ra-2ra-2 Sozialismus und soziale BewegungDie Quintessenz des Sozialismus    
 
GERTRUD BÄUMER
Die soziale Idee
[1/4]
    Einführung
Das soziale Problem der Gegenwart
Der humane Individualismus
H e r d e r
G o e t h e
S c h i l l e r

"Den großen Massen fehlt eben das, was Goethe als das höchste Glück preist, das glückliche Verhältnis ihrer Arbeit zu ihren Fähigkeiten und Kräften. Denn so arm ist niemand an Fähigkeiten und Kräften, daß sein Leben in den paar Handgriffen, aufzugehen vermöchte, die unsere moderne Volkswirtschaft einer großen Zahl von Menschen nur zu tun geben kann. Im Handwerk verkörperte sich persönliche Kultur direkt in wirtschaftliche Werte; in je schönerem Gleichgewicht beim Arbeiter die geistigen und technischen Fähigkeiten standen, umso vollkommener wurde die Arbeit, die er lieferte. Heute ist nicht mehr die harmonisch und allseitig entwickelte Persönlichkeit wirklich nutzbar, sondern nur die Teilleistung, der Spezialist. Und wer es in einem noch so geistlosen Handgriff zu einer hohen mechanischen Fertigkeit bringt, ist für den Arbeitsprozeß brauchbarer als ein Mensch, der in sich selbst einen Wert darstellt, ein Mensch von jener Beschaffenheit, wie Goethe in den Wanderjahren den Handwerker schildert."


Einführung

1. Inhalt und Umgrenzung der Aufgabe

Die Geschichte der "sozialen Idee" im 19. Jahrhundert soll die Aufgabe dieses Buches sein. Um für diese Aufgabe einen sicheren Boden zu gewinnen, ist es notwendig, den Inhalt des Begriffes "soziale Idee" vorher fest zu umgrenzen.

Nach der Art, wie die Worte "soziale Gedanken", "soziale Bewegung", "soziale Frage" gewöhnlich gebraucht werden, kann nämlich unter "sozialer Idee" sowohl zu viel als auch zu wenig umfaßt werden. Zu wenig, indem in diesem Begriff ausschließtlich die Antriebe gedacht werden, die in der Fürsorge für die unteren Volksschichten wirksam sind oder auch in dem man allein die Tatsachen des Wirtschaftslebens ins Auge faßt und die innere Stellung der Gesellschaft dazu betrachtet. Zu viel aber wieder, indem man Politik und Volkswirtschaft, staatsrechtliche und nationalökonomische Theorien ihrem ganzen  Inhalt  nach in den Begriff der "sozialen Idee" mit hineinzieht.

Hier ist weder das eine noch das andere gemeint. "Soziale Idee" bedeutet vielmehr  die Anschauung vom Wert der gesellschaftlichen Organisation Wonach bestimmt sich ihr Wert? Nicht nach dem Grad der wirtschaftlichen Wohlfahrt, der bei irgendeiner sozialen Ordnung erreichbar ist. Auch nicht danach, ob diese Ordnung an sich irgendeinem patriarchalischen oder demokratischen Ideal des Gemeinschaftslebens entspricht. Beides spricht ohne Zweifel mit, aber weder das eine noch das andere, noch auch beide zusammen bilden das höchste Kriterium, an dem der Wert irgendeiner sozialen Ordnung gemessen werden kann. Dieses Kriterium liegt vielmehr in der Sphäre der von einer Gemeinschaft erzeugten  Kultur.  Wir verstehen darunter die Zusammenfassung aller von der Gesamtheit geschaffenen Werte: der ethischen, künstlerischen, wissenschaftlichen, technischen. Der geistige Kosmos, den eine Gesellschaft über sich aufbaut, jenes Ganze von Sitten, Gedanken, Motiven und Leistungen, das sie aus sich herausgestellt hat als ihr geschichtliches Werk, das ist die Frucht, an der man sie erkennen kann.

Wenn die Maßstäbe zur Bewertung einer gesellschaftlichen Organisation aus der unter ihrer Geltung erzeugten  Kultur  zu nehmen sind, so wird klar, daß auch unter "gesellschaftlicher Organisation" nicht nur etwa die  Gliederung,  die Struktur der Gesellschaft ansich und ihr Ausdruck im Recht zu verstehen ist, sondern der Organismus der gemeinsamen Leistungen. Also nicht nur ihre Anatomie, sondern auch ihre Physiologie - oder, um den soziologischen Ausdruck zu gebrauchen, der dasselbe sagt: nicht nur ihre Statik, sondern auch ihre Dynamik. Die Wechselwirkung der gesellschaftlichen Schichten aufeinander, die Zusammenhänge der beruflichen Schichtung oder der staatlichen Organisation oder der Produktions- und Wirtschaftsweisen mit den großen Kultursystemen von Sitte, Kunst, Religion, Wissenschaft, die Beziehungen zwischen individuellen Entwicklungsmöglichkeiten und sozialen Gesetzen, der Spielraum, der der Individualität für ihre Zwecke im Rahmen der gesellschaftlichen Ordnung jeweils gegeben wird und das Fließen seiner Grenzen, diese noch viele andere Tatsachen gehören zum Wesen der gesellschaftlichen Organisation. Dagegen würde das Detail der wirtschaftlichen Verhältnisse nicht an und für sich, sondern nur als Bedingung und Grundlage des gesellschaftlichen Lebens Berücksichtigung verlangen. Und die politische Struktur, die staatliche Ordnung im engeren Sinne würde nur in Betracht kommen, soweit sie Ausdruck sozialer Ideen und Mittel oder Schranke ihrer Verwirklichung ist.

In einer "sozialen Idee" steckt also ein kritischer und ein schöpferischer - man kann auch sagen ein analytischer und ein synthetischer Prozeß: nämlich ein Urteil über die Bedeutung einer Gesellschaftsordnung für die Kultur und ein Programm des Seinsollenden in sozialer Hinsicht, ein Ideal der Beschaffenheit, die unter gegebenen Verhältnissen die gesellschaftliche Ordnung haben müßte, um alle ihr möglichen Wirkungen auf die Kultur auszuüben. Man kann das auch so ausdrücken: die soziale Idee umfaßt die Erkenntnis eines Formprinzips im sozialen Leben und die Umwandlung dieses Prinzips in ein praktisches Leitmotiv. Wenn es sich hier um eine systematische, prinzipielle Untersuchung der sozialen Idee, um eine kritische Begriffsbestimmung handelte, so wäre natürlich zwischen diesen beiden Bedeutungen scharf zu unterscheiden. Aber das ist nicht der Zweck dieser Darstellung. Sie will vielmehr in großen Zügen die Bildung und Umbildung, die mannigfache Formulierung der sozialen Idee verfolgen. Sie will dabei die Beziehungen zum Lebensgefühl, der Kultur der verschiedenen Generationen betonen und vieles hereinziehen, was als Impuls wichtig und bedeutsam gewesen, ohne daß es zu Wissenschaft geworden ist. Es kann deshlab nicht wohl der Darstellung eine begriffliche Schärfe gegeben werden, welche die Sache selbst nicht aufzeigt.

In dieser Totalität ihres Inhaltes hat die "soziale Idee" zwei Heimatstätten: die Philosophie und das tägliche Leben. An der einen Stelle wird ihre Totalität wissenschaft und theoretisch erfaßt, an der anderen tritt sie praktisch in die Erscheinung. Denn da wir alle in der Gemeinschaft leben, so wird unser Verhalten, die Bestimmung unserer Zwecke und die Einrichtung unseres Lebens in irgendeiner Weise von einer "sozialen Idee" beherrscht. Sie mag subjektiv unzulänglich, lückenhaft, widerspruchsvoll sein, sie enthält doch irgendwie alle Elemente, die zu ihrem Wesen gehören. Zur Lösung aller praktischen Lebensprobleme also ist eine soziale Idee unerläßlich. Je klarer und bestimmter sie ist, umso einheitlicher wird ihr Lebensplan sein. Ihre letzte Klärung aber kann die soziale Idee nur durch die Philosophie finden, weil sie nur dort aus dem Zusammenhang einer einheitlichen Theorie der Werte entwickelt werden kann. Den Wirklichkeitssinn der Gegenwart mag das zunächst befremden. Ihm scheint sie damit von der Wirklichkeit abzurücken in das Reich der Abstraktion, wo sie ihre praktische Brauchbarkeit notwendig verlieren muß. In der Tat aber liegt die praktische  Unbrauchbarkeit  bestimmter in unserer Zeit einflußreicher Ideen darin, daß sie einseitig von der Politik oder von der Nationalökonomie, von der Kunst oder von der Ethik geschaffen und unberechtigterweise auf das Ganze der sozialen Zusammenhänge ausgedehnt sind.

In der unübersehbaren Fülle der Lebensbeziehungen, die der sozialen Idee eingeordnet werden müssen, liegt es begründet, daß auch der Philosophie die Lösung ihrer Aufgabe nur immer annähernd und innerhalb bestimmter Grenzen gelingt. Der Unendlichkeit der Wirkungen gegenüber, die von den Faktoren des geschichtlichen Lebens ausgelöst werden, sind ihre Lösungen immer nur relativ gültig. Sie stellen immer nur die Zusammenfassung einer bestimmten  Gruppe  von erkannten Tatsachen und Gesetzen unter ein soziales Formprinzipg dar, auch wenn dabei eine Totalität prinzipiell angestrebt ist. So wie sich von einem Aussichtspunkt aus bestimmte Teile der Landschaft dem Auge entziehen, so sieht der Denker, je nach der philosophischen Warte, auf der er steht, das Relief der sozialen Zusammenhänge anders.

Die ausschlaggebende Unterscheidung, die durch die Wahl des philosophischen Standpunktes im Aufriß der sozialen Idee zustande kommt, ist immer noch die zwischen der  individualistischen  und der  sozialistischen  Betrachtung. Zwar entstehen auch durch andere Grundvoraussetzungen der philosophischen Auffassung bestimmende Unterschiede, z. B. durch materialistische oder idealistische Ausgangspnkte, aber hinsichtlich der sozialen Idee schaffen sie nicht so scharfe und bestimmte Unterscheidungen wie die zwischen Individualismus und Sozialismus. Darum ist diese als Prinzip der Einteilung für die folgende Darstellung gewählt.

Individualismus und Sozialismus sind nicht eigentlich einander auschließende, sondern miteinander korrespondierende Auffassungen des Gemeinschaftsproblems, insofern nämlich, als weder die eine noch die andere Form ganz rein auch nur darstellbar wäre. In beiden stecken immer in irgendeiner Weise die Elemente zu ihrem Gegenteil und in irgendeiner Fortbildung kann aus jeder individualistischen eine sozialistische Theorie gemacht werden und umgekehrt. Es handelt sich dabei immer nur darum, auf welche Seite bei der Betrachtung des Gemeinschaftsproblems der Wertakzent gelegt wird. Darum ist auch die chronologische Folge der beiden System keineswegs so, daß etwa das eine das andere durchaus ablöst. Vielmehr gehen Individualismus und Sozialismus in zwei Strömen nebeneinander her und man kann zuweilen beobachten, wie der eine Strom auch den anderen zum Schwellen bringt. Die folgenden Kapitel werden für beide Anschauungsweisen des Gemeinschaftsproblems je eine Entwicklungslinie durch das 19. Jahrhundert ziehen und zwar für jede besonders, um dadurch ihr Wesen in historischer Erscheinung und systematischer Durchbildung möglichst klar hervortreten zu lassen.

Dabei soll auf wissenschaftliche Vollständigkeit kein Gewicht gelegt werden, denn dieses Buch, aus einer Bemühung zur Popularisierung der Wissenschaft hervorgegangen, ist nicht für den Soziologen und Fachphilosophen, sondern für alle bestimmt, die über das soziale Problem nachdenken, denen es als Frage der Weltanschauung zu schaffen macht. Es soll den großen Kampf der sozialen Prinzipien nicht schildern, wie er sich in abstrakter philosophischer Formulierung, nach Art einer gelehrten Disputation, ausnimmt, sondern als ein Ringen um drängende, konkrete Lebensprobleme, um Richtlinien für die Auffassung und Gestaltung der geschichtlichen Welt.


2. Das soziale Problem der Gegenwart

Die Genugtuung, mit der unser Jahrhundert "das soziale" genannt wird, könnte zu der Annahme verleiten, als hätten wir heute eine klare, eindeutige und befriedigende Antwort auf die mannigfachen Fragen des Gemeinschaftslebens, einen festen Maßstab für seine Werte und einen sicheren Pflichtbegriff für das ethische Verhältnis: der Einzelne und die Gesamtheit gefunden. Als unterschiede sich durch eben diesen Besitz unsere Zeit von anderen, die vergeblich oder auf Irrwegen oder gar nicht nach dieser Richtschnur durch das Chaos gesellschaftlicher Zusammenhänge und Wechselwirkungen gesucht hätten.

In Wirklichkeit bedeutet die eigentümliche Färbung, in der heute das Wort "sozial" als ein modernes und für das Wesen der Zeit charakteristisches Wort von Mund zu Mund geht, nichts anderes, als daß uns das  Problem  des Gemeinschaftslebens stärker zu Bewußtsein gekommen ist, weil es uns heftiger und unausweichlicher bedrängt. Die mannigfaltigen Ursachen, durch die das neunzehnte Jahrhundert bestimmt wurde, unter diesem Problem zu leiden, in seinem Zeichen zu kämpfen, sich zu entflammen und zu ermatten, sind von drei Punkten faßbar. Der Wandel der wirtschaftlichen Grundlagen und infolgedessen der sozialen Schichtungen wirkt zunächst einfach  ansich,  d. h. die bloße Tatsache gewaltiger Veränderungen setzt die alten gewohnheitsmäßig angewandten Maßstäbe sozialen Verhaltens außer Kurs und zwingt dazu, sich im Gemeinschaftsleben neu zu orientieren. Mit dieser Arbeit sind wir noch lange nicht fertig, weil die Veränderung selbst uns noch nicht zu Atem kommen ließ. Der gewaltige und in der Geschichte bisher unerhörte Abstand zwischen der alten und der neuen Gesellschaft würde aber allein die Aufgabe einer sozial-ethischen Parallelschöpfung nicht so schwer machen, wie sie ist. Es kommt hinzu, daß die Veränderung ihrem Wesen nach zugleich eine ungeheure Komplizierung ist. Eine Steigerung immer vorhandener Konflikte ins Riesenhafte. Denn dieser Wandel schafft die "Masse", den Großstaat, man kann auch sagen: die Groß- Gesellschaft,  weil es dabei nicht auf die geographischen Grenzen ankommt, sondern auf die mächtige Entfaltung der korporativen Gliederung des Volkslebens. Die "Masse" bedeutet zugleich - und in einem Ton von Geringschätzung, den das Wort für uns angenommen hat, liegt das ausgedrückt - nnicht nur als Zahlbegriff, sondern auch als Wesensbegriff einen Gegensatz zur Persönlichkeit: Ihr Typus ist der durch unpersönliche, mechanische Arbeit schablonisierte Mensch. Zu der Tatsache und dem  Wesen  der sozialen Umwälzung kommen schließlich, als eine dritte Gruppe von Ursachen, weshalb uns das soziale Problem heute mehr zu schaffen macht, bestimmte  Folge erscheinungen, die sie gehabt hat. Unter diesen ist ohne Zweifel die mit dem modernen Verkehrswesen ermöglichte Verbreitereung der sozialen  Kenntnisse  die wesentliche. Wir  wissen  in der modernen Gesellschaft mehr voneinander als früher, uns bleibt deshalb nichts vom Schicksal der anderen erspart. Der dem Aufschrei eines Kranken vergleichbare Verzweiflungsausbruch RUSKINs in "Fors Clavigera" gibt von de Qual dieser modernen Allgegenwart der sozialen Nöte Zeugnis:
    "Da liegt eine kleine graue Herzmuschel, die ich neulich im Staub der Insel Santa Helena aufgelesen habe und eine glänzend gefleckte Schnecke vor mir, die ich im trockenen Sand des Lido aufgescharrt habe und ich wollte mich eben daran machen, sie in aller Gemütsruhe zu zeichnen und zu beschreiben. Alle meine Freunde sagen mir ja, das sei mein Geschäft. Und warum sollte ich daran nicht denken und glücklich sein dürfen? Ach, leider sind mir, Ihr klugen Freunde, zu wenig von all jenen Dingen, an die ich zu denken habe, erlaubt, denn auf jener grünlichen Flut, die wirbelnd an meiner Türschwelle vorüberrauscht, treiben haufenweise Leichname herum und ich muß, da ich sie ja nicht retten kann, mein Mittagsmahl stehen lassen, um sie zu begraben..."
Und in diesem übermächtigen Andrang des sozialen Problems stehen wir nicht wissend und kurssicher, sondern zweifelnd, ratlos und suchend. Nicht, daß wir daran verzweifeln, es zu  erkennen:  die Mittel der sozialen Erkenntnis haben sich vermehrt und in einer rasch sich entfaltenden Sozialswissenschaft ist ihre Benutzung immer sicherer Geworden. Aber in der  Bewertung  und darum auch in der praktischen Stellung zu den Fragen der sozialen Verantwortlichkeit ist die Gegenwart zweifelnder und schwankender als irgendeine Zeit. Sie weiß nicht, was in diesen Dingen gut und böse ist. Politik und Nationalökonomie können hier nicht helfen; überhaupt keine Einzelwissenschaft. Denn als praktisches Lebensproblem des Einzelnen ist sein Verhalten zur Gesamtheit ja nicht etwas, das sich nach Fachgebieten gliedern und einzeln erfassen ließe. Es ruht vielmehr in einer Gesamtanschauung von der sozialen Gemeinschaft, der wir angehören, von ihrem Wesen, Wert, ihren Ansprüchen an uns und andere, nach allen Richtungen hin, in denen ästhetische, ethische oder Erkenntniswerte geschaffen werden können. Wir gestalten unser Leben nach einem Gebot, in dem in irgendeiner Art von all diesem etwas steckt. Und wir empfinden es als Aufgabe, uns dieses Gebot zur Idee zu klären, um Form und Festigkeit in unser Dasein innerhalb der Gesellschaft zu bringen, unsere Ziele zu ihren Zielen, unsere Arbeit zu ihrer Arbeit in eine sinnvolle und geordnete Beziehung zu bringen. Und eben hierin, in der Gestaltung eines praktischen Lebensideals, in dem doch die Frage Individuum und Gesellschaft irgendwie gelöst sein muß, scheitern die Menschen der Gegenwart. Zwischen individualistischen und sozialen Motiven mannigfachster Färbung hin und her gerissen, hat sie noch zu keiner einheitlichen und begründeten "Sozialethik" und Kulturpolitik gebracht. Statt dessen gebiert jeder Tag aufgeregte und kurzatmige Traktate über dieses oder jenes Einzelproblem unserer Kultur, aus denen positiv weiter nichts hervorgeht, als die große Sehnsucht nach einer das individuelle und soziale Dasein in sich verschmelzenden und aufhebenden Einheit und ein unglückliches Bewußtsein der Zerrissenheit und Planlosigkeit der Motive, die uns beherrschen. Die Wirkung dieser zahllosen Essays, Betrachtungen, Vorträge über die moderne Kultur bzw. Unkultur ist für die seelische Verfassung des modernen Menschen ebenso bezeichnend wie ihr Inhalt. Sie ist eine Jllustration des GOETHE-Worts: "Wer sein Herz bedürftig fühlt, findet überall einen Propheten": Nur daß an diesen Propheten der Eintagswert ihrer Botschaft dadurch gerächt wird, daß ihre Anhänger von heute  morgen  einem anderen anhangen, von dem sie gar nicht merken, daß er verbrennt, was sie angebetet haben. Gegenüber der Stakkatofolge entgegengesetztester Überzeugung, in der sich das geistige Leben gerade der aufgewecktesten und vorurteilslosen Menschen heute vielfach abspielt (heute NIETZSCHEs Herrenmoral und morgen TOLSTOIs Liebesanarchie, übermorgen HÄCKELs Deszendenztheorie [Abstammungstheorie - wp] und den Tag darauf F. W. FÖRSTER oder MAETERLINCK) gewinnt die geistige Physiognomie derer, die in ihren Meinungen traditionell gebunden und eingeschränkt, aber doch wenigsten konsequent und einheitlich sind, so sehr, daß sich heute schon unter den Gebildeten eine rückläufige Bewegung zu konservativen und orthodoxen Anschauungen vollzieht. So wenig diese ehrwürdigen und hergebrachten Weltanschauungen imstande sind, den Inhalt der Gegenwart in sich zu fassen und heute noch "die Ordnung der Dinge zu gestalten", so haben sie doch den Vorzug der gefestigten Form, eines geistigen Stils und einer in jahrhundertelanger Behauptung gewordenen Sicherheit ihrer Wertideen.

Aber wir wenden uns den Erscheinungsformen des modernen sozialen Problems selbst zu. Worin liegt das problematische Wesen unserer Kultur? Welches sind die neuen Bedingungen, die durch ihre wirtschaftlich-sozialen Grundlagen für das Wachstum geistiger Werte geschaffen sind?

Es soll nicht mit etwas Negativem begonnen, sondern der unbestreitbare Gewinn des 19. Jahrhunderts an die Spitze gestellt werden: der Sieg der Technik. Wir sind durch die Skepsis, die sich von ethischer, ästhetischer und sozialpädagogischer Seite her gegen den Wert dieser zivilisatorischen Errungenschaft erhoben hat, heute geneigt, sie zu unterschätzen. Und während es noch vor zwei Jahrzehnten richtig war, hinter die übliche Verherrlichung des Maschinenzeitalter ein Fragezeichen zu machen, dürfen wir heute wieder kräftig unterstreichen, welche  Mittel  für Kulturzwecke wir durch die Technik in die Hand bekommen haben. Der Spielraum unseres Lebens und unserer Interessen ist unendlich erweitert, alle Kulturgüter sind zugänglicher geworden; durch das moderne Verkehrswesen ist eine Übersichtlichkeit aller Lebensverhältnisse geschaffen, die der Gesellschaft eine unvergleichlich größere Macht gibt, die Ordnung der Dinge zu gestalten. Es ist gar keine Frage, daß dadurch unsere Kultur in mannigfacher Weise einen bedeutenderen, kühneren Zuschnitt bekommen hat. An den Erinnerungen von MAX EYTH oder den Briefen THEODOR FONTANEs kann man das Lebensgefühl der Generationen nachempfinden, die dieses Sichausweiten aller Verhältnisse mitgemacht haben. Der Jubel und die Ergriffenheit unserer jüngsten Zeit über das Luftschiff, die Heldenverehrung, die man dem Grafen ZEPPELIN zollte, gilt doch nicht materiellen Aussichten, sondern der ethischen Kraft, die auch in den Siegen der Technik zum Ausdruck kommt und der zivilisatorischen Bedeutung des Moments, in dem der Mensch den Widerstand eines Elements bricht und in das Reich der Natur eine neue Machtsphäre hineinschiebt.

Aber während die Erzeugnisse der menschlichen Arbeit vollkommener und zahlreicher, die technischen Methoden immer zweckmäßiger und rascher werden, wird die Arbeit  ansich  immer wertloser. Bei diesem "Fortschritt" der Technik hat man die  Dinge  im Auge gehabt und die Menschen, die diese Dinge brauchen, nicht  die  Menschen, die sie  herstellen.  Dieser ganze Fortschritt ist darauf gerichtet, den Mechanismus der Bedürfnisbefriedigung leichter, rascher, ergiebiger spielen zu lassen und der Mensch, der schaffend in diesem Mechanismus steht, ist dabei nur als Werkzeug betrachtet. Der Gedanke, daß die Kulturbedeutung, die Produktivität der Arbeit nicht nur im Gebrauchswert ihrer Erzeugnisse, sondern auch in ihr selbst, in ihrem Glückswert für den Schaffenden gesucht werden muß, hat bis jetzt keine Rolle in dieser Entwicklung gespielt. Der Fortschritt der Technik liegt nur - oder fast nur - in der Steigerung der materiellen Produktivität der Arbeit, er ist ein  Rückschritt,  wenn man in Betracht zieht, was die Arbeit einst an Möglichkeiten persönlicher Kultur bot und was sie heute bietet.

An der Schwelle unseres modernen Zeitalters stehend, hat der alternde GOETHE in Wilhelm Meisters Wanderjahren das  Handwerk  als die glücklichste Grundlage einer einheitlichen persönlichen Kultur gepriesen. In der Idylle vom heiligen JOSEPH, die er den Wanderjahren, symbolisch ihren Inhalt zusammenfassend, vorausstellt, zeigt er, wie hier aus dem  Tun  des Menschen, aus seiner  Arbeit,  in vollkommen harmonischer Gestaltung seine ethischen Anschauungen, seine künstlerischen Interessen und im letzten Grund auch die Form seines religiösen Lebens herauswachsen, alles zusammengefaßt durch einen engen aber durchaus geschlossenen Ring, innerhalb dessen alles sein Recht und seine Besonderheit gewinnt. "Häuslicher Zustand", so sagt er, "auf Frömmigkeit gegründet, durch Fleiß und Ordnung belebt und erhalten, nicht zu eng, nicht zu weit, im glücklichsten Verhältnis zu den Fähigkeiten und Kräften; hier ist Beschränktheit und Wirkung in die Ferne, Umsicht und Mäßigung, Unschuld und Tätigkeit." Dieser geschlossene Lebenskreis, der noch zu GOETHEs Zeit in Tausenden verschiedener Formen eine vielleicht in ihren gegenständlichen Leistungen einfache, aber gesunde und wurzelkräftige Kultur umschloß, ist heute zerrissen. Die handwerkliche Arbeit, deren Kulturwert eben darin beruthe, daß sie Erfindung und Tat, Geistiges und Technisches, Phantasie und Sinne gleichmäßig befriedigte, ist in ihre Elemente auseinandergesprengt. Das Geistige, das in ihr steckt, rückt im modernen wirtschaftlichen Produktionsprozeß an die eine Zentrale; auf der anderen Seite stehen eine lange Reihe mechanisierter Ausführungsarbeiten. Geist und Erfindung werden mehr und mehr aus der Peripherie unserer Volkswirtschaft zurückgezogen. An der Zentrale der intellektuell hochentwickelte Ingenieur, der erfindet - und in unabsehbare Fernen von ihm gerückt die Massen der ausführenden Arbeiter, von denen nur noch Maschinenleistungen verlangt werden, die, wie RUSKIN sagt, ihre Glieder zu Treibriemen und ihre Finger zu Feilen machen, die ihre Seele während der Tagesarbeit zum Schweigen und zum Verstummen bringen müssen, aus dem sie vielleicht auch nachher nicht mehr die Kraft hat, zu erwachen. Diesen großen Massen fehlt eben das, was GOETHE als das höchste Glück preist, das glückliche Verhältnis ihrer Arbeit zu ihren Fähigkeiten und Kräften. Denn so arm ist niemand an Fähigkeiten und Kräften, daß sein Leben in den paar Handgriffen, aufzugehen vermöchte, die unsere moderne Volkswirtschaft einer großen Zahl von Menschen nur zu tun geben kann. Im Handwerk verkörperte sich persönliche Kultur direkt in wirtschaftliche Werte; in je schönerem Gleichgewicht beim Arbeiter die geistigen und technischen Fähigkeiten standen, umso vollkommener wurde die Arbeit, die er lieferte. Heute ist nicht mehr die harmonisch und allseitig entwickelte Persönlichkeit wirklich nutzbar, sondern nur die Teilleistung, der Spezialist. Und wer es in einem noch so geistlosen Handgriff zu einer hohen mechanischen Fertigkeit bringt, ist für den Arbeitsprozeß brauchbarer als ein Mensch, der in sich selbst einen Wert darstellt, ein Mensch von jener Beschaffenheit, wie GOETHE in den Wanderjahren den Handwerker schildert.

Zum banalisierten Inhalt der Arbeit kommt die Erstarrung ihrer äußeren Form. Die Konkurrenz zwingt, den Herstellungsprozeß in allen seinen Teilleistungen immer feiner durchzuarbeiten. Eins greift immer genauer in das andere ein; um die Intensität der Arbeit zu steigern, wird ein Arbeiter vom andern in immer überlegterer Weise abhängig gemacht und über den Menschen, die zwischen stampfenden Kolben und sausenden Treibriemen ihre Handgriffe ausüben, waltet gespenstisch ein System der Arbeitsteilung, das ihnen ihre Leistung mit derselben mechanischen Sicherheit abverlangt, wie ein Zahnrad das andere treibt.
LITERATUR: Gertrud Bäumer, Die soziale Idee in den Weltanschauungen des 19. Jahrhunderts - Grundzüge der modernen Sozialphilosophie, Heilbronn 1910