dem Tiere, welches seine Beute hascht. Der Jünger der Erkenntnistheorie darf aber, wie der Geologe und Astronom vn den Bildungen, die vor seinen Augen vorgehen, zurückschließen auf jene, die er fertig vorfindet.

Alle physikalischen Sätze und Begriffe sind gekürzte Anweisungen, die oft selbst wieder andere Anweisungen eingeschlossen enthalten, auf ökonomisch geordnete, zum Gebrauch bereit liegende Erfahrungen. Die Kürze kann solchen Anweisungen Anweisungen, deren Inhalt nur selten vollkommen hervorgeholt wird, zuweilen den Anschein von selbständigen Wesen geben.

In dem ökonomischen Schematisieren der Wissenschaft liegt die Stärke, aber auch der Mangel derselben. Die Tatsachen werden immer mit einem Opfer an Vollständigkeit dargestellt, nicht genauer, als dies unseren augenblicklichen Bedürfnissen entspricht. Die Inkongruenz zwischen Denken und Erfahrung wird also fortbestehen, solange beide nebeneinander hergehen; sie wird nur stetig vermindert.

In Wirklichkeit handelt es sich immer nur um die Ergänzung einer teilweise vorliegenden Erfahrung, um Ableitung eines Erscheinungsteiles aus einem anderen. Unsere Vorstellungen müssen sich hierbei direkt auf Empfindungen stützen. Wir nennen dies Messen. Sowie die Entstehung, so ist auch die Anwendung der Wissenschaft an eine große Beständigkeit unserer Umgebung gebunden. Was sie uns lehrt, ist gegenseitige Abhängigkeit. Absolute Prophezeiungen haben also keinen wissenschaftlichen Sinn. Mit großen Veränderungen im Himmelsraum würden wir unser Raum- und Zeitkoordinatensystem zugleich verlieren.

Wenn der Geometer die Form einer Kurve erfassen will, so zerlegt er sie zuvor in kleine geradlinige Elemente. Er weiß aber wohl, daß dieselben nur ein vorübergehendes willkürliches Mittel sind, stückweise zu erfassen, was auf einmal nicht gelingen will. Ist das Gesetz der Kurve gefunden, denkt er nicht mehr an ihre Elemente. So würde es auch der Naturwissenschaft nicht ziemen, in ihren selbstgeschaffenen veränderlichen ökonomischen Mitteln, den Molekülen und Atomen,  Realitäten  hinter den Erscheinungen zu sehen, vergessend der jüngst erworbenen weisen Besonnenheit ihrer kühneren Schwester, der Philosophie eine  mechanische Mythologie  zu setzen an die Steller der animistischen oder metaphysischen, und damit  vermeintliche  Probleme zu schaffen.

Das Atom mag immerhin ein Mittel bleiben, die Erscheinungen darzustellen, wie die Funktionen der Mathematik. Allmählich aber mit dem Wachsen der intellektuellen Erziehung an ihrem Stoff, verläßt die Naturwissenschaft das Mosaikspiel mit Steinchen und sucht die Grenzen und Formen des Brettes zu erfassen, in welchem der lebendige Strom der Erscheinungen fließt. Den sparsamsten, einfachsten begrifflichen Ausdruck der Tatsachen erkennt sie als ihr Ziel.
LITERATUR - Populärwissenschaftliche Vorlesungen, Leipzig 1896