ra-2H. SpencerR. OttoE. Boutroux  
 
WILLIAM JAMES
Die Realität des Unsichtbaren

"Diese absolute Bestimmbarkeit unseres Geistes durch Abstraktionen ist eine der zentralen Fakten in unserer menschlichen Konstitution. Sie polarisieren und magnetisieren uns, als handle es sich um eine Reihe konkreter Wesen.

Würde man gebeten, das Leben der Religion in den denkbar weitesten und allgemeinsten Begriffen zu charakterisieren, so könnte man sagen, es bestehe in der Überzeugung, daß es eine unsichtbare Ordnung gibt und daß unser höchstes Gut in einer harmonischen Anpassung an diese liegt. Diese Überzeugung und diese Anpassung sind die religiöse Haltung in der Seele. Während dieser Stunde möchte ich um ihre Aufmerksamkeit bitten für einige der psychischen Eigentümlichkeiten einer solchen Haltung wie dieser oder: der Überzeugung von einem Objekt, welches wir nicht sehen können.

Alle unsere Haltungen, die moralischen, praktischen oder emotionalen ebenso wie die religiösen, verdanken sich den Objekten unseres Bewußtseins, den Dingen, von denen wir überzeugt sind, daß sie, sei es real oder ideal, zusammen mit uns existieren. Solche Objekte können für unsere Sinne gegenwärtig sein oder nur für unser Denken. In beiden Fällen entlocken sie uns eine 'Reaktion'; eine Reaktion, die von Gegenständen des Denkens hervorgerufen wird, ist bekanntlich in vielen Fällen ebenso heftig, wie eine solche, die von etwas Sinnlich-Gegenwärtigem hervorgerufen ist. Sie kann sogar stärker sein. Die Erinnerung an ein Unrecht kann uns mehr Ärger einflößen, als das Unrecht selber zur Zeit seines Geschehens. Häufig beschämt uns eine Pfuscherei im nachhinein stärker als im Moment, wo wir sie begingen; und generell ist das gesamte höhere Leben unserer Klugheit und Moral auf dem Faktum begründet sind, daß materielle Sensationen, die wirklich gegenwärtig sind, einen geringeren Einfluß auf unsere Handlungen haben können als Vorstellungen von entfernteren Tatsachen.

Den meisten Menschen sind die konkreteren Objekte ihrer Religion, die Gottheiten, die sie verehren, nur in der Vorstellung bekannt. Es ist beispielsweise nur sehr wenigen Christen gewährt worden, eine sinnliche Vision ihres Heilandes zu haben; obwohl die Überlieferung genügend Erscheinungen dieser Art, vermöge mirakulöser Ausnahme, enthält. Daher wird die ganze Kraft der christlichen Religionen, soweit Glaube an die göttlichen Personen die wesentliche Haltung des Gläubigen bestimmt, im allgemeinen durch das Instrumentarium reiner Vorstellungen ausgeübt, für die nichts in der vergangenen Erfahrung des Individuums direkt als Modell dient.

Aber zusätzlich zu diesen Vorstellungen von konkreteren religiösen Objekten, ist die Religion voll von abstrakten Objekten, die dieselbe Kraft besitzen. Die Eigenschaften Gottes wie seine Heiligkeit, seine Gerechtigkeit, seine Gnade, seine Absolutheit, seine Unendlichkeit, seine Allwissenheit, seine Dreieinigkeit, die verschiedenen Geheimnisse des Erlösungsprozesses, die Wirkungsweise der Sakramente usw. haben sich als fruchtbare Quellen inspirierender Meditation für christliche Gläubige erwiesen.

Wir werden später sehen, daß die mystischen Autoritäten in aller Religionen ausdrücklich auf dem Fehlen klarer sinnlicher Bilder als der Bedingung sine qua non einer erfolgreichen Anbetung oder Betrachtung der höheren göttlichen Wahrheiten bestehen. Von solchen Betrachtungen erwartet man, daß sie die spätere Einstellung des Gläubigen zu Gott nachhaltig beeinflussen.

IMMANUEL KANT vertrat eine merkwürdige Lehre über solche Glaubensgegenstände wie Gott, den Endzweck der Schöpfung, die Seele, ihre Freiheit und das zukünftige Leben. Diese Dinge, sagte er, sind eigentlich überhaupt nicht Gegenstände der Erkenntnis. Unsere Verstandesbegriffe verlangen stets, daß ein sinnlicher Inhalt mit ins Spiel kommt, und so fern die Worte "Seele", "Gott", "Unsterblichkeit", überhaupt keinen bestimmten Sinnesinhalt enthalten, folgt, daß sie - theoretisch gesprochen - Worte ohne jede Bedeutung sind.

Aber merkwürdig genug besitzen sie eine fest umrissene Bedeutung für unsere Praxis. Wir können handeln, 'als ob' es einen Gott gäbe; fühlen, 'als ob' wir frei wären; die Natur betrachten 'als ob' wir unsterblich wären; und dann finden wir, daß diese Worte einen echten Unterschied in unserem sittlichen Leben machen. So bewährt sich unser Glaube, daß diese unerkennbaren Objekte wirklich existieren, unter dem Gesichtspunkt unseres Handelns oder, wie es KANT nennt, 'in praktischer Hinsicht' als ein volles Äquivalent für eine Erkenntnis dessen, was sie sein könnten für den Fall, daß es uns erlaubt wäre, sie positiv aufzufassen. So haben wir, wie KANT uns versichert, das befremdliche Phänomen eines Geistes, der mit all seiner Kraft die reale Gegenwart einer Reihe von Dingen glaubt, von deren keinem er irgendeine Erkenntnis gewinnen kann.

Meine Absicht mit dieser Erinnerung an KANTs Lehre ist nicht, ein Urteil über diesen besonderes wunderlichen Teil seiner Philosophie abzugeben, sondern nur, den Charakterzug der menschlichen Natur, den wir gerade betrachten, durch ein Beispiel, das in seiner Übertriebenheit so klassisch ist, zu illustrieren.

Die Empfindung von Realität kann sich in der Tat so stark mit unserem Glaubensgegenstand verbinden, daß unser ganzes Leben durch und durch sozusagen polarisiert ist durch das Gefühl der Existenz des geglaubten Dinges. Dennoch kann von diesem Ding behauptet werden, daß es zum Zwecke einer genauen Beschreibung unserem Geiste überhaupt gegenwärtig ist. Es ist, als wenn ein Eisenblock ohne Gefühl und Gesicht, ohne irgendein Vorstellungsvermögen, dennoch kräftig ausgestattet wäre mit einer inneren Fähigkeit magnetischen Gefühls; und als wenn er durch die mannigfachen Erregungen seines Magnetismus durch Magneten, die in seiner Umgebung auftauchen und verschwinden, bewußt zu verschiedenen Haltungen und Neigungen bestimmt würde. Solch ein Eisenblock könnte ihnen niemals eine äußere Beschreibung der Aktionszentren geben, die die Kraft hatten, ihn so stark zu erregen; dennoch wäre er ihrer Gegenwart und ihrer Bedeutung für sein Leben intensiv mit jeder Faser seines Wesens inne.

Es sind nicht nur die Ideen der reinen Vernunft wie KANT sie darstellt, die diese Kraft haben, uns Gegenwärtiges lebendig fühlen zu lassen, zu dessen artikulierter Beschreibung wir unfähig sind. Alle Arten höherer Abstraktionen bringen dieselbe ungreifbare Anziehungskraft mit sich. Erinnern Sie sich jener Passagen von EMERSON, die ich ihnen in der letzten Vorlesung vortrug. Das ganze Universum konkreter Objekte, wie wir sie kennen, schwimmt nicht nur für einen solchen transzendentalischen Autor, sondern für uns alle in einem weiteren und höheren Universum abstrakter Ideen, das ihm seine Bedeutung verleiht. Wie Zeit, Raum und der Äther alle Dinge durchtränkten, so (wir fühlen es) durchtränkt auch die abstrakte und wesentliche Güte, Schönheit, Stärke, Bedeutung, Gerechtigkeit alle Dinge, die gut, stark, bedeutend und gerecht sind.

Solche Ideen und andere, die genaus abstrakt sind, bilden den Hintergrund für alles unsere Fakten, die Urquelle all der Möglichkeiten, deren wir uns bewußt sind. Wir sagen, sie geben jedem einzelnen Ding seine "Natur". Alle uns bekannten Dinge sind, 'was' sie sind, durch Teilnahme an einer Natur einer dieser Abstraktionen. Niemals können wir ihrer direkt ansichtig werden, denn sie haben keinen Körper, keinen Umriß und keine Füße, aber wir erassen alle anderen Dinge durch ihre Vermittlung, und beim Umgang mit der realen Welt würden wir genauso mit Hilflosigkeit geschlagen sein, als wenn wir diese mentalen Objekte, diese Adjektive und Adverbien und Prädikate und Klassenbegriffe verlieren würden.

Diese absolute Bestimmbarkeit unseres Geistes durch Abstraktionen ist eine der zentralen Fakten in unserer menschlichen Konstitution. Sie polarisieren und magnetisieren uns, wir wenden uns ihnen zu und von ihnen ab, wir suchen sie, halten sie, hassen sie, segnen sie, gerade, als handle es sich um eine Reihe konkreter Wesen. Und Wesen sind sie, Wesen, die in dem Bereich, den sie innehaben, ebenso real sind, wie es im Bereich des Raumes die sich wandelnden Sinnendinge sind.

PLATO gab eine so brilliante und eindrucksvolle Verteidigung dieses allgemeinen menschlichen Gefühls, daß die Lehre von der Realität abstrakter Gegenstände seitdem stets als die platonische Ideenlehre bekannt gewesen ist. Beispielsweise ist für PLATO abstrakte Schönheit ein ganz fest umrissenes individuelles Wesen, das der Intellekt als ein zusätzliches Etwas zu all den vergänglichen Schönheiten auf der Erde kennt. "Die wahre Ordnung des Vorgehens", sagt er in der oft zitierten Passage seines 'Gastmahls', "ist, die Schönheiten der Erde als Stufen zu benutzen, über die man von einer zu zweien und von zwei zu allen schönen Formen und von schönen Formen zu schönen Begriffen weitergeht, bis man von schönen Begriffen bei dem Begriff von absoluter Schönheit anlangt und am Ende erkennt, was das Wesen von Schönheit ist".

In unserer letzten Vorlesung gewannen wir einen flüchtigen Eindruck von der Weise, in der ein platonisierender Schriftsteller wie EMERSON die abstrakte Göttlichkeit der Dinge, die moralische Struktur des Universums als ein Faktum behandeln kann, das Verehrung verdient. In jenen verschiedenen Kirchen ohne Gott, die sich heutzutage unter dem Namen von ethischen Gesellschaften über die Welt ausbreiten, haben wir eine ähnliche Verehrung des abstrakten Göttlichen, in dem an das moralische Gesetz als ein höchstes Objekt geglaubt wird. In manchen Plätzen nimmt die "Wissenschaft" in genuiner Weise den Platz einer Religion ein. Wo dies der Fall ist, behandelt der Wissenschaftler die "Gesetze der Natur" als objektive Fakten, die zu verehren sind.

Eine brilliante Richtung der Interpretation griechischer Mythologie würde erfassen, daß die griechischen Götter ursprünglich nur halb metaphorische Personifikationen jener großen Sphären abstrakter Gesetzmäßigkeit und Ordnung waren, in die die natürliche Welt zerfällt - die Himmelssphäre, Ozeansphäre, die Erdsphäre und dergl.; grade wie wir auch heute noch vom Lächeln des Morgens, dem Kuß eine leichten Windes oder dem Biß der Kälte sprechen können, ohne wirklich zu meinen, daß diese Naturphänomene tatsächlich ein menschliches Gesicht tragen.

Was den Ursprung der griechischen Götter betrifft, so brauchen wir uns im Augenblick keine feste Meinung zu bilden. Aber die Gesamtmenge unserer Beispiele führt uns zu einer Schlußfolgerung etwa folgender Art: Es ist, als läge im menschlichen Bewußtsein ein 'Sinn für Realität', ein 'Gefühl für objektive Gegenwart', eine 'Wahrnehmung' von - man möchte sagen - "da ist etwas" tiefer und allgemeiner als irgendeiner der einzelnen und besonderen "Sinne", denen die gängige Psychologie das ursprüngliche Entdecken von existierenden Realitäten zuspricht. Wenn dies so wäre, dann dürften wir annehmen, daß die Sinne unsere Einstellungen und unser Verhalten normalerweise dadurch auslösen, daß sie zuerst diesen Sinn für Realität erregen; aber alles beliebige andere, beispielsweise eine Idee, das ihn in ähnlicher Weise erregt, besäße eben dieselb Prärogative (Vorrang), die normalerweise die Sinnesobjekte besitzen, nämlich real zu erscheinen.

Soweit religiöse Vorstellungen fähig wären, dieses Realitätsgefühl zu berühren, würde man trotz Kritik an sie glauben, auch wenn sie bis zur Unvorstellbarkeit undeutlich und versteckt wären; auch wenn sie hinsichtlich ihres Was-Seins solche Nicht-Entitäten wären, wie KANT sie aus den Objekten seiner Moraltheologie macht.

Die merkwürdigsten Beweise für die Existenz eines solchen undifferenzierten Sinnes für Realität, wie dem angedeuteten, findet man in Erfahrungen von Halluzination. Es geschieht oft, daß eine Halluzination unvollkommen entwickelt ist: Die affizierte Person fühlt eine "Gegenwart" im Raum, genau lokalisiert, auf eine besondere Weise zugewandt, real im emphatischsten Sinne des Wortes, häufig plötzlich auftretend und ebenso plötzlich gegangen; dennoch aber weder gesehen, gehört, berührt, noch erkannt in irgendeiner der gewöhnlichen "sinnlichen" Weisen.

In einem meiner früheren Bücher habe ich in voller Länge den merkwürdigen Fall einer Erscheinung zitiert, die ein Blinder erlebt hat. Bei der Erscheinung handelte es sich um die Gestalt eines graubärtigen Mannes in einem Pfeffer-und-Salz-Anzug, die sich durch den Türschlitz hereindrängte und über den Fußboden des Zimmers in Richtung auf ein Sofa bewegte. Der blinde Empfänger dieser Quasihalluzination ist ein besonders intelligenter Zeuge. Er ist völlig ohne innere visuelle Einbildungskraft und kann sich weder Licht noch Farben vorstellen; außerdem ist er sicher, daß seine übrigen Sinne, Gehör etc. bei dieser falschen Wahrnehmung nicht beteiligt waren. Es scheint eher ein abstrakter Begriff gewesen zu sein, der direkt verbunden war mit dem Gefühl der Realität und räumlicher Äußerlichkeit - mit anderen Worten: eine voll objektivierte und veräußerlichte 'Idee'.

Solche Fälle, zusammengenommen mit anderen, die zu zitieren zu ermüdend wären, scheinen hinreichend zu beweisen, daß in unserer geistigen Maschinerie ein Sinn für gegenwärtige Realität existiert, der durchgängiger und allgemeiner ist, als der, den unsere Einzelsinne gewähren. Es würde ein hübsches Problem für den Psychologen darstellen, den organischen Sitz eines solchen Gefühls herauszufinden - nichts würde natürlicher sein, als es mit der Muskelempfindung zu verbinden, mit dem Gefühl, daß unsere Muskeln sich selbst zum Handeln enervieren.

Was immer nun auf diese Weise unsere Aktivitäten auslösen oder "uns eine Gänsehaut einjagen" würde - meistens tun dies unsere Sinne -, könnte dann als real und gegenwärtig erscheinen, auch dann, wenn es nur eine abstrakte Idee wäre. Aber mit solch vagen Vermutungen haben wir im Augenblick nichts zu tun, unser Interesse geht eher auf das Vermögen als auf seinen organischen Sitz. Wie alle positiven Affektionen des Bewußtseins hat das Gefühl der Realität einen negativen Gegenpart in Gestalt eines Gefühls der Unwirklichkeit, von dem Menschen heimgesucht werden können und über das man gelegentlich Klagen hört:
"Wenn ich auf die Tatsache reflektiere, daß ich durch Zufall auf einem Globus erschienen bin, der seinerseits als Spielball himmlischer Katastrophen durch das Weltall geschleudert wird", sagt Madame ACKERMANN, "wenn ich mich umgeben sehe von Wesen, die ebenso ephemär und unbegreifbar sind wie ich selber und die alle aufgeregt reinen Schimären nachjagen, erlebe ich das merkwürdige Gefühl, in einem Traum zu sein. Es scheint mir, als hätte ich geliebt und gelitten und würde ich früher oder später sterben: in einem Traum. Mein letztes Wort wird sein, 'ich habe geträumt'."
In einer späteren Vorlesung werden Sie sehen, wie bei morbider Melancholie dieses Gefühl der Unwirklichkeit der Dinge ein quälender Schmerz werden und sogar zum Selbstmord führen kann.

Wir können es nun als sicher festhalten, daß in der besonderen religiösen Erfahrungssphäre viele Menschen (wieviele können wir nicht sagen) die Gegenstände ihres Glaubens nicht als bloße Begriffe, die ihr Intellekt als wahr annimmt, besitzen, sondern vielmehr in Gestalt quasi sensibler Realitäten, die direkt wahrgenommen werden. Ganz wie sein Gefühl für die reale Gegenwart dieser Objekte schwankt, so bewegt sich der Gläubige in seinem Glauben zwischen Wärme und Kälte.

Dies kann man durch weitere Beispiele besser einsehen als durch abstrakte Beschreibung; daher fahre ich gleich fort, einige zu zitieren. Das erste Beispiel ist ein negatives, es beklagt den Verlust des fraglichen Gefühls. Ich entnehme es auszugsweise einem Bericht, den mir ein Wissenschaftler aus meiner Bekanntschaft über sein religiöses Leben gegeben hat. Es scheint mir klar zu zeigen, daß das Gefühl für Realität mehr etwas sein dürfte, was einer Sensation ähnelt, als eine intellektuelle Operation im eigentlichen Sinne des Wortes.
"Zwischen 20 und 30 wurde ich mehr und mehr agnostisch irreligiös, kann jedoch nicht sagen, daß ich je das von HERBERT SPENCER so gut beschriebene 'unbestimmte Gefühl' einer absoluten Realität hinter den Phänomenen verloren hätte. Diese Realität war für mich nicht das reine Unerkennbare der SPENCERschen Philosophie, denn obwohl ich meine kindlichen Gebete zu Gott eingestellt hatte und niemals zu jener Instanz förmlich betete, zeigt mir doch meine jüngste Erfahrung, daß ich zu jenem Es in einer Beziehung gestanden habe, die praktisch dasselbe war wie ein Gebet.

Wann immer ich mich in Bedrängnis befand, besonders bei Konflikten mit anderen Menschen, sei es privat oder beruflich, oder wenn ich in deprimierter Stimmung oder in Sorge über den Lauf der Dinge war, war es mir, wie ich jetzt merke, ganz geläufig, mich auf diese merkwürdige Beziehung, in der ich mich zu jenem fundamentalen kosmischen Es stehen fühlte, zurückzuziehen, um Hilfe zu finden. In der besonderen Bedrängnis war es auf meiner Seite oder ich auf seiner Seite, wie immer sie es nennen wollen, und stets stärkte es mich und schien mir unendliche Vielfalt zu geben, seine grundlegende und tragende Gegenwart zu fühlen.

Tatsächlich war es eine zuverlässige Quelle lebendiger Gerechtigkeit, Wahrheit und Stärke, an die ich mich in Zeiten der Schwäche instinktiv wandte, und stets half es mir weiter. Ich weiß jetzt, daß es eine personale Beziehung war, in der ich mich zu ihm befand, weil mich in den letzten Jahren die Kraft, mit ihm zu kommunizieren, verlassen hat und ich dies als einen ganz entschiedenen Verlust erlebe. Ich verfehlte es gewöhnlich nie, wenn ich mich an es wandte.

Dann kam eine Reihe von Jahren, in denen ich es manchmal fand und dann wieder ganz und gar unfähig war, mit ihm Verbindung aufzunehmen. Ich entsinne viele Gelegenheiten, bei denen ich nachts im Bett auf Grund von Sorgen unfähig war einzuschlafen. In der Dunkelheit wendete ich mich hierhin und dorthin und tastete geistig nach dem gewöhnlichen Gefühl jenes höheren Geistes über meinem Geist, der stets so leicht zu Hand gewesen zu sein schien, die Wanderung beendete, Hilfe gewährte, aber der elektrische Strom kam nicht zustande. Statt des Es war dort eine Lehre: nicht das geringste konnte ich finden. Jetzt, im Alter von ungefähr 50 Jahren, hat mich meine Fähigkeit, mit ihm Verbindung aufzunehmen, völlig verlassen; und ich muß gestehen, daß eine große Hilfe mein Leben verlassen hat.

Das Leben ist merkwürdig tot und indifferent geworden; und ich kann jetzt sehen, daß meine alte Erfahrung wahrscheinlich genau dasselbe war, wie die Gebete der orthodox Gläubigen, nur nannte ich sie anders. Was ich als 'Es' angesprochen habe, war praktisch nicht SPENCERs Unerkennbares, sondern nur mein eigener instinktiver und invididueller Gott, von dem ich höhere Sympathie erwartete, den ich aber jetzt irgendwie verloren habe."
Eine weitere Aussage stammt von einem 17jährigen Jungen:
"Ich habe die Empfindung einer Gegenwart - stark und zur gleichen Zeit besänftigend -, die über mir schwebt. Manchmal scheint sie mich mit tragenden Armen zu umhüllen."
Von solcher Art kann die Imagination von Menschen sein, und von solcher Art ist die Überzeugungskraft dessen, was sie hervorbringt. Wesen, die sich nicht malen lassen, werden realisiert, und realisiert fast mit der Intensität einer Halluzination. Sie bestimmen unsere Grundhaltung ebenso entscheidend, wie die Grundhaltung von Liebenden durch die gewohnheitsmäßige, jeden von ihnen heimsuchende Empfindung vom Dasein des anderen in der Welt bestimmt wird. Ein Liebhaber hat offenkundig diese Empfindung vom kontinuierlichen Dasein seiner Angebeteten, auch wenn seine Aufmerksamkeit anderen Gegenständen zugewendet ist und er sich im Augenblick nicht ihre Züge vorstellt. Er kann sie nicht vergessen; sie bestimmt sein Leben ununterbrochen durch und durch.

Ich sprach von der Überzeugungskraft dieser Gefühle der Realität, und ich muß bei diesem Punkt einen Augenblick länger verweilen. Diese Gefühle sind für diejenigen, die sie haben, ebenso überzeugend, wie irgendeine direkte sinnliche Erfahrung es sein kann, und sie sind in der Regel ein erhebliches Stück überzeugender, als es bloß logisch begründete Ergebnisse sind. Man kann in der Tat gänzlich ohne sie sein; wahrscheinlich ist mehr als einer von ihnen, die hier gegenwärtig sind, ohne einen irgendwie merklichen Grad von ihnen; aber wenn man sie hat und wenn man sie stark hat, besteht die Wahrscheinlichkeit, daß man sie nicht anders als echte Einsicht in Wahrheit, als Offenbarung einer Art von Realität betrachten kann, die kein Gegenargument, mag es in Worten auch noch so schwer zu entkräften sein, aus seiner Überzeugung vertreiben kann.

Die philosophischen Meinungen, die der Mystik entgegengesetzt sind, werden gelegentlich als 'Rationalismus' angesprochen. Der Rationalismus insistiert darauf, daß alle unsere Überzeugungen letztlich artikulierte Gründe finden müssen. Solche Gründe müssen für den Rationalismus viererlei enthalten:
  1. genau angebbare abstrakte Prinzipien
  2. bestimmte Tatsachen der inneren Wahrnehmung
  3. bestimmte Hypothesen, die auf solchen Tatsachen basieren und
  4. bestimmte logische Schlußfolgerungen.
Vage Impressionen von irgend etwas Undefinierbarem haben keinen Platz im rationalistischen System, das, von seiner positiven Seite angesehen, sicherlich eine glänzende intellektuelle Haltung ist, denn es sind nicht nur alle unsere Philosophien seine Früchte, sondern die Naturwissenschaft ist (neben anderen guten Sachen) sein Resultat.

Dennoch, blicken wir auf das ganze des geistigen Lebens des Menschen, wie es existiert, auf das Leben der Menschen, das in ihnen liegt, abgesehen von ihrer Gelehrsamkeit und Wissenschaft, und das sie in ihrer privaten Innerlichkeit führen, so müssen wir eingestehen, daß der Teil von ihm, den der Rationalismus erfaßt, relativ oberflächlich ist. Zweifellos ist er der Teil, der das Prestige besitzt, denn er besitzt Beredtsamkeit, er kann von Ihnen Beweise fordern und Logik handhaben und Sie mit Worten niederringen. Aber mit all diesem wird er unfähig sein, Sie zu überzeugen oder zu bekehren, wenn Ihre dunklen Intuitionen seinen Schlußfolgerungen opponieren.

Wenn Sie überhaupt Intuitionen haben, dann kommen diese aus einer tieferen Schicht Ihrer Natur als der beredtsamen Schicht, die der Rationalismus beinhaltet. Ihr gesamtes unterbewußtes Leben, Ihre Impulse, Ihr Glauben, Ihre Bedürfnisse, Ihre Ahnungen haben die Prämisse vorbereitet, deren gewichtiges Resultat Ihr Bewußtsein nun zu fühlen bekommt; und irgend etwas in ihnen 'weiß' absolut, daß dieses Ereignis mehr Wahrheit besitzen muß als irgendeine logisch scharfsinnige rationalistische Rede, wie klug auch immer sie jenem widersprechen mag.

Diese Inferiorität der rationalistischen Schicht bei der Begründung von Überzeugungen ist ebenso manifest, wenn der Rationalismus für die Religion wie wenn er gegen sie argumentiert. Die ungeheuren Mengen von Literatur über die aus der Ordnung der Natur gewonnenen Beweise für Gottes Existenz, die vor einem Jahrhundert eine so überwältigende Überzeugungskraft zu besitzen schien, ist heute wenig mehr als ein Staubfänger in den Bibliotheken, aus dem einfachen Grunde, daß unsere Generation überhaupt nicht mehr an die Art von Gott glaubt, für die jene argumentierte.

Was für eine Art Wesen Gott auch immer sein mag, wie 'wissen' heute, daß er niemals dieser bloß äußerliche Erfinder von "Einrichtungen" ist, die darauf berechnet sind, seinen "Ruhm" offenbar zu machen, und in denen unsere Urgroßväter so viel Genugtuung fanden, obwohl wir eben, 'wie' wir dieses wissen, unmöglich weder anderen noch uns selbst durch Worte klarmachen können. Ich möchte denjenigen hier unter Ihnen sehen, der volle Rechenschaft für seinen Glauben geben kann, daß, wenn ein Gott existiert, dieser eine mehr kosmische und tragische Person sein muß als jenes Wesen.

Die Wahrheit ist, daß in der metaphysischen und religiösen Sphäre artikulierte Gründe für uns nur dann zwingend sind, wenn unsere unartikulierten Gefühle für die Realität schon einen Eindruck zugunsten eben derselben Konklusion empfangen haben. Dann in der Tat wirken unsere Intuition und unsere Vernunft zusammen, und es können große weltbewegende Systeme aufwachsen, wie das des Buddhisten oder der katholischen Philosophie. Hier ist es stets unsere impulsive Überzeugung, die das ursprüngliche Korpus von Wahrheiten begründet, und unsere artikulierte, verbalisierte Philosophie ist nur deren ansehnliche Übersetzung in Formeln. Die vorgedankliche und unmittelbare Gewißheit ist die tiefe Sache selbst in uns, das gedankliche Argument ist nur die zur Schau gestellte Oberfläche. Instinkt ist Führer, Intelligenz folgt nur. Wenn ein Mensch die Gegenwart eines lebendigen Gottes auf die an Beispielen gezeigte Weise fühlt, werden Ihre typischen Argumente, mögen sie auch überlegener sein denn je, sich vergeblich bemühen, seinen Glauben zu verändern.

Aber bitte, bemerken Sie, daß ich dennoch nicht sage, es sei besser, daß das Unterbewußte und Nichtrationale im Reich der Religion derart den Primat hält. Ich beschränke mich, auf die einfache Tatsache hinzuweisen, daß Sie ihn wirklich innehaben. So viel über unseren Sinn für die Realität der religiösen Objekte.
LITERATUR - William James, Die Vielfalt der religiösen Erfahrung, (The Gifford Lectures) Freiburg/Br. 1979