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GUSTAV KNAUER
Was ist Begriff?

"Die unkritische Auffassung ist irrig und wird zur Quelle weiterer folgenschwerer Irrtümer; die der kritischen Philosphie, ist die allein und unbedingt richtige."

"In der Tat gilt hier wieder einmal, daß die Theorie, wenn sie von falschen Voraussetzungen ausgeht, grau ist, während der Lebensbaum lustig im goldenen Sonnenlich weiter grünt."

"Wie viele Begriffe werden Tag für Tag fälschlich verwendet, nicht bloß von Kindern, nicht bloß von Leuten aus den unteren Schichten des Volkes, sondern selbst unter Umständen von den in ihrem Spezialfach Gelehrtesten, von denen, wo sie sich auf fremde Gebiete begeben, ein Sprichwort mitunter nicht mit Unrecht behauptet: Die Gelehrtesten sind oft die verkehrtesten!"

"Welche unterschiedlichen Merkmale sollen in den Begriffen  Essen  und  Trinken  zusammengefaßt sein? Keine; in diesen Begriffen ist nur je  ein  Merkmal des Handelns tierischer Wesen aufgefaßt."


Der zu Anfang des 3. Heftes des XVII. Bandes dieser Zeitschrift veröffentlichte Aufsatz von Prof. VOLKELT in Jena: "Über die logischen Schwierigkeiten in der einfachsten Form der Begriffsbildung" geht von der "einfachen, weiten und allbekannten Bestimmung" aus, "daß der Begriff etwas vielem Einzelnen Gemeinsames  zusammenfasse (Seite 129), bleibt dabei stehen, daß dieses Zusammengefaßte nur die  gemeinsamen Merkmale  der unter den Begriff zu fassenden Gegenstände sein können und kommt nicht über die Einsicht hinaus, daß diese logische Forderung, die gemeinsamen Merkmale zusammenzufassen, zugleich aber auch die "unterscheidenden Merkmale in der Form der Möglichkeit mitzudenken" (Seite 142), eigentlich das menschliche Vermögen übersteigt. "Nur ein intuitiver ("von den Formen der Endlichkeit und Zeitlichkeit losgelöster", Seite 142) Verstand also kann die im Begriff liegenden logische Forderung erfüllen" (Seite 136). Eigentlich ist, da wir solchen intuitiven Verstand nicht besitzen, jeder Begriff nur eine "Abbreviatur", die in unserem Vorstellen auf das "Ideal des Begriffs" bezogen wird (Seite 146). "Der menschliche Verstand ist außer Stande, das, was der Begriff uns zu denken aufgibt, wirklich zu denken. Der Begriff ist für uns  ein logisches Ideal,  das wir nur andeutungsweise zu erfüllen vermögen" (Seite 137).

Dieser Aufsatz ist äußerst lehrreicht, es kann wirklich das Ergebnis der Untersuchung nicht anders ausfallen, wenn man von jener Bestimmung ausgeht, die der Verfasser "einfach, weilt und allbekannt" nennt. Aber eben deshalb fragt es sich, ob jene allbekannte Bestimmung wirklich dem Sachverhalt entspricht oder ob sie trotz ihrer allerdings weiten Verbreitung am Ende doch nur eine irrtümliche ist. Und dieses Letztere glaube ich mit aller Bestimmtheit behaupten und verfechten zu können, wandle dabei aber nur in den Fußstapfen meines Jenenser Lehrers APELT. Das waren etwa nach meiner Erinnerung die Worte, mit welchen Prof. APELT uns, seine Schüler, auf das Irrige jener Bestimmung hinwies:

In der Geschichte der Philosophie treten  zwei grundverschiedene Auffassungen  und Erklärungen dessen, was Begriff sei, hervor. Die eine, von der großen Mehrzahl, ja von fast allen Philosophierenden adoptiert, lautet: "Begriff ist die  Zusammenfassung der verschiedenen Merkmale eines Gegenstandes."  Die andere, nur von Wenigen angenommen, aber unter sie gehört unser KANT, lautet: "Begriff ist die  Auffassung eines verschiedenen Gegenständen gemeinsamen Merkmals,"  wohlzumerken: eines einzigen, nur eines einzigen Merkmals, das eben den Begriff bildet, so viel Sondermerkmale diesem einen etwa nachher auch beigelegt werden müssen. Die erste, die unkritische Auffassung ist irrig und wird zur Quelle weiterer folgenschwerer Irrtümer; die zweite, die der kritischen Philosphie, ist die allein und unbedingt richtige.

Weitere Ausführungen aus dem mündlichen Vortrag meines Lehrers vermag ich jetzt nicht mehr sicher beizufügen, es dürfte leicht meine eigene weitere Fortführung der bezüglichen Erwägungen unwillkürlich hereinspielen. Ob mein Lehrer nicht auch in seinen Schriftwerken, die mir gerade nicht vollständig zur Hand sind, sich irgendwo über diesen Punkt ausgesprochen hat, weiß ich zur Zeit nicht zu sagen; das Ergebnis des mündlichen Vortrags aber ist für mich eine der sichersten Errungenschaften aus meiner Studienzeit geblieben.

Auch darauf kann ich mich nicht besinnen, ob APELT uns bestimmte Belegstellen aus KANT nachgewiesen hat. Aber ich selbst habe später solche gesucht und gefunden, so daß ich an der Richtigkeit der APELTschen Behauptung bezüglich KANTs nicht zweifeln kann, wenn auch Stellen der von JÄSCHE herausgegebenen "Logik" irre machen könnten (z. B. daß daselbst in § 6 beim Begriffsbilden die Reflexion mitten zwischen Comparation und Abstraktion gesetzt und so erklärt wird: "Überlegung, wie verschiedene Vorstellungen in  einem  Bewußtsein begriffen sein können."). Als von mir selbst bemerkte Hauptstellen aus Kant führe ich an: Kritik der reinen Vernunft, 2. Auflage, Seiten 367 und 377: Erkenntnis "ist entweder Anschauung oder Begriff (inuitus vel conceptus). Jene bezieht sich unmittelbar, mittels  eines Merkmals,  was mehreren Dingen gemein sein kann" - also nicht mittels der Zusammenfassung der mehreren Dingen gemeinsamen Merkmale. Sodann Seite 39 und 40 der 2. Auflage und zwar nur in dieser: "Nun muß man zwar einen jeden Begriff als  eine Vorstellung  denken, die in einer unendlichen Menge von verschiedenen möglichen Vorstellungen (als  ihr gemeinschaftliches Merkmal)  enthalten ist, mithin diese unter sich enthält" usw. - also nicht als eine Vorstellung, in der eine Menge von Vorstellungen als gemeinsame Merkmale der zugehörigen Gegenstände enthalten sind. - Und auch in der "Logik" heißt es gleich § 1, Anmerk. 1: "Der Begriff ist der Anschauung entgegengesetzt; denn er ist eine allgemeine Vorstellung oder  eine  Vorstellung dessen", was mehreren Objekten gemein ist, als eine Vorstellung, so fern sie in verschiedenen enthalten sein kann" - also nicht eine Vereinigung und Zusammenfassung von Vorstellungen. Und § 5, Anmerk. 1: Die allgemeine Logik kann "den Begriff nur in Rücksicht seiner Form, d. h. nur subjektivisch erwägen; nicht wie er  durch ein Merkmal  ein Objekt bestimmt, sondern nur wie er auf mehrere Objekte kann bezogen werden" - also der Begriff bestimmt ein Objekt durch ein, durch ein einziges Merkmal, nicht durch verschiedene zusammengefaßte Merkmale. Ich meine, diese Stellen genügen, um die Berufung APELTs auf KANT als richtig zu bestätigen.

Die Ausführungen von FRIES in seiner "Neuen Kritik der Vernunft", 2. Auflage, 1. Band, sind nicht so bestimmt und deutlich, wie die APELTsche Darlegung, besonders da er mit Vorliebe den Ausdruck "Teilvorstellungen" verwendet und da er in etwaigen Definitioinen von Begriffen zu schnell  vollständige  Angaben ihres Inhalts sieht; doch sagt auch FRIES: der Begriff "ist ein allgemeiner gleicher Teil aller jener Vorstellungen [die in seinem Umfang stehen] und ist in ihnen  als Merkmal  enthalten, daher hat jeder Begriff eine Sphäre von Vorstellungen, denen er  als Merkmal  zukommt und einen bestimmten Inhalt, welcher ihm selbst zukommt" (Seite 208) - also keineswegs kommt er den in seinem Umfang stehenden Vorstellungen als ein Sammelsurium von Merkmalen zu. Und Seite 209: "Wir stellen uns daher einen Begriff gewöhnlich gar nicht durch seine Definition, sondern nur durch ein Schema der Einbildungskraft vor." Sonach ist auch FRIES auf unserer Seite.

Man gestatte mir nun, unsere Auffassung kurz als die kritische, die gegenteilige als die unkritische zu bezeichnen, wie schon APELT das tat.

Das Verfängliche der unkritischen Auffassung liegt in der Behauptung, daß im Begriff etwas  zusammengefaßt werde (wie denn dieser Ausdruck "zusammenfassen" sich wiederholt auch in der VOLKELTschen Abhandlung findet), und ich habe mir längst gesagt, es wird wohl der lateinische Ausdruck  conceptus  für Begriff viel dazu beigetragen haben, daß obige Behauptung unbesehen als selbstverständlich hingenommen worden ist. Aber die lateinische Vorsilbe  con  überhaupt und insbesondere im Verbum  concipio  hat gar nicht eine unserem deutschen "zusammen, zusammen-fassen" gleiche Kraft und Bedeutung. Es sei nur daran erinnert, daß  concipere  auch das Empfangen beim Zeugungsakt bedeutet und daß es in den verschiedensten Verbindungen für das bloße Aufnehmen, Auffassen gebraucht wird. Nichts hindert uns bei unserer kritischen Explikation, wonach im Begriff nicht mancherlei zusammengefaßt, wohl aber Einerlei aufgefaßt wird, den lateinischen Ausdruck  conceptus  beizubehalten.

Substantive, Adjektive und Verba sind in den Sprachen Hüllen für Begriffe, sie sind Begriffswörter, wie man sie wohl genannt hat, währen in Konjunktionen, Präpositionen usw., auch in den Pronominibus [Wörter, die statt der eigentlichen Substantiva stehen /wp]keine Begriffe sich bergen. Nehme man nun irgendwelche Eigenschaften von Dingen, die ja bald adjektivisch, bald substantivisch ausgedrückt werden können und frage sich, was im entsprechenden Begriff, dem das Wort zur Hülle dient, zusammengefaßt sein soll. Wie steht es z. B. mit den Farbbegriffen? Welche gemeinsamen Merkmale sollen denn im Begiff "rot" zusammengefaßt sein? Keine; sondern rot, Röte ist nur die Auffassung eines einzigen Merkmals, das verschiedenen Gegenständen in der Beobachtung zukommt, ja das ich willkürlich durch Anstreichen und Malen irgendwelchen Gegenständen beibringen kann, so daß es dann von anderen Beobachtern auch an ihnen wahrgenommen wird. - Oder welche unterschiedlichen Merkmale sollen in den Begriffen  Essen  und  Trinken  zusammengefaßt sein? Keine; in diesen Begriffen ist nur je  ein  Merkmal des Handelns tierischer Wesen aufgefaßt. - Oder nehmen wir Wechselwirkungsbegriffe, die auch nur akzidentielle Bedeutung haben, z. B.  Krieg  und  Friede.  Welches Sammelsurium gemeinsamer Merkmale müßte wohl zusammengefaßt werden, ehe man diese Begriffe fest gewinnen könnte, falls die Forderung "zusammenzufassen" wirklich richtig wäre? Aber sie ist es nicht. Im Begriff "Krieg" ist eben nur  ein  Merkmal aufgefaßt, sicher aufgefaßt von Wilden, wie von Kulturvölkern, ebenso im Begriff "Friede" und so mannigfaltig die Einzelmerkmale im Inhalt des Begriffes  Krieg  auch sein mögen und eine wie unerschöpfliche Fülle von Merkmalen auch zur Beschreibung der Segnungen des Friedens sich bieten mag, Krieg wie Friede sind so bestimmte und so deutlich zu unterscheidende Erscheinungen, daß über die Bedeutung der bezüglichen Begriffe nie ein prinzipieller Streit entstehen kann, wenn auch hi und da ihre Anwendung auf Zustände, die der Beurteilung vorliegen, fraglich bleiben mag.

Das waren nun freilich bis jetzt nur  Akzidenz-Begriffe, auf die wir mit diesen Beispielen hingewiesen haben. Aber es hat wahrhaftig auch mit unseren  Substanz-Begriffen keine andere Bewandtnis. Welche unterschiedlichen gemeinsamen Merkmale sind denn im Begriff  Katze  oder  Hund  zusammengefaßt? Keine; sondern ein einziges Merkmal, das allen Exemplaren der betreffenden Tiergattungen zukommt, das eben die Katze zur Katze und den Hund zum Hund macht, ist darin aufgefaßt, soviel Sondermerkmale dann auch im Inhalt der beiden Begriffe sich bergen mögen; verwenden doch schon Kinder im frühesten Alter, sobald sie die ersten Worte sprechen können, diese beiden Begriffe mit ziemlicher, freilich nicht unumstößlicher Sicherheit, ohne daß sie ein deutliches Bewußtsein vom Unterschied des Katzen- und des Hundekopfes, der verschiedenen Konstruktion des Gebisses usw. haben.

Die Markomannen einst hielten die von Kaiser MARC AURELs Leuten ihnen über die Donau zugesendeten Löwen für große Hunde und schlugen sie als solche mit ihren Keulen tot. Sie hatten sich bei der  Anwendung  des Hundebegriffs auf diese großen Raubtiere geirrt, aber den Hundebegriff als solchen hatten sie sicher, sie hatten darin ein Merkmal aufgefaßt, das sie (hier allerdings irrtümlich) auch an den Löwen wiederzufinden  meinten.  Richtiger urteilte jener Kreuzfahrer, der dem gegen sein Rosse anspringenden Löwen mit dem Ausruf: Ei, du verfluchte Katze! den Kopf spaltete, das Fell abzog und auf sein Tier hing und der nachher erst zu seiner Verwunderung erfuhr, daß er den König der Tiere erschlagen hatte. Er hatte im Begriff "Katze" ein Merkmal aufgefaßt, bei dessen Verwendung auf das anspringende Raubtier er sich auch nicht, wie jene Markomannen, bei der Verwendung des Begriffs "Hund", täuschte.

In meiner Schrift "Seele und Geist" (Leipzig 1880) habe ich schon Seite 68 auf diesen Streit um das, was Begriff sei, hingewiesen und habe dort als ein, wie ich glaube, schlagendes Beispiel für die Richtigkeit der kritischen Explikation an die Begriffe  Vater  und  Mutter  erinnert, die das kleine Kind schon sicher besitzt und verwendet, ohne doch irgendwie die wesentlichen Merkmale des Vater- und Mutterseins zu kennen und sie etwa "zusammenfassen" zu können. Solange das Kind nur seinen eigenen Vater kennt und etwa Papa nennt, so lange wird bei ihm nur eine anschauliche Vorstellung vorhanden sein; so bald ihm aber ein anderer Mann gezeigt und von diesem etwa gesagt wird; "Das ist Fritzchens Papa" und das Kind akzeptiert diese Bezeichnung: dann hat es den Papa- oder Vater-Begriff gewonnen, die Einzelanschauung ist zum Begriff geworden; und das tritt in der Tat bei den meisten Kindern schon sehr früh ein. Was haben die Kleinen denn in diesem Begriff für Merkmale zusammengefaßt? Gar kein, sondern sie haben ein einziges Merkmal, eben das des Vaterseins, aufgefaßt, instinktiv aufgefaßt - und so bekommen auch wir Großen die Mehrzahl unserer neuen Begriffe nach und nach durch immer neue instinktive Auffassung von Merkmalen. Wenn nun so ein Kindchen, vielleicht dadurch veranlaßt, daß sein und Fritzchens Vater beide Vollbärte tragen, einen dritten vollbärtigen aber noch unverheirateten Mann, der in das Zimmer tritt, auch als einen Papa bezeichnet, so hat es sich allerdings geirrt, ebenso wie nach obigem Beispiel einst die Markomannen sich geirrt hatten, aber der Irrtum haftet nicht dem Begriff selbst an (wiewohl in dessen  Inhalt  das akzidentielle Merkmal der Vollbärtigkeit fälschlich versetzt worden war), sondern er liegt nur in einer unberechtigten Verwendung des Begriffs.

Doch wie viele Begriffe werden Tag für Tag fälschlich verwendet, nicht bloß von Kindern, nicht bloß von Leuten aus den unteren Schichten des Volkes, sondern selbst unter Umständen von den in ihrem Spezialfach Gelehrtesten, von denen, wo sie sich auf fremde Gebiete begeben, ein Sprichwort mitunter nicht mit Unrecht behauptet: Die Gelehrtesten sind oft die verkehrtesten! Werden die Begriffe aber fälschlich angewendet, so ist doch damit nicht gesagt, daß diese Begriffe selbst nicht vorhanden seien; und selbst in sich und an sich irrige Begriffe sind und bleiben doch Begriffe, sowie irrige Nachrichten und Gerüchte doch Nachrichten udn Gerüchte bleiben, mag man denselben dann auch noch die Ehrenbezeichnung als "Enten" oder welche sonst beilegen.

Was verwechselt die unkritische Explikation? Sie  verwechselt den Begriff mit seinem Inhalt;  aber der Begriff ist nicht gleich seinem Inhalt, so wenig er gleich seinem Umfang ist. Die unterschiedlichsten Merkmale, die nach der unkritischen Darstellung zusammengefaßt sein sollen, damit der Begriff gewonnen werden konnte, konstituieren nicht den Begriff, sondern seinen Inhalt, man kann sie aus seinem Inhalt herauslösen, aber das geschieht oft erst, nachdem der Begriff selbst schon lange mit Sicherheit verwendet worden ist, ohne daß man sie kannte. Der Begriff selbst ist nur einer Schale vergleichbar; was alles in solch einer Schale verborgen ist, weiß man zum voraus nicht, das erfährt man erst mit der Zeit, vielleicht auch nie. Wer weiß, welche Merkmale man noch einmal aus dem Inhalt des Begriffes  Phosphor  herausholen wird; schon ist der Begriff für unsere Chemiker ein inhaltsreicher geworden, inhaltsreicher, als er für die ersten Darsteller des Stoffes war; aber hat die chemische Wissenschaft schon seinen ganzen Inhalt ausgeschöpft? Niemand kann das behaupten.

Die von VOLKELT aufgewiesenen Schwierigkeiten betreffen nicht, wie er es darstellt, die Begriffe selbst oder die Bildung der Begriffe, sondern sie betreffen den Inhalt derselben und die  Versuche, diesen Inhalt zu ermitteln.  Die Nuss ist immer schon da, aber wer knackt sie und zeigt, was drin ist? Viele Begriffe sind und bleiben  ungeknackte Nüsse;  und sind sie geknackt, so kann man immer noch nicht behaupten, daß man alles, was sich aus dem Kern würde herausnehmen lassen, wirklich schon herausgenommen habe. Der Begriff  Wasser  ist ein der Menschheit von den Urzeiten her geläufiger, aber wie lange hat es gedauert, ehe man Wasser in Wasserstoff und Sauerstoff zerlegen lernte und so einen früher ungeahnten Inhalt des Begriffs gewann. Haben wir nun heute den Begriff Wasser etwa sicherer, als unsere Vorfahren, die das Wasser für eines von den vier Elementen hielten? Waren diese etwa mehr in Versuchung, Wasser mit Öl oder mit Wein zu verwechseln, als wir? Nein, durchaus nicht; den Begriff selbst haben wir nicht sicherer, aber wir wissen mehr vom Inhalt des Begriffs, als unsere Altvorderen davon wußten. Und nennt der Wilde von seinem Standpunkt aus den Branntwein "Feuerwasser", so darf man ihm auch diese Bezeichnung keineswegs abstreiten, nur muß Geschmack und Wirkung ihn bald überzeugen, daß Feuerwasser ein ganz  neuer  Begriff ist, den er gewonnen hat, in dem nur gleichnisweise die für den Begriff Wasser selbst dienende  sprachliche  Bezeichnung mit verwendet ist. Der Wilde, der das Feuerwasser noch nicht geschmeckt hat, mag meinen, seinen Wasserbegriff als solchen auch auf diese farblose Flüssigkeit sicher anwenden zu können, er muß sich nachher überzeugen, daß diese Meinung irrig war.

Wie ich schon in "Seele und Geist" a. a. O. es ausgesprochen habe: Ungelehrte oder doch Unerfahrene haben mitunter nahezu inhaltlose oder doch meist inhaltarme Begriffe, Erfahrene und Gelehrte werden meist inhaltsreichere Begriffe haben, aber dabei können Gelehrte wie Ungelehrte ganz  dieselben  Begriffe besitzen und verwenden und mit ganz  derselben  Sicherheit. Nehmen wir das VOLKELTsche Beispiel vom Begriff "Kamel" (Seite 144), so können wir sagen: Der Knabe, der auf einem roh gearbeiteten Bilderbogen Kamele abgebildet findet und ihre Gestalten als solche kennen lernt; der Besucher des zoologischen Gartens; der Afrika-Reisende und der Kamele züchtende Beduine, sie haben alle denselben Begriff "Kamel"; alle werden Kamele nicht mit Elefanten, Rindern, Pferden, usw. verwechseln; aber freilich jeder Knabe hat in seinem Begriff nur wenig Inhalt und wieder für den Beduinen dürfte der Begriff doch noch inhaltsreicher sein, als für den wissenschaftlich gebildeten Reisenden.

Der Begriff ist als solcher nicht ein  Postulat,  wie VOLKELT (Seite 145) im Anschluß an WUNDT meint. Aber ein Postulat ist es, den Inhalt eines gewonnenen Begriffs zu ermitteln und diesem Postulat kann oft auch der Gelehrteste nicht gerecht werden. "Das ist ein  Nordlicht"  ist bald gesagt, wenn die allgemein so bezeichnete Erscheinung sich am Himmel zeigt, aber für den gelehrten Geographen und Astronomen ist der Inhalt dieses Begriffes bis jetzt noch fast so verschlossen und verborgen, wie für den schlichten Bauersmann und doch sind beide imstande, den Begriff selbst nahezu mit gleicher Sicherheit zu verwenden. Der Begriff selbst ist auch nie eine "Abbreviatur", aber was wir von seinem Inhalt wissen, könnte wohl mitunter so bezeichnet werden.

Wenn es mit unseren Begriffen als solchen so stände, wie VOLKELT infolge der von ihm aufgewiesenen logischen Schwierigkeiten meint annehmen zu müssen, wenn die Begriffe selbst so unsicher wären, nur so annähernd, wie es in der Tat meist mit ihrem von uns erforschten Inhalt ist, wie wäre dann eine sichere Mitteilung der Gedanken unter den Menschen möglich? Dann müßte ja alles wanken und ungewiss bleiben; es gäbe keine Wissenschaft, die sich sicher lehren ließe; es könnten die Nachkommen nicht auf dem von Vorfahren Ermittelten weiter bauen; es ließen sich keine Erfahrungen machen, die unsere Kenntnisse dauernd bereicherten; die Bedeutung des Experimentes und der Induktion überhaupt würde hinfällig werden; ja es würden die einfachsten Wahrnehmungen, von verschiedenen Beobachtern gemacht, zu den heillosesten Mißverständnissen und Streitigkeiten ausschlagen; ja, da die Sprache sich dem Denken akkomodiert, würde eine babylonische Sprachverwirrung ohne Gleichen herrschen müssen.

Aber tatsächlich steht es so schlimm unter uns vielfach irrenden Menschenkindern doch wahrhaftig nicht. Mag auch über die Berechtigung und Verwendung mancher Begriffe Streit und Irrung unter den denkenden Menschen sich zeigen; mögen namentlich auch die sprachlichen Hüllen, mit denen man instinktiv gewonnene Begriffe zu umkleiden sucht, ihr Verfängliches haben und zu den verschiedensten Mißverständnissen Veranlassung geben: die empirischen Begriffe sinnesanschaulicher Gegenstände stehen im allgemeinen fest, nicht allein die empirischen Substanz-, sondern auch die bezüglichen Akzidenz-Begriffe; auch Begriffe von bloß Gedachtem aus dem Bereich der Erfahrung werden zu einem großen Teil mit unumstößlicher Sicherheit gebraucht, wenn auch einzelne zweifelhaft bleiben und Schwierigkeiten bereiten; apriorische Begriffe werden benutzt und mit Sicherheit verwendet, während die Gelehrten vielleicht noch sich bemühen, sie als solche aufzufinden und in ihrer Eigenart darzustellen, sie drängen sich eben a priori auf und steigen durch das Fenster des Instinkts in das Haus, ohne erst im Vorsaal ihre Visitenkarten abzugeben; a priori anschauliche Begriffe, die der Zahlen und mathematischen Zeichen, geometrische und stereometrische Form- und Gestaltbegriffe bringen auch bald ihren ganzen Inhalt mit, der eben darum auch nicht zweifelhaft bleibt. Bei den letzteren allein lassen aus dem im Begriff selbst aufgefaßten anschaulichen Merkmal auch die Merkmale des Inhalts sich ohne weiteres analysieren; sie allein könnten den Schein erwecken, als ob die unkritische Explikation vom Wesen der Begriffe die richtige sei und doch ist auch hier nicht ein Mancherlei zusammengefaßt, sondern immer Einerlei,  ein  Item aufgefaßt, aus dem nur durch die hier mögliche strenge Definition sich sofort der ganze Inhalt ausschöpfen läßt.

Ich behaupte also, der Tatbestand, daß wir Menschen im allgemeinen unsere Begriffe sicher verwenden, daß mit ihrer Hilfe einer dem anderen sich leicht verständlich machen kann, der Fortschritt der Wissenschaften und Fertigkeiten des Lebens - das alles beweist, daß es mit unseren Begriffen und mit unserer Begriffsbildung nicht so stehen kann, wie nach der unkritischen Explikation, wenn sie recht hätte, es stehen  müßte.  Begriffe sind im allgemeinen nicht Postulate, sondern vorliegende feste Kristallisationen des Denkens, nicht Abbreviaturen, sondern vollständig ausgeschriebene Gedanken. Ein Ideal des Begriffs, das neben der unvollkommenen Wirklichkeit herläuft, gibt es in den meisten Fällen nicht; Begriffe sind in der Regel vollständig erreichbare und wirklich gewonnene Denk-Realien, daß ich mich so ausdrücke. Auch reine Begriffe, die nichts Anschauliches an sich und in sich haben, sind eben als Begriffe nicht Ideale, sondern durch und durch real, mag auch in ihnen (d. h. in ihrem Inhalt) Ideales enthalten sein; auch Begriffe von Gegenständen, die man noch nie hat wirklich auffinden oder darstellen können, selbst der leere Begriff des viereckigen Kreises oder der  causa sui  [Selbstursache - wp], sind Denk-Realien.

Vielleicht möchte da jemand einwerfen: Diese Darstellung macht alle Vorstellungen sofort zu Begriffen, während wir entschieden behaupten, daß nicht jede Vorstellung sofort auch Begriff ist. Und ganz richtig, das gestehe und bekenne ich: Nur mit solchen Vorstellungen, die bereits zu Begriffen geworden sind, läßt sich sicher operieren, nur mit Hilfe solcher können Menschen sich unter einander verständigen, nur Begriffe konstituieren wirkliche Urteile; mit bloßen anschaulichen Vorstellungen kann man wohl Fragen stellen und Ausrufe-Sätze bilden (Was ist das? - Das ist nun einmal so, so!), aber urteilen kann man nicht. Urteile verlangen, wenn auch nicht durchaus in das Subjekt, so doch in das Prädikat, feste Begriffe. Und es hat darum auch unser Verstand, unsere Denkkraft das Bestreben, alle Anschauungen in feste und bleibende Begriffe zu verwandeln. Trotzdem aber gibt es noch genug Anschauungsmaterial, das noch nicht Begriff geworden ist und vielleicht auch nie Begriff werden kann. "Was ist das dort, ein Mensch oder ein Baum?" fragt ein Wanderer den anderen. Mensch und Baum sind Begriffe, über die kein Streit möglich ist, feste, sichere Begriffe, die in abstracto in das Prädikat des Fragesatzes gestellt werden. Aber was ist das Subjekt "das dort"? Das ist eine bloße Anschauung, die der Anschauende eben gern auf einen Begriff bringen möchte. Sowie ihm das gelungen ist, wird er sich nicht mehr an die Anschauung halten, sondern den Begriff (sei's Mensch, sei's Baum) in concreto verwenden; er wird fortfahren und sagen: der Mensch dort oder der Baum dort; und nun kann er des weiteren urteilen. - Oder es wird gefragt bei schlechter Schrift: "Soll das ein  a  oder ein  o  sein?" Die Buchstaben  a  und  o  haben hier auch Bedeutung und Geltung von Begriffen (es sind Laut-Begriffe), "das" aber, das auf dem Papier stehende schlecht ausgeschriebene Zeichen, ist bloß Anschauung. Ist die Antwort, meinetwegen des Schülers dem Lehrer gegenüber, erfolgt: "es soll ein  a  sein", so wird der Lehrer nicht mehr fortfahren und sagen: "das da ist falsch", sondern er wird an den Begriff in concreto sich halten: "Dieses  a  ist falsch" oder "es ist richtig." - Bei Verwendung von Präpositionen in der Rede bleibt man meist bei einer bloßen Anschauung stehen, die nicht in Begriffe sich umsetzen läßt und so spielen überhaupt Anschauungen  zwischen  den Begriffswörtern, zur Verbindung derselben in der Rede, eine große Rolle.

Es bleibt auch dabei, daß die Hauptanschauungen, die apriorischen Anschauungen  Raum und Zeit ("absolut"  genommen) stets nur Anschauungen sind und nie zu Begriffen werden, denn es wird mit ihnen keineswegs ein verschiedenen Gegenständen gemeinsames Merkmal aufgefaßt (um noch bei der APELTschen Fassung der kritischen Explikation stehen zu bleiben, nach meiner eigenen weiter unter vorzutragenden Fassung wird die Sache noch deutlicher). Dagegen alle Raum- und Zeit- Ab- und Ausschnitte, die wir machen oder alle angeschauten  relativen  Räume und Zeiten führen zur Bildung a priori anschaulicher Begriffe. Quadrat und Kubus sind Auffassungen eines verschiedenen Gegenständen gemeinsamen Merkmals, denn ich kann Quadrate und Kuben, gleiche und ungleiche, nach Belieben konstruieren und sie nebeneinander stellen; ebenso kann ich aus der Zeitlinie nach Belieben herausschneiden Stunden, Tage, Jahre, Jahrhunderte; hier sind also Begriffe gewonnen, die auch so bestimmt sind, als nur irgend sich verlangen läßt. Aber ich kann nicht neben den  einen  absoluten Raum noch einen anderen, neben die  eine  absolute Zeit noch eine zweite stellen, es ist also mit Raum und Zeit kein verschiedenen Gegenständen gemeinsames Merkmal aufgefaßt. Und das war's, was KANT in seiner "transzendentalen Ästhetik" als kritisches Ergebnis aufweisen wollte und aufgewiesen hat, wenn er dabei auch noch die Schwachheit sich zu Schulden kommen ließ, in den Überschriften seiner Darlegungen den üblichen unkritischen Ausdruck "Begriff" beizubehalten.

Raum und Zeit als solche sind und bleiben Anschauungen ohne Begriffe und Anschauungen ohne Begriffe sind blind (Kritik der reinen Vernunft, 2. Auflage, Seite 75); wahrhaftig Raum und Zeit, als Anschauungen a priori sicher unser Eigentum und Erbteil, so sehr, daß wir gar nicht imstande sind, uns von ihnen zu trennen, von ihnen zu abstrahieren, bleiben  blinde  Anschauungen, daher die ungeheuren Schwierigkeiten, die sie unserem Verstand bereiten und die gar nicht zu beseitigen sind. Aber die  Farben,  um noch einmal auf sie zu kommen, die vielleicht mancher auch nicht für Begriffe, sondern nur für Anschauungen erklären möchte, sind wirklich Begriffe, denn sie sind nicht "blind"; daß in den Farbunterscheidungen wirklich Anschauungen in Begriffe verwandelt sind, wird auch dadurch bewiesen, daß die Nuancierungen oder verschiedenen Schattierungen subsumiert werden: hochrot, neurot, blassrot, dunkelrot, rosenrot usw. allesamt werden sie unter den Begriff "rot" subsumiert. "Das dort" aber im oben angeführten Beispiel war auch, weil ohne Begriff, nur blinde Anschauung. Begriffe ohne Anschauung dagegen (so ist richtiger zu sagen, statt mit KANT selbst: "Gedanken ohne Inhalt", a. a. O.) auf dem Gebiet, wo doch Anschauung möglich ist und wo nur durch Anschauung der Gegenstand geliefert werden kann, sind  leer,  d. h. es befindet sich nichts innerhalb der  Umfangs-Sphäre, die sie beschreiben könnten, wenn sie auch im Denken einen Inhalt haben, keineswegs inhaltslos sind. Zentaur und Einhorn z. B. sind feste, auch keineswegs inhaltslose, aber doch leere Begriffe, ebensogut wie etwa Zweieck oder die berühmte vierte Dimension des Raumes; dort fehlt die Anschauung a posteriori oder die Erfahrung; hier fehlt die Anschauung a priori.

Eine eigentümliche Stellung nehmen noch die  Ideen  ein, wie wir Jünger der kritischen Philosophie sie nennen. Es gibt selbst einen Begriff der Idee, mit "Idee" wird ein verschiedenen Gegenständen (welches hier Gedanken sind) gemeinsames Merkmal aufgefaßt; aber die Ideen selbst sind keine Begriffe, sondern nur Gedanken; nicht aufgefaßte Merkmale, sondern bloß mit Notwendigkeit hervortretende, aber in gewisser Beziehung unfassbare Gedanken. Niemand, nichts nötigt uns, die Begriffe Zentaur und Einhorn zu verwenden, auf wirkliche Naturgegenstände anzuwenden; es liegt keine Nötigung vor, ein Zweieck oder eine vierte Dimension des Raumes zu setzen, anzunehmen. Daher handelt es sich dort nur um leere Begriffe. Aber die Ideen werden mit Notwendigkeit produziert; das "Atom" schon ist ein Gedanke, auf den die Menschen von je her gestoßen sind, ohne doch je den Begriff davon wirklich gewinnen zu können; ebenso haben sich die Vernunft-Ideen, wie ich sie nenne, von je her den Menschen aufgedrängt. Hier liegen Gedanken vor, die weder anschauliche Vorstellungen noch auch Begriffe sind. Die Ideen sind etwas ganz Besonderes.

Bisher haben wir uns einfach an die APELTsche Fassung der kritische Explikation dessen, was Begriff sei, gehalten, doch habe ich mich im Laufe meiner Forschungen genötigt gesehen, diese Explikation noch bestimmter zu fassen, wenn sie nun auch bei mir den Anschein des Schleppenden bekommt. Ich drücke mich jetzt so aus (vgl. "Seele und Geist", Seite 27 und 68):
    Begriff ist die Auffassung eines Gegenstände unterscheidenden und möglicherweise wieder andere Gegenstände verbindenden Merkmals. 
Der Ausdruck "Gegenstände" ist hier ganz allgemein zu fassen, diese Gegenstände, die durch das Merkmal zunächst unterschieden werden, können auch bloß psychische Gebilde sein, bloße Gedanken oder Vorstellungen; die in einem Begriff aufgefaßten Merkmale werden nach stattgehabter Auffassung sofort selbst wieder zu Gegenständen in psychischem Besitz. Bei der bloßen Anschauung wird noch kein solches unterscheidendes Merkmal "aufgefaßt", d. h. als deutliche und sichere Errungenschaft den psychischen Gebilden einverleibt; sowie ein solches dem im Bewußtsein sich aufspeichernden Vorstellungsschatz hinzugefügt wird, ist allemal der Vorgang der Begriffsbildung zu konstatieren.

Entschieden haben mir aber meine Untersuchungen gezeigt, daß das  Unterscheiden  der Gegenstände bei der Bildung der Begriffe das Erste ist. Schon das kleine Kind faßt, nach dem oben angegebenen Beispiel, das Merkmal Vater auf, indem es zunächst Mutter und Vater  unterscheidet.  Sobald die Bildung des Begriffs im Gange ist (wenn ich so sagen darf), wird es dem Kind nicht mehr beikommen, ein Wesen in weiblicher Kleidung für einen Papa zu halten, wenn es auch bei der Verwendung des sich bildenden Begriffs auf Männer sich noch leicht täuschen kann. Sowie aber die Unterscheidung gewonnen ist, das Merkmal als ein unterscheidendes aufgefaßt ist, entsteht sofort auch das Streben, das Verlangen, es zur Vereinigung von Gegenständen im Denken (eben Vereinigung durch Unterstellen unter den Begriff) zu benutzen, wobei freilich Irrtümer nicht ausgeschlossen sind und so mag das Kind nach obigem Beispiel vollbärtige Männer ohne weiteres unter den gewonnenen Papa-Begriff zu subsumieren trachten. Wir alle, sowie wir einen neuen Begriff durch Unterscheidung gewonnen haben, werden auch suchen, unter ihn Gegenstand an Gegenstand zu reihen.

Dabei entsteht nun die Frage: Kann man auch dann von einem Begriff reden, wenn das aufgefaßte Merkmal nur an einem einzigen Gegenstand hervortritt und nur diesen einen Gegenstand von anderen andersgearteten Gegenständen unterscheidet? Gibt es z. B. auch einen Begriff "Sonne" wie einen Begriff "Planet"? oder bleibt "Sonne" nur eine anschauliche Vorstellung? So lange ich unter dem Bann der APELTschen Fassung der Explikation stand, schwankte ich. Aber nachgerade mußte ich entschieden auch einen Begriff Sonne zugestehen, konnte man doch, als man über die Fixsterne einigermaßen zur Klarheit gekommen war, diese sofort auch als Sonnen bezeichnen, diesen Begriff, den man also schon besitzen mußte, auf sie anwenden; war es doch vor den Galileischen Entdeckungen auch so, daß man nur  einen Mond  hatte, als aber GALILEI die Trabanten des Jupiter im Fernrohr fand, war man sofort imstande sie Monde zu nennen, man besaß als bereits einen Begriff Mond, den man auf diese Trabanten anzuwenden vermochte. Es gibt ja, wie schon oben angedeutet, auch Begriffe von Gegenständen, die noch nie hergestellt oder dargestellt worden sind; wir haben einen Begriff von der Quadratur des Kreises, einen Begriff vom perpetuum mobile. Auch in solchen Begriffen ist zunächst ein Unterscheidendes aufgefaßt.

Diese Erwägungen nun haben mich bestimmt, in der Explikation das  Unterscheidende  des Merkmals an erster Stelle zu betonen und derselben die obige von der APELTschen abweichende Fassung zu geben, indem ich doch wesentlich bei der durch meinen Lehrer mit gewordenen Aufklärung beharre.

Es könnte so scheinen, als wäre der Unterschied der kritischen und unkritischen Auffassung nicht eben von besonderem Belang; es könnte ein der Sache ferner Stehender vielleicht den ganzen Streit für ein unnützes Kramen mit Worten halten; aber dem ist nicht so. Das beweist gerade schlagend der VOLKELTsche Aufsatz. Der Verfasser hat sich, der unkritischen Auffassung als der richtigen unbedingt vertrauend, mit Scharfsinn in das fragliche Problem vertieft und da haben sich Schwierigkeiten über Schwierigkeiten vor seinem Forschen aufgetürmt. Und doch, wo sind  in der Wirklichkeit  diese Schwierigkeiten? "Rosen auf den Weg gestreut und des Harms vergessen!" könnte der bloße Empiriker dem sich bedrängt fühlenden Logiker zurufen: "Wir haben unsere Begriffe fest und zweifellos, wir hantieren mit ihnen in Sicherheit nach Belieben, also, ihr Logiker, ihr scheint den Wald vor lauter Bäumen nicht zu sehen." Und in der Tat gilt hier wieder einmal, daß die Theorie, wenn sie von falschen Voraussetzungen ausgeht, grau ist, während der Lebensbaum lustig im goldenen Sonnenlicht weiter grünt.

Es ist mein Wunsch und meine Bitte, Herr Professor VOLKELT wolle doch diese meine Entgegnung ernstlich prüfen und die Erörterung, falls er glaubt auf dem traditionellen Standpunkt beharren zu müssen, weiter führen, damit es uns wo möglich gelinge, das von ihm angeregte logische Problem seiner definitiven Lösung näher zu bringen.
LITERATUR - Gustav Knauer, Was ist Begriff?, Philosophische Monatshefte 17, Leipzig 1881