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PAUL SZENDE
Verhüllung und Enthüllung
[Der Kampf der Ideologien in der Geschichte]
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"Unter Ideologien verstehen wir  sämtliche Denkgebilde, die über den einfachen Empfindungs- und Wahrnehmungsinhalt über dessen Deutung, begriffliche Festlegung, gedankliche Verarbeitung und logische Gliederung hinausgehen. Sie reichen von den zusammengesetzten Vorstellungen bis zu den allgemeinsten Wissenschaften. Jeder  Begriff,  jede  Theorie, jedes Wissenschaftliche System kann als Ideologie bezeichnet werden, ebenso die Weltanschauung, sowohl die vulgäre, als auch die hochwissenschaftliche. Auch die  Gefühls- und Gemütsbewegungen können hierher gezählt werden, da sie ohne bestimmten Vorstellungsinhalt nie zu einer Handlung führen können. Auch der  Glaube ist eine Ideologie, denn die subjektive und lebendige Gewißheit, die ihn vom Wissen unterscheidet, ist ein Resultat von Vorstellungskomplexen, Gefühlsmomenten und Zwecksetzungen."

"Die Gruppen, die für die Aufrechterhaltung der Gesellschaftsordnung eintreten, richten ihre Bestrebungen darauf, daß kein Wunsch nach Änderung in den Gemütern aufkommt. Sie wollen die vorausgehenden und begleitenden psychologischen Prozesse der Willenshandlungen: Erkennen, Werten, Wollen, Zwecksetzung so beeinflussen, daß die Notwendigkeit der Abänderung, die Unhaltbarkeit des Bestehenden nicht erkannt wird, die Aufrechterhaltung desselben vielmehr als wertvoller Willenszweck erscheint. Diese Tendenz kann  Verhüllung, Verschleierung genannt werden."

"Der organisatorische Ausdruck der Form -  die Ordnung - ist die Grundlage jeder Herrschaft, Macht und Autorität. Das Sicheinfügen in die bestehende Ordnung ist die Pflicht, die jede Macht vom Beherrschten verlangt. Die Verfechter des Formalismus wissen wohl, daß sich die Macht sich keine Geltung verschaffen könnte, wenn ihr Ursprung von den Untergebenen klar erkannt würde. Die Überschätzung der Form (Ordnung) in den Wissenschaften ist nur eine Folge ihrer sozialen Bedeutung. Das  Bestehende ist die Form, das  Neue, das  Werdende muß sich in ihren Rahmen einfügen, sich von ihr beherrschen lassen."

"Der kategorische Imperativ von  Kant befiehlt jedem, so zu handeln, daß die Maxime seines Willens zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten kann. Jeder Mensch ist ungefähr imstande, zu beurteilen, ob eine Handlung seinen Interessen entspricht; doch wenige sind fähig, Prinzipien einer allgemeinen Gesetzgebung aufzustellen. Auf der Suche nach diesem Prinzip verfallen sie unerbittlich den herrschenden Ideologien."

"Die religiösen, politischen und wirtschaftlichen Bedürfnisse waren von jeher stärker als die wissenschaftlichen; die Machtgestaltung hat der Wissenschaft ihren Charakter aufgestempelt. Politisch-juristisches Denken geht der naturwissenschaftlichen Erkenntnis nicht nur voran, es weist ihr auch die ersten Wege."


Vorbemerkung

Mißt man die Bedeutung eines Zeitalters am Umfang und an der Tiefe der Umwälzungen, die sich in seinem Verlauf ergeben, so kann mit Fug behauptet werden, daß wir in einer großen Zeit leben. Die Ergebnisse des Weltkrieges haben sich in allen Erdteilen abgespielt und fast die ganze Menschheit in Mitleidenschaft gezogen. Gleich gigantisch sind die Änderungen im Gefolge des Krieges, deren Reihe noch nicht abgeschlossen ist. Revolution und Gegenrevolution, das Aufkommen neuer und der Niedergang alter historischer Kräfte, ein erbitterter Kampf werdender und vergehender Gesellschaftsordnungen und Wirtschaftssysteme, der Krieg aller gegen alle ziehen kaleidoskopartig an uns vorüber. Eine durchgreifende Umwertung aller Werte ergänzt oder verwirrt vielmehr das sich uns mit unwiderstehlicher Kraft aufdrängende Schauspiel. Die Erinnerung an die unnütz hingeschlachteten Menschenmillionen erfüllt die Seele mit Empörung und Trauer. Die Leiden und Entbehrungen des Alltagslebens, der Kampf um das tägliche Brot macht die Menschen mühselig und beladen. Dem Erforscher der geschichtlichen und soziologischen Tendenzen aber offenbart sich eine solche Fülle von Tatsachen und Argumenten, daß er trotz der Hekatomben [erschüttern großen Opfer - wp] des Krieges, trotz allen Leids der Gegenwart mit ULRICH von HUTTEN ausrufen mag:  O Jahrhundert, es ist eine Lust zu leben! 

HERMANN KEYSERLING behauptet in seinem vielgelesenen "Reisetagebuch eines Philosophen", das Verhalten der Menschen in Ausnahmesituationen und Revolutionen sei bedeutungslos, "man lebe nur an der Oberfläche". Alle jetzigen Geschehnisse beweisen die Irrigkeit dieser Ansicht. Es ist der wesentliche Zug jeder Revolutions- und Krisenperiode, daß die gesellschaftlichen Triebkräfte, die in weniger bewegten Zeitaltern verschleiert, entstellt, übertüncht sind, ungestüm aus der Tiefe an die Oberfläche zu drängen, sich der menschlichen Erkenntnis in unverfälschter Gestalt darbieten. Jede Revolution ist die Apokalypse des Unbewußten, der wirklichen, bisher gar nicht oder andersartig erkannten Agentien des Geschehens. Die potentiellen Energien der Gesellschaft - seit unvordenklichen Zeiten aufgespeichert - entladen sich in einem grandiosen Emporschießen, Neues schaffend, Altes zerstörend. Der Gang der Weltenuhr ist beschleunigt. Ein gigantischer Film zeigt dem geschärften Auge das biogenetische Gesetz der Geschichte; jedes Entwicklungsstadium der menschlichen Gesellschaft wird uns in einem blitzschnellen Aufleuchten vorgeführt.

Was als überlegene Wahrheit und geheiligtes Symbol galt, brach zusammen. Man erlebte einen Massentod von Schlagworten. Eine riesenhafte Demaskierung der ganzen Menschheit fand statt. Jede Nation, jede Partei wurde gewogen und zu leicht befunden.

Die Vulkanausbrüche bieten die beste Gelegenheit, die Gesetze der Geologie zu studieren; die Phänomene der Luftelektrizität werden besonders deutlich, wenn sich ein schweres Gewitter entlädt. Keine Zeit war geeigneter, die Tendenzen der geschichtlichen Entwicklung zu erforschen, als unsere Zusammenbruchs- und Revolutionsperiode.

Unserer Generation ist es gegeben, die größten Umwälzungen aus unmittelbarer Nähe zu beobachten. Wie sehnsüchtig warten die Astronomen auf das Jahr 1924, in dem der Mars in die Erdennähe rückt, um die Frage zu entscheiden, ob der Planet von menschenähnlichen Wesen bewohnt wird. Wir sind in einer günstigeren Lage, wir brauchen nicht zu warten, wir erhalten einen vorbildlichen Anschauungsunterricht in Geschichte und Soziologie. Es wäre undankbar gegen das Schicksal, diese Gelegenheit vorübergehen zu lassen. So berücksichtigt auch die nachfolgende Untersuchung die Lehren und Erfahrungen der letzten Jahre. Manche dunkle Ahnung, mehr intuitives Erkennen als selbstgewisses Wissen war schon früher vorhanden. Doch fehlten der Zusammenhang und das verbindende Prinzip zwischen den scheinbar heterogenen Begebenheiten. Nun drängen sie sich dem Beobachter auf und haben diese Arbeit gezeitigt. Sie ist nicht so ausführlich gestaltet, wie ich es gewünscht hätte. Raumrücksichten zwangen mich, mmich bei sehr vielen Problemen mit kurzen Hinweisen zu begnügen und ein ganzes Kapitel über die psychologische Behandlung des historischen Materialismus mußte vorläufig ausgeschieden werden.


I. Grundlegende Bemerkungen

Geschichte und geschichtliche Tat. Geschichte ist ein Zusammenhang von Massenbewegungen und -Betätigungen, die ihrerseits Verdichtungen und Synthesen der Willenshandlungen einzelner Individuen sind. Die Willenshandlungen resultieren aus komplizierten Lebensprozessen und werden durch mehrfache Einwirkungsreihen hervorgerufen. Diese Einwirkungen entstammen teils der äußeren Natur - die Mitmenschen inbegriffen -, teils werden sie durch die eigenen Bedürfnisse und durch die psychischen Reaktionen auf äußere Einwirkungen veranlaßt. Sowohl die äußeren wie die inneren Einwirkungen sind uns durch Bewußtseinsinhalte gegeben und lösen durch die auf Verwirklichung gerichtete Aktivität des Bewußtseins die Willenshandlung aus. Die Änderungen, welche die Handlungen im Zustand des Handelnden und in der Außenwelt hervorbringen, machen die Geschichte im objektiven Sinn aus. Obgleich jede menschliche Handlung eine geschichtliche Tat ist, beschäftigt sich die Geschichtswissenschaft vornehmlich mit zu Massenbewegungen verdichteten Einzelhandlungen.

Erkennen und Wissen. Die erste Voraussetzung jeder Handlung und daher auch jeder geschichtlichen Betätigung ist das Erkennen der Tatsachen, die in Bezug auf die Handlung von Bedeutung sind. Das Wissen ist akkumulierte Erkenntnis dieser Tatsachen.

Das Wissen von der Vergangenheit läßt Lehren ziehen, Ziele setzen, bewahrt vor Fehlern, orientiert. Gleicht wichtig ist die Kenntnis der Gegenwart (relativer Begriff, gestern ist schon Vergangenheit). Das Wissen um die Zukunft, mehr Voraussage und Ahnung, als Gewißheit, baut sich auf dem Wissen von Vergangenheit und Gegenwart auf. Mit seiner Hilfe trachten wir festzustellen, wie bestimmte Willenshandlungen und Massenbetätigungen unter bestimmten Bedingungen wirken, wobei es sich in erster Linie um die Richtung, die Tendenz, um gewisse Regelmäßigkeiten handelt. Ohne Erkenntnis keine geschichtliche Tat. "Auch die Idee wird zur Gewalt, wenn sie die Massen ergreift." (MARX)

Schon jetzt sei betont, daß die Bewußtseinsinhalte, wenn durch das Denken verarbeitet, stets eine mehrfache Deutung zulassen. In der Geschichtserkenntnis spielen unmittelbare Beobachtungen und Erinnerungen eine geringe Rolle; unsere Erkenntnis muß sich mit Hilfe indirekter Quellen die Ereignisse vergegenwärtigen und ist daher Irrtümern und Mißdeutungen besonders ausgesetzt.

Das Werten. Ein elementarer Vorgang, der jeder menschlichen Handlung vorausgeht. Die Erkenntnisse werden mit Rücksicht auf das Willensziel und die zu seiner Erreichung notwendigen Mittel gewertet. Andererseits werden auch Zweck und Mittel aufgrund der vorhandenen Kenntnisse einer Wertung unterzogen.

Das Wollen ist ein zusammengesetzter Prozeß, in dessen Verlauf die mit Vorstellungen verbundenen Gefühle und Affekte das Subjekt zu einer Tätigkeit oder Stellungnahme bewegen. Der dominierende Begriff dieses Gebietes ist das  Motiv d. h. jene gefühlsbetonte Vorstellung oder jener Vorstellungskomplex, der die Willenshandlung auslöst. WUNDT, SPENCER, JOHN STUART MILL, LE BON, KIDD meinen, daß in der Vorbereitung der Willenshandlungen die entscheidende Bedeutung den Gefühlen zukommt. Zweifellos sind die Gefühle und Affekte für zweckmäßige Reaktionen biologisch äußerst wichtig. Doch ist - in Variierung des bekannten kantischen Wortes - zu betonen, daß Gefühle und Affekte ohne Vorstellungen leer sind. Was öfter als Gefühlsäußerungen und Affektausdruck gedeutet wird, ist meist die Wirkung von im Unterbewußtsein aufgespeicherten Vorstellungen und Erinnerungen. Die Gefühle und Affekte werden erst dann zu bewegenden Kräften in der Geschichte, wenn sich ihr Vorstellungsinhalt prägnant herausgebildet hat (Nationalgefühl, Chauvinismus, Rassenhaß, religiöser Fanatismus). Je komplizierter das Gefühl, desto stärker dominiert der intellektuelle Bestandteil. Von solchen psychischen Gebilden können wir sagen, daß sie "vorstellungsbetont" sind. Besonders scharf tritt die Überlegenheit der intellektuellen Elemente bei den Willkür- und Wahlhandlungen auf, wo mehrere Motive zusammenwirken oder einander befehden und hemmen, bis schließlich eines aus dem Kampf siegreich hervorgeht und den Entschluß beherrscht.

Die  Mechanisierung der Willensvorgänge  bedeutet, daß in den Triebhandlungen nicht die Vorstellungen und Gefühle der Gegenwart, sondern die der Vergangenheit herrschen. Die früher bewußten Handlungen sind im Verlauf der phylo- [stammesgeschichtlichen - wp] und ontogenetischen [von der Eizelle zum geschlechtsreifen Zustand - wp] Entwicklung triebartig geworden.

In der Psychologie unterscheidet man  äußere  und  innere Willenshandlungen.  Die letzteren enden nicht mit einer äußeren Änderung und Fixierung der Vorstellungs- und Gefühlslage, es bleibt nur ein Vorsatz zurück, der gefaßte Entschluß wird erst später ausgeführt. Man kann die Bedeutung der inneren Willenshandlungen für die Geschichte nicht hoch genug veranschlagen. Sie sind die potentielle, akkumulierte Energie der Geschichte und werden durch die sie auslösenden Tatsachen in die kinetische Energie der äußeren Willenshandlungen und Massenbetätigungen umgesetzt. Ihr Vorhandensein, meist die Zugehörigkeit zu einer Partei, Klasse, oder Religion, ist die Grundlage jeder politischen Kalkulation. Diese Bereitschaft ist entweder aktiv, d. h. sie wird beim Eintritt des auslösenden Reizes zur Tat, oder sie äußert sich in einem passiven Verhalten, in einer Duldung oder einem Nichtwiderstehen. Besonders heute tritt ihre Bedeutung scharf hervor. Die Absicht oder der Entschluß der verschiedenen Parteien und Klassen, die bestehende Gesellschaftsordnung zu verteidigen oder abzuändern, die revolutionären Errungenschaften gegen jedwede Störung zu schützen oder sie rückgängig zu machen, sind innere Massenwillenshandlungen.

Die Erkenntnis, daß ein Ereignis oder eine Ereignisreihe  kausalnotwendig  eintreten wird, ist nicht gleichbedeutend damit, daß zur Herbeiführung dieses Ereignisses keine Willenshandlungen notwendig sind. Das bewußte Mitwirken an der Herbeiführung der Wirkung bildet auch einen Bestandteil der Notwendigkeit und wird als kausaler Faktor mit einberechnet. (STAMMLER, MAX ADLER)

Zweck und Mittel. Jede Willenshandlung hat ein Ziel: der Handelnde will entweder eine Änderung hervorrufen, einen äußeren Erfolg oder eine innere Bereitschaft erreichen Die vorgestellte Änderung bildet den Zweck der Willenshandlung und Massenbetätigung. Der Zweck ist ein gefühlsbetonter Vorstellungskomplex, der erkannt und gewollt wird. In der Geschichte ist die treibende Kraft der Zweckvorstellungen weitaus größer als die des Wissens, auch ihre Wertung ist gefühlsbetonter als die der Erkenntnisse. Die Geschichte der religiösen und sozialen Bewegungen liefert hierfür Beispiele in Fülle.

Ein Zweck setzt auch die Mittel zur Verwirklichung des Willenszieles voraus. Das Mittel ist ebenfalls eine gefühlsbetonte Vorstellung, die gleich dem Motiv aus dem Kampf der Mittelvorstellungen siegreich hervorgeht oder durch die Zweckvorstellung triebartig ausgelöst wird. In der Kausalreihe erscheint das Mittel - ein Vorgang, ein aktives oder passives Verhalten - als Ursache und die Verwirklichung des Zwecks als Folge.

Diese Beschreibung des Willensvorgangs ist nur ein Schema und besagt nicht, daß die Komponenten einer Willenshandlung immer in der beschriebenen Reihenfolge auftreten. Oft taucht bei Massenbewegungen zuerst die Zweckvorstellung auf und erst im Verlauf der auf die Verwirklichung des Willenszieles gerichteten Anstrengungen werden nicht nur die Mittel, sondern auch die Tatsachen erkannt, deren Abänderung eben die Zweckerfüllung bedeutet. Unter dem Einfluß einer gefühlsbetonten und festgewurzelten Zweckvorstellung erleiden die geschichtliche Erkenntnis und bisherige Werturteile oft eine vollständige Umwälzung.

Ideologien. Unter Ideologien wollen wir  sämtliche Denkgebilde  verstehen,  die über den einfachen Empfindungs- und Wahrnehmungsinhalt über dessen Deutung, begriffliche Festlegung, gedankliche Verarbeitung und logische Gliederung hinausgehen.  Sie reichen von den zusammengesetzten Vorstellungen bis zu den allgemeinsten Wissenschaften. Jeder Begriff, jede Theorie, jedes Wissenschaftliche System kann als Ideologie bezeichnet werden, ebenso die Weltanschauung, sowohl die vulgäre, als auch die hochwissenschaftliche. Auch die Gefühls- und Gemütsbewegungen können hierher gezählt werden, da sie ohne bestimmten Vorstellungsinhalt nie zu einer Handlung führen können. Auch der Glaube ist eine Ideologie, denn die subjektive und lebendige Gewißheit, die ihn vom Wissen unterscheidet, ist ein Resultat von Vorstellungskomplexen, Gefühlsmomenten und Zwecksetzungen.

Die historische Rolle der Ideologien besteht darin, daß sie als  psychische Einwirkungen einzelne Menschen und die Massen zur geschichtlichen Tat, zum Handeln, zur Unterlassung oder zu passivem Verhalten veranlassen. 

Verhüllung und Enthüllung. Betrachtet man die Gesellschaftsordnung als zentrale Tatsache, so sind in Bezug auf sie in der Geschichte zwei Tendenzen zu unterscheiden. Die eine -  konservative - will die bestehende Gesellschaftsordnung und deren Einrichtungen aufrechterhalten, ihre wesentliche Abänderung verhindern. Sie geht in  Gegenrevolution  und  Reaktion  über, die beide auch zu revolutionären Taten bereit sind, um den wesentlichen Inhalt der Gesellschaftsordnung zu retten und bereits eingetretene Umwälzungen rückgängig zu machen. Die zweite -  revolutionäre  oder  reformatorische - Tendenz will die bestehende Gesellschaftsordnung vollständig umstürzen, mindestens aber ihre wesentlichen Einrichtungen grundlegend abändern. Die Geschichte kann als Zusammenhang unausgesetzter Kämpfe dieser zwei Tendenzen aufgefaßt werden. Infolge dieser Kämpfe spaltet sich jede Gesellschaft in zwei Lager. Die zwei Grundströmungen kommen selten in theoretischer Reinheit und Schärfe vor. Unter- und Gegenströmungen treten auf, deren Interferenz [Überlagerung - wp] die Erkenntnis der vorherrschenden Tendenz erschwert.

Es wäre ein folgenschwerer Irrtum, zu behaupten, daß alle diejenigen, deren Interessen durch die herrschende Gesellschaftsordnung verletzt werden, ihre Abänderung herbeiführen wollen. Es ist dies eben das größte Rätsel der Geschichte, daß Menschen und Klassen für die Aufrechterhaltung einer Gesellschaftsordnung eintreten, die ihren Interessen widerstreitet. Im folgenden wird versucht, dieses Rätsel der Lösung näher zu bringen.

Um die Abänderung der Gesellschaftsordnung durchzusetzen oder zu verhindern, muß man über die Machtmittel der Gesellschaft verfügen. Der Kampf um die Abänderungen geht in einem Kampf um die Mittel, um die Macht und Herrschaft über. Wo gekämpft wird, setzt die Zusammenrottung der Kräfte, das Zusammenwirken innerhalb einer mehr- oder weniger organisierten Gruppe ein. Es entstehen  Klassen.  Dieser Kampf währt unausgesetzt und sein Resultat ist die Umstürzung, Abänderung oder Konservierung der Gesellschaftsordnung und ihrer einzelnen Institutionen. Jede Kampfphase endet in äußeren oder inneren Willenshandlungen, in geschichtlichen Taten.

Der  Klassenkampf  im engeren Sinne bedeutet den Zusammenhang dieser Willenshandlungen. Da die soziale Funktion der Ideologien darin besteht, Menschen und Massen zum Handeln oder zum passiven Verhalten zu veranlassen, so umfaßt im weiteren Sinne der Klassenkampf auch den  Kampf der Ideologien.  Der letztere Kampf bezweckt  die Vernichtung, Abänderung und Konservierung derjenigen Ideologien, die Produkt und Begleiterscheinung der bestehenden Gesellschaftsordnung sind. 

Das Wesen dieses Kampfes zeigt einen eigenartigen Charakter. Die Gruppen, die für die Aufrechterhaltung der Gesellschaftsordnung eintreten, richten ihre Bestrebungen darauf, daß kein Wunsch nach Änderung in den Gemütern aufkommt. Sie wollen die vorausgehenden und begleitenden psychologischen Prozesse der Willenshandlungen: Erkennen, Werten, Wollen, Zwecksetzung so beeinflussen, daß die Notwendigkeit der Abänderung, die Unhaltbarkeit des Bestehenden nicht erkannt wird, die Aufrechterhaltung desselben vielmehr als wertvoller Willenszweck erscheint. Diese Tendenz kann  Verhüllung, Verschleierung  genannt werden. Ihr gegenüber steht das Streben derjenigen, die die Abänderung der Gesellschaftsordnung bezwecken. Sie trachten die sozialen Tatsachen in ihrer wahren Gestalt zu erkennen und zu werten, ferner solche Willensziele zu setzen, die den Massenbedürfnissen und Interessen entsprechen. Sie sind bemüht, sämtliche Ideologien, die diesen Bestrebungen den Weg versperren, auf ihren wahren Gehalt zu prüfen und zu zeigen, daß sie keine unvergänglichen Wahrheiten und Ideale, sondern ein Ausfluß der bestehenden Gesellschaftsordnung sind. Diese Tendenz kann als  Enthüllung, Entschleierung, Demaskierung  bezeichnet werden.

Der Kampf der Ideologien ist nichts anderes, als  der Kampf zwischen Verhüllung und Enthüllung.  Diese Tendenzen und Bestrebungen sind nicht immer gewollt und bewußt, sie treten auch unbewußt und ungewollt als Resultat und Nebenprodukt von Willenshandlungen auf.

Die Tendenz zur Verhüllung wird dadurch verstärkt, daß der Lüge und Irreführung in der Biologie eine lebenserhaltende Rolle zukommt. Sie dienen als Schutzmittel des Schwächeren gegenüber dem Stärkeren. F. A. LANGE und NIETZSCHE vor allem haben die Bedeutung bewußt unwahrer Ideologien stark hervorgehoben und ihre nützlichen Wirkungen betont. Neuerdings hat HANS VAIHINGER auf kantischer Grundlage eine umfassende Theorie aufgestellt, in der er auf die große Wichtigkeit der Fiktionen als bewußt unwahrer Annahmen hinweist und sie als Mittel des wissenschaftlichen Fortschritts preist. Es erscheint daher wünschenswert, zu beweisen, daß in Bezug auf die Gesellschaftsordnung die Verhüllung nur einen Zweck hat und nur ein Resultat zeitigt: die Änderung der Gesellschaftsordnung im Interesse der durch sie Bevorrechteten zu verhindern und zu erschweren.

Um Mißverständnissen vorzubeugen, sei hier schon festgestellt, daß Verhüllung und Konterrevolution, besonders aber Enthüllung und Revolution sich nicht vollständig decken.


II. Ideologien und Gesellschaftsordnung

Das entscheidende Merkmal jeder bisherigen Gesellschaftsordnung war und ist die  Herrschaft einer Minderheit über die Mehrheit Jene wird durch die Arbeit der Mehrheit erhalten und genießt ein arbeitsloses Einkommen. Selbst in vorgeschichtlicher Zeit und bei den primitiven Völkern, schon in der Periode der Familienverfassung, hat sich dieser Zustand entwickelt. Die homogenen Urgesellschaften (SPENCER, DURKHEIM) wurden frühzeitig von einem Integrationsprozeß ergriffen. Das Mittel der Integration war der Kampf unter den verschiedenen Gruppen. Die Sieger organisierten auf Kosten der Besiegten ihre Herrschaft (BAGEHOT, RATZEL, OPPENHEIMER, GUMPLOWICZ, MÜLLER-LYER, auch WUNDT). Die Folge ist die Teilung in Herren und Knechte, in Befehlende und Gehorchende. Bei fortschreitender Differenzierung kompliziert sich die Klassengliederung vielfach.

Jede Gesellschaftsordnung stützte sich bisher auf die bewaffnete Macht, auf die Gebote der Rechtsordnung und die freiwillige Unterwerfung der Massen. Letztenendes entscheidet aber in allen Fällen die  freiwillige Unterwerfung  über das Bestehen einer Gesellschaftsordnung. Denn eine Rechtsordnung ohne Machtmittel ist wirkungslos, ihre Stütze - die bewaffnete Macht - kann aber nur solange eine dauernde Grundlage der Gesellschaft bilden, wie das Gefühl und der Entschluß zur Unterwerfung bei den Soldaten vorhanden ist. Schwindet ihr Gehorsam, so bricht die Herrschaft zusammen. Das war der Werdegang der meisten Revolutionen.

Wie wird nun diese Freiwilligkeit erreicht? Durch die überzeugende Kraft der bestehenden Zustände? Niemals würde eine Klasse in die Aufrechterhaltung eines Zustandes einwilligen, den sie als ihren Interessen schädlich erkannt hat und von dem sie weiß,daß dessen Abänderung von ihrem Willen abhängt. Die Vorstellung des gegenteiligen Falles heißt in der Sprache des Kantianismus ein unvollziehbarer Gedanke. Andere psychische Einwirkungen müssen eintreten, die dem Bewußtsein die Überzeugung aufdrängen, daß die Aufrechterhaltung des Bestehenden wünschenswert, oder daß seine Abänderung gleichgültig ist; daß die Auflehnung gegen sie, auch bei der Erkennung ihrer Schädlichkeit, zweck- und aussichtslos oder wegen einer anderweitigen Schadloshaltung nicht der Mühe wert ist.

Die Freiwilligkeit der Massen - diese spontane schwindelartige Bewegung, wie BAKUNIN sagt - offenbart sich auf zweifache Weise. Zuerst in äußeren Willenshandlungen, durch ein bewußtes, sogar begeistertes Eintreten für die Gesellschaftsordnung. Das Hauptgewicht liegt aber auf den inneren Willenshandlungen, dem mehr oder weniger bewußten Entschluß der Massen, sich in die Zustände zu fügen, die Gebote der Gesellschaftsordnung zu befolgen, mit dem Bibelwort: "dem Übel nicht zu widerstreben". Diese Passivität, diese soziale Trägheit, die jede Generation der anderen vererbt, ist die Hauptstütze der Gesellschaftsordnung. Ihre seelische Grundlage ist der Gemütszustand, den wir mit JOHN STUART MILL als  "Gleichgültigkeit gegen die Wahrheit"  bezeichnen können.

Prüfen wir nun diejenigen Ideologien, die sowohl das aktive wie auch das passive Verhalten der Massen herbeizuführen geeignet sind. Durch diese Funktion gehören die führenden Ideologien, besonders aber die religiösen und moralischen Ideen, zur Gesellschaftsordnung. Die freiwillige Unterwerfung ist die Folge des Ansehens, das die Gesellschaftsordnung in den Augen der ihr Untergebenen genießt und das ihr die notwendige Macht ohne Inanspruchnahme äußerer Machtmittel verleiht. Die Aufgabe lautet daher so: Welche Merkmale zeigen diejenigen Ideologien, die der Gesellschaftsordnung  Autorität  verschaffen?

Absolutheit. Das Absolute ist nach der üblichen Definition keiner Bedingung oder Einschränkung unterworfen, über die Vielheit und Gegensätze der Dinge erhaben. Sein Wesen entzieht sich der menschlichen Erkenntnis. Das Absolute bewirkt die Dinge oder Erscheinungen, deren letzte Ursache es ist. Als absolut werden zu verschiedenen Zeiten verschiedene Dinge, geistige und materielle Substanzen, Begriffe, Ideen angenommen. Nur einige Beispiele bezüglich der Gesellschaftsordnung seien hier angeführt. In jeder Kulturreligion ist Gott als höchstes Wesen, als absoluter Urgrund des Seins über alle Relationen erhaben; sämtliche menschliche Handlungen werden auf ihn bezogen. Diese Absolutheit wird auf Einrichtungen übertragen, die sich als Vertretung der göttlichen Ordnung bezeichnen, vor allem auf die Kirche. Der jetzige Begriff des Staates ist absolut, über die Staatsbürger erhaben; er besitzt Selbständigkeit und Eigenleben. Die Rechtsordnung ist der Inbegriff absolut gültiger Normen; ihre Grundinstitution ist das Eigentum, die ausschließliche Herrschaft über eine Sache. Die Moral ist ein Sammelbegriff absolut gültiger Normen und die relativistischen Tendenzen des Utilitarismus und Eudämonismus haben bisher ihre Grundlagen wenig erschüttert. - Absolute Gültigkeit besitzen diejenigen Urteile (Wahrheiten), die von aller Verschiedenheit des Erkennenden unabhängige und daher allgemeingültige Bedingungen des Denkens und Erkennens sind (EISLER). Das ist der Standpunkt aller rationalistischen Philosophie und Erkenntnistheorie, insbesondere der des Kantianismus. Als Musterbeispiele solcher Wissenschaften sind die Mathematik, die mathematische Physik und die Logik zu erwähnen. - Auf politischem und noch mehr auf moralischem Gebiet überwuchern die absoluten Werte, die unbedingt anerkannt werden müssen und keines Beweises bedürftig sind. Sie sind die Urbedingungen aller anderen Werte; jede menschliche Handlung wird an ihnen gemessen (Tugend, Patriotismus, Gerechtigkeit usw.).

Apriorität. Sie zeigt mit dem Begriff der  Absolutheit  große Ähnlichkeit, der Gebrauch des Terminus schwankt. Absolutheit bezieht sich mehr auf die  Geltung Apriorität auf den  Ursprung.  Apriori ist, was nicht aus der Erfahrung stammt, von ihr unabhängig vorhanden ist; apriori sind Urteile, die unmittelbar gewiß und einleuchtend sind, daher notwendig und allgemeingültig beweislos als wahr angenommen werden müssen. Apriorische Urteile und Begriffe bedürfen keiner Verifizierung durch die Erfahrung, im Gegenteil, sie gehen logisch jeder Erfahrung voraus und machen sie erst möglich. Eine kurze Untersuchung zeigt, daß sämtliche führende Institutionen der Gesellschaftsordnung apriorischen Charakter haben.

Diese Institutionen gelten entweder als von Gott geschaffen oder als der menschlichen Vernunft und anderen Prinzipien entsprungen, die durch die Erfahrung der Untergebenen nicht kontrolliert werden können. In der Auffassung der Massen herrscht die Zurückführung auf Gott vor: Kirche, staatliche Obrigkeit, Eigentum, Familie sind von Gott eingesetzt; die katholische Ehe ist ein Sakrament, ein Mittel der göttlichen Gnadenvermittlung. Die andere - metaphysische - Auffassung ist ein Produkt der rationalistischen Philosophie. Die Grundinstitutionen der Rechtsordnung, besonders das Eigentum und das Familienrecht, werden aus der Vernunft, aus der menschlichen Natur abgeleitet, wobei unter Natur nicht die durch Erfahrung erschließbare Welt der Erscheinungen verstanden wird, sondern ein a priori konstruierter Begriff. Ebenso werden die Sittengesetze abgeleitet. Auch die Sprache ist ein apriorisches Gebilde. Das  Bestehende  ist immer  a priori [von Vornherein - wp], das  Neue, das  Werdende a posteriori [im Nachhinein - wp]. Apriorische Wissenschaften sind außer der Mathematik und Logik die nicht empirische Ethik und Erkenntnistheorie.

Macht und Herrschaft. Das Absolute ist die oberste Bedingung aller Dinge und Begriffe, selbst keiner Einschränkung unterworfen. Dieses Verhältnis, auf das Wirtschafts- und politische Leben projiziert, bedeutet die Herrschaft und die Macht der absoluten apriorischen Institutionen über diejenigen, denen sie auferlegt sind. Das Wesen des Staates ist die Herrschaft einer Klasse; Nationalismus bedeutet die Herrschaft einer Rasse über die anderen; Religion ist die Unterwerfung unter den göttlichen Willen, daher die Herrschaft Gottes und derjenigen, die ihre irdische Stellung auf den göttlichen Willen zurückzuführen vermögen; die Familie ist die Herrschaft des Familienoberhauptes; die Erziehung beruth gänzlich auf einer autoritären Grundlage; in den Beziehungen zwischen Mann und Frau steht die Herrschaft den Männern zu; die Grundinstitution unserer Rechtsordnung, das Eigentum, ist das ausschließliche Recht über eine Sache; die Ehe ist nichts anderes als die Übertragung der Eigentumsverhältnisse auf das Familienleben. Der Kampf um die Gesellschaftsordnung, der Wille zur Macht kann daher metaphysisch als Streben nach absoluter Geltung, nach der Weihe der Apriorität gekennzeichnet werden.

Dualismus. Als Folge der grundlegenden Einteilung:  absolut - relativ, a priori - a posteriori, Herrscher - Beherrschte,  entwickelt sich im Verlauf der Geschichte ein Dualismus, der sämtliche führende Ideologien und Begriffe, die wesentlichen Einrichtungen der Gesellschaftsordnung ergreift. Es seien nur einige erwähnt:  Gott - Welt, Jenseits - Diesseits, Geist - Natur, Seele - Leib, Geist - Materie, Form - Inhalt, Verstand - Sinnlichkeit, Kirche - Staat  usw. Die zuerst entstehenden Ideologien sind apriorischer Natur und nach der herrschenden Wertschätzung den nicht apriorischen Ideologien und Einrichtungen übergeordnet. Die mittelalterlichen Theologen, besonders aber THOMAS von AQUIN, vertraten die Auffassung, daß die weltliche Macht der geistlichen, die staatliche der kirchlichen ebenso untergeordnet ist, wie der Leib der Seele. Die Überschätzung des Jenseits diente dazu, die Aufmerksamkeit der Massen von der Änderungsbedürftigkeit des Diesseits abzulenken. Die Einwirkungen, welche die Menschen dazu veranlassen, daß sie für die Abänderung der ihnen a priori von oben oktroyierten Gesellschaftsordnung eintreten, kommen von der Außenwelt, vom Leib, von der Materie, aus der Erfahrung; daher ihre Degradierung und Geringschätzung nicht nur in der Theologie und Ethik, sondern auch in der idealistischen Metaphysik und Erkenntnistheorie. Die rohe Materie, der alles Böse entstammt, wird selbst in den Naturwissenschaften den apriorischen Prinzipien gegenüber mit einer gewissen Verachtung behandelt. Ebenso erschien der mittelalterlichen Philosophie nur die Forschung nach den Ursachen als angemessene Aufgabe, die Feststellung der Wirkungen, d. h. die empirische Betätigung als unwürdig. In der Ethik ist die Pflicht der Neigung (den Bedürfnissen), die Freiheit der Notwendigkeit (Naturkausalität) übergeordnet.

Besonders wichtig ist die Gegenüberstellung von  Vernunft (Verstand) und  Sinnlichkeit Der Vernunft wird Apriorität beigemessen, der sinnlichen Erfahrung nicht, daher eine Höherschätzung der ersteren. Als KANT die Sinnlichkeit dem Verstand gleichstellen wollte, tat er dies durch eine Rangerhöhung und verlieh auch ihr in Bezug auf Raum und Zeit die Apriorität.  Die reine Erfahrung,  d. h. die durch Denkzutaten noch nicht verfälschte Empfindung und Wahrnehmung, ist ein sicherer Führer des handelnden Menschen, doch die Deutung derselben geschieht schon im Bann der apriorischen Prinzipien.

Hierarchie und Rangordnung. Das Absolute ist gewissermaßen auch relativ; es gibt verschiedene Grade der Absolutheit, deren Rangordnung nach ihrer Nähe zum obersten Absoluten bestimmt wird. Der Staat ist auf politischem Gebiet ein absoluter Begriff, nach der theologischen Auffassung ist er aber von Gott eingesetzt, daher der Kirche untergeordnet. Sämtliche Rechtsinstitutionen sind aus dem absoluten Begriff des Eigentums abgeleitet; ihre Rangordnung entspricht ihrer Bedeutung bezüglich der Ausübung des Eigentumsrechts. Das Eigentum entspringt entweder dem göttlichen Willen oder der Vernunft. Der Verstand hat der Sinnlichkeit gegenüber eine bevorzugte Stellung, doch Glaube (theologisch) und Vernunft (metaphysisch) stehen höher als er. Das ganze Wissen, sämtliche Einrichtungen der Gesellschaftsordnung werden klassifiziert, eingeschachtelt; jedem Begriff, jeder Einrichtung wird ein entsprechender Platz in der Rangordnung nach dem Grad ihrer Vollkommenheit zugewiesen. "Das Pathos der Distanz" (NIETZSCHE), der Abstand der Menschen und Institutionen, die Betonung der Ungleichheit ist das hervorstechendste Merkmal jeder Gesellschaftsordnung.

Auf dem Gebiet der Wissenschaften herrscht noch immer die von LEIBNIZ besonders scharf formulierte Unterscheidung zwischen  denknotwendigen Wahrheiten  und Urteilen (vérités de raison [Vernunftwahrheiten - wp]) und  Erfahrungserkenntnissen (vérités de fait [Tatsachenwahrheiten - wp]) vor. Jene sind allgemeingültig, unmittelbar gewiß, die letzteren besitzen nur approximative Gültigkeit. Zur ersteren Kategorie gehören die logischen und mathematischen Sätze, wobei auch Ethik und Metaphysik ihre Ansprüche geltend machen, zur zweiten die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse. Man sieht: wiederum eine Degradierung der Erfahrung. Unmittelbar evident sind auch die Grundsätze der Rechtsordnung. Es meldet sich die Kirche und fordert für ihre Glaubensdogmen einen noch höheren Rang, weil sie eine intuitive und unmittelbare Einsicht in Gottes Wesen gewähren. KANT erkannte als Konsequenz dieser Einteilung, daß die Sätze der Physik und Mathematik ihre unbedingte Allgemeingültigkeit, sowie ihren Charakter als echte Wissenschaften einbüßen müßten. Im Bann des Autoritätsprinzips befangen, konnte er aber keinen anderen Ausweg als eine Rangerhöhung fniden: er erhob die Sätze der Physik und Mathematik, um ihnen Allgemeingültigkeit und Apriorität zu sichern, in den Adelsstand, schuf für sie die neue Rangklasse der  synthetischen Urteile a priori.  Die Rangordnung der Wissenschaften und der Gesellschaftsordnung stehen zueinander in Wechselwirkung. Jede grundsätzliche Änderung auf dem einen Gebiet ruft eine entsprechende Verschiebung auf dem anderen hervor.

Rangpriorität der Form. Aus den dualistischen Begriffspaaren müssen wir jenes besonders hervorheben, das die Rangpriorität der Form über den Inhalt (Materie) feststellt. Nur die Formen verleihen dem Inhalt, bzw. den Dingen einen festen Charakter; durch die Form erhalten sie ihre Vollendung. Die Form ist a priori und allgemeingültig; der Inhalt stammt aus der Erfahrung, daher wird er in eine niedrigere Rangklasse eingeteilt. Die Gesellschaftsordnung, die von den jeweils herrschenden Klassen bestimmt ist, wird als die apriorische Form betrachtet; hingegen werden die menschlichen Bedürfnisse, die Änderungen der Produktivkräfte, ihre Einwirkungen auf das Bewußtsein, die nach einer Abänderung der Gesellschaftsordnung drängen, als Materie stigmatisiert. Die Priorität der Form hat sich zuerst auf politisch-wirtschaftlichem Gebiet in einer Zeit entwickelt, als Wissenschaften noch überhaupt nicht vorhanden waren. Der organisatorische Ausdruck der Form -  die Ordnung - ist die Grundlage jeder Herrschaft, Macht und Autorität. Das Sicheinfügen in die bestehende Ordnung ist die Pflicht, die jede Macht vom Beherrschten verlangt. Die Gültigkeit einer Ordnung - so lautet die Ansicht der Verfechter des Formalismus kann nicht durch eine genetische Untersuchung entschieden werden. Sie wissen wohl, daß die Macht sich keine Geltung verschaffen könnte, wenn ihr Ursprung von den Untergebenen klar erkannt würde. Die Überschätzung der Form (Ordnung) in den Wissenschaften ist nur eine Folge ihrer sozialen Bedeutung. Das  Bestehende  ist die Form, das  Neue,  das  Werdende  muß sich in ihren Rahmen einfügen, sich von ihr beherrschen lassen.

Besonders scharf tritt dieser Zusammenhang auf dem Gebiet des * ethischen Formalismus auf. Nicht im Inhalt, sondern in der Form des Sittengesetzes liegt der Grund seiner Allgemeingültigkeit.  Der kategorische Imperativ  von  KANT befiehlt jedem, so zu handeln, daß die Maxime seines Willens zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten kann. Jeder Mensch ist ungefähr imstande, zu beurteilen, ob eine Handlung seinen Interessen entspricht; doch wenige sind fähig, Prinzipien einer allgemeinen Gesetzgebung aufzustellen. Auf der Suche nach diesem Prinzip verfallen sie unerbittlich den herrschenden Ideologien.

Auf denselben Grund ist die Hervorhebung der  Formalwissenschaften (Mathematik, Logik, mathematische Physik), als wirkliche und wahre Wissenschaften den Erfahrungswissenschaften gegenüber zurückzuführen.

Autoritärer Ursprung und vornehme Abstammung. Die Befürworter der heutigen Gesellschaftsordung trachten immer zu beweisen, daß die Einrichtungen derselben einem Faktor entstammen, der in der absolutistischen Rangordnung einen möglichst hohen Rang einnimmt. Meist wird alles auf den Urgrund  Gott  zurückgeführt. Die Monarchie von Gottesgnaden ist das zeitlich-menschliche Abbild des göttlichen Regiments. Die Krönungsproklamation des russischen Kaisers ALEXANDER III. (1883) verkündete, daß alles Heil des Reiches von der mit göttlicher Weisheit und Stärke begnadeten, unumschränkten Machtvollkommenheit des Kaisers abhängt. Die staatliche Autorität ist Vollstreckerin der göttlichen Gerechtigkeit auf Erden. Als weiteres charakteristisches Beispiel dieser Auffassung möge der berühmte Ausspruch des Königs FRIEDRICH WILHELM IV. von Preußen dienen, mit dem er die Forderung auf die Gewährung einer parlamentarischen Verfassung im Jahre 1847 abwies:
    "Nie und nimmer werde ich es zugeben, daß sich zwischen unseren Herrgott im Himmel und dieses Land ein geschriebenes Blatt Papier eindrängt, um uns mit seinen Paragraphen zu regieren und die alte heilige Treue zu ersetzen."
In modernen Staatswesen leitet die herrschende Klasse die Staatsgeschäfte im Namen des Volkswillens und der Volkssouveränität und beruft sich nur im Notfall auf Gott. NAPOLEON nannte sich Kaiser der Franzsoen von Gottesgnaden und durch die Konstitution der Republik. Die Heilige Schrift, in den prostestantischen Ländern die mächtigste Stütze jeder bestehenden Gesellschaftsordnung, wird nach der herrschenden Auffassung, der Verbalinspiration als unmittelbare Mitteilung Gottes betrachtet.

Eine bewährte Methode ist, den autoritären Ursprung mit Hilfe mehrerer apriorischer Prinzipien zu sichern. Eigentum, Ehe, Verfassung werden sowohl als von Gott eingesetzt als auch dem Naturrecht entspringend betrachtet. Es gibt kein ethisches Gebot, keine grundlegende Rechtsinstitution, die die religiöse Rangerhöhung nicht anstreben würde. Ebenso allgemein ist der Vorgang, diese Institution in der chronologischen Reihenfolge möglichst weit zurückzudatieren; selbstverständlich ist die Zurückführung auf Gott auch hier das Wirksamste. Die Bibel als Wort Gottes ist die nächste Rangstufe. Das Neue Testament stützt sich gänzlich auf das Alte und will dessen Prophezeiungen erfüllt wissen. Es werden aus der Geschichte berühmte Männer, große Könige ausgesucht und mittels einer verkehrten Adoption an Vaterstatt angenommen. So leitete man im Mittelalter alle Rechtstitel von KARL dem Großen, in Ungarn von STEFAN dem Heiligen ab. Auf dem Gebiet der Wissenschaften ist dieses Streben gleichfalls allgemein. LEIBNIZ war der Meinung, daß die denknotwendigen Wahrheiten auf dem Verstand Gottes beruhen und daß die Konstanz der Naturgesetze durch den Willen Gottes verbürgt ist. Nach DESCARTES ist die Existenz Gottes eine Bürgschaft dafür, daß unsere Wahrnehmungen nicht täuschen; eine so grobe Täuschung wäre mit Gottes Würde und Wahrhaftigkeit unvereinbar. In dieser Mentalität lebte auch NEWTON. Denjenigen, der die theologischen Tendenzen aus den Naturwissenschaften gänzlich verschwunden wähnt, würde eine aufmerksame Untersuchung - die MACH so überzeugend durchführte - bald eines Besseren belehren.

Mystik und Romantik. Infolge der Überwucherung der Absolutheit und apriorischen Elemente sthet die Gesellschaftsordnung vor der n Masse als etwas  Übernatürliches, Übersinnliches,  von oben her Gegebenes da, das niemals erforscht werden kann. Die Auflehnung gegen sie - Affektausbrüche revolutionärer Perioden ausgenommen - erscheint ebendarum hoffnungs- und zwecklos. Jedermann wird in sie hineingeboren; sie wird in allen ohne ihre Befragung auferlegt. Die Kompliziertheit der sozialen Beziehungen macht es dem Durchschnittsmenschen unmöglich, den Erfolg seiner Tätigkeit und die Ursachen, die über sein Los entscheiden, klar zu übersehen. Fleiß und Ehrlichkeit schützen vor Elend und Mißerfolg nicht, wenn politische Ereignisse und wirtschaftliche Krisen ihn überwältigen. Die sozialen Beziehungen werden dadurch zu apokalyptischen Wesenheiten, zur Offenbarung höherer, unsichtbarer Mächte, mögen sie im Diesseits oder im Jenseits residieren. Tritt auch eine teilweise Abänderung ein, die Gesellschaftsordnung als zusammenhängendes, über den Untertanen schwebendes Ganzes scheint unverändert zu verbleiben. Die Gesellschaftsordnung gewinnt einen mystischen Zug; sie wird zum  Schicksal,  zur  Prädestination.  Nur wenige Auserwählte können bis zu ihrem Kern vordringen; die Masse sieht zu ihr mit ehrfürchtigem Schauer auf. Selbst die nüchterne Zeit der Aufklärungsperiode konnte sie dieser mystischen Verhüllung nicht entkleiden. Seit dem Emporkommen des Romantizismus hat sich ihr übersinnlicher Charakter noch mehr entwickelt; sie erscheint in einem historischen Glanz, von einem überschäumenden Traditionskult phantasievoll ausgeschmückt und den irdischen Verhältnissen entrückt.

Teleologie. Die Gesellschaftsordnung wird als Bestandteil einer zweckmäßigen Welteinrichtung betrachtet, als Schöpfung höherer Gewalten, die jede Institution zu einem bestimmten Zweck geschaffen haben. Die Zweckursache, der Schöpfer, ist entweder Gott oder eine metaphysische Wesenheit, Vernunft oder Natur, sittliche oder Rechtsordnung. Der Staat, das Eigentum, die Familie, die Ehe, Strafe und Lohn erscheinen als von Gott, von der Natur oder der sittlichen Ordnung eingesetzte Menschheitszwecke, deren zweckmäßige Funktionierung die Menschen mit wachsender Bewunderung und Ehrfurcht erfüllt. Die Abänderung derselben wäre gleichbedeutend mit einer Störung dieses untrüglichen Mechanismus, des Heilplans. Die Ursachen werden in End- oder Zweckursachen und in bewirkende Ursachen eingeteilt. Die Rangpriorität der Finalität gegenüber der Kausalität stellt eine weitere Degradierung der Erfahrung dar, da die Erfahrungstatsachen der Naturkausalität unterworfen sind.

Hypostasierung. Sämtliche Ideologien haben die Tendenz, sich zu verdinglichen. Durch Generationen weitergegeben, treten sie mit einem autoritären Zwang auf, dem sich das Denken nicht entziehen kann. So werden aus abstrakten Begriffen, Ideen oder Prinzipien selbständige Wesenheiten, unsichtbare, doch sehr spürbare Mächte, denen die Menschen als höheren, gebietenden Wesen gehorchen. Ein anderer Weg der Verselbständigung der Ideologien ist deren  Personifizierung.  Sie kann auf allen Gebieten der Wissenschaften aufgezeigt werden: MACH hat sich auch in dieser Beziehung große Verdienste erworben. Für die Volkswirtschaftslehre und Soziologie haben dieselbe Arbeit durch Entschleierung der "ewigen Wesenskategorien" MARX und ENGELS vollbracht. Die im Bann des Machtprinzips erzogene Menschheit unterwirft sich williger, wenn Gott, Staat, Kirche, Obrigkeit nicht als Ideen und Begriffe oder gar Beziehungskomplexe, sondern als selbständige, apriorische, übernatürliche Wesen, als  Machtsubjekte,  auftreten. Es ist daher durchaus verständlich, daß die mittelalterliche Kirche den  Nominalismus der behauptete, die Allgemeinbegriffe seien nur Worte und bezeichneten nichts objektiv Wirliches, unter Bann legte. Ihre jetzige feindliche Stellungnahme dem kritischen Positivismus gegenüber geht auf dieselben Beweggründe zurück.

Dogmatismus und Kanonisierung. Die Ideologien verwandeln sich regelmäßig in Dogmen - wie COMTE sagt -, die wechselnden Anschauungen einer bestimmten Gesellschaftsordnung werden zu absoluten Wahrheiten geheiligt. Zu diesem Zweck werden sie in prägnanten Sätzen formuliert. Die Dogmen verleihen den Gläubigen den absoluten Wahrheitsbesitz; wer sie angreift, kann kein gläubiger Christ, wahrer Patriot, guter Bürger oder tugendhafter Mensch sein. Es werden sämtliche Ideologien kanonisiert, mündlich oder schriftlich festgelegt; ihr Zwang ist unwiderstehlicher als der der Rechtsregeln.

Die führenden Ideologien werden dadurch der  Infallibilität [Unfehlbarkeit - wp] teilhaftig. Sie werden unter  Tabu  gelegt; Kritik an ihnen oder ihr Umsturz wird außer den Strafgesetzen mit allen psychologischen Mitteln verhindert. Eine planmäßige  Apologetik [Rechtfertigung - wp] sucht aufkeimende Zweifel schon im Voraus zu zerstreuen.

Die Vorherrschaft dieser Ideologien wurde dadurch begünstigt, daß dieselben  denkökonomisch zweckmäßige  Funktionen verrichten. Es mag dahingestellt bleiben, ob ihre Gegenideologien nicht einen höheren Grad von Zweckmäßigkeit aufzeigen könnten: wir wollen vorläufig dabei bleiben, daß diese Ideologien nicht nur schädliche, sondern auch nützliche Wirkungen zeitigen können. Der Glaube an das Absolute sichert dem Wissen und Streben einen festen Stützpunkt. Rangordnung und Hierarchie entstammen der Neigung, zwischen dringenden und weniger dringenden Bedürfnissen, zwischen näheren und weiteren Zielen zu unterscheiden. Der Autoritätsglaube wirkt auch zweckmäßig, leitend und organisierend, die Dualität des Bewußtseins, die Unterscheidung des Ich von einem Nicht-Ich, Ich und Welt ist ein Urerlebnis und dient als Orientierung und Unterscheidungsgrundlage. Benennung der Dinge ist ein ökonomisches Verhalten, dadurch aber ist bereits der Weg zur Hypostasierung freigemacht. Der Hang zum Dogmatismus entspringt der biologischen Tendenz zur Stabilisierung. (MACH, ENRIQUES, EISLER, KLEINPETER, VAIHINGER)

Der Ursprung dieser Ideologien reicht bis in die Urzeit zurück. Was dem primitiven Menschen außergewöhnlich oder überlegen erscheint, deutet er anthropomorphisch, als Kraftäußerung eines Siegers und Herrschers, eines Gottes. Die aus den eigenen Wahrnehmungen stammenden Vorstellungen mit einem starken emotionalen Einschlag projiziert er in die Außenwelt. So entstand der Glaube an die unsichtbaren und höchstwirksamen Kräfte, Geister, Dämonen, ein fortwährender Appell an Zauberei und Magie; so die verschiedenen Weltanschauungen wie  Animismus - Beseeltheit der Naturkräfte und Gegenstände;  Fetischismus - der Glaube an die Kraft lebloser Objekte;  Totemismus - eine komplexe Variation derselben und zugleich Grundlage der Stammesgliederung (SPENCER; WUNDT, PREUSS, TYLOR, LÈVY-BRUHL) Alle diese Ideologien haben eine gemeinsame Wurzel, den  Anthropomorphismus [Vermenschlichung - wp]. Sie entspringen dem biologisch verankerten Bedürfnis des Menschen, sich im Wirrwarr der Naturereignisse zurechtzufinden, mit der Natur eine Verbindung herzustellen, die Naturkräfte menschlichen Zwecken dienstbar zu machen, ihre schädlichen Einflüsse fernzuhalten.

Die Herrschaft der obigen Ideologien ist auch auf naturwissenschaftlichem Gebiet restlos nachweisbar. (MACH, STALLO, DUHEM, REY, PETZOLDT, POINCARÈ usw.) Die Grundlagen und die ideologischen Merkmale der Minoritätsherrschaft waren schon lange festgewurzelt, bevor die Wissenschaft ein selbständiges Dasein erlangte. Die religiösen, politischen und wirtschaftlichen Bedürfnisse waren von jeher stärker als die wissenschaftlichen; die Machtgestaltung hat der Wissenschaft ihren Charakter aufgestempelt. "Politisch-juristisches Denken geht der naturwissenschaftlichen Erkenntnis nicht nur voran, es weist ihr auch die ersten Wege." (KELSEN)

Mögen aber die herrschenden Ideologien einen noch so natürlichen Ursprung haben, die Entwicklung des menschlichen Wissens, der Technik hätte sie als dem jetzigen Stand menschlicher Kultur nicht mehr entsprechende Erkenntnisse und Geistesrichtungen längst beseitigt. Was ihnen Unvergänglichkeit verleiht, ist: daß sie  zur Erhaltung der bestehenden Gesellschaftsordnung mächtig beitragen.  Ebenso wie es unrichtig wäre zu behaupten, daß die Religion von Anfang an ein bewußter Betrug war und daß sie zu Herrschaftszwecken erfunden wurde, ebenso übertrieben wäre es, den Ursprung dieser Ideologien auf ähnliche Gründe zurückzuführen, denn sie entspringen dem Orientierungsbestreben des wissenschaftlich noch nicht geschulten Menschen. Wie sie aber das Denken der Menschen beherrschten und so zu einer Macht wurden, wurde jede Gruppe, die die Gesellschaft beherrscht, darauf geführt, sich diese Macht dienstbar zu machen, um die Befreiung des menschlichen Geistes von der Herrschaft des Trieblebens hatte große Vorteile für die kulturelle Entwicklung; doch barg sie auch Gefahren in sich. Anstatt der sicheren Führung der Instinkte ist die Menschheit unter den entscheidenden Einfluß der nicht immer zweckmäßigen Ideologien gelangt. Die Wirkung dieser Ideologien stellt eine riesige  Domestikation  dar, welche die Menschen entnaturalisiert, verwirrt und für fremde Zwecke dienstbar macht. Die Minoritätenherrschaft beginnt, wo die Herrschaft dieser Ideologien sich befestigte und wo die Aufstellung indirekter Ziele über die direkte Bedürfnisbefriedigung die Oberhand gewann, wo - um mit HEGEL zu sprechen - "die Vernünftigkeit in eine weltliche Existenz zu treten begann."

In jeder Gesellschaft sind drei Schichten zu unterscheiden, die aus je einer oder mehreren Klassen bestehen können. Erst die  herrschende Gruppe,  dann die große  Masse der Beherrschten,  schließlich eine Gruppe, deren Betätigung in der Produktion, Konservierung, Befehdung oder Verfälschung von Ideologien besteht, mit einem modernen Wort:  der intellektuelle Mittelstand.  Dieser huldigt abwechselnd, den Zeitumständen entsprechend (nicht sukzessiv, wie COMTE behauptet), entweder theologischen Dogmen oder metaphysihschen Ideen und Wesenheiten. Erkennt er den richtigen Charakter der herrschenden Ideologien, so bedeutet es noch nicht, daß er gegen diese auftritt. Infolge der Verknüpfung seiner Interessen mit der Gesellschaftsordnung arbeitet er ruhig an deren Verfälschung weiter oder infolge einer "Gleichgültigkeit gegen die Wahrheit" läßt er den Ereignissen freien Lauf. Nur wenige sind gewillt, diese Ideologien zu bekämpfen, sie werden dann die Lenker der Revolutionen, zu denen sich die dumpfen Massenbewegungen verdichten. Im Brennpunkt des Interesses der Massen stehen auch noch heute die theologischen Sätze und die hypostasierten [einem Wort wird gegenständliche Realität untergeschoben - wp] Begriffe. LE BON hat recht mit seiner Feststellung, daß Ideen und Glaubenssätze von den Massen entweder  en bloc  als absolute Wahrheiten angenommen oder als absolute Irrtümer  en bloc  verworfen werden. Doch ist das keine Erbsünde der von LE BON gehaßten und verachteten Masse, sondern eine Folge ihrer Domestikation und geistigen Niederhaltung. Wollen wir bestimmen, welche die "handgreiflichsten", festest gewurzelten Ideologien der Masse sind, so erhalten wir die drei Grundideen:  Gott, Unsterblichkeit  und  Willensfreiheit Die Furcht vor der Strafe Gottes, die Verantwortung im Jenseits für die eigenen Taten, der in Aussicht gestellte Lohn hält unter gewöhnlichen Umständen die Majorität davon ab, sich gegen die Minderheit, die als Vertreterin der gottgewollten Ordnung gilt, aufzulehnen. Der überpersönliche Gott, die oberste mystische Sublimierung der Absolutheit und Apriorität, doch ein nach dem Ebenbild des Menschen geschaffener allmächtiger Herrscher des Weltalls, ist die  ultima ratio  auch der heutigen Gesellschaftsordnung. NAPOLEON war sich dessen bewußt, als er sagte:
    "Wenn einer Hungers stirbt neben einem anderen, der von Überfluß strotzt, so ist es unmöglich diesen Unterschied anzuerkennen, wenn es nicht eine Autorität gibt, die sagt, Gott will es so."
Ein sehr großer Teil der Mittelklasse ist in dieser Beziehung auch der Masse zuzurechnen, der nur einige gefühlsbetonte Ideologien (Chauvinismus, Rassenhaß) vermehren ihre ideologische Ausrüstung.

Man mag eine geniale Unterscheidung darin finden, daß Gott und das Leben im Jenseits nicht als metaphysische Wesenheiten erkennbar, sondern nur als  Ideen  und regulative Prinzipien zu postulieren sind; die Massen nehmen davon keine Kenntnis und betrachten weiter diese Ideen als anthropomorphische Wesenheiten und Vorgänge. Daher führt das von KANT proklamierte Primat der praktischen Vernunft und die Trennung von Wissen und Glauben praktisch zu demselben Resultat, wie die theologischen Sätze: Das Glauben steht über dem Wissen und alles was die bestehende Gesellschaftsordnung zu erhalten imstande ist, steht höher, als was sie erschüttern kann.

Wir haben die Merkmale der herrschenden Ideologien der Gesellschaftsordnung aufgezählt. Diese sind die Gegenstände der Verhüllung und Enthüllung.  Die Tendenz der Verhüllung will das Autoritätsprinzip, die Absolutheit und Apriorität mit allen ihren Begleiterscheinungen und Konsequenzen schützen und bekräftigen. Die Enthüllung will und muß sie erschüttern oder durch gegenteilige Ideologien ersetzen.  Es ist ein ungleicher Kampf. Die ungeheurliche Kraft der Vergangenheit, ihr immenses Beharrungsvermögen erschwert ungemein das Durchdringen der enthüllenden Tendenzen. Wenn schöpferisch tätig sein das bedeutet, was BERGSON behauptet: möglichst viel Vergangenheit in einem Augenblick zusammenballen und dadurch die Zukunft neugestalten zu können, dann ist der ideologische Mechanismus der Klassenherrschaft wirklich schöpferisch tätig.

Mit den obigen Betrachtungen ist auch eine Brücke zu den verschiedenen Wissenschaften und philosophischen Richtungen geschlagen. Wenn KANT sagt, daß jede Wissenschaft nur in einem solchen Maß diesen Namen verdient, als sie Mathematik enthält, so sagen wir, daß  jede Wissenschaft und Philosophie - sogar jede literarische und Kunstrichtung - in  solchem Maß der Verhüllung dient, wieviel Absolutheit und Apriorität sie in sich birgt. 
LITERATUR: Paul Szende, Verhüllung und Enthüllung, Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung, 10. Jahrgang, Leipzig 1922