ra-3Rudolf JheringThomas AchelisFritz MauthnerChristoph Sigwart     
 
RUDOLF GOLDSCHEID
Der Richtungsbegriff und
seine Bedeutung für die Philosophie

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"Wie unbestreitbar die Tatsache ist, daß das Richtungsmoment ein psychisches Urphänomen ist, beweist auch die Geschichte des Kraftbegriffs. Die Kraft wird aus dem Widerstand abgeleitet; aber schon im Moment des Widerstandes ist der Begriff der Richtung enthalten. Ein weiterer Beweis der Wichtigkeit des Richtungsbegriffs für die gesamte Wissenschaft liegt in den Grundlehren der Energetik selbst."

Die vorliegende Abhandlung ist ein Versuch. Sie will nichts Abschließendes geben, umso mehr, da sie nur ein kleiner Ausschnitt aus einer größeren Arbeit über denselben Gegenstand ist. Worauf es mir vor allem ankam, das war die Aufmerksamkeit der Wissenschaft auf den zu Unrecht völlig vernachlässigten Begriff der Richtung zu lenken, zu zeigen, welche bedeutungsvollen Konsequenzen daraus erwachsen, wenn man die Richtung als ein universales Urphänomen, als einen nicht weiter auflösbaren Elementarbegriff erkennt. Man weiß dann, daß, wo immer man auf Richtung stößt, etwas vorliegt, was sich auch nichts anderes zurückführen läßt, als wieder auf Richtung. Diese Einsicht kann einerseits viel fruchtlose Mühe ersparen, andererseits aber auch zu mannigfacher fruchtbarer Arbeit veranlassen, indem sie sowohl auf die Grenzen der rein quantitativen Naturerklärung, wie auf den Umfang der Richtungsprobleme verweist und namentlich Licht wirft auf den so vielfach verwendeten Begriff der Tendenz.

Freilich soll hier auch gleich davor gewarnt werden, nun nach der langen Vernachlässigung - das Leistungsvermögen des Richtungsbegriffs etwa zu überschätzen. Es ist zweifellos: gerade wegen seines universalen Geltungsgebietes kann mit demselben der schlimmste Mißbrauch getrieben werden. Von Wortkünstlern, die Nominaldefinitionen mit Realerklärungen verwechseln, wie von rückständigen Metaphysikern, die mit Begriffen jonglieren! Selbst in einen derartigen Fehler zu verfallen, habe ich auf das Entschiedenste zu vermeiden gesucht. Allerdings muß ich aber hervorheben: es war zugleich mein emsiges Bestreben, alle irgend erdenkbaren Verwendungsmöglichkeiten des Richtungsbegriffs zumindest anzudeuten und da wäre es ganz und gar nicht ausgeschlossen, daß die eine oder andere sich doch nicht halten ließe. Ich wollte aber gleichsam als  advocatus diaboli  des Richtungsbegriffs fungieren; so glaubte ich am ehesten die Unschuld im Gebrauch des Richtungsbegriffs zerstören, damit aber zum Nachdenken über denselben intensiv anregen zu können. Und so hoffe ich denn, daß, wie immer man sich auch zu den einzelnen von mir vertretenen, absichtlich in apodiktischer [logisch zwingender, demonstrierbarer - wp] Form aufgestellten Hypothesen über die Bedeutung des Richtungsmomentes stellen mag, doch das Ganze den Eindruck hinterlassen wird:  Eine Klärung des Richtungsbegriffes ist ein brennendes Desiderat der gesamten Forschung und muß namentlich für die organischen Naturwissenschaften und die Geisteswissenschaften wertvolle Ergebnisse liefern. 


1.

Die mechanistische Weltanschauung, die alles Geschehen auf Substanz und Bewegung zurückführen will, die von allem Qualitativen absieht, muß noch immer zwei Grundwesenheiten der Bewegung unterscheiden, die Geschwindigkeit und die Richtung der Bewegung. Die Geschwindigkeit ist das Verhältnins der Bewegung zu Raum und Zeit, die Richtung das Verhältnis der Bewegung zum Raum. Der Raum wird definiert als das Nebeneinander, die Zeit als das Nacheinander. Bei der Zeit ist obendrein besonders ihre Einsinnigkeit zu betonen, d. h. die Nichtumkehrbarkeit der Reihenfolge ihrer Elemente. Diese Nichtumkehrbarkeit kann auch als die Richtung der Zeit bezeichnet werden. Schon dieses Faktum zwingt zur Aufwerfung einer äußerst wichtigen Frage: Nämlich zu dieser: Ist das Phänomen der Richtung in der Definition des Mathematikers vollends erschöpft, der sie als die Gerade bezeichnet, die zwei Punkte im Raum verbindet? Ist in dieser Definition, wie das ja auch von anderer Seite bereits bemerkt wurde, nicht Abstand und Richtung verwechselt? Jedenfalls ist soviel sicher: Eindeutig bestimmt ist die Richtung durch die Gerade nicht.

Die Richtung zeigt die naheste Verwandtschaft mit dem Begriff des Raumes, der Zeit und der Bewegung. Betrachtet man das Verhältnis von Raum und Richtung, so kann man sich kaum der Meinung erwehren, daß die Richtung eigentlich schon im Raumbegriff enthalten sein muß, denn der Raum ist ja der Inbegriff aller Richtungen. Betrachtet man das Verhältnis der Richtung zur Zeit, so scheint sie beinahe mit dieser identisch. Denn was die Richtung zu einem einzigartigen Phänomen macht, das ist ihre Nichtumkehrbarkeit. Die Gerade, welche zwei Punkte im Raum verbindet, hat keine eindeutige Richtung; sie geht ebenso von  A  nach  B,  wie von  B  nach  A.  Das Charakteristikum der Richtung ist ihre Eindeutigkeit, ihre Einsinnigkeit, und wir wissen ja, daß das auch das Grundkriterium der Zeit ist. Und ebenso scheint die Richtung mit der Bewegung zusammenzufallen. Da alle Bewegung im Raum vor sich geht, muß sie ja notwendig eine Richtung haben. Gäbe es keine Bewegung, so würden nur Lagebeziehungen existieren, aber vom Begriff der Richtung hätten wir keine Ahnung. So scheint es also, als ob der Begriff der Richtung geradezu mit der Bewegung identisch wäre und als ob es deshalb keine Berechtigung hätte, in ihr einen Elementarbegriff, ein psychisches Urphänomen zu erblicken, das sich in nichts anderes auflösen, auf nichts anderes zurückführen läßt. Und doch ist der Begriff der Richtung und namentlich der Begriff der Tendenz ebensowenig wie im Raum und in der Zeit, bereits in der Bewegung implizit enthalten. Die Richtung ist aber allerdings ein Prädikat, das sowohl dem Räumlichen, dem Zeitlichen, wie dem Bewegten zukommt und das deshalb in den Geisteswissenschaften ebenso unentbehrlich ist, wie in den Naturwissenschaften.

Schon aus diesem Grund erscheint mir die kritische und systematische Einordnung des Richtungsbegriffs als eine dringende Aufgabe der Wissenschaft. Es berührt nun geradezu sonderbar, daß während alle sonstigen Grundbegriffe unseres Erkennens die mannigfaltigste Erörterung gefunden haben, während über die Raum- und die Zeitanschauung, während über den Kraft- und den Energiebegriff, den Begriff der Größe, der Geschwindigkeit, der Intensität eine ganze Literatur existiert, über den Begriff der Richtung kaum die allerdürftigsten Untersuchungen vorliegen. Dieser Mangel ist aus zahllosen Gründen äußerst bedauerlich. Er bedeutet  naturphilosophisch  eine große Lücke, er stellt ein  erkenntnistheoretisches Manko  dar und ist namentlich  sprachkritisch  als sehr erhebliches Defizit zu betrachten. Der Mangel allgemein philosophischer Untersuchungen über den Richtungsbegriff macht sich am unangenehmsten in den Zwischenwissenschaften, welche Natur- und Geisteswissenschaften verbinden, in der Psychologie und Biologie bemerkbar und hat auch in den Geisteswissenschaften selber sehr erhebliche Unklarheiten zur Folge. Jeder weiß, in wie großem Umfang dort überall der Begrif der Richtung Verwendung findet und es ist sicherlich nicht zuviel gesagt, wenn wir behaupten, daß es noch gar nicht recht zu Bewußtsein gekommen ist, ob man, wenn man in den Geisteswissenschaften den Begriff der Richtung gebraucht,  Richtung in eigentlicher oder übertragener Bedeutung, Richtung im statischen oder dynamischen Sinne, anschauliche oder unanschaulich Richtung, d. h. Richtung im räumlichen oder zeitlichem Sinne  meint. Es könnte ja auf den ersten Blick scheinen, als ob es selbstverständlich wäre, daß, wo man in den Geisteswissenschaften von Richtung spricht, bloß ein aus der räumlichen Sphäre auf das Geistige übertragene Bild vorliege. Bei genauerem Zusehen zeigt sich jedoch, daß wir hier keineswegs mit einem willkürlichen Bild operieren, sondern daß wir zwangsgemäß auch in den Geisteswissenschaften uns des Richtungsbegriffs bedienen und daß es darum mit dessen Metaphorismus doch nicht so einfach bestellt ist, daß hier also ein zwangsmäßiger Metaphorismus vorliegt.  Und der zwangsmäßige Metaphorismus gäbe sicherlich ein äußerst interessantes Kapitel der Erkenntnistheorie ab.  Insbesondere werden unsere weiteren Untersuchungen zeigen, daß, wenn man in der Psychologie, in der Biologie und den Geisteswissenschaften vom Richtungsbegriff absehen will, wenn man sich also stattdessen eines anderen Begriffs zu bedienen strebt, man einzig und allein auf den Qualitätsbegriff angewiesen ist; eine Tatsache, welche ein höchst schlagendes Licht auf die Verwandtschaft des Richtungs- und Qualitätsbegriffes wirft und wieder einmal offenbar macht,  in wie hohem Maße der Qualitätsbegriff oft eigentlich bloß ein Verlegenheitsbegriff ist. 

Bedenken wir auch, um eine Vorstellung von den Bedeutung des Richtungsbegriffs zu erhalten, wie schwer etwa der Begriff der Willensrichtung zu entbehren wäre, bedenken wir welche Rolle der Begriff der Entwicklungsrichtung spielt und daß wir das Ganze des historischen Geschehens geradezu genötigt sind, als Kampf um die Entwicklungsrichtung anzusehen! Dieser Hinweis eröffnet uns jedoch noch eine wesentlich weitere Perspektive hinsichtlich des Umfangs des Richtungsbegriffs. Die Willensrichtung ist ja die Wurzel unserer Zwecktätigkeit, all das was man Zielstrebigkeit, Zweckstrebigkeit nennt, erweist sich bei genauerem Zusehen vielfach nur als  Richtungsstrebigkeit  und würde deshalb durch diesen Terminus oft weitas exakter bezeichnet sein. Dieser Umstand läßt aber hoffen, daß es mittels des Richtungsbegriffs möglich sein wird, Kausalität und Finalität auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen; alle Kausalität zugleich als Richtungskausalität zu erkennen, wodurch dem Kausalbegriff sein bisheriger, lediglich  retrospektiver  Charakter erhielte, der bis nun bloß den Teleologiebegriff auszeichnete. Wir dürfen also hoffen, mittels des exakt bearbeiteten Richtungsbegriffs alle jene metaphysischen Trübungen, welche bisher erfolgten, wenn es galt, das Teleologiemoment in den geschlossenen Kausalzusammenhang einzugliedern, künftig zu vermeiden und namentlich die exakte Naturbeschreibung davor zu bewahren, daß durch Einführung von metaphysischen Dominanten und Richtkräften heillose Verwirrung verursacht wird.

Der exakt bearbeitete Richtungsbegriff macht die Dominanten ebenso wie die Richtkräfte vollkommen entbehrlich. Indem er zeigt, daß die Richtung der Bewegung immanent ist, daß die Kraft nicht anders vorgestellt werden kann, wie als gerichtete Kraft, daß die Welt gleichsam ein System von Richtungselementen ist, beweist er aufs Deutlichste, daß das Organische sich nicht etwa dadurch vom Anorganischen unterscheidet, daß bloß beim ersteren eine bestimmt gerichtete Entwicklung vorliegt, sondern es wird offenbar, daß schon aufgrund des Kontinuitätsprinzips, der Kausalität, der Energiegesetze alles Geschehen notwendig bestimmt gerichtetes Geschehen sein muß.  Die Richtungsintensität ist kein Spezialfall des Organischen.  Wir werden im weiteren Verlauf unserer Ausführungen auf das Verhältnis von Richtung und Zweck, Richtungsintensität und Richtungsstrebigkeit, Richtungsstrebigkeit und Zielstrebigkeit, noch näher eingehen.

Augenblicklich wollen wir unseren allgemeinen Einleitungsworten noch einige grundlegende Bemerkungen anfügen. Die Bedeutung des Richtungsbegriffs für die Wissenschaft ist nicht nur auf der Basis einer mechanistischen Weltanschauung eine große. Sie bleibt die gleiche für das energetische Weltbild. Auch der Energetiker, der nicht zwischen Materie und Energie unterscheidet, sondern alle Materie in Energie aufzulösen strebt und für den Veränderungen denkbar erscheinen, die nicht Bewegungen sind, auch er ist genötigt, verschieden gerichtete Energien anzunehmen. Ja, man kann direkt sagen, für den Energetiker wächst der Begriff der Richtung noch zu höherer Bedeutung empor, will er nicht vom Qualitätsbegriff zu umfassenden Gebrauch machen. Ist, wie der Mechanist behauptet, alles Geschehen Bewegung oder ist, wie der Energetiker erklärt, alle Veränderung Energieumwandlung, dann ist man wohl berechtigt, zu sagen: die Richtung ist die Qualitäte der Bewegung, die Richtung ist die Qualität der Energie, wie die Intensität ihre Quantität ist. Denn was können denn verschiedenen Arten der Bewegung, die verschiedenen Bewegungsformen, wie man sich auch ausdrückt, anderes sein als bestimmt zusammengesetzte Richtungen der Bewegung und was können die verschiedensten Energiearten anderes sein, als verschieden gerichtete, in verschiedener Richtung kombinierte Funktionen der energetischen Ureinheiten? Und sieht man dann genau zu und frägt sich, was ist das denn eigentlich, was man als Form, Anordnung, Gruppierung, Gestalt bezeichnet? Dann kann man nicht umhin zuzugeben, daß die Form, die Anordung, die Gruppierung, die Gestalt nichts anderes ist, als  statisch erfaßtes Richtungsgeschehen,  als gleichsam geronnene Richtungskomplexion, wie wir dies an gefrorenen Wasserfällen, an den Eiszapfen, die von den Häuserdächern herabhängen, deutlich sehen können. Wir werden auch darauf, wie auf den Begriff der komplexen Richtung überhaupt später noch zurückkommen.

Wie unbestreitbar die Tatsache ist, daß das Richtungsmoment ein psychisches Urphänomen ist, beweist auch die Geschichte des Kraftbegriffs. Die Kraft wird aus dem Widerstand abgeleitet; aber schon im Moment des Widerstandes ist der Begriff der Richtung enthalten. Ein weiterer Beweis der Wichtigkeit des Richtungsbegriffs für die gesamte Wissenschaft liegt in den Grundlehren der Energetik selbst. Die ROBERT MAYERsche Theorie der Äquivalenz von Wärme und Arbeit ist eine Aussage über die Quantität der Bewegung. Der zweite Hauptsatz der Energetik, das Entropieprinzip, spricht sich aus über die Richtung der Bewegung. Denn indem hier gesagt wird, daß bei nicht kompensierten Intensitätsunterschieden die Energie von der höheren Intensität zur niederen übergeht, wird behauptet, die Energie ist in der Richtung der niedrigeren Intensität determiniert. Der Satz von der Erhaltung der Energie ist also die Lehre von der Quantität der Energie, das Entropieprinzip der  Versuch  einer Lehre von der Richtung der Energie. Diese klare Unterscheidung ist in erster Linie methodologisch von Wert. Sie deutet darauf hin, daß überall bei jeder allgemeinsten Aussage über das Geschehen zur rein quantitativen Bestimmung nocht die Richtungsbestimmung hinzutreten muß, welche aber nur, auf ein bestimmtes Koordinatensystem bezogen, einen eindeutigen Sinn ergibt.

Angesichts all dessen ist es auch ein interessantes Problem, warum der Richtungsbegriff in neurer Zeit so vernachlässigt wurde, ja warum die berufensten Bearbeiter desselben, die Mathematiker und Physiker, dessen Erörterung geradezu ablehnen. Die tiefste Ursache für das Fehlen exakter erkenntnistheoretischer Untersuchungen über den Richtungsbegriff liegt wohl in der Abstraktheit der Naturformeln. Es macht das Wesen der allgemeingültigen Naturformeln aus, daß in denselben von den zufälligen Bedingungen des Einzelfalls abstrahiert wird. In den abstrakten Naturformeln kann man darum vielfach, vorerst wenigstens, von der Richtung absehen, sie in eine quantitative Relation auflösen, ohne daß die Gültigkeit derselben auch nur im Geringsten Abbruch leidet. Fundamental verschieden vom abstrakten Einzelfall ist jedoch der konkrete Einzelfall. In jedem konkreten Einzelfall spielt die Besonderheit der Richtung die denkbar größte Rolle und da das Weltganze die bestimmt gruppierte Summe der konkreten, nicht der abstrakten Einzelfälle ist, so hat für die Erfassung des Naturgeschehens als Ganzem das Richtungsmoment die allergrößte Bedeutung. - Auch auf den Unterschied zwischen RIchtung im statischen Sinne vor sich, spricht man von Entwicklungsrichtung, dann denkt man an Richtung im dynamischen Sinn.  Es wären also alle Relationen zu unterscheiden in statische und dynamische Relationen.  Und es wirft eine interessantes Licht auf diesen Unterschied, daß z. B. die griechische Sprache diese zwei Auffassungen der Richtung auch terminologisch unterscheidet, indem sie die Richtung als Lagebeziehung  thesis,  die Richtung im dynamischen Sinne als Lageveänderung aber phora nennt. Also der Grieche bezeichnet Richtung im statischen Sinn einfach als Lage, RIchtung im dynamischen Sinne als Bewegung. Nun fallen aber Richtung und Bewegung allerdings im gewissen Sinn vollkommen zusammen, wie Raum und Zeit zusammenfallen und man hat ja auch, ich verweise da nur auf WUNDT, gesagt, daß die Bewegung eigentlich das Urphänomen ist, aus dem Raum und Zeit nachher abstrahiert wurden. Aber wenn auch Richtung und Bewegung eine Einheit bilden, so ist, genau genommen, die Richtung doch schließlich ein Attribut, wenn auch ein immanentes Attribut der Bewegung und erfordert als solches eine gründliche separate Untersuchung.

Die Notwendigkeit dieser Untersuchung kann in der verschiedensten Weise bewiesen werden. Vor allem liefert eine Reihe von historischen Daten sehr bemerkenswerte Argumente für unsere Behauptung. Den interessantesten Beweis für die Tatsache, daß das Moment der Richtung von der philosophischen Forschung nicht immer so vernachlässigt wurde, wie in den letzten hundert Jahren bis in unsere Tage, bietet die lebhafte Kontroverse, die zwischen DESCARTES und LEIBNIZ diesbezüglich geführt wurde. An zahlreichen Stellen seiner Schriften polemisiert LEIBNIZ gegen DESCARTES, weil dieser die Behauptung von der Erhaltung der Bewegungsquantität aufgestellt hatte und daran die Äußerung knüpfte, Gott sei zwar außerstande, auf die Quantität der Bewegung irgendeinen Einfluß zu üben, aber er sei vollends Herr über die Richtung der Bewegung. Das bestritt LEIBNIZ auf das Entschiedenste. Dem DESCARTESschen Satz von der Erhaltung der Bewegung stellte er nicht nur den Satz von der Erhaltung der Kraft gegenüber, sondern er erklärte auch in der nachdrücklichsten Weise die Annahme DESCARTES', Gott könne jederzeit nach Belieben auf die Richtung des Geschehens Einfluß nehmen, für unbedingt falsch. Überall, wo LEIBNIZ nun vom Gesetz der Erhaltung der Kraft spricht, setzt er demselben  das Gesetz von der Erhaltung der Richtung  an die Seite, welches er als ebenso wichtig, als ebenso grundlegend bezeichnet, wie das Gesetz von der Erhaltung der Kraft. Wie immer wir über den Satz von der Erhaltung der Richtung denken mögen, es muß uns als ein Symptom von höchster Bedeutung erscheinen, wenn ein Ingenium von der Größe eines LEIBNIZ den Satz von der Erhaltung der Richtung als gleichwertig mit dem Satz von der Erhaltung der Kraft hinstellt und nicht müde wird, an zahllosen Stellen seiner Schriften diese beiden Sätze zusammen als die Grundgesetze allen Seins zu bezeichnen. Schon die Tatsache allein müßte genügen, um es im höchsten Maß zu rechtfertigen, daß wir die Aufmerksamkeit der Wissenschaft erneut auf den Begriff der Richtung zu lenken suchen. Aber nicht nur LEIBNIZ hat sich mit dem Problem der Richtung beschäftigt, auch ein anderer großer Philosoph hat wiederholt an dieses Problem gerührt. Es ist kein Geringerer als KANT. Nicht nur in den "Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft" finden wir eine philosophische Spekulation aüber das Richtungsproblem, sondern es existiert auch eine eigene Abhandlung über dasselbe aus dem Jahr 1768 mit dem Titel: "Von dem ersten Grund des Unterschiedes der Gegenenden im Raume." Dieselbe ist hauptsächlich dadurch interessant, daß sie die Schwierigkeiten des Richtungsproblems, wenn auch nicht direkt von einem solchen gesprochen wird, klar zu Bewußtsein bringt. Sie behandelt es unter Bezugnahme auf die Notwendigkeit der Annahme eines absoluten Raumes, also in jenem Zusammenhang, in dem es ja seit jeher die Kernfrage gebildet hat.

Ich muß es mir versagen, in meinen heutigen Ausführungen auf die Bedeutung des Richtungsbegriffs für die Mathematik und Physik, auf die Rolle, die der Richtungsbegriff in diesen Disziplinen spielt und spielen kann, näher einzugehen. Eine Untersuchung hierüber muß ich Berufeneren überlassen. Namentlich muß ich es Berufeneren überlassen, zu entscheiden, ob in den exakten Wissenschaften durch erkenntnistheoretische Bearbeitung des Richtungsbegriffes voraussichtlich mehr Konfusion beseitigt oder verursacht werden dürfte. Ich habe es mir hier nur zur Aufgabe gesetzt, die allgemein philosophische Bedeutung des Richtungsbegriffs mit einigen Schlaglichtern zu beleuchten. Hierfür genügt es wohl, wenn ich zur Jllustration seiner naturphilosophischen Bedeutung darauf verweise, wie unentbehrlich der Richtungsbegriff schon in den physikalischen Grundaxiomen ist und weiters daran erinnere, daß die größten Naturforscher sich genötigt sehen, dort, wo sie Aussagen über die allgemeinsten Voraussetzungen machen, auf das Moment der Richtung besonderen Wert zu legen, wie das z. B. die Wirbelhypothese KELVINs zeigt, der zu beweisen sucht, daß nur dann in der Naturforschung Widerspruchslosigkeit herrsche, wenn man annehme, daß die Ureinheiten von Ewigkeit her in Wirbelbewegung schwingen. Eine Aussage über die Richtung des Geschehens ist auch die Behauptung, daß jede Kraft in einer unendlichen Geraden wirke, daß also die Richtung der Ureinheit aus sich selbst heraus für alle Ewigkeit fest determiniert ist, welche Annahme bekanntlich dem Trägheitsgesetze zugrunde liegt. Auch das Prinzip des kleinsten Zwanges, die Auffassung also, daß jede Kraft in der Bahn des geringsten Widerstandes verläuft - und das ist vielleicht das allerwesentlichste Moment - ist eine Aussage über die Richtung der Bewegung. Ebenso das Entropieprinzipg, worauf wir ja schon verwiesen.

Wie bedeutsam das Richtungsmoment für alle Wissenschaft ist, zeigt weiters mit besonderer Evidenz die Gegenüberstellung des  dualistischen  und des  monistischen Kausalbegriffs.  Der Kausalbegriff ist bekanntlich einer der ältesten Begriffe der exakten Wissenschaft. Er erhielt zu einer Zeit sein charakteristisches Gepräge, als man über das Verhältnis von Kraft und Stoff weitaus primitivere Anschauungen hatte, als in unseren Tagen. Dieser Umstand bestimmte auch seine bisherige Funktion. Die Weltanschauung des Dualismus, in der der Kausalbegriff seine intensivste Formung erhielt, glaubte noch an einen Anfang aller Bewegung nahm noch an, daß das Ruhende gleichsam durch einen Stoß von außen in Bewegung geraten sei.  Dieser Stoß von außen zittert im Kausalbegriff der Gegenwart noch immer nach.  Nimmt man an, daß die Atome ursprünglich in Ruhe verharrt haben und dann erst durch einen Stoß in Bewegung gerieten, dann muß in Konsequenz dessen, theoretisch zumindest, die Möglichkeit vorliegen, jedes bewegte Atom bis zu dem Moment der ursprünglichen Ruhe zurückzuverfolgen. Ganz anders liegen die Verhältnisse, wenn man sich das All als ein seit Urewigkeit her bewegtes denkt. Der Monismus, der Kraft und Stoff identifiziert, sei es nun, indem er Kraft und Stoff als die zwei Seiten eines und desselben ansieht, sei es, daß er die Materie in den Energiebegriff aufzulösen sucht, ist naturnotwendig mit einem Kausalbegriff ganz anderer Art verbunden, als mit jenem Kausalbegriff, der aus dem Dualismus hervorwächst. Der Monismus kann konsequenterweise nicht anders, er muß von einer anfanglosen Bewegung seinen Ausgang nehmen. Für ihn lautet die Grunderkenntnis: Im Anfang war die Bewegung und zwar die bestimmt gerichtete Bewegung. Wenn aber die bestimmt gerichtete Bewegung der Anfang aller Dinge ist, dann hat jede winzigste Ureinheit von allem Anfang an Eigenbewegung und zwar bestimmt gerichtete Eigenbewegung und alles Geschehen ist nur Kombination von bestimmt gerichteter Eigenbewegung. Die Ursächlichkeit eines Vorgangs erforschen, heißt dann die Ursachen des Richtungswechsels des Geschehens begreifen und damit ist gesagt: bei jedem Vorgang ist jeder Teil in seiner Bewegung nicht nur durch seine Umgebung, sondern auch durch sich selbst bestimmt. Die Kausalität wirkt somit bei dieser Auffassung nicht nur von rückwärts, von außen her, sondern sie steckt von allem Anfang an als bestimmte Intensitäts- und Richtungsgröße in den Kräften selber und ist darum von rückwärts her nicht vollends zu erklären.

Ist man also der Meinung, aller Anfang war die gerichtete Bewegung oder war die gerichtete Energie und begreift in diesem Sinne das Weltganze als ein System von Richtungselementen, dann ist jede Ureinheit von Urbeginn her im Besitz eines Quantums von Energie bestimmter Richtung, der sich kausal nicht weiter ableiten läßt. Ja, man könnte direkt sagen, auf die Ureinheit angewendet, stimmt der Satz, daß Eigentum Diebstahl ist, nicht. Die Krafteinheit besitzt freilich kein Eigentum, sie ist Eigentum, richtiger sie ist  Eigentum.  Und nebenbei bemerkt, haben diejenigen, welche den Satz predigten, daß Eigentum Diebstahl sei, auch nur jenes Eigentum als solchen gebrandmarkt, das nicht Eigentum seinen Ursprung verdankt. Der Monismus begreift bekanntlich die Ureinheit als Krafteinheit und muß daher gleichfalls behaupten, daß ein Geschehen kausal erklären, nichts anderes heißen kann, als die Wechselwirkung zwischen den Einheiten begreifen. Hat jede Ureinheit sozusagen ihre angeborene Richtungsintensität, dann kann es nur Aufgabe der kausalen Forschung sein, die Abänderung, welche die ursprüngliche Richtungsintensität durch die Einwirkung der anderen Richtungsintensitäten erfährt, exakt festzustellen, aber sie darf nicht in den Irrtum verfallen, bei der Betrachtung der Wirkung von  A  auf  B  zu vergessen, daß eigentlich eine gemeinsame Arbeit von  A  und  B  vorliegt. Und tatsächlich können wir auch finden, daß alle modernen Erörterungen des Kausalbegriffs die Kausalität als Wechselwirkung in diesem Sinne betrachten. Trotzdem finden wir aber in der Praxis vielfach eine Anwendung des Kausalbegriffs, welcher dieser Einsicht nicht entspricht, wo mit der Kausalität so operiert wird, als könnte ein Vorgang, der im Zusammenwirken von  B  und  A  besteht, allein von  B  aus vollkommen erklärt werden.
LITERATUR - Rudolf Goldscheid, Der Richtungsbegriff und seine Bedeutung für die Philosophie, Annalen der Naturphilosophie, Bd. 6, Leipzig 1907