NietzscheA. RapoportF. NicolaiMauthnerOgden/Richards | |||
Die soziologische Theorie der Abstraktion [2/4]
IV. Die logischen Grundlagen der Abstraktion 1. Autorität der Logik. Die Logik baut sich auf Voraussetzungen auf, die nur Abstraktionen und keine allgemeingültigen Wahrheiten sind, wie die Unveränderlichkeit und Gleichheit der Dinge, des Gewichts, (Chemie), der Form aller Geistestätigkeiten (Erkenntnistheorie) usw. Die langsam vor sich gehenden Veränderungen und die sehr kleinen Unterschiede werden vernachlässigt, den Dingen wird eine absolute Unveränderlichkeit und Identität beigemessen (ENRIQUES). Erst im Verlauf der Entwicklung, wenn diese Veränderungen und Unterschiede zum Vorschein kommen, häufen sich die Widersprüche, bis sie unerträglich werden und die Lösung erzwingen. Dieser vorgetäuschten, in der Wirklichkeit nicht vorhandenen Unveränderlichkeit verdankt die Logik ihre Autorität. Sie ist eine normative Wissenschaft, sie will die Gesetze des "richtigen" Denkens vorschreiben. Erst in letzterer Zeit kam die Ansicht auf, daß das durch die Logik postulierte ideale Denken sich niemals vorfindet und daß die Logik uns nicht lehrt, ob eine Folgerung unter vielen möglichen die einzig richtige ist, sondern ob diese von einer bestimmten Voraussetzung aus korrekt abgeleitet wurde. Die Folgerung ist nur für denjenigen richtig, der diesen Ausgangspunkt annimmt: der Vorwurf des unlogischen Denkens ist daher nur mit dieser Einschränkung gestattet. Trotz dieser neueren Einsichten wird die Logik weiter als strenge Wissenschaft verehrt, weil einerseits ihre vorgetäuschte Allgemeingültigkeit den Philosophen und den gebildeten Klassen das Privileg des logischen Denkens sichert, andererseits würden die übrigen normativen Wissenschaften: Rechtswissenschaft, Ethik, Theologie, welche diesen Glauben auf höchst praktischen Gebieten sichern, in Mitleidenschaft gezogen. Die hauptsächlichste Forderung der Logik ist die Widerspruchslosigkeit. Jede neue Erkenntnis muß sich mit der bereits bestehende Erkenntnismasse in Übereinstimmung befinden. Die folgerichtige Beachtung dieses Satzes bringt es mit sich, daß die vernachlässigten Elemente auch im Falle neuerer Erfahrungen selten zum Vorschein kommen können. Die Unbeweglichkeit der scholastischen Wissenschaften war die strenge Durchführung dieser Forderung. Mathematik und Geometrie waren früher die Musterbeispiele logischer Strenge. Als in der Neuzeit unter dem Sturm unabweisbarer Erfahrungen die Theologie und die Philosophie von ARISTOTELES zusammenbrachen, wählte sich die im Autoritätsglauben erwachsene Menschheit neue "allgemeingültige" Götzen. So gelangte die Mathematik zu beispiellosem Ansehen. Der prinzipielle Zweifler DESCARTES hat die Sätze der Mathematik niemals in Zweifel gezogen (PETZOLDT). SPINOZA leitete seine Philosophie "more geometrico" ab, für KANT war der Hauptgrund zur Aufstellung der Transzendentalphilosophie sein unerschütterlicher Glaube an die strenge Allgemeingültigkeit der Mathematik gewesen. Seitdem stellte aber die Wissenschaft fest, daß diese seinerzeit so verehrten mathematischen Sätze und ihre Beweise unrichtig sind, bzw. der nötigen Strenge entbehren, POINCARÉ sagt sogar, daß erst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts von einer absoluten Strenge der Mathematik gesprochen werden kann. Gleichzeitig wurde die ausschließliche Geltung der euklidischen Geometrie vollständig erschüttert, ihre Fiktivität entdeckt, man kam zu der Überzeugung, daß mehrere Geometrien möglich sind, die sich logisch ebenso widerspruchslos gestalten lassen, wie die euklidische und daß der Unterschied nur darin besteht, daß sie verschiedene Abstraktionen zur Voraussetzung haben. Das Publikum nimmt aber einerseits von dieser Erschütterung wenig Kenntnis, andererseits sind die neuen Geometrien noch schwieriger als die alten, ihre Distanz und Autorität daher noch größer. EINSTEINs Feststellung "insofern sich die Sätze der Mathematik auf die Wirklichkeit beziehen sind sie nicht sicher und insofern sie sicher sind, beziehen sie sich nicht auf die Wirklichkeit", zeigt das Fortschreiten des "Entgötterungsprozesses. Dies stimmt auch für die obersten Sätze der Rechts und Staatslehre und der Ethik. Die formale Logik will vom Denkinhalt vollständig abstrahieren, was meistens auf einer Selbsttäuschung beruth, da der Inhalt auf Umwegen verschänt doch in Betracht gezogen wird. Die Teilung Form-Inhalt bietet denkökonomische Vorteile, doch hat die Höherschätzung der Form einen politisch-juridischen Ursprung, sie hat sich in einer Zeit entwickelt, wo Wissenschaften noch überhaupt nicht vorhanden waren. Der organisatorische Ausdruck der Form, die Ordnung ist die Grundlage jeder Herrschaft, Macht und Autorität. Das Sicheinfügen in die bestehende Ordnung ist die Pflicht, die jede Macht vom Beherrschten verlangt. Die formale Logik, in deren Formeln sich die unzähligen Inhalte der Wirklichkeit einfügen müssen, ist ein Produkt und Abbild politisch-rechtlicher Einflüsse. 2. Begriffsbildung. ENRIQUES mißt der begriffsbildenden Abstraktion nur hypothetische Gültigkeit bei, sie erweist sich nur in den Grenzen als wahr, in denen die vernachlässigten Elemente keine merkliche Abänderung bedingen. Die Isolation ist die Stärke und zugleich die Schwäche der Wissenschaft (VAIHINGER). Die Gefahrenzone wird erreicht, wenn die isolierten Merkmale als absolute gedeutet werden und die vernachlässigten in Vergessenheit geraten. In der Wirklichkeit bestehen diese Trennungen nicht, alle Grenzen schwanken. WEININGERs zugespitzte Ansicht, daß alle Lebewesen zuzgleich homo- und heterosexuell sind, mit unzähigen Übergängen, wo die Extreme nur Idealfälle darstellen, kann mit einer gewissen Einschränkung auf jeden Begriff angewendet werden. Nichts erscheint dem Laien feststehender, als der absolute Unterschied zwischen Tier und Pflanze; die Biologie kämpft aber mit den größten Schwierigkeiten, wenn sie die reinliche Scheidung auf den unteren Stufen vornehmen will. Die Grenzen haben sich besonders seit der Erfindung und Vervollkommnung des Mikroskopes erheblich verschoben. Jeder Begriff ist eine historische Kategorie. Er gibt vom Stand der Wissenschaft, Weltanschauung und Gesellschaftsordnung derjenigen Zeit Aufschluß, in der er geschaffen wurde. Ein Stillstand der Wissenschaften tritt meistens ein, wenn die eingetretenen Veränderungen nicht genügend berücksichtigt werden. Es hat sich eine festgefügte Hierarchie der Begriffe herausgebildet, deren Grundsteine bereits in der griechischen Philosophie, besonders durch PLATO und ARISTOTELES gelegt wurden (F. A. LANGE). Das Allgemeine wird dem Besonderen, das Einfache dem Zusammengesetzten, das Höhere dem Niedrigen vorausgestellt. Nach PLATO sind die abstrakten Begriffe und Ideen ewig, die Einzeldinge vergänglich. Je abstrakter ein Begriff ist, desto mehr ist er der Kontrolle der Erfahrung, dem Machtbereich des menschlichen Willens entzogen. Infolge des Einflusses der Schule, Kirche und Erziehung, erfreuen sich gerade diese Begriffe der höchsten Wertschätzung. Sie haben alle einen apriorischen Charakter, sie kommen von oben her und müssen auf gut Glauben hingenommen werden. Daß der inhaltsleerste Begriff am höchsten steht, ist ein Standpunkt, der sich in allen Wissenschaften unter dem Einfluß der Religion und Gesellschaftsordnung Geltung verschafft hat. Man unterscheidet konkrete und abstrakte Begriffe und versteht unter den ersteren solche, die den sinnlich wahrgenommenen Dingen entsprechen. Doch entspringt auch der konkrete Begriff einer Abstraktion. Es klingt zwar paradox, aber der Unterschied besteht darin, daß die konkreten Begriffe weniger abstrakt sind als die abstrakten. Was im gewöhnlichen Leben als konkret gilt (Tier, Baum, Lilie, Katze, Eisen usw.) sind Allgemeinbegriffe, denen in der Wirklichkeit kein Gegenstand zukommt. Die mittelalterliche Wissenschaft klang in dem großen Streit über die Universalien (Allgemeinbegriffe) aus. Die Nominalisten waren der Ansicht, daß Allgemeinbegriffe nur Namen sind, denen in der Wirklichkeit nichts entspricht; hingegen behaupteten die Anhänger des Begriffsrealismus, daß diese Begriffe objektive Gültigkeit, mindestens aber eine Existenz in den Dingen haben. Man ist darn gewöhnt, in diesem Streit eine uns bereits unverständliche komische Zänkerei spitzfindiger Scholastiker zu erblicken; doch war er ein Kampf auf Leben und Tod zwischen der neuen und alten Weltanschauung, der den Zeitumständen, dem gegebenen Rahmen entsprechend in dieser Frage entbrannte. Der Universalienstreit war der archimedische Punkt, woher die alte Welt aus den Angeln gehoben wurde. Der Nominalismus siegte und zugleich setzte die Renaissance als soziale, wirtschaftliche, religiöse und wissenschaftliche Revolution ein. Ein unverwüstlicher Hang des denkenden Menschen, der aus seinem Anthropomorphismus stammt, ist die Hypostasierung [einem Wort wird reale Existenz untergeschoben - wp]. Das in der Abstraktion isolierte Element (Eigenschaft, Beziehung, Möglichkeit, Form) wird in ein selbständiges, real existierendes, absolutes Wesen verwandelt. Wer das Wort "Wärme" erfunden hat, - sagt POINCARÉ, - der gab ganze Generationen dem Irrtum Preis, die Wärme als unzerstörbaren Stoff zu behandeln. Wir müssen bemerken, daß die in der Religion und im sozialen Leben wuchernden Substanzvorstellungen viel größeres Unheil angerichtet haben; solange sie noch auf diesen Gebieten ihr Unwesen treiben können, wird die Naturwissenschaft ihre Hypostasen schwer los werden. Die Grundlage jeder Hypostasierung ist eine Personifikation. Treten die anthropomorphen Merkmale allmählich in den Hintergrund und kann ihr Vorhandensein nur mittels einer eingehenden Analyse aufgezeigt werden, dann spricht man von abstrakten Ideen und Begriffen. Es besteht nur ein Gradunterschied, den Personifikation ist auch eine Abstraktion. Die ziemlich allgemeine Ansicht, daß den primitiven Menschen (auch den Kindern) abstrakte Ideen fehlen (SPENCER, WUNDT, MÜLLER-LYER) hat nur im obigen Sinn eine Berechtigung. Wenn SIGWART hervorhebt, daß die homerischen Epen nur wenige Sätze haben, deren Subjekte nicht einzelne Personen oder Dinge sind, bedeutet dies nur so viel, daß diese Gedichte ein Zeitalter widerspiegeln, wo der Abstraktionsprozeß noch nicht den personifikativ-naturhaften Zustand überschritten hat. In einer späteren Zeit entwickelte sich die Lehre Zarathustras zu einer abstrakten Theorie; die zwei entgegengesetzten Prinzipien, das Reich des Lichts (Wahrheit) und das des Dunkels (Lüge) bekämpfen einander. DESSOIR zeigt, daß in er ursprünglichen Lehre diese beiden Reiche einen sinnfälligen, positiven Inhalt hatten. Die gute Welt (Ormuzd) war die der Rinderzucht, des Ackerbaues, des Kinderreichtums, die schlechte (Ahriman) persönifizierte schädliches Getier, Krankheit, Tod. Die abstrakten Wesenheiten, Kräfte, Eigenschaften, Vermögen, Ideen, auf denen sich die Natur- und Geisteswissenschaften aufbauen, beruhen ihrerseits auf der Substanzvorstellung, die auch einer Personifikation ihren Ursprung verdankt. Der Fetischcharakter der Ware (MARX), die hypostatische Natur des Geldes (SIMMEL) sind auch einer Personifikation entsprungen. Nach der bekannten Einteilung von TURGOT und COMTE verzeichnet die menschliche Entwicklung drei Stufen: die theologische, metaphysische und positive. Auf der ersten überwiegen nach unserer Auffassung die personifizierten Begriffe, auf der zweiten schreitet der Abstraktionsprozeß fort, die naturhaften Züge verbleichen. Auf der positiven Stufe macht sich das Bestreben geltend, den Zusammenhang mit der Erfahrung auf allen Gebieten herzustellen. Diese Einteilung COMTEs ist eine vertikale Abstraktion und vernachlässigt den Umstand, daß alle drei Stufen in einem räumlichen Beisammensein heute noch überall aufzufinden sind. In den feudalen Ländern überwiegen die theologischen Abstraktionen (Gott, Gottesgnadentum, Unsterblichkeit, Vaterlandsliebe usw.), in den kapitalistisch-bürgerlichen Staaten die metaphysischen (Freiheit, Gleichheit, Demokratie, Unverletzlichkeit des Eigentums usw.). Die städtische Bevölkerung, besonders die Arbeiterschaft ist von den Produktionsmitteln getrennt. Sie steht einem äußerst komplizierten Mechanismus der Produktion, des internationalen Verkehrs gegenüber, den sie nicht zu übersehen, nicht eindeutig zu erfassen vermag, dessen Verständnis ihr nur durch abstrakte Ideen, Formeln und Gesetze erschließbar ist. Auf dem Land sind die Verhältnisse einfacher und übersichtlicher. Der Bauer lebt in untrennbarer Gemeinschaft mit den Produktionsmitteln, er kann die Umwelt mittels einiger Personifikationen, weniger theologischer Begriffe fassen. Darauf fußt der grundlegende Unterschied zwischen der Weltanschauung der städtischen und ländlichen Bevölkerung. SPENGLERs Bemerkung, daß das abstrakte Denken in später, städtischer Trieb ist, wird durch diese obige Feststellung korrigiert. Das bisher Gesagte kann entsprechend auf Urteil, Schluß und Definition angewendet werden. 3. Gesetz. Jedes Gesetz ist eine Abstraktion, welche die Erscheinungen von einem bestimmten Isolationszentrum aus begreift (VOLKMANN). Schon der Name besagt, daß es sich hier um einen vom politisch-juridischen Gebiet übernommenen Begriff handelt. Das Gesetz bedeutet ein Verhältnis der Über- und Unterordnung, schließt ein Werturteil ein; das Gesetz beherrscht die Natur und das Geistesleben, die Tatsachen müssen sich ihm fügen. Die Allgemeingültigkeit der Naturgesetze wird. u. a. darum so zäh verteidigt, weil zu befürchten ist, daß ihre Erschütterung auf politisch-wirtschaftliches Gebiet übergreift. Bei der Schaffung eines Gesetzes werden die nebensächlichen oder nicht erkannten Elemente vernachlässigt. Nach dem Fortschritt in der wissenschaftlichen Forschung berücksichtigt man diese immer mehr, das Gesetz wird durch ein genaueres ersetzt. Die größere Stabilität der astronomischen Gesetze stammt daher, daß die ihnen zugrunde liegenden Tatsachen der Beobachtung und dem Experiment weniger zugänglich sind als die gewöhnlichen physikalischen Vorgänge. Der Begriff eines Naturgesetzes - ein Zeichen der Zeit - verliert immer mehr an majestätischer Stabilität, der Standpunkt von KIRCHHOFF, daß die Aufgabe der Naturwissenschaften darin besteht, die Erscheinungen zu beschreiben, bedeutet eine Plebejisierung und Degradierung des einst so hehren Begriffes. Zwischen Gesetzen und Tatsachen besteht kein grundlegender Unterschied mehr, das Herrschaftsprinzip büßt seine Geltung ein. Die von KANT ausgehende Auffassung, welche die verbindliche Kraft des Gesetzes auf die Form zurückführt, und vom Inhalt vollständig abstrahiert, beruth auf einer sozial bedingten Überschätzung der Form. Doch wird dieser Standpunkt niemals folgerichtig durchgeführt. der mögliche Inhalt wird durch ein verhülltes materielles Merkmal in den formalen Gesetzbegriff zurückgeschmuggelt. Was als Gesetz zu betrachten ist, wechselt nach Zeit und Umständen; worauf einmal geschworen wurde, wird später als wertloser Kram, als bedauernswerte, ja sogar unverständliche Verirrung verworfen. Zwei Grundgesetze der klassischen Nationalökonomie, das Bevölkerungsgesetz von MALTHUS und das eherne Lohngesetz sind enggezogene Abstraktionen; das erste berücksichtigt nur die Verhältnisse England am Ausgang des 18. Jahrhunderts, das zweite die der kapitalistisch entwickelten Länder in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Viele schnell emporgekommene geographische, biologische und anthropologische Gesetze erwiesen sich später als vorübergehende Modesachen. Die meisten dieser Gesetze begnügen sich nicht damit, daß sie die widerstreitenden Elemente vernachlässigen, sondern pressen dieselben in ein aufgrund ganz weniger Tatsachen verallgemeinertes Schema gewaltsam ein. Ihr methodologisches Mittel gleicht einem Prokrustesbett. Sie sind alle gelehrige Schüler HEGELs; wollen sich die Tatsachen nicht fügen, umso schlimmer für sie. Die Palme gehört jedenfalls SPENGLER, "Der Untergang des Abendlandes" ist eigentlich ein riesenhaftes Schlachthaus, wo unzählige, verstümmelte, verrenkt, gewaltsam ausgedehnte Tatsachen herumliegen. Dasselbe gilt von seinem eigentlichen geistigen Ahnherrn, von HOUSTON STEWART CHAMBERLAIN. MILL unterscheide die geometrische und physikalische Methode; nach der ersten geht jede Erscheinung aus einem einzigen Gesetz, aus einer einzigen Kraft hervor, die übrigen Einflüsse werden vernachlässigt; die physikalische Methode berücksichtigt auch diese. Wir sind der Meinung, daß diese Methode auch in die Geometrie vom politischen und religiösen Gebiet (einheitlicher Schöpfungsakt) übernommen wurde. Der Konditionismus, der Standpunkt der funktionellen Abhängigkeit, welche möglichst viele Einflüsse berücksichtigen, die am Zustandekommen eines Vorgangs beteiligt sind und dadurch die starre absolute Kausalität durch ein bewegliches, anpassungsfähiges Prinzip ersetzen, sind Produkte eines Zeitalters, in welchem bereits der Glaube an die unvergänglichen theologischen und politischen Gesetze stark erschüttert war. Von den meisten Gesetzen und Axiomen, die bisher eine ungeteilte Autorität genossen,. stellte sich bei kritisch-analytischer Betrachtung heraus, daß sie nur Definitionen und verkleidete Übereinkommen sind, die nur diejenigen verbinden, die sie anzunehmen gewillt sind. Noch mehr trifft das auf die politischen, ethischen und theologischen Gesetze zu (die von der gesetzgebenden Gewalt erbrachten Gesetze gehören auf ein anderes Blatt). Der geistige Inhalt der religiösen und politischen Revolutionen bestand eben darin, daß sie sich gegen die überlieferten Übereinkommen und Definitionen auflehnten, diese in ihrer Eigenschaft erkannt und sich von ihnen losgemacht haben. Die vernachlässigten Elemente wurden hervorgehoben, mit ihrer Hilfe neue Definitionen und Übereinkommen geschaffen. Später maßten sich auch die letztere die Qualität eines Gesetzes an; ihr Zustandekommen geriet in Vergessenheit. Der Zusammenhang mit der Gesellschaftsordnung läßt begreifen, daß der pragmatische Standpunkt selbst auf dem Gebiet der Naturwissenschaften bisher keine Anerkennung erlangen konnte. 4. Wissenschaft. Zur Ergänzung des im psychologischen Kapitel Gesagten wollen wir noch einiges über Wechselwirkung, Systematik und Einteilung der Wissenschaften bemerken. Verwendet man die Methode und die Kategorien einer Wissenschaft in einer anderen, so wird man überall nur dasjenige hervorheben und erkennen, was prinzipiell in diese Kategorien eingeht. Alles Übrige wird vernachlässigt (VERWEYEN). Physikalische Kategorien werden notwendig die physikalischen Eigenschaften des Gegenstandes enthüllen, die formalistische Erkenntnistheorie hebt auf allen Gebieten die formale Seite hervor. Die Anwendung politisch-religiöser Kategorien treibt unwillkürlich zur Bevorzugung absolutistisch apriorischer Merkmale. Die Systematik hängt vom allgemeinen Stand der Gesellschaftsordnung, Weltanschauung, besonders von der Religion ab. Die Anatomie war im Altertum und im Mittelalter sehr zurückgeblieben, weil religiöse Vorurteile das Studium an Menschenleichen verhinderten. Die Kenntnis und Aufzählung der Körperorgane, des Knochensystems, der Muskulatur, des Nervennetzes, kurz die ganze Systematik war äußerst primitiv und mangelhaft. Als später im 16. Jahrhundert das Sezierverbot nicht mehr berücksichtigt wurde, nahm die anatomische Systematik einen ungeahnten Aufschwung. Solange die biblische Schöpfungsgeschichte und das darauf beruhende Prinzip der Unveränderlichkeit der Arten die Naturwissenschaften beherrschten, muß die Systematik der Zoologie und Botanik eine wesentlich andere sein als nach dem Sieg der Abstammungslehre Darwins. Die ausschließlich morphologische Entwicklung der Wissenschaften ist eine Begleiterscheinung des stationären Zustandes der Gesellschaft, der endlich zur Verknöcherung der Systematik führt. Tritt auf allen Gebieten des geistigen Lebens eine beweglichere Periode ein, dann kommt auch die dynamische Behandlung neben der morphologischen (welche auch nur eine Folge der Überschätzung des Formprinzips ist) zur Geltung. Die dynamische Betrachtung der Naturereignisse, die dann auch auf die übrigen Wissensgebiete übergriff, war die Folge der großen wirtschaftlichen Umwälzung im 16. Jahrhundert, die allmählich eine mächtige Industrie hervorbrachte, für deren Zwecke die bequemen statischen Methoden der alten Mechanik nicht mehr ausreichten. COMTE teilt die Wissenschaften nach dem Grad der in ihnen geübten Abstraktion ein, was auch SPENCER mit einigen Abänderungen angenommen hat. Es ist eine vertikale Einteilung an der Spitze mit der Mathematik, ihr folgen Mechanik, Astronomie, Physik, Chemie (nach SPENCER erst jetzt Astronomie), Biologie, Psychologie (bei COMTE nicht vorhanden), Soziologie. Die Einteilung birgt Vorteile in sich, doch ihr Ausgangspunkt ist verfehlt. Man kann nicht behaupten, daß die Soziologie und alles, was in ihr enthalten ist, wie Geschichte, Politik, Rechtswissenschaft, Ethik usw., dann das religiöse und politische Leben mit weniger Abstraktionen auskommen würden als die Naturwissenschaften. Staat, Gott, Recht, Tugend sind keine engeren Abstraktionen als die der Mechanik, z. B. Kraft, Masse, Bewegung. Die letzteren sind zur Beschreibung der Wirklichkeit noch geeigneter; sie wurzeln eher in den Tatsachen als die ersteren. Alle diese Abstraktionen beruhen letzten Endes auf der Substanzvorstellung, die vorwissenschaftlich ist und einen religiösen Ursprung hat. Diese Einteilung hat nur insofern eine Berehtigung, als sie zum Ausdruck bringen will, inwieweit die einzelnen Wissenschaften der mathematischen Behandlung zugänglich sind. Die Benützung dieser Symbolsprache wird zu oft zum Selbstzweck. Jeder Zusammenhang mit der Wirklichkeit geht verloren, denn den idealisierten Annahmen stehen keine entsprechenden Vorgänge gegenüber (OSTWALD). Die neue phänomenalistische Physik, die mit der mechanistischen Ansicht aufräumt, und deren bildliche Ausdrücke durch vollständig unanschauliche, nur algebraisch bestimmte Formeln ersetzt (REY), vermeidet zwar die Fehler der mechanistischen Auffassung, doch treibt sie gewissermaßen den Teufel mit Beelzebub aus. Dieses Verhängnis scheint auch der Relativitätstheorie zu drohen. Sie hat die Physik aus den absolutistischen Höhen auf den festen Boden der Erfahrung zurückgebracht, doch verrichtet sie Penelopes Arbeit, weil der Abstraktionsprozeß wieder schwindelnde Höhen erklimmt und dadurch die Möglichkeit des Rückfalls auf Umwegen gegeben ist. Die Relativitätstheorie ist als revolutionäre Wissenschaft der Gegenstand grimmigster Angriffe der politischen und wissenschaftlichen Reaktion (nicht jeder Angriff entspringt diesen Motiven). Diese übertriebene Abstraktion zeichnet aber den Weg vor, den die Reaktion in der Zukunft einschlagen wird. Behauptet sich die Theorie dermaßen, daß Bagatellisierung, Verspottung, Angriffe sie nicht mehr zu erschüttern vermögen, dann wird sich die Reaktion mit ihr versöhnen und sie für ihre Zwecke dienstbar zu machen trachten. Wir werden vielleicht noch eine "absolutistische Relativitätstheorie" begrüßen können; die absolute Welt MINKOWSKIs und die absolute Kovarianz- und Transformationsformel sind verheißungsvolle Ansätze dafür. 5. Allgemeingültigkeit und Relativität. Der Abstraktionsvorgang gestaltet sich verschieden nach Zeiten, Völkern und Klassen. Es wäre möglich, sowohl ein vertikales, als auch ein horizontales Schema der Abstraktion zu verfertigen, besonders könnte man die Geschichte von dem Standpunkt aus einteilen, was in den einzelnen Epochen hervorgehoben und vernachlässigt wurde. MARX zeigt, daß der Begriff der "Arbeit überhaupt" eine Abstraktion des Kapitalismus, in Amerika sogar die grundlegende Kategorie der modernen Wirtschaft ist. Diese Abstraktion konnte man nur in einer Gesellschaft wagen, die eine vollständige Totalität wirklicher Arbeitsarten aufzeigt, von denen keine mehr die allesbeherrschende ist, wo man mit Leichtigkeit aus einer Arbeit in die andere übergehen kann und wo infolgedessen eine Gleichgültigkeit gegen eine bestimmte Arbeitsgattung herrscht. Ebenso wurde das Geld zu einer allmächtigen Abstraktion, als der Warenverkehr einen so hohen Grad erreichte, daß er die durchgängige Bezogenheit aller Waren auf einen gemeinsamen Wertmesser notwendig hervorrief. Jede Abstraktion ist relativ; sie stellt eine Beziehung der Dinge und Vorgänge dar, wovon später abgesehen wird. Die Abstraktion setzt einen Begriff, ein Urteil usw. als selbständiges Etwas in die Welt; was vernachlässigt wurde, gerät in Vergessenheit, man hält den abstrahierten Begriff für ein Reales, zugleich aber für etwas Absolutes, das ohne die Relationen eine selbständige Existenz hat. Ein partikulares Urteil maßt sich an, Allgemeingültigkeit zu besitzen. Dieses Trachten nach Allgemeingültigkeit, dieser Verabsolutierungsprozeß tritt umso stärker zum Vorschein, je dünner der Inhalt und je größer der Umfang des Begriffes, je höher sein Rang in der Hierarchie ist. Durch die Vernachlässigung der widerstreitenden Elemente, auf der Suche nach allgemeingültigen Wahrheiten kommt man notgedrungen zu Begriffen und Sätzen, die weder allgemein, noch gültig sind. F. A. LANGE ist der Meinung, daß eine relative Wahrheit für den Fortschritt des Wissens günstiger ist, als ein durch Abstraktion gewonnener Satz, der eine unbekannte Masse von Irrtümern mit sich schleppt. Das Geld betrachtet SIMMEL als Gegenpol, als die direkte Verneinung jedes Fürsichseins, daher durchaus relativistisch. Durch die Stabilität der Geldfunktion irregeführt, wird das Geld doch als etwas Absolutes angesehen, von den zugrundeliegenden Tatsachen der Erzeugung und des Verbrauches, von der Einfuhr und Ausfuhr wird vollständig abstrahiert. Aus diesem Irrtum wurde das Publikum erst durch die bitteren Erfahrungen der letzten Jahre geweckt. Das Streben nach Allgemeingültigkeit hat außer den oben angeführten biopsychologischen Ursachen noch einen vornehmlich sozialen Grund. In den primitiven Horden entschied über die Herrschaft die physische Kraft. Dieser Zustand bot aber keine sichere Grundlage. Es konnte durch einen Zusammenschluß der Schwächeren auch der Stärkste gestürzt werden. Der Mensch gelangte notgedrungen allmählich zur Einsicht, daß eine dauerhafte Beeinflussung der übrigen dadurch am besten zu erreichen ist, daß man ihnen die Überzeugung beibringt, was in Wirklichkeit nur Wille und Interesse des Einzelnen ist, als im Interesse aller gelegen zu betrachten. In der logischen Formsprache gesprochen: ein durch Abstraktion gewonnenes partikulares Urteil wird als allgemeingültig vorgetäuscht. Die Relationen, die Motive, die partikularen Interessen, von denen man abstrahierte, werden vollständig vernachlässigt, die unvollkommenen Merkmale abgestreift. Wir können einen bekannten kantischen Satz variierend sagen: "Der Erste, der die Allgemeingültigkeit eines partiellen Urteils demonstrierte, dem ging ein Licht auf, nicht was er darin sah, sondern, was er in dasselbe hineingab, was er damit darstellte und den übrigen glaubhaft machte." Der Tag dieser Erkenntnis ist zugleich der Geburtstag der jetzigen Gesellschaftsordnung, deren Wesen eben darin besteht, daß eine Minorität über die Mehrheit herrscht und diese die Herrschaft als allgemeingültige Notwendigkeit annimmt. Entia non sunt creanda sine necessitate [Wesenheiten dürfen nicht über das Notwendige hinaus vermehrt werden. - wp], sagten die Scholastiker. Viele solche Allgemeinbegriffe, die uns jetzt sinnlos erscheinen, sind nicht ohne Notwendigkeit entstanden, sie leisteten die unschätzbaren Dienste zur Aufrechterhaltung der Gesellschaftsordnung. 6. Deduktion. Sie bringt keine neuen Einsichten, die nicht in den Prämissen enthalten wären und leitet das Besondere aus dem Allgemeinen ab. Infolge dieser Beschaffenheit hatten Theologie und Scholastik die Deduktion ausschließlich bevorzugt, da es nicht zu befürchten war, daß mit ihrer Hilfe Erkenntnisse in die Welt gesetzt werden, die sich für die bestehende Gesellschaftsordnung und die kirchlichen Dogmen als schädlich erweisen könnten. Ihre Alleinherrschaft schuf die Möglichkeit der einheitlichen polizeilichen Bewachung sämtlicher Wissensgebiete. Als mit dem Heranbrechen der Neuzeit gegen sämtliche Hochburgen der autoritären Wissenschaft Sturm gelaufen wurde, war auch das Ansehen der Deduktion stark erschüttert. Der Führer dieser geistigen Bewegung war BACON. Der syllogistische Apparat dient meistens dazu, die Forschungswege zu verdecken, die durch Erfahrung gewonnenen Erkenntnisse als durch die syllogistische Ableitung gegeben hinzustellen. Besonders NEWTON war es sehr daran gelegen, durch eine knappe Mitteilung seiner Resultate seine Forschungswege zu verdecken und dadurch seine Priorität zu wahren. HUYGHENS teilt hingegen auch den Weg mit, auf welchem er zu seinen Ergebnissen gekommen ist. Die Philosophie HEGELs ist ein Musterbeispiel einer konstruktiven Methode, auf rein deduktivem Weg zu Erkenntnissen zu gelangen, wobei das scheinbar rein begrifflich abgeleitete Besondere in der Wahrheit aus der Erfahrung entlehnt wurde (EISLER). Alle diese Bestrebungen haben das gemeinsame Ziel, zu verhüllen, daß Begriffe nur durch die Vernachlässigung gewisser Elemente entstanden sind. 7. Induktion. Sie trachtet vom Besonderen zum Allgemeinen, von den einzelnen Fällen zu den allgemeinsten Gesetzen zu gelangen, ihre Hauptmittel sind Beobachtung und Experiment. Seit der Revolutionierung der Wissenschaften im 16. Jahrhundert ist sie die führende Methode der Naturwissenschaften, doch gelangt sie auf allen Gebieten des Wissens zum Übergewicht, wenn durch vorhergehende soziale Umwälzungen, die althergebrachten Wahrheiten erschüttert werden. Sie fußt auf der Erfahrung, sie ist daher eine fortschrittliche Methode. Die Induktion geht von einer Erwartung, Idee aus, sie hat einen Leitgedanken, eine allgemeine Annahme, meistens die durchgängige Kausalität zur Voraussetzung. Dadurch ist bereits die Möglichkeit gegeben, daß sich apriorische und absolutistische Einflüsse geltend machen, wodurch oft die empirische Grundlage verfälscht wird. Im Konkurrenzkampf mit den positiven Religionen läßt sich der Monismus, um auch ein geschlossenes Weltbild zu geben, zu allgemeinsten Abstraktionen und Einheitsprinzipien verführen, die nur verhängnisvoll wirken können. Bei der begrifflichen Festlegung der Induktionstatsachen, die durch Abstraktion erfolgt, lauern dieselben Gefahren. 8. Beobachtung und Experiment. Das Resultat jeder Beobachtung ist die Feststellung einer Tatsache mittels einer Abstraktion. Die begriffliche Fixierung der Beobachtung geschieht immer im Bann der herrschenden Abstraktionen, nur daß bei der wissenschaftlichen Beobachtung meistens zu Abstraktionen höheren Grades gegriffen wird, als im gewöhnlichen Leben. Aus denkökonomischen Rücksichten muß eine Auswahl der Tatsachen stattfinden, welche durch die sozial bedingten Interessen des beobachtenden Individuums geleitet wird. Im Mittelalter zeigten die Forscher nur für solche chemische Probleme Interesse, die mit der Verwandlung der Metalle in Gold in Zusammenhang standen. Als dann in der Neuzeit der ungemein große wirtschaftliche Aufschwung den Menschen vor Augen führte, daß Reichtümer leichter zu erwerben sind, wenn man nicht Metalle, sondern wohlfeile menschliche Arbeitskraft in Gold verwandelt, warf man sich auf die Beobachtung derjenigen chemischen Tatsachen, die zur Steigerung und Ausgestaltung der industriellen Produktion führten. Es bildete sich eine Hierarchie der Tatsachen heraus, die jeweils die soziale Schichtung, den Stand der Religion, der Weltanschauung und der Gesellschaftsordnung widerspiegelt. Was in einer Zeit als "wesentlich" gilt, ist vornehmlich eine soziale Kategorie. Die Erschütterung der festgefahrenen Ansichten wird sehr oft durch die technische Vervollkommnung der wissenschaftlichen Hilfsmittel herbeigeführt. Sie läßt Tatsachen beobachten, die früher nicht zum Vorschein kamen und Unterschiede feststellen, die bisher ihrer Winzigkeit wegen vernachlässigt wurden. Diese neuen Beobachtungen stürzen nun die bisherigen allgemeinen Annahmen. Der Fortschritt der Chemie nach LAVOISIER ist dem Umstand zu verdanken, daß in der chemischen Waage ein vollständig verläßliches Werkzeug eingeführt wurde, das die Beobachtungen auf eine sichere Grundlage stellte. Die radioaktive Strahlung der Körper wurde auch früher gelegentlich beobachtet, doch vernachlässigt; erst nachdem es gelang, sie durch vervollkommnete Instrumente verläßlich zu beobachten, revolutionierte sie Physik und Chemie, der Energieersatz und andere hohe Prinzipien gerieten in Gefahr. Die Entwicklung des Kapitalismus lenkte die Aufmerksamkeit auf die wirtschaftlichen und sozialen Tatsachen, die man bisher vollkommen vernachlässigte. Es entstand die Statistik als die Wissenschaft der Massenbeobachtung, die aus denkökonomischen Gründen mit Abstraktionen arbeiten muß. Es ist eine allzu häufige Erscheinung, daß Regierungen, Behörden, Interessengruppen, Statistiken bewußt verfälschen, doch geht diese Fälschung in den meisten Fällen unter dem Einfluß der herrschenden Abstraktionen unbewußt vor sich; die Widersprüche und Unverständlichkeiten so vieler Statistiken sind besonders auf diesen Zustand zurückzuführen. Die hauptsächlichsten Fehlerquellen in der Beobachtung sind sozialer Natur, sie entspringen Vorurteilen und überlieferten Meinungen. Der Mensch begeht auch schwere individuelle Fehler, doch wirklich gefahrdrohend und verhängnisvoll für ihn ist es, wenn er sich "sozial" irrt. BACON zählt die Fehlerquellen auf: idola tribus, theatri, fori, specus [Götzenbilder der Gattung oder des Stammes; des Schauplatzes oder des Theaters; des Marktes oder des Verkehrs; der Höhle ohne Außenlicht - wp]; mit Ausnahme der letzteren sind sie alle sozialen Ursprungs, wie bereits die Namen besagen. STALLO faßt die hauptsächlichsten Fehler begangen auf dem Gebiet der Naturwissenschaften in vier typische Fälle zusammen. Alle diese Irrtümer haben eine gemeinsame Grundlage, die Substanzvorstellung, von der wir bereits mehrmals hervorgehoben haben, daß sie sozialreligiösen Ursprungs ist. Die Beobachtung der wichtigsten Tatsachen des sozialen Lebens wird dadurch ungemein erschwert, daß die Kirchendogmen, die Priesterschaft, die Dynastien, gewisse privilegierte Schichten einen besonderen strafrechtlichen Schutz genießen. Die Beobachtung ihrer Tätigkeit, ihre Lebensführung, besonders ob dieselbe sich mit den von ihnen vertretenen Prinzipien in Übereinstimmung befinden, wird dadurch beinahe unmöglich. Da die öffentliche Besprechung dieser Beobachtungen wegen der strafrechtlichen Folgen verhindert ist, bleiben die diesbezüglichen Beobachtungen nur einem kleinen Kreis erschlossen; die Masse, welche den führenden Schichten uneingeschränkte Ehrfurcht zollt, nimmt davon meistens keine Kenntnis. Die obigen Ausführungen gelten auch für das Experiment. Bei der Beobachtung geht die Abstraktion unbewußt und mechanisch vor sich. Beim Experiment geschieht die Sonderung mit Absicht, wobei oft der Experimentator nicht Herr der eigenen Entschlüsse ist, er hebt hervor und vernachlässigt, was er hervorheben und vernachlässigen muß. Meistens steht bereits die Versuchsanordnung unter dem Einfluß der autoritären Prinzipien, noch mehr die Wertung der erhaltenen Resultate. NEWTON, der auf die Absolutheit der Bewegegung eingeschworen war, konnte seinen berühmten Eimerversuch nicht relativistisch deuten, was MACH, der von diesem Vorurteil befreit war, sofort tat. Die Vernachlässigung des Experiments im Altertum und Mittelalter beruth auf zwei sozialen Tatsachen, die zueinander in einer Wechselwirkung standen. Infolge des autoritären Zuges der Weltanschaung war den damaligen Gelehrten mehr daran gelegen, wenn sie etwas wissen wollten, bei den geeichten Philosophen, besonders bei ARISTOTELES nach Auskunft zu suchen, anstatt sich durch ein Experiment selbst zu überzeugen. Infolge der geringfügigen wirtschaftlichen Entwicklung fehlte auch der Anreiz, der in der Neuzeit dem Experimentieren einen so mächtigen Aufschwung verlieh. Sind diese überlieferten Abstraktionen mächtig genug, dann wird das Experiment, das vernachlässigte Elemente zum Vorschein bringt, nicht berücksichtigt. Die Geschichte des MICHELSON-Versuches, welcher der EINSTEINschen Relativitätstheorie zum Sieg verhalt, zeigt, daß ein Versuch erst dann die bestehende Auffassung umstürzen kann, nachdem er durch eine Reihe von Jahren folgerichtig und hartnäckig immer dieselbe negative Antwort erteilt, die mit den bestehenden Naturgesetzen nicht in Übereinstimmung gebracht werden konnte. Der negative Erfolg dieses Versuches war ein Protest gegen die Absolutheit der Bewegung, des Raumes und der Zeit, die nur Bestandteil der durchgängigen Absolutheit der herrschenden Weltanschauung sind. Um sie zu retten, ersann LORENTZ seine komplizierte Kontraktionshypothese. Doch das intellektuelle Unbehangen verschwand erst, als EINSTEIN den Versuch relativistisch deutete. 9. Ideale und Symbole. Ideen und Ideale als höchste Zielpunkte, Musterbilder des Erkennens, Wertens und Handelns verdanken alle ihre Existenz Abstraktionsprozessen. Ein der Erfahrung entnommener Begriff wird von einen Unvollkommenheiten befreit, die Erfahrung wird korrigiert (NATORP). Unter dem Einfluß der autoritären Ideologien werden hauptsächlich für die Erhaltung der bestehenden Gesellschaftsordnung günstige Ideen und Ideale geschaffen. Die kantische Unterscheidung, daß Ideen und Ideale keine metaphysischen Wesenheiten, sondern nur regulative Prinzipien und Forderungen sind, die unserem Handeln die Richtung auf Vollkommenheit geben, ist eine esoterische Unterscheidung, die selbst im Kreis der Eingeweihten nicht vollständig durchgeführt wird. Die großen Massen nehmen davon keine Kenntnis. Alle Ideale, die den einzelnen Menschen in der Gestaltung ihres individuellen Lebens vorschweben, sind, obwohl verschieden, alle doch sozialen Ursprungs. Jedes Ideal enthält eine Wertschätzung; es ist ein absoluter Wertmaßstab. Der Idealmensch wie z. B. NIETZSCHEs Übermensch ist ein aus der Erfahrung abstrahiertes Musterbild, das die Weltanschauung und den Stand der damaligen Gesellschaft von einem bestimmten Isolationszentrum aus gesehen weitergibt. Das Schicksal, ja sogar die Bestimmung der Ideen ist, daß sich sich der Kontrolle der Erfahrung entziehen. Die Abstraktion wird noch dadurch zugespitzt, daß die Ideen und Ideale zu Symbolen werden, sie stellen den Tatbestand, von dem sie abstrahiert wurden, durch eine anschauliche Vorstellung, durch ein Wort, ein Bild dar. Jedes Symbol ist gewissermaßen "ein Stück Wirklichkeit" (SPENGLER), doch oft eine verballhornte, zurechtgestutzte Wirklichkeit, bei deren Gebrauch der Mensch, der ihren Ursprung nicht ahnt, vollständig ihm unbekannten sozialen Einflüssen, die das Symbol schufen, ausgeliefert ist. Ideen und Symbole haben eine große wissenschaftliche Bedeutung. Die Grundbegriffe der Geometrie und Mechanik sind idealisierende Abstraktionen, die keine Musterbilder sein, sondern zur Vereinfachung der Begriffe dienen wollen. Viele moderne Mathematiker erblicken die einzige Aufgabe der Mathematik darin, daß sie reine Symbole kombiniert, aus ihnen Schlüsse ableitet, ohne Rücksicht auf die Möglichkeit einer Anwendung. Dieser Standpunkt des "Elfenbeinturms" läuft Gefahr, jedweden Kontakt mit der Wirklichkeit zu verlieren und fördert als ansteckendes Beispiel die überwuchernde Abstraktion auf allen Wissensgebieten. Bereits --LOCKE, dann SPENCER, HELMHOLTZ, HERTZ, gewissermaßen auch WUNDT betonten die symbolische Natur unserer Erkenntnis. Die Gesetzmäßigkeit der Wirklichkeit spiegelt sich nach dieser Auffassung in der Welt der Symbole wieder. Der erkennende Mensch muß diese Symbole richtig deuten lernen. Welchen Gefahren er auf diesem Weg ausgesetzt ist, haben wir bereits gezeigt. Die Typisierung ist eine symbolische, idealisierende Abstraktion, doch gehört sie zu der weniger gefährlichen Gattung, da sie meistens einen starken Kontakt mit der Wirklichkeit hat und sich keine Vollkommenheit anmaßt. 10. Sprache. Die Lautsprache ist der Inbegriff von Wörtern, welche zur Bezeichnung der Dinge und Vorgänge dienen. Jeder einfachen oder zusammengesetzten Vorstellung, jeder Vorstellungsgruppe wird mittels Abstraktion ein Wort zugeordnet. Bei dieser Zuordnung werden bestimmte Merkmale schon aus denkökonomischen Rücksichten vernachlässigt, was später zu Zweideutigkeiten führt. Die Erwähnung eines Namens assoziiert nur die hervorgehobenen Merkmale. Die Sprache ist ein Schematisierungsverfahren; an ihr haftet immer etwas klischeeartiges. Im Laufe der Entwicklung tritt ein Bedeutungswandel ein, der bereits gelockerte Zusammenhang zwischen sinnlichen Wahrnehmungen und Wörtern verschwindet vollständig; die Etymologie muß sich die größte Mühe geben, um den Abstraktionsprozeß zu entdecken, der zur Namensgebung führte. Jedes Wort enthält Beziehungen und Anspielungen auf vergangene Zustände, welche unbewußt assoziiert werden und das Denken beeinflussen. Die wissenschaftliche Sprache unterscheidet sich von der gewöhnlichen hauptsächlich dadurch, daß sie die personifikativen Abstraktionen tunlichst verdrängt oder durch von der Erfahrungsgrundlage entferntere Wörter ersetzt. Je höher der Abstraktionsprozeß steigt, desto inkongruenter [nicht übereinstimmender - wp] werden die ursprünglichen Bedeutungen der Wörter (SIGWART). Die Sprache ist ein soziales Produkt, das Werden und Vergehen der Wörter, der Wandel und die Verschiebung der Bedeutung, die Entstehung von Dialekten, Literatur- und Berufssprachen, sind das Werk mehrerer Generationen, der Wechselwirkung von Individuen, Klassen, Rassen, Nationen und zeigen die wirtschaftliche, politische und religiöse Ordnung, den Stand der wortbildenden Gesellschaft. Das Überwuchern der Abstraktionen in der wissenschaftlichen Sprache ist darauf zurückzuführen, daß die meisten Begriffe durch lateinische und griechische Wörter wiedergegeben werden, der Gebrauch toter Sprachen gräbt die Kluft zwischen den Sinneswahrnehmungen und sprachlichen Symbolen noch tiefer. Es ist in weitesten Kreisen unbekannt, daß die abstraktesten wissenschaftlichen Bezeichnungen dem Alltagsleben der Griechen und Römer entstammen (SCHLICK). Nicht nur die Widersprüche der Wissenschaft, auch manche soziale Konflikte sind auf den Umstand zurückzuführen, daß die Wörter nicht mehr den Tatbestand decken, den sie ursprünglich bezeichneten, und daß dieser Umstand von den herrschenden Klassen mißbraucht wird. Die Sprache ist unbeweglicher und konservativer als die meisten sozialen Gebilde, sie ist noch immer geozentrisch, kennt nur den persönlichen Gott und ist das wahre Herrschaftsgebiet der Substanzvorstellung. Die Reinigung der Sprache, die Zurückführung der Wörter auf ihre Erfahrungsgrundlagen, das Bewußtwerden ihres abstraktiven Ursprungs muß ein notwendiger Bestandteil jeder durchgreifenden sozialen Reform sein. Die Gebärdensprache, die eine sehr bedeutende Rolle im menschlichen Verkehr spielt, verdankt ihren Ursprung auch einem selektiven Vorgang und beruth ebenso auf Abstraktion wie die Lautsprache. Über die mathematische Symbolsprache noch einige Bemerkungen: Die blinde Verehrung der Mathematik hat auch zu dem Glauben geführt, daß ihre Symbolsprache die denkbar eindeutigste ist. Jetzt wird allgemein anerkannt, daß diese Feststellung nur auf die Arithmetik zutrifft, insofern sie mit Zahlzeichen arbeitet. Die Sprache der Algebra ist bereits vieldeutig. Die Formeln und Symbole der höheren Mathematik schließen nicht minder logische Gefahren in sich als die Mehrdeutigkeiten der Volkssprache (OSKAR KRAUS). In letzter Zeit entwickelte sich eine Wissenschaft, welche bemüht ist, die Mathematik ganz auf die Logik zurückzuführen, sie schuf sich eine neue, äußerst komplizierte Begriffssprache, mit deren Hilfe sie aus der Mathematik die Mehrdeutigkeiten, die durch den Gebrauch der gewöhnlichen Sprache entstanden sind, gänzlich zu bannen hofft. Diese mathematische Logik oder Logistik ist eine vollkommen esoterische Wissenschaft, sie verliert jedweden Zusammenhang mit der erfahrbaren Wirklichkeit und dadurch die Fähigkeit, unerwünschte Elemente, welche trotz der größten Strenge in diese Begriffssprache eingeschleppt wurden, zu erkennen. 11. Fehlschlüsse. Sämtliche Fehl- und Trugschlüsse haben ihre Wurzel im Abstraktionsvorgang. Jeder Schluß ist die Verbindung von mehreren Urteilen, die ihrerseits durch eine Zusammenfassung mehrerer Begriffe entstanden sind (Begriffe entspringen ihrerseits auch Urteilen), alle stellen daher eine vielfach potenzierte Abstraktion dar. Der Fehler entsteht dadurch, daß diesen partiellen Begriffen und Urteilen Allgemeingültigkeit zugeschanzt wird; das Merkmal, das nur hervorgehoben wurde, erlangt ein selbständiges, absolutes, beziehungsloses Dasein. Im treppenförmigen Aufbau der Schlußreihen vervielfältigen sich diese Fehler gleichwie bei zusammenhängenden Rechenoperationen, wo bereits in der ersten Operation ein falsches Resultat erzielt wird, das in den übrigen weiter wirkt. In den obersten Stockwerken, wo die höchsten Kategorien und die allgemeinsten Gesetze hausen, ist der Werdegang bereits so verhüllt, daß die Spuren nicht mehr zurückverfolgt werden können. Erst nachdem die vernachlässigten Elemente trotz aller Unterdrückung zum Vorschein kommen, stürzt das mühevoll aufgerichtete Gebäude der Schlußketten zusammen. Es würde zu weit führen, eine ausführliche Darlegung selbst der häufig vorkommenden Fehlschlüsse zu geben, ihre beste Zusammenstellung ist noch immer in JOHN STUART MILLs Logik aufzufinden; auch die sozialen Einflüsse würdigt er mehr als irgendein anderer Logiker oder Erkenntnistheoretiker. Wir wollen nur einige erwähnen: Post hoc ergo propter hoc [Danach also deswegen - wp] beruth auf der Verwechslung der Zeitfolge mit der Kausalfolge; die Erfolge der Priester, Zauberer, der Glaube an Wunder, Dämonen, Hexen usw. stammen alle aus diesem Fehlschluß. Sie setzen insgesamt einen bestimmten Stand der Kultur und der Gesellschaftsordnung, die Vormacht der religiösen Vorstellungen voraus, infolge deren die Menschen nur diejenigen Ereignisse beobachten und hervorheben, welche der Wundersucht entgegenkommen. Das Wunder ist eine historische Kategorie, heute können Merkmale, die noch von 200 Jahren nicht berücksichtigt wurden, nicht mehr vernachlässigt werden. Heute beobachtet man auch jene Fälle scharf, in Bezug auf welche sich die Prophezeiungen als falsch erwiesen haben. Diesem Fehlschluß ist ein anderer, cum hoc propter hoc [mit diesem, folglich deswegen - wp], nahe verwandt. Er beruth auf einer Verwechslung des Nebeneinander- und Zugleichseins mit der Verursachung. Besonders auf politischem Gebiet kommt diesem Fehlschluß eine größere Rolle zu, alle Tatsachen des Fortschrittes werden einem bestimmten wirtschaftlichen und sozialen System zugeschanzt, mit dem sie räumlich-zeitlich zusammenfallen. Die Ersetzung des schroffen Kausalitätsbegriffes mit dem der funktionellen Abhängigkeit und des Konditionismus, die zugleich die Einseitigkeit des Abstraktionsprozesses aufheben, wird mit der Mehrzahl dieser Fehlschlüsse aufräumen. Alle negativen Urteile, die eine Unmöglichkeit behaupten, sind Überreste des apriorischen Standpunktes der den aus den Erfahrungstatsachen abstrahierten Begriffen Allgemeingültigkeit beimißt, allein darum, weil die in Abrede gestellte Tatsache noch nicht erfahrungsgemäß beobachtet, ja in den meisten Fällen absichtlich vernachlässigt wurde. Der theologische Einfluß ist bei der Mehrzahl solcher Urteile unverkennbar. Schließlich wollen wir noch einen Fehlschluß erwähnen, der allerdings eine ziemlich kuriose Benennung hat: a dicto secundum, quid ad dictum simpliciter [vom bedingt Gesagten zum schlechthin Gesagten - wp]; ein Satz, ein Prinzip wird nur bedingt anerkannt, doch bei der praktischen Verwendung wird es so betrachtet, als ob es allgemeingültig wäre. Die ganze Politik, der übliche Moralunterricht ist meistens nichts anderes als eine ununterbrochene Kette solcher langnamiger Fehlschlüsse. Die Analogien sind größtenteils Fehlschlüssen entsprungen. Zwei Begriffe, die als Abstraktionen nur einen relativen Tatbestand darstellen, werden als absolute betrachtet, miteinander verglichen und trotz der vorhandenen Ungleichheiten für gleich befunden. Aus dieser Ähnlichkeit werden Folgerungen gezogen, der Abstraktionsvorgang vergessen und später auch solche Merkmale, Tatsachen und Vorgänge als ähnlich erklärt, die bei der Analogiebildung nur Unähnlichkeiten zeigten. Der heuristische Wert der Analogien steht außer Zweifel, doch darf der Forscher ihren abstraktiven Ursprung niemals aus den Augen verlieren. Die meisten mechanistischen, anthropologischen, geographischen und biologischen Analogien der Sozialwissenschaften gehören hierhe. Ihr Werdegang ist äußerst interessant. Alle verdanken ihre Existenz dem Umstand, daß in den Wissenschaften neue Perspektiven aufkommen, der Koordinatenmittelpunkt in einen anderen Standort verlegt wird, d. h. einer revolutionären Umwälzung, die zur Enthüllung alter und zur Auffindung neuer Perspektiven führte. Die überlieferte Wissenschaft weist sie anfangs schroff zurück, die Kirche belegt sie mit Bann, von Staats wegen wurden sie verfolgt; doch nehmen sie trotz dieser Hindernisse die Seelen im Sturm ein, die infolge der sozialen Umwälzungen des Zeitalters für ihre Aufnahme vorbereitet sind. Vom verblüffenden Reichtum der Perspektive berauscht, übertreiben die begeisterten Anhänger den Abstraktionsvorgang, vernachlässigen die schreiendsten Unähnlichkeiten und verlieren so den Zusammenhang mit den Tatsachen. Dann kommt der Prozeß der Ernüchterung, die Analogien werden auf das erfahrungsgemäß beweisbare Maß reduziert. Die Flut ist vorüber, die Anziehungskraft der neuen Idee läßt nach. Hierauf greift die konservative Wissenschaft, die bisher diese Analogien auf das stärkste bekämpfte, ein, bemächtigt sich ihrer, weil die Popularität und Gemeinverständlichkeit dieser Abstraktionen ein willkommenes Mittel ist, dieselben zum Zweck der wirtschaftlichen und politischen Reaktion zu verwerten. Das beste Beispiel dafür, der Darwinismus, einst Gegenstand des wildesten Hasses der Kirche und von der Staatsmacht verfolgt, dient, seitdem seine Allgemeingültigkeit eine Einbuße erlitten hat, oft zur Begründung reaktionärer Maßnahmen. 12. Fiktion. Die Abstraktion ist ein elementarerer Vorgang als die Fiktion, die zu ihren Zwecken bereits vorhandene, durch Abstraktion gewonnene Begriffe, Urteile, Bilder und Symbole benützt. Auch die Methoden der Fiktionsbildung: Klassifikation, Schematisierung, Analogie, Übertragung, Verallgemeinerung usw. sind eigentlich Abstraktionsvorgänge. VAIHINGERs umfassendes und verdienstvolles Werk "Die Philosophie des Als-Ob" gewährt daher auch für den Werdegang der Abstraktion eine ausgiebige Orientierung. Er behandelt die Fiktionen als zweckmäßige Gebilde und würdigt nur die Dienste, die sie der Wissenschaft erwiesen haben, ihre schädlichen Einflüsse untersucht er systematisch nicht. Ebenso läßt er die soziale Bedingtheit der Fiktionen, das soziale Unheil, das sie stiften, von gelegentlichen Bemerkungen abgesehen, außer acht. Allerdings zeigt er den formalen Weg, durch welchen sich diese schädlichen Einflüsse geltend machen können; es verschwindet das Bewußtsein der Fiktivität, die Fiktion wird zur Hypothese und dann zum Dogma. Die Abstraktion, die nur eine bestimmte Beziehung ausdrücken sollte, erlangt später ein reales, selbständiges absolutes Dasein. Einige Bemerkungen zeigen, daß VAIHINGER den Zusammenhang zwischen der Gesellschaftsordnung und der Rolle der Fiktionen richtig einzuschätzen vermag. Er sagt z. B. daß KANT vollständig auf dem Weg war, die Freiheit als Fiktion anzusehen, allein der reaktionäre Zug, den man auch sonst bei KANT findet, bewog ihn aus der Fiktion wieder eine Hypothese zu machen, welche dann natürlich von den Epigonen vollends in ein Dogma verwandelt wurde, das sie dann als solches mit Begeisterung verbreiteten. |