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KARL LAMPRECHT
(1856 - 1915)
Was ist Kulturgeschichte?
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"Erst wo das Reich dieses Rationalen aufhört und das Reich des für uns Irrationalen, des praktisch freien Willens anfängt, tritt, als eine Ergänzung gleichsam der kollektivistischen Methode, die individualistische ein."

I.

Es ist nicht zu leugnen, daß auf geschichtswissenschaftlichem Gebiet seit etwa zwei Jahrzehnten eine Gärung der Ansichten herrscht, die bis in die untersten Tiefen der Auffassung und Methode reicht. Selbst der Begriff der Geschichte ansich ist strittig geworden. Und doch sind die Begriffe der Wissenschaften nicht Begriffe von empirisch gegebenen, so oder so begrifflich zu bestimmenden Dingen, sondern Begriffe von Aufgaben! Treten wir aber auf das Gebiet der Aufgaben, Methoden, Ziele der Geschichtswissenschaft über, so ist von einer Einheit der Auffassung erst recht nicht die Rede. Alle Versuche, hier allgemein anerkannte Gesichtspunkte aufzustellen, sind, wie LORENZ wiederholt beredt ausgeführt hat (1), gescheitert. DROYSEN konnte deshalb die Geschichte wiederholt eine  amethodos hyle  [ungeordnete Materie - wp] nennen; und er konnte die historische Wissenschaft als eigentlich unausgebaut bezeichnen, indem er ihr gegenüber die Energie der Naturwissenschaften auf die Tatsache begründete, daß diese sich ihrer Aufgaben, ihrer Mittel und ihrer Methode völlig bewußt seien. (2) Was aber die vorliegenden Leistungen angeht, so hat sie LORENZ 1886 mit den Worten charakterisiert (3): "Die universalhistorische Richtung ist unhaltbar, die staatsgeschichtliche leidet an Mangel zuverlässig erkannter Werte und sicherer Urteile (4), von der chronistisch-antiquarischen zieht sich der gebildete Mensch mehr und mehr zurück und schaudert vor dem Abgrund eines den Geist ertötenden, unermeßlich nichtigen Wissens." In der Tat, so wenig wir uns diesem schroff gefaßten Urteil gänzlich anschließen wollen, so zeigt doch der Verlauf der geschichtlichen Studien in den letzten Jahrzehnten, soweit diese Studien aus dem Zusammenhang mit dem seit etwa zwei Generationen bestehenden Betrieb der geschichtlichen Wissenschaften hervorgingen, daß unter der überwiegenden Wucht der Detailarbeit die Übersicht über die großen Aufgaben der Disziplin verloren zu gehen droht und daß eine wahre Verschwendung kritischer Kraft auf das Einzelne doch vorläufig vielfach zu nichts anderem geführt hat, als zu einer toten Masse in sich wohl zubereiteten antiquarischen Stoffes. Denn dieses Material als ein einheitliches zu bewältigen, dazu hat die kritische Methode mitnichten ausgereicht. Es ist darum für die Geschichtswissenschaft einigermaßen eingetreten, was GOETHE einmal ganz allgemein von der neueren Zeit geäußert hat (5), sie "schätzt sich selbst zu hoch wegen der großen Masse Stoffes, den sie umfaßt. Der Hauptvorzug des Menschen beruth aber nur darauf, inwiefern er den Stoff zu behandeln und zu beherrschen weiß."

Natürlich geht diese stoffliche Selbstgenügsamkeit auch in diesem Fall mit der Unlust, des übermächtig gewordenen Materials Herr zu werden, Hand in Hand. Wo daher solche Versuche gewagt werden, da trit ein angeblich kritischer Hochmut gegen sie auf, mögen sie nun gelungen sein oder nicht; und an der Stelle sachlichen Urteils regt sich das Absprechen von begrenzt sittlichem Standpunkt. LORENZ erzählt einmal launig (6), er besitze noch das Schreiben eines namhaften deutschen Geschichtsforschers, in welchem ernstlich die Betrachtung angestellt werde, daß jemand, der sich zu den Theorien des armen BUCKLE bekennen würde, eben doch nur ein ganz unsittlicher und verworfener Mensch sein könne. Eine solche Äußerung auf brieflichem Weg mag eine Ausnahme gewesen sein, auf mündlichem ist sie es noch heute keineswegs; eine ganze Richtung der heutigen Geschichtswissenschaft glaubt man bekanntlich mit der tendenziösen Stigmatisierung "materialistisch" ohne weiteres abtun zu können; und ich habe gelegentlich angedeutet erhalten, eine solche Charakteristik möge "logisch" nicht stimmen, "psychologisch" richtig sei sie doch.

Woher nun diese Gegensätze bis zum gegenseitigen Sichnichtverstehen, vielleicht sogar Sichnichtverstehenwollen? Vielleicht gibt die Geschichte der historischen Wissenschaft seit etwa vier Generationen darauf Antwort. Denn sie erscheint von zwei diametral entgegengesetzten Richtungen beherrscht, einer älteren individualistischen und einer im großen und ganzen jüngeren, jedenfalls jetzt in raschem Fortschritt begriffenen kollektivistischen: und der Ausgleich beider Richtungen ist noch nicht gefunden.

Einig ist man sich allerdings darin, daß die Psychologie die Grundlage aller Geschichtswissenschaft sein müsse. In der Tat: wie hätte diese Wahrheit je verkannt werden können? Alle Geschichtswissenschaften können zu ihrem Inhalt nur die unmittelbare Erfahrung haben, wie sie durch die Wechselwirkungen erkennender und handelnder Subjekte bestimmt wird. Die Wissenschaft von den allgemein gültigen Formen dieser unmittelbaren Erfahrung und ihrer gesetzmäßigen Verknüpfung ist aber die Psychologie (7).

Indem aber diese Grundlage unbestritten ist, werden die Geschichtswissenschaften, soweit sie sich nicht begrenzt empirisch behelfen, in ihren tiefsten Wandlungen von den Fortschritten der Psychologie in demselben Sinne abhängig, wie es die Naturwissenschaften von den Fortschritten der Mathematik und Mechanik sind. Von diesem Gesichtspukt aus erklären sich dann auch die beiden gegensätzlichen Strömungen auf geschichtswissenschaftlichem Boden, die sich noch heute mit großer Macht kreuzen und nicht selten komische Verwirrungen im einzelnen anstiften.

Die ältere Psychologie, soweit sie empirisch beschreibend bliebt, die Vermögens- wie die Assoziationspsychologie, war eine Individualpsychologie. Sie kannte den Menschen nur als abstraktes Individuum; das Volk war ihr nur ein mechanisches Aggregat für sich stehender Personen; diese standen untereinander in keinem Neues ergebenden, schöpferisch wirkenden Kontakt. Es war die Psychologie des Rationalismus; ihr war der Gedanke des ARISTOTELES noch nicht wieder aufgegangen, daß das Ganze von den Teilen ist und daß die Teile erst durch das Ganze sind, daß mindestens Teile und Ganzes gleich ursprünglich sind: sie sah im Atom ebensowenig ein Abstraktum, wie in der ganz auf sich gestellten Einzelperson, sondern vielmehr das allein vorhandene, das erklärende Konkretum (8). Sie kannte darum den Begriff der natürlichen Gesellschaft nicht, und darum auch nicht den Begriff der Nation als der vollendetsten Art aller natürlichen Gesellschaften. Die gesellschaftlichen Einrichtungen einschließlich des Staates behandelte sie vielmehr als willkürliche, durch die Einzelpersonen vom Nützlichkeitsstandpunkte aus geschaffene Institute. Nichts ist in dieser Hinsicht für sie charakteristischer als die Lehre vom Staatsvertrag, wonach selbst der Staat, die höchste geistige Gemeinschaft, nichts Ursprüngliches und Natürliches sein sollte, sondern nur ein willkürliches Aggregat von Einzelpersonen, deren konkreter Einzelwille auf die Schaffung einer solchen Gemeinschaft gerichtet gewesen sei. Jenseits der Vertragsgenossenschaften aber kannte sie als universellsten Begriff der Geschichte nur noch die Menschheit, diese freilich, man könnte fast sagen merkwürdigerweie, als ein Ganzes: deshalb, weil dieser Begriff, als ansich unfertig - die Menschheit ist weder zeitlich vollendet noch auch nur bis heute räumlich klar faßbar - ein Begriff a priori ist, der seine Geschlossenheit in sich trägt.

Diese Individualpsychologie ist nun die Basis unserer Geschichtsschreibung gewesen in den Zeiten SCHLOSSERs, GERVINUS' und RANKEs; und sie ist auch heute noch, wenn auch vielfach unbewußt, prinzipiell die Basis unserer älteren historischen Schulen. Diese Schulen lehnen deshalb den Menschen als gesellschaftlichen Gattungsbegriff grundsätzlich ab; sie sehen am Menschen nur das von diesem Gattungsbegriff angeblich unabhängig Singuläre: dieses allein bildet darum grundsätzlich den Gegenstand ihrer Forschung. Ja, sie gehen noch weiter. Auch das Singuläre ist ihnen nur dann wichtig, wenn es von besonderer Bedeutung ist, wenn es sich weit über jenen Durchschniit erhebt, dem noch immer etwas Gesellschaftliches, etwas Reguläres anklebt. "Der Historiker," sagt SCHÄFER (9), "faßt in erster Linie den Menschen als Persönlichkeit, nicht als Vertreter seiner Gattung, er hat vor allen Dingen die freien Handlungen im Auge, die den einzelnen aus seiner Umgebung herausheben, ihn zum Führer oder zum Gegner dieser machen. Er darf die Gesamtheit nicht übersehen, denn er würde die einzelnen nicht verstehen, wenn er jene nicht ins Auge faßte; aber geschichtliche Tat ersteht im allgemeinen erst da, wo die Einzelhandlung sich abhebt von der Gleichförmigkei der Masse." Und ganz folgerichtig ruft er dementsprechend aus (10): "Zweifellos sind die Ethnologie, die Völkerpsychologie zukunftreiche Wissenschaften. Aber wird man die Versuche, auf diesem Licht zu bringen in die Entwicklung des menschlichen Geschlechts, als geschichtliche Arbeit bezeichnen können?" Bei einer so individualpsychologischen Auffassung der Geschichte konzentriert sich naturgemäß fast alles Interesse auf die eminenten, die historischen Persönlichkeiten und die Erforschung ihrer Handlungen bildet den eigentlichen Inhalt der Geschichte. So meint es LORENZ, wenn er als Objekt der Geschichte untergegangener Staaten "nur Handlungen" in Betracht ziehen will, "welche nach Wahl einer Person vollzogen worden sind, die sich auch anders entscheiden konnte" (!), und wenn er demgemäß einen Fortschritt der Geschichtswissenschaft nur auf dem Weg immer größerer Entwicklung der "Motiverkenntnis" erwartet (11). Natürlich würde eine solche "Motivforschung" niemals auf etwas anderes hinauslaufen als auf eine Detaillierung des historischen Gemäldes; aber weiter will man auch nichts: "die historische Forschung will nicht erklären, d. h. aus dem Früheren das Spätere, aus Gesetzen die Erscheinungen als notwendig, als bloße Wirkungen und Entwicklungen ableiten." (12)

Es soll nun hier nicht in eine Untersuchung darüber eingetreten werden, inwiefern ein so umschriebenes Vorhaben grundsätzlich möglich ist. Abgesehen von den Schwierigkeiten, die ihm der Charakter jeder historischen Überlieferung entgegenstellt, würde da anzuführen sein, daß die neuere Psychologie die menschliche Persönlichkeit überhaupt nicht mehr in dem hier vorausgesetzten Grad als Einheit anzunehmen gestattet (13); und insbesondere würde darüber gesprochen werden müssen, inwiefern die neueren experimentellen Forschungen über die Genesis der Willensvorgänge und die Theorien über Entstehung und Charakter des Selbstbewußtseins den Menschen noch etwas anderes, denn als ein Gattungswesen, erscheinen lassen.

Inzwischen hat sich aber neben die auschließlich individual-psychologische Forschung des vorigen Jahrhunderts, wie sie ihrerseits wieder auf der rein individualistischen Entwicklung der Persönlichkeit innerhalb der europäischen Völkerfamilie des 16. bis 18. Jahrhunderts beruhte, in der psychologischen Wissenschaft je länger je mehr die generische Untersuchung gestellt. Man kann vielleicht sagen, daß heute die individualpsychologische Methode, namentlich soweit sie auf den Weg des Experiments verwiesen ist, mehr der Erforschung der einfachen psychischen Erscheinungen dient, während die Lösung der verwickelteren Problme, wenigstens teilweise, der sozialpsychologischen Betrachtungen zugefallen ist.

Was nun die Ergebnisse dieses Fortschritts spezielle für die Geschichtswissenschaft? LORENZ weiß sie mit folgenden Worten zu schildern (14): "Einzelne Symptome einer neuen Betrachtung menschlicher Dinge wirkten auch auf anderen Gebieten der Geisteswissenschaften stark reformierend, wie in der Philosophie, die sich dem Einfluß der Naturbeobachtung längst nicht mehr entziehen konnte. Ein dunkler Drang, auf dem Gebiet der menschlichen Geschichte dasjenige zu finden, was der Naturforscher ein Gesetz nennt, ist mit immer größeren Ansprüchen hervorgetreten." Ich meine, die Wirkungen waren doch etwas klarer, wenn auch zugleich anspruchsloserer Art.

Es ist eine bekannte Tatsache der Individualpsychologie, daß das Bewußtsein eines Akkordes etwas anderes ist, als das Bewußtsein der Töne, die ihn bilden. Unser Bewußtsein enthält allerdings die einzelnen Töne, aber nicht nur sie, sondern noch etwas dazu, nämlich das Bewußtsein eines Ganzen, dessen Teile sie bilden. (15) Die gleichzeitige psychologische Wirkung der Töne ist also mit der bloßen Summe ihrer Einzelwirkungen nicht erschöpft: sie ergibt vielmehr außerdem etwas qualitativ Neues, nämlich das, was wie speziell Akkord nennen. Es liegt hier eine psychische Kausalität vor, die ebenso für die Psychologie menschlicher Massenerscheinungen gilt. Wenn eine Mehrheit von Menschen gemeinsam etwas fühlt, vorstellt, will: so ist deren Gesamtgefühl, Gesamtvorstellung, Gesamtwille nicht identisch mit der Summe der Einzelfaktoren, sondern birgt außerdem noch ein psychisches Moment qualitativ anderen Charakters in sich, das sich als Beleumdung und Verleumdung, öffentliche Meinung, Patriotismus, kurz als soziale Stimmung der Kreise, welche die Mehrheit dieser Menschen bilden, zu erkennen gibt. Dabei ist dieser Überschuß über die summierten Einzelfaktoren nicht das gewollte Produkt der Verursachenden; er stellt sich vielmehr, im Sinne der besonderen Wirkung einer psychischen Kausalität, darüber hinaus ein. Die Verursachenden handeln mithin mit Rücksicht auf ihn unbewußt werden. Gewiß käme er niemals ohne irgendwelche bewußte Tätigkeit der einzelnen zustande; aber als Zusammenschluß, Harmonie gleichsam dieser bewußten Tätigkeiten der einzelnen fällt er nicht mehr bloß in deren Individualbewußtsein.

Das ist die Lehre vom Gesamtwillen, Gesamtbewußtsein der sozialen Bildungen, wie sie sich vom kleinsten Verein bis zur mächtigsten sozialkulturellen Bildung, dem Staat und zur mächtigsten sozialnatürlichen Bildung, der Nation, überalll gleich sicher beweisen läßt. Trotz ihrer Einfachheit hat sie unendlich viele Mißverständnisse hervorgerufen und ruft sie noch hervor. Man hat hinter dieser psychischen Macht, die völlig immanenten Charakters ist, allerlei supranaturalistischen Hokuspokus gewittert oder mindestens unzulässige Hypostasierungen [einem Gedanken gegenständliche Realität unterschieben - wp] vollziehen zu müssen geglaubt. Man hat sie, da sie natürlich ihrer bestimmten psychischen Kausalität folgt, die weiter zu erforschen ist, als Kulisse denunziert, hinter der eine rein mechanistische Erklärung der Geschichte versucht werden solle. Ja, wenn nun wirklich die Geschichte auf diesem Weg um kausale Verbindungen bereichert würde: wäre das ein so großes "moralisches" Unglück? Kausale Erklärung und idealistische Interpretation widersprechen sich nicht, es sei denn, daß die idealistische Interpretation den unmotivierten Anspruch erhöbe, die kausale Erklärung überflüssig machen zu wollen.

Besteht aber in jeder sozialen Bildung ein Gesamtwille, ein Gesamtgefühl, ein Gesamtkomplex von Vorstellungen und Begriffen, so ist es gestattet, die Personen, welche dieses Gebilde ausmachen, insofern sie eben dies tun, als identisch zu betrachten: sie lassen sich, als Mitglieder dieses Gebildes, als regulär ansehen und auf einen Typ reduzieren. Sie besitzen deshalb abgesehen von ihren typischen Eigenschaften natürlich auch noch rein individuelle: je lockerer das Gebilde sie einschließt, umso mehr wird dies der Fall sein: aber als Glieder dieses Gebildes sind sie grundsätzlich, der Forderung des Charakters dieses Gebildes nach, identisch. Mithin sind sie mit Rücksicht auf diese Gebilde Gattungsexemplare; und eine geschichtliche Darstellung der sozialen Gebilde ist berechtigt, mit ihrer Gesamtheit als einem Gattungsbegriff zu operieren.

Diese Zusammenhänge gelten nun der Geschichtsauffassung unserer älteren historischen Schulen noch als unbegreiflich; sie will mit ihnen grundsätzlich, bei allen praktisch eintretenden und der Natur der Sache nach unvermeidlichen Konzessionen, nichts zu tun zu haben; sie sieht in der Geschichte eben grundsätzlich niemals das Reguläre, immer nur das Singuläre. Weiter dem neuen Gedanken akkomodiert hat sich freilich schon eine jüngere Generation von Forschern, als deren Repräsentant etwa BERNHEIM gelten darf. (16) Aber auch sie hält doch, wenn auch unter gewissen Modifikationen, immer noch am Gedanken der alten individualistischen Schule fest, daß sich die Geschichtswissenschaft  nur  um das Singuläre zu bekümmern habe.

Dieser Gedanke nun, der im Sinne eines Axioms beweislos immer und immer wieder vorgetragen wird, ist falsch.

Alle Wissenschaft ist im tiefsten Grund eine; darum kann sie auch nur  ein  großes allgemeines Ziel haben. Und über dieses Ziel gibt es keinen Zweifel. Wissenschaftlich arbeiten heißt, die Anschauungskomplexe der sinnlichen Wahrnehmung durch begriffliches Denken in ihre Teile zerlegen und von neuem ordnend zusammensetzen. Die Analyse legt die einzelnen Seiten der Anschauung begrifflich auseinander; die Synthese bringt sie im Urteil wieder zueinander in Beziehung. Indem die menschlichen Fähigkeiten hierzu ausgebildet werden, indem man lernt, komplexe Tatsachen in ihren Komponenten zu verstehen, entwickelt sich der immer häufigere Gebrauch der kausalen Kategorie, entsteht das wissenschaftliche Denken. (17)

Dieses Denken kommt gleichmäßig in jeder wissenschaftlichen Tätigkeit zur Anwendung. Auf speziell geschichtswissenschaftlichem Gebiet kann es zwei Funktionen haben. Es kann entweder singuläre Tatsachenreihen durch genaues Zerlegen in ihre Bestandteile und begriffliche Rekonstruktion des Wesentlichen derselben besser zu verstehen suchen, oder aber es kann parallele Tatsachenreihen durch Zerlegung in ihre Einzelbestandteile auf das Identische ihres Gehaltes reduzieren und diesen Gehalt als das Wesentliche der Reihen zu rekonstruieren suchen. Es sind genau dieselben Funktionen, die das wissenschaftliche Denken auch in den Naturwissenschaften aufweist. Die Sätze der Mechanik z. B. sind gefunden worden, indem einzelne Fälle der Anwendung in ihre Bestandteile zerlegt und aus diesen Bestandteilen durch ein unmittelbar klärendes Urteil das Wesentliche des Ganzen gewonnen wurde. (18) Die Spezies der systematischen Naturwissenschaften werden gefunden, indem der Forscher die Exemplare derselben auf ihre Einzelheiten untersucht, ihre individuellen Variationen ignoriert und aus den sich ergebenden wesentlichen Übereinstimmungen die Artform entwickelt.

Beide Formen wissenschaftlichen Denkens kommen also überall nebeneinander vor und es geht nicht an, die eine zugunsten der anderen zu unterdrücken. Besteht hierzu in den herrschenden historischen Kreisen gegenüber der zweiten noch immer eine gewisse praktische Neigung und der prinzipielle Entschluß, so ist das wohl nicht zum geringsten die Folge der hier herrschenden Anschauung, daß gerade diese Art des Denkens spezifisch wissenschaftlich sei. Das ist aber vollkommen irrig. Wir besitzen bekanntlich eine sehr große Anzahl vergleichender Geisteswissenschaften. Diese alle aber bedienen sich gerade dieser zweiten Methode.

Macht man einen Unterschied zwischen beiden Formen, so könnte er wohl höchstens darin gefunden werden, daß bei der zweiten Rolle der bloßen intensiven Wahrnehmung und des Zerlegens mehr, als bei der ersten, gegen die Rolle des Urteilens zurücktritt; die erste Form ist mehr analytisch, die zweite mehr synthetisch. Da nun aber mit fortschreitender wissenschaftlicher Betätigung die für sie recht eigentlich bezeichnende Geistestätigkeit, das Nachdenken, naturgemäß im Verhältnis zur bloßen Wahrnehmung zunehmen muß, so könnte man die zweite Form, wo das Nachdenken überwiegt, als die vollkommenere bezeichnen. In der Tat ist sie auch in der wissenschaftlichen Bewegung der Nationen des okzidentalen Europas später entwickelt worden. (19) Das sie aber nun innerhalb dieses Gebietes wieder später bei den Geisteswissenschaften auftritt, als bei den Naturwissenschaften - wie denn die letzteren überhaupt und sehr begreiflicherweise verhältnismäßig früher zur Reife entwickelt wurden, als die die Geisteswissenschaften -, so kann allerdings eine Umschau in zu eng genommenem Horizont zu der Meinung verleiten, die zweite Form sei eine spezifisch naturwissenschaftliche, die jetzt den Geisteswissenschaften - die sich der ersten, in der Naturwissenschaft schon mehr zurücktretenden Methode vornehmlich bedienen - unberechtigterweise aufgebürdet werden solle: ja es kann bei noch enger genommenem Horizont die Meinung entstehen, die erste Form sei die spezifische Methode der Geisteswissenschaften, die zweite die der Naturwissenschaften.

Von alledem kann nicht die Rede sein: beide Wissenschaftszweige bedienen sich beider Formen. Höchstens ließe sich noch ausführen, entgegen einer sehr verbreiteten Anschauung, daß dabei die Geisteswissenschaften die Verheißung einer schließlich stärkeren Exaktheit haben, als sie die Naturwissenschaften jemals besitzen werden. Denn "indem die Naturwissenschaften zu ermitteln suchen, wie die Objekte ohne Rücksicht auf das Subjekt beschaffen sind, ist die Erkenntnis, die sie zustande bringen, immer nur eine mittelbare"; während die Geisteswissenschaften, da sie den Inhalt der Erfahrung in seiner vollen Wirklichkeit, die auf Objekte bezogenen Vorstellungen samt allen ihnen anhaftenden subjektiven Regungen untersuchen, eine unmittelbare, anschauliche Erkenntnis erreichen und noch mehr erreichen werden. (20)

Ziehen wir nach dieser kleinen Abschweifung die Summe unserer Ausführungen, so ergibt sich: die Methode der individualistischen, auf das Singuläre, den Menschen als eminente Persönlichkeit gerichteten älteren Geschichtsforschung und die Methode der kollektivistischen, auf das Generische, den Menschen als historisches Gattungswesen gerichteten jüngeren Geschichtsforschung sind vom Standpunkt der allgemeinen Wissenschaftslehre aus gleich berechtigt: sie ergänzen sich gegenseitig und keine von beiden kann entbehrt werden.

Stehen sie gleichwohl einstweilen noch im Gegensatz zu einander bis zu dem Grad, daß erhitzte Anhänger der einen der anderen geradezu die Daseinsberechtigung absprechen, so versteht sich das zum Teil aus dem Entwicklungsgang der Geschichtswissenschaft seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts, zum Teil aber auch aus der Tatsache, daß die Ansichten selbst dann, wenn man beide Methoden ansich zuläßt, doch über deren beiderseitiges Verhältnis sehr wenig geklärt zu sein pflegen. Besteht Koordination oder Subordination der einen unter die andere? Das ist zunächst die Frage. Die Antwort ist identisch mit der Beantwortung der anderen Frage, inwiefern etwa die eine oder die andere Methode wissenschaftlich vollkommenere Ergebnisse zu Tage fördert. Die vollkommeneren werden dabei diejenigen sein, die sich mehr dem kausalen Denken, also dem eigenlich wissenschaftlichen Begreifen einordnen. Da habe ich nun schon früher ausgeführt (21), daß in dieser Richtung die kollektivistische, generisch untersuchende Methode der individualistischen überlegen ist; entsprechend der Tatsache, daß das Reich des Sozialen, Zuständlichen in der ununterbrochenen Kontinuität seiner Entwicklung die Basis, nicht den Annex des Reiches der freien Tat bildet. (22) Von diesem Standpunkt aus würde also die kollektivistische Methode als die umfassendere und im engeren Sinne wissenschaftlichere zugleich erscheinen: sie allein bringt die Entwicklungsideen in kontinuierlich-kausalen Zusammenhang; sie allein gibt die rationale Seite der Geschichte wieder. Erst wo das Reich dieses Rationalen aufhört und das Reich des für uns Irrationalen, des praktisch freien Willens anfängt, tritt, als eine Ergänzung gleichsam der kollektivistischen Methode, die individualistische ein.
LITERATUR Karl Lamprecht, Was ist Kulturgeschichte?, Beitrag zu einer empirischen Historik, Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Neue Folge, Bd. 1, Freiburg/i.Br. und Leibzig, 1897

    Anmerkungen
    1) Vgl. z. B. OTTOKAR LORENZ, "Die Geschichtswissenschaft in Hauptrichtungen und Aufgaben I" (1886), Seite 135
    2) GUSTAV DROYSEN, Rezension BUCKLEs, abgedruckt in Historik (3. Auflage), Seite 47
    3) LORENZ, Geschichtswissenschaft I, Seite 80-81
    4) Vgl. dazu Geschichtswissenschaft I, Seite 73, Anm. 1: "Wir verlangen sittliche Würdigung und drehen uns aalglatt herum, wenn wir sagen sollen, was denn das eigentlich für ein Ding ist, diese sittliche Würdigung".
    5) GOETHE, Zur Farbenlehre (Werke, Weim. Ausg. II, 3, Seite 135
    6) LORENZ, Geschichtswissenschaft I, Seite 184
    7) WILHELM WUNDT, Grundriss der Psychologie, 1896, Seite 4, 19 und öfter
    8) Vgl. PAULSEN, Einleitung in die Philosophie, 1893, Seite 215
    9) SCHÄFER, Geschichte und Kulturgeschichte, 1891, Seite 60. Vgl. auch DROYSEN, Historik, Seite 72, 76
    10) SCHÄFER, a. a. O. Seite 59
    11) LORENZ, Geschichtswissenschaft I, Seite 87, 138
    12) DROYSEN, Historik, Seite 19
    13) Vgl. GEORG SIMMEL, Probleme der Geschichtsphilosophie (1892), Seite 30; auch Seite 17f
    14) LORENZ, Geschichtswissenschaft I, Seite 138
    15) Vgl. EBBINGHAUS in der Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, Bd. IX, Seite 175. Des weiteren vgl. WUNDT, Grundriss der Psychologie (Seite 108): Die Eigenschaften der psychischen Gebile werden niemals durch die Eigenschaften der psychischen Elemente erschöpft, die in sie eingehen, sondern es treten zu denselben infolge der Verbindung der Elemente immer neue Eigenschaften hinzu, die den Gebilden als solchen eigentümlich sind. So enthält eine Gesichtsvorstellung nicht bloß die Eigenschaften der Lichtempfindungen und allenfalls noch der Stellungs- und Bewegungsempfindungen des Auges, die in ihr enthalten sind, sondern außerdem auch die Eigenschaften der räumlichen Ordnung der Empfindungen, wovon letztere an und für sich nichts enthalten; oder ein Willensvorgang besteht nicht bloß aus den Vorstellungen und Gefühlen, in die sich die einzelnen Akte desselben zerlegen lassen, sondern es resultieren aus der Verbindung dieser Akte neue Gefühlselement, die dem zusammengesetzten Willensvorgang spezifisch eigentümlich sind.
    16) BERNHEIM erkennt das Sozialtypische an, findet aber, daß dieses Sozialtypische doch wieder nur, insofern es singulär ist, von Bedeutung für die Geschichtswissenschaft sein könne. Eine Gesamterscheinung also, die sich zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort findet, z. B. der Typus des deutschen Zunftbruders des 14. Jahrhunderts, hat für ihn nur dann geschichtliche Bedeutunge, wenn sich dieser Typus nicht irgendwo zu irgendeiner Zeit in grundsätzlich identischer Weise wiederfindet. Vgl. Geschichtsphilosophie und Geschichtswissenschaft Seite 94 - 95: "Die eigenartige, dauernde, unersetzliche Bedeutung des bestimmten Besonderen, sei es, daß es sich an der Masse der Gesamtindividualität oder am einzelnen als spezielle Individualität zeige, ist es, ... wodurch sich die historische Betrachtungsart sowohl von philosophischer wie von naturwissenschaftlicher aufs schärfste unterscheidet. Für philosophische wie naturwissenschaftliche Forschung hat das Besondere mit seiner eigentümlichen Differenz kein eigenwertiges wissenschaftliches Interesse mehr, sobald es für die Erkenntnis des Ganzen oder Allgemeinen verwertet ist." Wie aber nun, wenn sich im Falle sozialer Erscheinungen parallelen Charakters nach Erkenntnis des Gemeinsamen herausstellt, daß der übrigbleibende Rest nicht von eminenter geschichtlicher Bedeutung ist? Kann dann nicht eben dieser Rest für die geschichtliche Forschung wegfallen? Gewiß! Danach ist es auch nicht richtig, daß die geschichtliche Methode in "einem fortwährenden Hin- und Hergehen zwischen dem Besonderen und dem Allgemeinen, bzw. dem Ganzen ihrer Objekte bestehe, um endgültig zum Besonderen zurückzukehren."
    17) Vgl. FRIEDRICH PAULSEN, Einleitung in die Philosophie, Seite 421
    18) Vgl. dazu HERMANN LOTZE, Logik, Seite 585
    19) WUNDT, LOGIK II, 2, Seite 71: Zugleich aber ist es unverkennbar, daß die Ergänzung der individuellen durch die generische Vergleichung umso mehr zu einem integrierenden Bestandteil der einzelnen Geisteswissenschaft selbst sein wird, je vollkommener sich diese methodisch entwickelt hat und je mehr sie sich auf geistige Entwicklung von allgemeingültiger Bedeutung bezieht, Bedingungen, die in der Regel miteinander verbunden sind, da die allgemeingültige Beschaffenheit der Objekte ihre Untersuchung wesentlich zu erleichtern pflegt. Im Umkreis der historischen Disziplinen steht daher in dieser Beziehung die eigentliche Geschichte erheblich zurück gegenüber solchen Gebieten, welche die geschichtliche Entwicklung gewisser Arten geistiger Schöpfungen zu ihrem Inhalt haben. Insbesondere dürfte die Sprachgeschichte unter allen historischen Wissenschaften die sein, in der die vergleichende Methode nach ihren beiden Richtungen hin bis jetzt am vollkommensten ausgebildet ist.
    20) Vgl. WUNDT, Grundriss der Psychologie, Seite 6
    21) Alte und neue Richtungen in der Geschichtswissenschaft, 1896, Seite 7f, vgl. Seite 72
    22) Siehe dazu meine Bemerkungen in der "Zukunft" vom 4. April 1896, Seite 250f