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EDUARD ZELLER
Über den Einfluß des Gefühls
auf die Tätigkeit der Phantasie


"Wird die Überzeugung von der Realität eines von der Phantasie geschaffenen Bildes oder einer von ihr hergestellten Kombination durch eine unvordenkliche Überlieferung, allgemeine Übereinstimmung, lebenslängliche Gewöhnung, vielleicht auch durch ihren Zusammenhang mit anderweitigen Interessen und Vorurteilen befestigt, so begreift man, daß sie in zahllosen Fällen zu etwas so unbezweifeltem und unantastbaren wird, wie es der Glaube an die Götter des eigenen Volkes, an die Wirkungen der überlieferten Kultushandlungen, Gebete und Beschwörungen, an Astrologie und Orakel, an alle den tausendfältigen Aberglauben zu sein pflegt, der schließlich immer wieder darauf zurückkommt, daß man einen objektiven Kausalzusammenhang annimmt, wo nur eine subjektive Ideenassoziation vorliegt, reale Wirkungen von Vorgängen, Worten, Gebärden und Handlungen erwartet, die an das Erwartete vielleicht erinnern, aber nicht das geringste dazu beitragen können es herbeizuführen. Mag ein solcher Glaube den Tatsachen der Erfahrung noch so handgreiflich widersprechen: wenn der Wunsch, daß er wahr sei, lebhaft genug ist, wird sich auch die Überzeugung einstellen, und auch an Erzählungen, die sie bestätigen, wird es nicht fehlen. So groß ist bei den meisten die Macht der Gefühle über ihre Phantasie."

Unter dem Namen der Phantasie oder der Einbildungskraft pflegt man alle die Vorstellungstätigkeiten zusammenzufassen, welche sich weder der Wahrnehmung noch dem Denken zuteilen lassen. Von jener unterscheiden sie sich dadurch, daß sie nicht aus der gegenwärtigen Einwirkung realer Vorgänge hervorgehen: weder aus der durch unsere Sinneswerkzeuge vermittelten Einwirkung der Außenwelt auf unsere Vorstellungstätigkeit, welche die äußeren Wahrnehmungen hervorruft, noch aus der Rückwirkung psychischer Vorgänge, auf welche wir die Wahrnehmungen des sogenannten inneren Sinnes, die Aussagen unseres Selbstbewußtseins, zurückzuführen haben. Als Denktätigkeiten lassen sie sich nicht betrachten, weil sie nicht, wie diese, das Wirkliche in seinem objektiven Wesen und Zusammenhang zu verstehen suchen, sondern sich mit der Vergegenwärtigung seiner Erscheinung, so wie sich diese dem anschauenden Subjekt darstellt, begnügen, weil sie sich nicht in Begriffen bewegen, sondern in Bildern, in Vorstellungen, welche ihrer Form nach den durch die äußere und innere Wahrnehmung gewonnenen gleichartig sind, und nur durch die Art ihrer Entstehung und die von dieser bedingten Eigentümlichkeiten sich von ihr scheiden. Die Phantasie liefert uns ebenso wie die Wahrnehmung Bilder einzelner Dinge und Vorgänge; aber diese Bilder entstehen uns nicht, wie die Wahrnehmungsbilder, unmittelbar durch die Einwirkung jener Dinge und Vorgänge, sondern aus uns selbst, und machen deshalb auf uns nicht den gleichen Eindruck objektiver Realität. Mag ein Erinnerungs- oder Phantasiebild dem eines von uns wahrgenommenen Gegenstandes noch so ähnlich sein, so wissen wir doch bei wachem und normalem Bewußtsein zwischen beiden wohl zu unterscheiden. Das eine nennen wir eine Wahrnehmung, das andere eine bloße Vorstellung, jenem schreiben wir eine tatsächliche, von unserem Vorstellen unabhängige Wirklichkeit zu, von diesem sind wir uns bewußt, daß es nur in unserer Vorstellung vorhanden ist und sofort verschwindet, wenn wir diese einem anderen Gegenstand zuwenden, mit einem anderen Inhalt erfüllen.

Diese Subjektivität der Phantasietätigkeit und der aus ihr entspringenden Vorstellungen bringt es nun mit sich, daß dieselben von unseren Gefühlen und Stimmungen einen stärkeren Einfluß erfahren als die Wahrnehmung und das Denken. Auch diese sind allerdings nicht unabhängig von ihnen und sie können es nicht sein. Denn alle Geistestätigkeiten, und so auch die Vorstellungsakte, erhalten den Anstoß zu ihrem Hervortreten, soweit er psychischer Natur ist, von gewissen Gefühlen. Unsere äußeren Wahrnehmungen werden uns freilich zunächst von aussenher aufgedrungen; aber die Aufmerksamkeit, deren es bedarf, um die Sinnesempfindungen scharf aufzufassen und zu deutlichen Bildern zu verknüpfen, entspringt aus dem Wunsch die Dinge kennen zu lernen, mag nun dieser selbst durch das praktische Bedürfnis, sie zu benützen oder sich vor ihnen zu schützen, oder mag er durch die bloße Neugierde, die Freude am Sehen und Hören usw. hervorgerufen sein. Das alles sind aber Gefühlszustände. Noch augenscheinlicher ist es bei der Denktätigkeit, daß sie immer durch das Gefühl eines theoretischen oder praktischen Bedürfnisses, und in ihrer höchsten Entwicklung durch die Freude am Erkennen als solche und das aus ihr entspringende Bedürfnis des Erkennens angeregt wird. Aber wenn auch gewisse Gefühle eine psychische Bedingung dieser Vorstellungstätigkeiten sind, so dürfen die letzteren doch in der Art ihrer Vollziehung und der Beschaffenheit ihrer Ergebnisse nicht von jenen Gefühlen abhängig gemacht werden. Man beobachtet vielleicht einen Gegenstand in der Erwartung, ihn so und so zu finden; aber wenn diese Erwartung getäuscht wird, darf man sich nicht einreden, daß er sich anders gezeigt habe, als er sich gezeigt hat. Man unternimmt eine Untersuchung mit dem Wunsch und der Absicht, eine Lücke seines Wissens dadurch auszufüllen, einen quälenden Zweifel zu lösen. Aber mag jener Wunsch noch so lebhaft und berechtigt sein: man darf sich durch denselben doch nicht verleiten lassen, es mit der Prüfung der Tatsachen, der Bündigkeit der Schlüsse leichter zu nehmen, das Unerwiesene für erwiesen, das Erwartete und Gewünschte für ein Notwendiges zu halten. Anders verhält es sich in dieser Beziehung mit der Phantasie. So wichtig und unentbehrlich diese Dienste auch sind, die sie, methodisch geleitet, unserer Erkenntnistätigkeit leistet, so ist doch nicht das Bedürfnis des Erkennens als solches das Motiv ihrer Tätigkeit, nicht die Erkenntnis der Wirklichkeit das Ziel, dem sie zustrebt. Ihren stärksten Antrieb bildet vielmehr der Genuß, den das Spiel der Vorstellungen durch sich selbst gewährt; und je freier sich dieses gestaltet, umso stärker ist der Einfluß, den subjektive Bestimmungen. Zustände und Bedürfnisse auf seinen Inhalt und Verlauf gewinnen. Ich will dies an den Hauptformen der Phantasietätigkeit näher nachweisen.

Alle unsere Vorstellungstätigkeiten haben ihren Stoff in letzter Beziehung der Erfahrung, der inneren und äußeren Wahrnehmung zu verdanken. Von den auf's Erkennen gerichteten weist dies die Erkenntnistheorie nach: von der Phantasietätigkeit liegt es zutage und wird von keiner Seite bestritten. Auch die kühnste und erfinderischeste Phantasie kann ihre Erzeugnisse nicht aus dem Nichts schaffen, sondern nur aus Elementen, die ihr schon vorher bekannt sind, bilden. Sie kann diese Elemente in neue Verbindungen bringen, ihre Beschaffenheit, ihre Größe, ihre Wirkungsart ändern, aber sie kann nichts absolut neues, kein Gebilde hervorbringen, das nicht aus Stoffen und nach Analogien aufgebaut wäre, die der Erfahrung entnommen sind. Die erste Tätigkeit der Phantasie und die Bedingung aller anderen ist daher das Bewahren und Wiedererzeugen der ursprünglich durch die innere und äußere Wahrnehmung gegebenen Vorstellungen, die erste Form derselben die sogenannte reproduktive Phantasie oder das  Gedächtnis

Schon hier zeigt sich aber der Einfluß der Gefühle auf die Vorstellungstätigkeit sehr bedeutend. Wenn nämlich das Gedächtnis im allgemeinen ebenso wie die Gewöhnung und Übung auf dem Gesetz beruth, daß jede psychische Tätigkeit, je intensiver sie ist umso mehr, eine Disposition zur Wiederholung derselben Tätigkeit begründet, so kommen für die Stärke dieser Disposition beim Gedächtnis - abgesehen von der Verschiedenheit der individuellen Begabung - drei Punkte als maßgebend in Betracht. Je deutlicher und je lebhafter eine Wahrnehmung ist, umso fester prägt sie sich dem Gedächtnis ein. Je länger eine Vorstellung in unserem Gedächtnis geruth hat, umso leichter verschmilzt sie mit anderen, verliert sich in sei, wird vergessen; je kürzere Zeit dagegen seit ihrem ersten Auftreten verflossen ist, je öfter, deutlicher und lebendiger sie seit demselben erneuert worden ist, umso länger und treuer wird sie bewahrt. Je fester und mannigfaltiger sie mit anderen Vorstellungen verknüpft ist, umso leichter und häufiger wird man durch diese an sie erinnert. Bei allen diesen Vorgängen spielen aber die Gefühle, die sich mit den betreffenden Vorstellungen verknüpfen, eine sehr wichtige, nicht selten die entscheidende Rolle. Schon zur  Deutlichkeit  unserer Wahrnehmungen trägt, wie bereits bemerkt wurde, das Interesse, das ihr Gegenstand für uns hat, die Bedeutung, welche unser Gefühl ihm beilegt, sehr viel bei, weil unsere Aufmerksamkeit dadurch erregt und geschärft wird. Nur in der Stärke der sie begleitenden Gefühle besteht ferner die  Lebhaftigkeit  der Wahrnehmungen; und sie gerade ist es, von der es vorzugsweise abhängt, ob ihr Bild im Gedächtnis haftet oder mit den Eindrücken, durch die es hervorgerufen wurde, aus dem Bewußtsein verschwindet. Jedermann weiß, wie Gegenstände auf die wir sonst nicht achten und an die wir nie wieder denken würden, die wir vielleicht schon lange Zeit unbeachtet gelassen haben, mit einemmal unsere Blicke auf sich ziehen und sich unserer Erinnerung fest einprägen können, sobald wir Anlaß haben, sie mi etwas, das ein Interesse, einen Gefühlswert für uns hat, mit einem für uns merkwürdigen Vorgang, einer bedeutenden oder uns nahestehenden Person in Verbindung zu bringen, sobald sich angenehme oder unangenehme Gefühle von einiger Stärke mit ihrem Bild verknüpfen. Ja man wird mit der Annahme nicht fehlgehen, daß gerade diese mit ihnen verbundenen Gefühle dasjenige sind, was unsere Erinnerungen dem Gedächtnis am festesten einprägt; denn erst durch sie werden dieselben in den Zusammenhang unseres persönlichen Lebens aufgenommen, wird ihnen eine individuelle Bedeutung für uns gegeben. Auch für die  Häufigkeit oder Seltenheit ihres Wiederauftretens  ist der Gefühlswert, den sie für uns haben, von entscheidendem Einfluß. Was uns gleichgültig läßt, wird gerade deshalb in der Regel schnell vergessen, was uns in irgendeiner Richtung tiefer erregt, geht deshalb in unseren dauernden inneren Besitz über, weil es keinen Reiz für uns hat uns mit jenem zu beschäftigen, während auf dieses durch das Interesse, das es uns einflößt, unsere Gedanken immer wieder hingelenkt werden. Dieses Interesse kann von der verschiedensten Art sein: Gefühle des Wohlgefallens und solche des Mißfallens, der Liebe und des Hasses, der Hoffnung und der Furcht, aus was für Motiven und Bestrebungen sie auch entsprungen sein mögen: aus der Wißbegierde des Forschers oder aus der Neugierde des Klatschsüchtigen, aus der Freude am Schönen oder dem Schwelgen im Häßlichen, aus Menschenliebe und Pflichttreue oder aus Eitelkeit, Ehrgeiz, Herrschsucht, Gewinnsucht. Alle diese Gefühle, wenn sie nur stark genug sind, nötigen uns, oft gegen unseren Willen, an die Gegenstände, die Menschen und die Vorgänge zu denken, an die sie sich heften, und sie frischen dadurch die Erinnerungen an dieselben immer wieder auf und geben ihr nicht selten eine Dauer, die uns selbst lästig ist und unser inneres Gleichgewicht stört. Und das gleiche gilt auch von der Verknüpfung der Vorstellungen, der sogenannten  Ideenassoziation.  Alle Gesetze der Ideenassoziation, welche die Psychologie aufzuzählen pflegt, lassen schließlich auf das eine zurückführen: daß zwei Vorstellungen dann aneinander erinnern, wenn sie bei ihrem früheren Vorkommen miteinander verbunden gewesen ind, und daß sie umso geeigneter sind aneinander zu erinnern, je fester diese Verbindung geworden ist (1); weil nämlich in derselben keine der beiden Vorstellungen vereinzelt, sondern jede nur mit der andern zusammen gedacht wird, und daher jede auf die andere als ihre Ergänzung hinweist. Welche Vorstellungen nun bei jemand miteinander in Verbindung gekommen sind, hängt von seinem früheren Vorstellungsverlauf und allen ihn bedingenden Umständen ab. Dagegen hat auf die Festigkeit und Dauer einer solchen Verbindung neben anderem auch das Interesse, das wir dem Gegenstand entgegenbringen, die Stärke der Gefühle, die den Gedanken an ihm begleiten, einen maßgebenden Einfluß. Wir kommen etwa an einen Ort, in dem wir vor Jahren verweilt, mancherlei erlebt, manche Menschen kennengelernt haben. Aber von allen diesen Erlebnissen und Begegnungen treten uns nur wenige beim Anblick des Ortes wieder vor die Seele, weil nur sie auf uns einen Eindruck gemacht haben, der stark genug war, um ihr Bild mit dem des Ortes, an dem sie sich vollzogen haben, dauernd zu verknüpfen. Mit der Erinnerung an schmerzliche oder erfreuliche, ernste oder heitere Vorfälle verbindet sich oft  die  an ganz unerheblich Nebenumstände nur deshalb, weil sie Teile, wenn auch noch so nebensächliche Teile eines Bildes sind, das sich durch seine Rückwirkung auf unser Gefühl in unser Gedächtnis eingegraben hat. Zahllose Dinge, die für sich genommen unsere Aufmerksamkeit kaum auf sich ziehen und deshalb bald vergessen würden, haften fest in der Erinnerung, sobald es gelingt, sie einem größeren Zusammenhang als wesentliche Bestandteile einzureihen. Der Wert, den sie dadurch für uns erhalten, verknüpft sie mit den übrigen Teilen der Vorstellungsreihe, so daß wir durch sie an diese und durch diese an sie erinnert werden. Der Gefühlswert unserer Vorstellungen ist so, wie an der Stärke, mit der sie sich uns einprägen und uns fortwährend beschäftigen, so auch an ihrer Assoziation und ihrem durch diese bedingten Wiederaufleben auf's wesentlichste beteiligt. Die Bedeutung dieses Moments ist aber bei den Einzelnen natürlich umso größer, je stärker der Anteil des Gefühls an ihrem Geistesleben überhaupt ist. Bei großer Innigkeit der Empfindung, wie sie vorzugsweise Frauen eigen ist, kommt es wohl vor, daß im hohen Alter die durch Gefühle befestigten Erinnerungen - das, was wir das Gedächtnis des Herzens nennen können - sich allein noch erhalten, während alle anderen allmählich versinken.

Noch unmittelbarer wirken die Gefühlszustände auf jenes  freie Spiel der Phantasie  ein, dem sich alle Menschen, allerdings aber in sehr verschiedenem Maße, nicht allein im Traum, sondern auch im wachen Zustand zeitweise überlassen. Irgendeine Veranlassung erweckt gewisse Vorstellungen, die zunächst nur dem im Gedächtnis aufbewahrten Vorstellungsvorrat entnommen sein können; an diese schließen sich andere und wieder andere, bald vollständiger bald fragmentarischer auftretend, an: durch das Zusammenfließen verschiedener, nach Ursprung und Inhalt ungleichartiger Erinnerungsbilder entstehen neue Gebilde; im Traum, im Delirium, überhaupt in allen den Zuständen, in denen das Bewußtsein aufgehoben oder stark verdunkelt ist, erhalten diese den Schein gegenwärtiger Realität, dem wachen Bewußtsein sind sie nur als Vorstellungen gegenwärtig, wenn man auch vielleicht wünscht und hofft, oder auch fürchtet, daß sie in der Zukunft zur Verwirklichung gelangen. Man könnte nun vielleicht geneigt sein, dieses ganze, anscheinend so freie, Spiel der Phantasie für nichts weiter als eine Folge der Ideenaussoziation zu halten; einen Prozeß, in dem jede Vorstellung oder Vorstellungsgruppe diejenigen hervorruft, mit denen sie durch den bisherigen Vorstellungsverlauf am stärksten und vielfachsten verknüpft worden ist. Allein das hieße eine verwickelte Erscheinung allzu einfach, einen psychischen Vorgang allzu mechanisch erklären. Die Bilder, welche unsere Phantasie erfüllen, sind nicht bloß Erzeugnisse des vorstellenden Subjekts, sondern sie wirken auch auf seine Tätigkeit zurück, geben den Anstoß zu Gegenwirkungen, welche sich in den verschiedensten Formen, als Gefühle, Willensakte, Gedanken usw. äußern können. Wollen wir uns aber hier auf diejenigen von ihnen, die wieder in Phantasiebildern bestehen, und auf den Vorstellungsverlauf als solchen beschränken, so ist doch auch er, gerade im freien Spiel der Phantasie, nicht so unabhängig vom übrigen Seelenleben, daß wir dieses für seine Erklärung beiseite lassen dürften. Was für Bilder unsere Phantasie uns vorführt und in welcher Richtung sie dieselben weiter verfolgt und gestaltet, das hängt nicht bloß vom bisherigen Gang und Inhalt unseres Vorstellens ab, sondern es ist durch unseren ganzen inneren Zustand und Charakter wesentlich mitbestimmt. Die Stimmungen, die Affekte, die Leidenschaften der Menschen, ihre Neigungen und Abneigungen, ihre Wünsche, Hoffnungen und Befürchtungen, bezeichnen der Phantasie gerade dann, wenn sie sich nicht in den Dienst einer bestimmten künstlerischen, wissenschaftlichen oder praktischen Aufgabe stellt, sondern sich in einem freien Spiel ergeht, nur umso sicherer die Gegenstände, mit denen, und den Sinn, in dem sie sich mit ihnen beschäftigen soll. Der Ehrgeizige träumt ihm Schlaf und noch viel mehr im Wachen von Auszeichnungen und Erfolgen, der Herrschsüchtige von Eroberungen, der Tatendurstige von Kämpfen, der Furchtsame von Gefahren, der Habsüchtige von gewinnbringenden Geschäften, der Genußmensch von Vergnügungen, der Verliebte vom Gegenstand seiner Neigung, der Forscher von wissenschaftlichen Entdeckungen, der Techniker von Erfindungen, der Hierarch von Ketzerverfolgung, der Fromme von der himmlischen Herrlichkeit. Was uns als ein Gut oder ein Übel erscheint, was unser Interesse in der einen oder der anderen Richtung auf sich zieht, das reizt uns ebendamit, daran zu denken, und dieser Reiz kann zu einem so starken psychologischen Zwang anwachsen, daß es uns nicht oder nur mit Anstrengung und allmählich gelingt, unsere Gedanken bei anderem festzuhalten, daß es einer strengen Selbstzucht bedarf, ums sich vor der Zerstreuung zu bewahren, der Leute von lebhafter Phantasie und Empfindung bei unkräftigem Willen oft rettungslos anheimfallen. Wie unsere Gefühle von unseren Vorstellungen erregt werden, so wirken sie ihrerseits auf diese zurück: unsere Phantasie zeigt uns solche Bilder, wie sie unserer jeweiligen Stimmung und Gemütslage entsprechen, diese spiegelt sich in jenen ab, und wenn es möglich wäre festzustellen, mit was jeder seine müßigen Stunden verträumt und welchen Teil seiner Zeit er so zubringt, so erhielte man dadurch einen höchst wertvollen Beitrag zur Kenntnis seines ganzen Charakters. Wie man daher von Ideenassoziation spricht, so könnte man mit dem gleichen Recht von einer Assoziation der Gefühle mit den Vorstellungen sprechen, infolde deren sie sich gegenseitig hervorrufen und in den Bildern, infolge deren sie sich gegenseitig hervorrufen, und in den Bildern, welche unsere Phantasie anscheinend ziellos erzeugt, nicht nur unsere augenblickliche Stimmung, sondern auch unsere ganze Empfindungsweise zum Ausdruck kommt.

Der gleiche Zusammenhang läßt sich aber auch noch weiter und bis zu den höchsten Leistungen unserer Phantasie hinauf verfolgen. Die Bilder, welche sie uns vergegenwärtigt, dienen nicht bloß zur Erinnerung an früher Wahrgenommenes und zum freien Spiel der Vorstellungen; sondern sie erhalten auch eine weitergreifende Bedeutung, indem sie uns zu Zeichen oder  Symbolen  für Vorstellungsinhalte werden, die über ihren ursprünglichen Sinn hinausgehen, erst durch Übertragung und Entlehnung in sie hineingelegt werden. Diese symbolisierende Phantasietätigkeit ist für das geistige Leben des Menschen von unabsehbarer Bedeutung. Auf ihr beruth z. B. alle Sprachbildung (denn die Worte sind nichts anderes als Zeichen der Vorstellungen) und bei derselben die Möglichkeit, durch Töne zu bezeichnen, was nicht durch's Gehör von uns vernommen worden ist, für geistige Ausdrücke zu gebrauchen, die von körperlichen, für Begriffe solche, die von sinnlichen Anschauungen entlehnt sind, aus einer kleinen Anzahl von Wurzeln durch eine unablässige Änderung und Erweiterung der Bedeutung der Wörter eine unerschöpfliche Fülle sprachlicher Bezeichnungen abzuleiten. In Bildern, deren Bedeutung eine uneigentliche, symbolische ist, bewegt sich, über die herkömmlich und nicht mehr als metaphorisch empfundene Redeweise hinausgehend, die Sprache des Dichters und großenteils auch die des Redners. Und bei dieser ganzen Bildersprache entscheidet über die Bedeutung der Bilder sehr oft weniger ihre sachliche Ähnlichkeit mit dem durch sie bezeichneten, als die Gleichartigkeit des Eindrucks, den beide hervorbringen, der durch sie erregten Gefühle. Einen symbolischen Charakter hat aber alle Poesie und alle Kunst überhaupt auch deshalb, weil die Gestalten, die sie schafft, neben den Einzelwesen, als welche sie sich uns darstellen, immer zugleich allgemeine Typen, Repräsentanten der menschlichen Natur und einzelner Menschenklassen sind, allgemein menschliche Charakterzüge, Zustände und Schicksale zur Anschauung bringen. Weil sie aber dieses Allgemeingültige nur im Einzelnen und scheinbar Zufälligen zum Ausdruck bringen, kann es durch sie nicht direkt ausgesprochen, sondern nur dadurch angedeutet werden, daß die Gefühle, die alle gleichartigen Fälle hervorrufen, durch sie besonders rein und kräftig hervorgerufen werden. Sie belehren nicht, sondern sie erfreuen, erheitern, begeistern, rühren. Ihre nächste Wirkung ist, wie nach ARISTOTELES die der Mysterien, nicht ein  mathein  [lernen - wp], sondern ein  pathein  [leiden - wp]. Die "Idee" einer Dichtung in einem Lehrsatz zu suchen, war verfehlt: ihre Idee liegt in ihrer Wirkung. Ähnlich verhält es sich mit der Mythologie und den vielen aus ihr entsprungenen oder analog gebildeten Vorstellungsgruppen. Die Wesen, von denen sich der Mensch abhängig fühlt, von deren Gunst er Schutz gegen Gefahren und Güter jeder Art erhofft, deren Ungnade er sich durch Opfer und Sühnungen abzuwenden bemüht, treten ihm zunächst als Einzelwesen, meist in menschlicher Gestalt, entgegen. Aber er legt ihnen alle die Kräfte und Eigenschaften bei, die sie seiner Meinung nach haben müssen, um ihm selbst das zu leisten, was er für sich von ihnen erwartet, und er hebt sie dadurch umso höher, je mehr sich seine eigenen Ziele veredeln und erweitern, verkörpert in ihnen seine Ideale, macht sie zu Repräsentanten von allem, was ihm Bewunderung, unter Umständen auch von dem, was ihm Schrecken und Angst einflößt. Mögen wir aber an den Erzählungen über die Götter mehr das in's Auge fassen, was sie für das religiöse Leben ursprünglich bedeuten, oder das, was bei höherer Entwicklung in sie hineingelegt wird: immer zeigt es sich, daß der Phantasie, welche diese Erzählungen geschaffen hat, ihre Wege vom menschlichen Gemüt vorgezeichnet worden sind. Daß die Mächte, von denen sich der Mensch abhängig findet, menschenähnlich gedacht werden, der Mensch seine Götter nach seinem Bild schafft, das freilich ist in der allgemeinen Unfähigkeit begründet, sich die Kräfte, deren Wirkungen man erfährt oder zu erfahren glaubt, anders als nach Analogie des menschlichen Willens vorzustellen. Aber der nähere Inhalt des Götterglaubens richtet sich durchaus nach den Bedürfnissen, deren Befriedigung man von den Göttern erwartet, seien dies nun physische, moralische oder intellektuelle. Jedes Bedürfnis kündigt sich aber in einem Gefühl an, und jede Befriedigung desselben ruft gewisse Gefühle hervor; wenn jenes die Quelle, diese das Ziel der Glaubensvorstellungen ist, so beweist das, daß die Phantasie, welche diese Vorstellungen erzeugt, im Dienst des religiösen Gefühls steht. Und ähnliches läßt sich noch in vielen Fällen wahrnehmen. Wo immer seine Bedürfnisse, seine Wünsche, seine Befürchtungen, seine Erfahrungen dem Menschen die Schranken seines Wissens und Könnens fühlbar machen, ist alsbald die Phantasie am Werk, sie zu überspringen und für das, was die Wirklichkeit versagt, in einer zweiten, selbstgeschaffenen Welt Ersatz zu geben. Daß die letztere nur aus Bildern besteht, nur im vorstellenden Geist Dasein hat, verbirgt sich dem Bewußtsein auf niedrigerer Entwicklungsstufe zwar nicht gänzlich; aber gerade wegen der Beteiligung des Gefühls an ihrer Erzeugung sind die Grenzen der beiden Welten, der wirklichen und der Phantasiewelt, noch ganz unsichere und fließende. Je lebhafter der Eindruck ist, den ein Phantasiebild macht, umso geneigter ist man, ihm Wirklichkeit beizulegen, weil man eben die Wahrnehmung von der bloßen Einbildung und vom Traum an diesem Merkmal, an der Stärke des Eindrucks, zu unterscheiden gewohnt ist. Wird vollends die Überzeugung von der Realität eines von der Phantasie geschaffenen Bildes oder einer von ihr hergestellten Kombination durch eine unvordenkliche Überlieferung, allgemeine Übereinstimmung, lebenslängliche Gewöhnung, vielleicht auch durch ihren Zusammenhang mit anderweitigen Interessen und Vorurteilen befestigt, so begreift man, daß sie in zahllosen Fällen zu etwas so unbezweifeltem und unantastbaren wird, wie es der Glaube an die Götter des eigenen Volkes, an die Wirkungen der überlieferten Kultushandlungen, Gebete und Beschwörungen, an Astrologie und Orakel, an alle den tausendfältigen Aberglauben zu sein pflegt, der schließlich immer wieder darauf zurückkommt, daß man einen objektiven Kausalzusammenhang annimmt, wo nur eine subjektive Ideenassoziation vorliegt, reale Wirkungen von Vorgängen, Worten, Gebärden und Handlungen erwartet, die an das Erwartete vielleicht erinnern, aber nicht das geringste dazu beitragen können es herbeizuführen. Mag ein solcher Glaube den Tatsachen der Erfahrung noch so handgreiflich widersprechen: wenn der Wunsch, daß er wahr sei, lebhaft genug ist, wird sich auch die Überzeugung einstellen, und auch an Erzählungen, die sie bestätigen, wird es nicht fehlen. So groß ist bei den meisten die Macht der Gefühle über ihre Phantasie.

Auch da aber, wo keine Selbsttäuschung dieser Art obwaltet, wo man sich des subjektiven Ursprungs und Charakters der Phantasiebilder vollkommen bewußt ist, wird der Einfluß, welchen die Gefühlszustände auf dieselben ausüben, dadurch nicht aufgehoben.

Da nämlich alles, was Gegenstand unserer Vorstellung werden kann (wie schon oben bemerkt wurde), erst durch die Gefühle, die es in uns hervorruft, eine persönliche Bedeutung für uns erhält, uns als ein Gut oder ein Übel erscheint, uns anzieht oder abstößt, so setzt jede schöpferische Phantasietätigkeit eine bestimmte Gemütslage und Stimmung voraus, welche zu ihr hintreibt; und je kräftiger und beharrlicher diese Tätigkeit ist, umso stärker muß auch der innere Drang sein, aus dem sie entspringt. Ohne Begeisterung gibt es keinen Dichter oder Künstler, ohne Eingebung keinen Propheten. Selbst den verstandesmäßigeren Tätigkeiten des Forschers, des Erfinders, des Staatsmannes usw. wird die Phantasie nur dann den Beistand leihen, den sie für die Lösung ihrer Aufgaben von ihr erwarten, wenn ein lebendiges Gefühl für die Bedeutuung der Sache sie befeuert. Ebenso kann nur die Freude an bestimmten Stoffen und einer bestimmten Art ihrer Behandlung den Einzelnen veranlassen, sich mit ihnen zu beschäftigen. In welchem Sinne das aber geschieht, hängt bei der Phantasie eben deshalb, weil sie in ihrem Schaffen frei ist, mehr als bei jeder anderen Vorstellungstätigkeit vom subjektiven Gefühl ab. Im Beobachten wie im Denken finden wir uns durch die Sache gebunden: wir glauben an unsere Wahrnehmungen und unsere Schlüsse nicht weil wir wollen, sondern weil wir müssen, mögen uns nun unsere Ergebnisse gefallen oder nicht. Die dichtende Phantasie hat die Freiheit, einen beliebigen Inhalt in beliebigen Formen zur Darstellung zu bringen, und sie macht von dieser Freiheit den reichlichsten Gebrauch. Was veranlaßt sie dann aber gerade diesen Inhalt und in dieser Form darzustellen? Schließlich wird man doch nur sagen können: es habe eben dem Darstellenden so am besten gefallen; und mag man noch so gute Gründe dafür angeben können, warum es ihm so gefiel: wenn es ihm anders gefallen hätte, würde er es anders gemacht haben; das entscheidende Wort spricht bei seinem Verfahren sein ästhetisches Gefühl. Und dabei bleibt es auch dann, wenn der Versuch gemacht wird, die Phantasie in ihrer schöpferischen Tätigkeit durch Kunstregeln und Theorien zu leiten. Der Maßstab, welchen diese anlegen, ist doch immer, wenn man genauer zusieht, die Übereinstimmung eines Werkes mit dem, was von allen ästhetisch Gebildeten als schön anerkannt ist, die letzte Instanz, an die sie appellieren, der gute Geschmack, das ästhetische Gefühl. So notwendig es aber auch ist, daß dieses Gefühl durch die Theorie über sich selbst aufgeklärt werde, daß die Künstler durch die methodische Schulung ihrer Phantasie daran gewöhnt werden, nur am Schönen und Zusammenstimmenden Gefallen zu finden, sich vom Häßlichen und Disharmonischen abgestoßen zu fühlen, und so wünschenswert man in dieser Beziehung gerade in unserer Zeit eine Künstlerlogik, eine Anleitung zum folgerichtigen künstlerischen Denken finden möchte: was schön und was unschön ist, läßt sich doch immer nur am Eindruck erkennen, den ein Gegenstand macht, dem Gefühl des Gefallens oder Mißfallens, das er hervorruft. Die Schönheit, welche der Zweck aller künstlerischen Hervorbringung und der Gegenstand aller ästhetischen Beurteilung ist, betrifft die Art, wie uns die Dinge erscheinen. Diese hängt aber nicht bloß von der objektiven Beschaffenheit der Dinge und den allgemeinen Bedingungen der sinnlichen Wahrnehmung ab, sondern zugleich ganz wesentlich von der Empfänglichkeit, die wir dem Gegenstand entgegenbringen. Seine ästhetische Wirkung überträgt sich nicht mechanisch von ihm auf uns; sie tritt vielmehr nur in der Art und dem Umfang ein, in dem wir mit unserer Phantasie nachschaffen und mit unserer Empfindung uns aneignen, was er uns entgegenbringt. Die Aufgabe des Künstlers ist es, die Bilder, welche er uns vorführt, so zu gestalten, daß sie den von ihm beabsichtigten Eindruck rein und voll hervorrufen, die Aufgabe dessen, der sein Werk anhört oder betrachtet, sich dieser Wirkung mit innerem Verständnis hinzugeben. Wie aber jener nichts wirksam darstellen kann, was nicht in ihm selbst lebt, so kann auch dieser nichts verstehen und genießen, was er nicht nachzufühlen imstande ist.
LITERATUR - Eduard Zeller, Über den Einfluß des Gefühls auf die Tätigkeit der Phantasie in Erdmann / Windelband / Rickert u. a. - Philosophische Abhandlungen [Christoph Sigwart] zu seinem 70. Geburtstag] Tübingen 1900
    Anmerkungen
    1) Denn auch in dem Fall, wo sich die Assoziation zweier Vorstellungen auf ihr objektives Verhältnis gründet, hat dieselbe doch für uns nur in dem Maße Bedeutung, in dem uns dieses Verhältnis schon bekannt ist. Verwandte oder entgegengesetzte oder Korrelatbegriffe erinnern nur den aneinander, der bei dem einen derselben an den andern zu denken gewöhnt ist, das  A  nur den an das  B,  die  4  nur den an die  5,  der buchstabieren und zählen gelernt hat, ein Gegenstand an einen andern, der ihm ähnlich ist, nur deshalb, weil die Züge, worin der erste mit dem zweiten übereinkommt, einen Teil der Vorstellung ausmachen, die man sich von diesem gebildet hat.