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HANS VAIHINGER
(1852-1933)
Die Philosophie des Als Ob
[3/5]

"Die Seele ist nicht bloß aufnehmend, sie ist auch aneignend und verarbeitend. Im Verlauf ihres Wachstums schafft sie vermöge ihrer adaptiven Konstitution aus ihrer eigenen Natur, aber nur auf äußere Reize hin,  sich selbst ihre Organe, sie den äußeren Bedingungen anpassend. Solche Organe, welche die Psyche auf äußere Reize hin sich anbildet, sind z. B. die Formen des Anschauens und Denkes, sind gewisse Begriffe und sonstige logische Gebilde.  Das logische Denken, mit dem wir es speziell hier zu tun haben, ist ein selbsttätiges Aneignen der Außenwelt, es ist eine organisch zweckmäßige Verarbeitung des Empfindungsmaterials. Das logische Denken ist also eine organische Funktion der Psyche."

"Die organische Funktion des Denkens hat den Zweck, das Empfindungsmaterial zu solchen Vorstellungen, Vorstellungsverbindungen und Begriffsgebilden umzuwandeln und zu verarbeiten, welche unter sich verträglich und übereinstimmend, sich zugleich mit dem objektiven Sein decken".


Allgemeine Einleitung
Kapitel I
Das Denken, betrachtet unter dem Gesichtspunkt
einer zwecktätig wirkenden, organischen Funktion.
(1)

Das wissenschaftliche Denken ist eine Funktion der Psyche. Unter "Psyche" verstehen wir zunächst nicht eine Substanz, sondern die organische Gesamtheit aller sogenannten "seelischen" Aktionen und Reaktionen; diese fallen niemals unter die  äußere  Beobachtung, sondern müssen teils aus physischen Merkmalen erschlossen, teils mit dem sogenannten inneren Sinne beobachtet werden. Die psychischen Aktionen und Reaktionen sind, wie alles uns bekannte Geschehen, notwendige Vorgänge, d. h. sie folgen mit zwingender Regelmäßigkeit aus ihren Bedingungen und Ursachen; will man die psychischen Vorgänge mit einem Gebiet des äußeren Geschehens vergleichen, so eignen sich dazu weniger die physikalischen und im engeren Sinne mechanischen Vorgänge, als die Funktionen des Organismus. (2) Diese Behauptung findet ihre Begründung in dem Umstand, daß, wie bei den organischen Funktionen der leiblichen Sphäre, so auch bei den psychischen Funktionen sogenannte  empirische Zweckmäßigkeit  beobachtet wird. Diese Zweckmäßigkeit äußert sich hier wie dort in einer geschmeidigen Anpassung an die Umstände und an die Umgebung; in einer, die Erhaltung des physischen oder psychischen Organismus anstrebenden und erreichenden Reaktion auf äußere Anstöße und Einwirkungen; in der Aneignung und Aufnahme oder Abstoßung neuer Elemente. In der Psyche findet nicht bloß ein mechanisches Spiel von Vorstellungen statt,  sondern die Vorstellungsbewegung erfüllt in ihrer stetigen Abänderung in hohem Grad die Anforderungen der Zweckmäßigkeit.  (3) Sämtliche psychischen Prozesse sind im angegebenen Sinn zweckmäßig; vor allem aber partizipieren an dieser Zweckmäßigkeit die sogenannten theoretischen Apperzeptionsprozesse. Das wissenschaftliche Denken besteht in solchen apperzeptiven Prozessen, es ist daher unter dem Gesichtspunkt einer organischen Funktion zu betrachten.

Wir vergleichen also die logischen oder Denkprozesse mit den organischen Bildungsvorgängen. (4) Die Zweckmäßigkeit, welche wir beim Wachstum, bei der Fortpflanzung und Neubildung, bei der Anpassung an die Umgebung, bei der Heilung usw. im Gebiet des Organischen beobachten, kehrt wieder in dem der psychischen Prozesse. Auch der psychische Organismus reagiert auf die Reize zweckmäßig. Wie der physische Organismus nicht ein bloßes Gefäß ist, in das fremde Stoffe einfach eingefüllt werden, sondern eine mit einer chemischen Retorte vergleichbare Maschine, welche die fremden Stoffe zu ihrer  eigenen Erhaltung  und zur  Unterhaltung ihrer Bewegung  höchst  zweckmäßig  verarbeitet und durch  Intussuszeption  [Einstülpung eines Darmteiles in sich selbst - wp], nicht durch bloße  Juxtaposition  [sehr nahe Platzierung - wp] sich aneignet - so ist auch das Bewußtsein nicht mit einem bloßen passiven Spiegel zu vergleichen, der nach rein physikalischen Gesetzen die Strahlen reflektiert, sondern "das Bewußtsein nimmt keinen äußeren Reiz auf, ohne ihn nach eigenem Maß zu gestalten." (5) Die Psyche ist also eine  organische Gestaltungskraft  welche das Aufgenommene selbständig zweckmäßig verändert und ebensosehr das Fremde sich anpaßt wie sich selbst dem Neuen anzupassen vermag. Die Seele ist nicht bloß aufnehmend, sie ist auch aneignend und verarbeitend. Im Verlauf ihres Wachstums schafft sie vermöge ihrer adaptiven Konstitution aus ihrer eigenen Natur, aber nur auf äußere Reize hin,  sich selbst ihre Organe, sie den äußeren Bedingungen anpassend. Solche Organe, welche die Psyche auf äußere Reize hin sich anbildet, sind z. B. die Formen des Anschauens und Denkes, sind gewisse Begriffe und sonstige logische Gebilde.  Das logische Denken, mit dem wir es speziell hier zu tun haben, ist ein selbsttätiges Aneignen der Außenwelt, es ist eine organisch zweckmäßige Verarbeitung des Empfindungsmaterials. Das logische Denken ist also eine organische Funktion der Psyche.

Wie der physische Organismus das Aufgenommene zersetzt, mit eigenen Säften vermischt und so zur Intussuszeption geeignet macht, so umspinnt auch die Psyche das Wahrgenommene mit ihren aus ihr selbst heraus entwickelten Kategorien. Sobald ein äußerer Reiz die Seele berührt, welche, wie mit zarten Fühlfäden ausgestattet, mit Schnelligkeit auf denselben antwortet, beginnen innere Prozesse, beginnt eine  psychische Arbeitsleistung, deren Resultat die zweckmäßige Aneignung des Wahrgenommenen ist. 

STEINTHAL, dem das Verdienst der Begründung und Durchführung dieser Ansicht gebührt, drückt sich daher sehr treffend hierüber folgendermaßen aus: "Die psychischen Faktoren verhalten sich niemals wie Massen und Masseteilchen (Moleküle), sondern eher etwa wie Atome, die in eine  chemische Verbindung  treten, oder die sich zur Bildung einer  organischen Zelle  vereinigen. Die Momente einer Erkenntnis sind wesentlich wie  Organe, von denen jedes eine Funktion zur Hervorbringung eines organischen Gesamtwesens übt."  (6) Und noch prägnanter bezeichnet derselbe diese neue Betrachtungsweise so: "Zu der abstrakten Mechanik der körperlichen und seelischen Bewegungen muß noch die Betrachtung eigentümlicher Bildungsprozesse hinzutreten, welche zwar durchgängig nur von den elementaren Vorgängen getragen werden, diese aber in besonderen Kombinationen in sich schließen." (7) In diesen Bildungsprozessen erweist sich die Psyche als eine selbsttägig gestaltende, als eine (relativ) schöpferische Kraft.
    Schöpferisch ist die Seele in der Bildung der meisten Kategorien. Vgl. die sogenannten "schöpferischen Apperzeptionen" bei STEINTHAL, Seite 77/78, 131 und 216f als einen speziellen Fall. Ebenso EDUARD von HARTMANN, Philosophie des Unbewußten, 5. Auflage, Seite 271. - Die Begriffe Gleichheit, Ungleichheit, Einheit, Vielheit, Allheit, Kausalität (also eben die Kategorien) sind wahrhafte Schöpfungen, allerdings aus gegebenem Material, aber "doch Schöpfung von etwas, als solchem, in den gegebenen Vorstellungen gar nicht Liegendem." Siehe LAAS, Kants Analogien der Erfahrung, Seite 247. Vgl. das schöne Wort von STEINTHAL a. a. O. Seite 316: "Es ist eine wahre Schöpfungsgeschichte, durch welche wir die Seele zu begleiten haben usw."
Wenn STEINTHAL den Gesichtspunkt der  organischen  Funktion für die logischen Erkenntnisbewegungen geltend gemacht hat, so gehen wir noch einen Schritt weiter, indem wir, wie bemerkt, die organischen Denkfunktionen unter dem Gesichtspunkt der  Zwecktätigkeit  zu betrachten versuchen. So beginnen sowohl SIGWART als LOTZE ihre Logik mit dieser teleologischen Betrachtungsweise (SIGWART Seite 1f, LOTZE Seite 10). Die Betrachtung der logischen Tätigkeit unter dem Gesichtspunkt einer  organisch-zwecktätigen  Funktion kann in vielen Beziehungen aufhellend wirken: wie das Augen den Zweck hat, die verschieden abgestuften Ätherbewegungen in ein geordnetes System fester Empfindungen zu verwandeln, und durch Brechung, Reflexion usw. von Strahlen verkleinerte "Abbilder" der objektiven Welt hervorzubringen und wie jenes Organ zur Erfüllung dieses Zweckes passend eingerichtet ist und selbständige Akkomodationsbewegungen und Modifikationen je nach den Verhältnissen auszuführen imstande ist - so ist die logische Funktion eine Tätigkeit,  welche ihren Zweck passend erfüllt und zur Erfüllung dieses Zweckes sich den Verhältnissen und den Gegenständen zu akkomodieren, zu adaptieren versteht.  Die organische Funktion des Denkens hat den Zweck, das Empfindungsmaterial zu solchen Vorstellungen, Vorstellungsverbindungen und Begriffsgebilden umzuwandeln und zu verarbeiten, welche unter sich verträglich und übereinstimmend, zugleich - wie man gewöhnlich zu sagen pflegt und wie auch wir zunächst sagen können und müssen - "sich mit dem objektiven Sein decken". Da wir aber das objektive Sein - auch das ist ein aus der gewöhnlichen wissenschaftlichen Ansicht hergenommener Lehnsatz- (8) absolut nicht selbst erkennen, sondern nur erschließen, so müssen wir das Gesagte dahin umformen, daß die Funktion des Denkens dann ihren Zweck erfüllt habe, wenn sie die gegebenen Empfindungsverbände zu gültigen Begriffen, zu allgemeinen Urteilen, zu zwingenden Schlüssen verarbeitend, ein solches Weltbild produziert habe, daß nach diesem das objektive Geschehen berechnet und unser handelndes Eingreifen in den Gang der Geschehnisse erfolgreich ausgeführt werden könne. Wir legen dabei den Hauptton auf die  praktische  Bestätigung, auf die experimentelle Erprobung der Brauchbarkeit der logischen Gebilde, dieser Produkte der organischen Denkfunktion. Nicht die Übereinstimmung mit einem angenommenen "objektiven Sein", das uns doch niemals unmittelbar zugänglich sein soll, also nicht die  theoretische Abbildung  einer Außenwelt im Spiegel des Bewußtseins und also auch nicht eine  theoretische  Vergleichung der logischen Produkte mit objektiven Dingen scheint uns die Bürgschaft dafür zu bieten, daß das Denken seinen Zweck erfüllt habe, sondern die  praktische  Erprobung, ob es möglich sei,  mit Hilfe jener logischen Produkte die ohne unser Zutun geschehenden Ereignisse zu berechnen und unsere Willensimpulse nach den Direktiven der logischen Gebilde zweckentsprechend auszuführen. 
    Es ist interessant, zu beobachten, wie LOTZE in seiner Logik die zuerst (Seite 4 und 5) von ihm eingeführte Definition der  Wahrheit des Denkens,  also seines letzten Zweckes - "nämlich Wahrheit bestehe in der Übereinstimmung der Vorstellungen und ihrer Verbindungen mit dem vorgestellten Gegenstand und seinen eigenen Beziehungen" - sofort zurückzieht und dahin modifiziert, "Verknüpfungen der Vorstellungen seien dann wahr, wenn sie sich nach den Beziehungen der vorgestellten Inhalt richten, die für jedes vorstellende Bewußtsein dieselben sind, nicht nach dem bloß tatsächlichen Zusammentreffen der Eindrücke, das in diesem Bewußtsein sich so, in einem anderen anders gestaltet." Wenn LOTZE aber als letzte Funktion des Denkens ein solches allgemeines Weltbild verlangt, das für alle gleich sein soll (siehe LAAS, Analyse der Erfahrung, Seite 95, 127: die objektive Welt im "Bewußtsein überhaupt"), so ist hierbei übersehen, daß eine solche allgemeine Übereinstimmung noch gar keine Bürgschaft für die "Wahrheit" der Vorstellungsverknüpfungen darbietet. Nur die  praktische Erprobung  ist die letzte Bürgschaft; aber auch hier kann nur erschlossen werden, daß die gebildeten Vorstellungsverknüpfungen ihren  Zweck  erfüllen, daß sie  richtig  gebildet seien. Von einer "Wahrheit" im gewöhnlichen Sinn des Wortes kann daher auf dem heutigen erkenntnistheoretischen Standpunkt  gar nicht mehr die Rede sein.  -

    Auch HELMHOLTZ legt an mehreren Stellen seiner Schriften, so in der Optik und besonders in seiner Vorlesung "Logische Prinzipien der Erfahrungswissenschaften" auf den oben verlangten  praktischen Nachweis  den Hauptwert.
Wir wollen damit an diesem Ort noch nicht die tief in die Metaphysik und in die ganze praktische Weltanschauung hineingreifende Frage erledigt wissen, ob die logische Funktion oder anders ausgedrückt, ob die theoretische Fähigkeit für den Menschen Selbstzweck sei oder sein solle oder ob alle theoretischen Funktionen einzig und allein aus Willensimpulsen entstanden seien und schließlich darum auch nur dem praktischen Handeln zu dienen haben.
    In neuerer Zeit hat besonders Schopenhauer diesen Standpunkt vertreten. Da für ihn das einzige metaphysische Prinzip der Wille ist und zwar der blinde und grundlose Wille, so ist in seinen Augen das Gehirn mit allen seinen Vorstellungen zunächst nichts als ein Werkzeug des Willens, das ihm zu dienen und das Leben des Individuums zu erhalten hat. Der Intellekt nimmt dem Willen gegenüber eine dienstbare Stellung ein. Daß auch Herbart dieser Auffassung nahe war, ist eine weniger bekannte Tatsache, folgt aber naturgemäß aus der Stellung, welche die Seelenmonade zum Organismus einnimmt, der ohne sie wohl bestehen kann. Darum nennt er genau wie Schopenhauer die Seele einen "Parasiten des Körpers"; sie diene zunächst dazu, die Erhaltung des Organismus zu erleichtern. Bei beiden erscheint also die theoretische Tätigkeit, das Bewußtsein, als Werkzeug des Organismus und seiner Selbsterhaltung. Es ist für unsere folgende Untersuchung an und für sich gleichgültig, wie man das Verhältnis des Denkens, der theoretischen und bewußten Denkprozesse, zum Leben der Triebe und des Willens fasse; indessen kann doch die Betrachtung des Denkens als eines Instrumentes dazu beitragen, den richtigen Beleuchtungseffekt hervorzubringen. Wenn das Denken nur um des Wollens oder sagen wir lieber mit Fichte, um des Handelns willens da ist, so ist das Erkennen nicht der Endzweck des Denkens, das also auch nicht Selbstzweck sein kann, sondern nur ein Nebenprodukt, gleichsam ein Abfall aus der Werkstatt des Denkens, der sich nebenbei ergibt. Der praktische Wert des Denkens stünde also dann in erster Linie, und die "Erkenntnis" wäre nur ein sekundäres und nebensächliches Moment, wie auch Schopenhauer annimmt. Dieser Punkt könnte für den Verlauf unserer Untersuchung Interesse gewinnen, da es sich in derselben um solche Begriffsgebilde handeln wird, deren Erkenntniswert ebenso fraglich ist, als ihr praktischer Wert auf der Hand liegt. - Dieselbe Ansicht entwickelt treffend Steinthal a. a. O. Seite 92: "Wir bedürfen des Wissens von der Welt der Dinge und von unserem Selbst und vom Zusammenhang der Dinge untereinander und mit uns, um leben zu können." Steinthal führt - ganz im Sinne der modernen Betrachtungsweise - drei Hauptarbeiten an, zu denen das Wissen berufen ist: Aufsuchung der Nahrung, Einleitung der Befruchtung, Schutz vor Unwetter. "Das Wissen ist also ein dem Haushalt der Natur unentbehrlicher Faktor. Es tritt zu den physikalischen und chemischen Wirkungen hinzu, um den Bestand des Menschengeschlechts und des Tierreichs zu ermöglichen; es führt die materiellen Bedingungen herbei, deren das Leben bedarf." Das Denken ist also ein Mechanismus, eine Maschine, ein Instrument im Dienst des Lebens zu betrachten. Diese Auffassung ist wichtiger für die Logik, als auf den ersten Anblick erscheint und zwar für die Logik als eine Technik des Denkens, nicht als Erkenntnistheorie. Wenn man als Zweck des Denkens die Erkenntnis ansieht, so wird man die logischen Funktionen ganz anders betrachten, als wenn der Zweck des Denkens und Erkennens schließlich ins Praktische gesetzt wird. Nun bleibt allerdings für die Logik als solche zunächst der Zweck des Denkens das sogenannte "Erkennen der Wirklichkeit"; die Produkte des Denkens sind ja eben "Erkenntnisse" allein welchen Zweck sollen diese erfüllen? Wenn zunächst einen praktischen, so tritt der Erkenntniswert der logischen Produkte in den Hintergrund.
Für unsere engere Betrachtungsweise genügt die obige Bestimmung, welche die Erprobung der Richtigkeit der logischen Produkte in die  Hand der Praxis  legt und dann auch den Zweck des Denkens nicht in einer Abspiegelung einer sogenannten äußeren, objektiven Welt, sondern in der Ermöglichung der Berechnung des Geschehens und des Einwirkens auf das letztere erblicken muß. Für uns hat die logische Funktion des Denkens den Zweck, uns jederzeit in den Stand zu setzen, vorauszuberechnen, daß wir unter diesen oder jenen Verhältnissen, Bedingungen und Umständen einen ganz genau bestimmbaren Empfindungseindruck erhalten werden (denn darauf läuft schließlich alle Feststellung einer objektiven Begebenheit hinaus und wissenschaftlich ist eine solche durchaus nicht anders zu bestimmen), und vorauszuberechnen, daß wir durch diese oder jene Willensimpulse unter bestimmten Bedingungen einen ganz genau bestimmbaren Effekt hervorbringen werden, der sich aber auch nur vermöge bestimmter Empfindungseindrücke von uns bemerken läßt. Durch diese Reduktion der Begriffe: Denken, Handeln, Beobachten usw. auf schließlich physiologische Elemente, auf Empfindungen, gewinnen wir allein den richtigen Maßstab für die Abschätzung der  logischen Arbeit,  welche die Empfindungselemente in logische Gebilde umsetzt, welch letztere schließlich wieder dazu da sind, um in Empfindungen umgesetzt zu werden, bzw. zur Kontrolle von Empfindungseindrücken und zur Vermittlung von Willensimpulsen, "Innervationen", d. h. Nervenimpulsen zu dienen.

Jede Zwecktätigkeit äußert sich darin, daß sie die zur Erreichung des vorgesteckten Zieles notwendigen und dienlichen Mittel ausfindig macht, herbeischafft oder hervorbringt. Auch die organische Tätigkeit des Denkens manifestiert ihre zwecktätige Einrichtung dadurch, daß sie ihre oben dargestellten Zwecke mit allen ihr zu Gebote stehenen Mitteln zu erreichen bestrebt ist. Der Ausdruck von SIGWART a. a. O. Seite 19 (9), daß es sich in der Methodologie "um die Mittel handle, die uns  von Natur  zu Gebote stehen", ist mißverständlich, da die organische, zwecktätige Eigenschaft des Denkens sich gerade darin zeigt,  künstliche  Mittel zu schaffen, um seinen Zweck zu erreichen.

Sind Empfindungen der Ausgangspunkt aller logischen Tätigkeit und zugleich die Endstation, in die dieselbe, wenn auch nur zur Ermöglichung der Kontrolle, einmünden muß - wobei, wie bemerkt, dahingestellt bleiben muß, ob den logischen Funktionen zwischen diesen beiden Punkten noch ein Selbstzweck zuzuschreiben ist, oder nicht - so läßt sich der Zweck des Denkens kurz dahin präzisieren, daß es in der Verarbeitung und Vermittlung des Empfindungsmaterials zur Erreichung eines reicheren und volleren Empfindungslebens seine Bestimmung finde.

Um den Zweck seiner Tätigkeit - die Berechnung des unabhängigen Geschehens und die Ermöglichung oder Abhängigmachung der Vorgänge von unserem Willen - vollständig und möglichst schnell zu erreichen, dazu verwendet das Denken oder die logische Funktion die verschiedensten Mittel.
    Das Denken ist bemüht, sich immer mehr zu vervollkommnen und so ein immer brauchbareres Werkzeug abzugeben. Zu diesem Zweck erweitert es, ähnlich wie andere natürliche Tätigkeiten, seinen Wirkungskreis durch Erfindung von Instrumenten. So macht es z. B. der Arm, die Hand, als deren Verlängerungen und Erweiterungen die meisten gewöhnlichen Instrumente zu betrachten sind. Auch die natürliche Funktion des Denkens, das wir oben selbst ein Werkzeug nannten, erweitert seine Instrumentation durch Erfindung von Werkzeugen, von Denkmitteln, Denkinstrumenten, deren eines den Gegenstand dieser Untersuchung bilden soll.
Das Denken nimmt sinnreiche Operationen vor, es erfindet kunstreiche Hilfsmittel, es weiß höchstens verwickelte Prozesse einzuleiten. Das Empfindungsmaterial wird umgewandelt, umgemünzt, verdichtet, es wird von Schlacken gereinigt und mit Zusätzen aus dem eigenen Fond der Psyche legiert, um eine immer sicherere, raschere und elegantere Lösung der Aufgabe der logischen Funktion zu ermöglichen. In allen diesen höchst verschiedenen und höchst verwickelten Prozessen und Operationen herrschen jedoch höchst wenige und höchst einfache Gesetze, genau wie die verwickelte Arbeit des physischen Organismus und seiner scheinbar so verschiedenen Organe auf bewunderungswürdig einfache, gesetzmäßige Grundprozesse und Grundformen reduzierbar ist. Es ist die Aufgabe der logischen Theorie, die verwickelten logischen Prozesse auf solche einfachen Grundprozesse, auf einige wenige, zweckmäßig verlaufende Vorgänge zurückzuführen. Das reiche Leben des Geistes, wie es sich in der Wissenschaft ungeheuerem und unendlichem Gebiet in unzähligen Variationen entfaltet - es beruth in seinen verwickeltsten Formen und Prozessen auf primitiven, einfachen Gesetzen und entsteht nur durch die  ungemein sinnreiche Modifikation und Spezifikation dieser wenigen Grundtypen und Grundgesetze,  die sich, teils gedrängt durch die äußeren Veranlassungen und Umstände, teils getrieben durch immanente Entwicklungskeime, zu jenem reichen, unendlichen Wissenssysteme entfalten, auf das der Mensch so stolz ist. (10) Wie die  Meleagrina margaritifera  [Seeperlmuschel - wp], wenn unter ihren glänzenden Mantel ein Sandkörnchen gerät, dieses mit der aus ihr selbst produzierten Perlmuttmasse überzieht, um das unscheinbare Korn in eine blendende Perle zu verwandeln, so - nur noch viel feiner - arbeitet die Psyche mittels ihrer logischen Funktion, wenn sie gereizt wird, das eingedrungene Empfindungsmaterial zu blitzenden Gedankenperlen um, zu Gebilden, in denen der Logiker die aneignende, organisch zwecktätige logische Funktion bis in ihre geheimsten Wege, bis in ihre feinsten Spezifikationen verfolgt. In beiden Fällen ist es die  sinnreiche Zwecktätigkeit,  welche unsere Bewunderung und unsere Aufmerksamkeit erweckt. Wir betonen gerade vorzugsweise die  Zweckmäßigkeit  der organischen Funktion des Denkens, weil wir uns in der Folge mit logischen Gebilden zu beschäftigen haben werden, in denen sich jene Zwecktätigkeit recht auffallend manifestiert.

Wir haben in der bisherigen Darlegung eine Seite noch nicht berührt, welche jedoch für die richtige Auffassung der logischen Funktion von hoher Wichtigkeit ist: es ist dies die Tatsache, daß die organische Funktion des Denkens meistenteils  unbewußt  verläuft. (11) Mag auch schließlich das Produkt ins Bewußtsein treten, ja mag auch das Bewußtsein die Prozesse des logischen Denkens flüchtig begleiten, so dringt dieses Licht doch nur in eine geringe Tiefe; die eigentlichen Grundprozesse verlaufen im Dunkel des Unbewußten und gerade die spezifisch zwecktätigen Operationen sind größtenteils und jedenfalls am Anfang durchgängig instinktiv und unbewußt, wenn sie auch später in den Lichtkreis des Bewußtseins vorrücken, das im Laufe der Zeit sowohl individuell als allgemein kulturgeschichtlich freilich immer größere Strecken des psychischen Verlaufs seiner Herrschaft zu unterwerfen weiß. Es handelt sich für die Logik nun gerade darum,  die dunkel und unbewußt arbeitende Tätigkeit des Denkens zu beleuchten  und die kunstvollen Methoden, die sinnreichen Wege kennen zu lernen, welche jene unbewußt wirkende Tätigkeit einschlägt, um ihr Ziel zu erreichen. (12)

Man mag das Verhältnis von Sein und Denken fassen, wie man will - jedenfalls läßt sich vom  empirischen  Standpunkt aus behaupten, daß die  Wege des Denkens andere sind, als die des Seins;  die subjektiven Denkprozesse des Denkens, die sich auf irgendeinen äußeren Vorgang oder Prozeß beziehen, haben mit diesem selbst nur selten eine nachweisbare Ähnlichkeit. (13) Wir bemerken das, um dadurch hervorzuheben, daß die logischen Funktionen  subjektive,  aber  zweckmäßige  Anstrengungen sind, welche das Denken macht, um seine weiter oben geschilderten Zwecke zu erreichen. Das objektive Geschehen und Sein mag sich verhalten, wie es will -  eins  läßt sich wohl sicher behaupten, es besteht nicht aus logischen Funktionen, wie einst HEGEL gemeint hat.
    Das Hegelsche System bietet das historisch grellste, das typische Beispiel dieses  Generalirrtums  der Philosophie dar: der  Verwechslung der Wege des Denkens mit denen des Geschehens,  der Verwandlung subjektiver  Denkvorgänge  in objektive  Weltvorgänge.  (Daß aber der Hegelschen Dialektik andererseits eine richtige Einsicht in das Wesen der  logischen  Entwicklung zugrundeliegt, wird noch zur Sprache kommen.) Über diesen Generalirrtum HEGELs vgl. noch die treffenden Bemerkungen STEINTHALs a. a. O., Seite 69f, sowie besonders Seite 108, sowie die wichtigen Ausführungen Seite 117/118. Ähnliches sagt WUNDT, Axiome etc. Seite 16 über ARISTOTELES und Seite 75 über LEIBNIZ.
Die logischen Funktionen sind organisch zweckmäßige Prozesse, welche sich wesentlich vom äußeren Geschehen unterscheiden. Das subjektive Denken macht ganz andere Wege als das objektive Geschehen; und es ist recht logisch, organisch und teleologisch, daß dem so ist, daß das Sein nicht logisch ist (womit natürlich nicht behauptet ist, daß es darum schon unlogisch sei). Denn sonst fielen ja Sein und Denken zusammen und eines derselben wäre unnötig; die Natur ist aber nicht so eingerichtet, daß sie so Unnötiges schüfe.  Wir dürfen also die Wege und Umwege des Denkens nicht mit dem wirklichen Geschehen verwechseln.  Die eigentliche Kunst und Aufgabe des Denkens ist, das Sein auf ganz anderen Wegen zu erreichen, als diejenigen sind, welche das Sein selbst einschlägt. Mit Hilfe seiner kunstvollen Operationen und auf Umwegen gelingt es dem Denken, das Sein  einzuholen  und sogar den Fluß des Geschehens zu  überholen.  (14) Vom Standpunkt des objektiven Geschehens oft recht verschlungen und erscheinen sogar oft als unzweckmäßig, ja sie sind es nicht selten auch; wie jede organische Funktion, so hat diejenige des Denkens anfangs immer die Neigung, mit größerem Kraftaufwand, als nötig ist, und in unzweckmäßiger Weise zu arbeiten; und gerade darin bewährt sich die organische Natur der logischen Funktion, daß sie allmählich immer zweckmäßiger, eleganter, sparsamer reagiert. (15) Andere Operationen des Denkens erscheinen äußerlich betrachtet oft recht unzweckmäßig oder lassen ihre Mitwirkung zur Erreichung des Zweckes nicht so leicht erraten; aber eine tiefere Beobachtung entdeckt immer mehr den solidarischen Zusammenhang aller logischen Operationen und ihr zweckmäßig wirkendes Zusammenstimmen.

Der eigentlich größte und wichtigste Teil der menschlichen Irrtümer ensteht dadurch, daß man die Wege des Denkens für die Abbilder der realen Verhältnisse selbst nimmt; (16) allein das schließliche praktische Zusammenstimmen unserer Vorstellungen und Urteile mit den sogenannten "Dingen" berechtigt noch nicht zu dem Schluß, daß die Wege, auf denen das logische Resultat gewonnen wird, dieselben seien mit denen der objektiven Vorgänge. Im Gegenteil:  Die Zweckmäßigkeit manifestiert sich gerade darin, daß die logischen Funktionen, wenn sie nach ihren eigenen Gesetzen arbeiten, schließlich doch immer wieder mit dem Sein zusammentreffen. (17)
LITERATUR - Hans Vaihinger, Die Philosophie des Als Ob - System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit auf Grund eines idealistischen Positivismus, Leipzig 1922
    Anmerkungen
    1) Im Manuskript = § 2. Der hier nicht abgedruckte § 1 des MS lautet: "Die Aufgabe der Logik als einer Kunstlehre des Denkens."
    2) Den Vergleich der psychischen Prozesse mit physikalischen Vorgängen hat insbesondere HERBART durchgeführt. Der Vergleich der psychischen Tätigkeiten mi den organischen Funktionen ist ein Verdienst STEINTHALs, der diese Betrachtungweise in seinem höchst bedeutenden Werk: "Einleitung in die Psychologie und Sprachwissenschaft" (erster Band des "Abrisses der Sprachwissenschaft"), Berlin 1871, seiner psychologischen Analyse der sprachlichen Phänomene teilweise neben dem Vergleich mit mechanischen Vorgängen zugrunde gelegt hat.
    3) Vgl. AVENARIUS, Philosophie als Denken der Welt gemäß etc., Leipzig, 1876, Seite 1f
    4) Vgl. die Beschreibung STEINTHALs, Psychologie und Sprachwissenschaft, Seite 116
    5) Vgl. STEINTHAL, a. a. O., Seite 12. Vgl. hier noch insbesonder den § 68 bei STEINTHAL a. a. O. Seite 131, wo das Spiegelgleichnis eine gute Abfertigung findet. Schon LOCKE weist indessen dieses Gleichnis als unpassend zurück.
    6) Siehe STEINTHAL, a. a. O. Seite 116
    7) Siehe STEINTHAL, a. a. O. Seite 167
    8) Vgl. zum Beispiel SIGWART, Logik, Seite 1
    9) In der zweiten Auflage der "Logik", Seite 21
    10) Ähnlich wie die ungeheure Entfaltung der äußeren mechanischen Hilfsmittel, d. h. der Maschinen, auf einige wenige Grundtypen der mechanischen Arbeit zurückzuführen ist, wie z. B.  den Hebel,  die  schiefe Ebene  usw.
    11) Vgl. unter anderem die von STEINTHAL a. a. O. Seite 102f durchgeführte Parallele von  Seele und Natur;  besonders Seite 104 und 105.
    12) EDUARD von HARTMANN hat in der "Philosophie des Unbewußten" einen Abschnitt "Das Unbewußte im Denken", worin er eine ähnliche Betrachtungsweise vertritt, Seite 268f (5. Auflage). Dazu vergleiche man den Abschnitt bei STEINTHAL, Seite 164: "Unbewußtes in der Seele".
    13) Vgl. LAAS, a. a. O. Anmerkung 415 un 254 mit Seite 38 desselben Werkes; für einen Nicht-Kantianer ist dagegen das Sein "intensiv logisch tingiert".
    14) Vgl. die treffende Schilderung von LOTZE, Logik, Seite 552
    15) Vgl. STEINTHAL a. a. O. Seite 279, wo Ähnliches von der Ausbildung der Assoziationsbewegungen gesagt ist. Ähnlich AVENARIUS über das "Prinzip des kleinsten Kraftmaßes".
    16) Vgl. KANT, Prolegomena § 40: "Aller Schein besteht darin, daß der subjektive Grund des Urteils für objektiv gehalten wird." "Die Vernunft gerät in Verirrungen, wenn sie ihre Bestimmung mißdeutet und dasjenige transzendenter Weise aufs Objekt selbst bezieht, was nur ihr eigenes Subjekt und die Leitung desselben in allem immanenten Gebrauch angeht. Vgl. Prolegomena § 55.
    17) Ein Punkt, der im Verlauf der Untersuchung noch große Wichtigkeit gewinnt. - Vgl. zu dem hier Gesagten besonders noch LOTZE, Logik, Seite 9 und 11, besonders 11.