p-4 R. SemonTh. ZiehenA. LassonB. Rawitz    
 
MAX OFFNER
Das Gedächtnis
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"Die Fähigkeit der Seele  vorzustellen, Vorstellungs- inhalte zu haben, die Möglichkeit, daß in der Seele Vorstellungs- erlebnisse auftreten, das ist das Gedächtnis."

Vorwort

In den letzten Jahrzehnten hat unser Wissen über das Gedächtnis durch die grundlegenden Untersuchungen WUNDTs und seiner Schüler durch EBBINGHAUS' bahnbrechendes Buch über das Gedächtnis (1885), durch die exakten Forschungen G. E. MÜLLERs und seiner Schüler, durch die vielseitigen Arbeiten der Schule KÜLPEs wie durch MEUMANNs fruchtbare Tätigkeit eine so gewaltige Erweiterung erfahren, daß sich allmählich das Bedürfnis nach einem Überblick über das bisher Gewonnene geltend machte. Einen solchen zu überbieten, ist der Zweck der vorliegenden Arbeit. Wie die kürzere Schrift von FR. FAUTH, die im Jahr 1898 in der von SCHILLER und ZIEHEN begründeten Sammlung von Abhandlungen aus dem Gebiet der pädagogischen Psychologie und Physiologie erschienen und seit längerer Zeit vergriffen ist, ist sie in erster Linie für Lehrer bestimmt; sie will ihnen einen Einblick in das Wesen und die Gesetze des Gedächtnisses gewähren und zugleich zeigen, welche Folgerungen sich hieraus für Unterricht und Erziehung ergeben. Sie will aber auch den Bedürfnissen jener entgegenkommen, die, wie es so häufig geschieht, durch das Gedächtnisproblem als das zuerst interessierende psychologische Problem der Psychologie näher treten.

Daraus ergaben sich zwei Forderungen. Fürs erste mußte der Stoff auf das Wichtigste beschränkt werden. Die Polemik mußte zurücktreten, wenn sie auch nicht ganz verschwinden durfte. Und bei den Literaturangaben mußte das Streben nach Vollständigkeit prinzipiell aufgegeben werden. Selbst die uns am nächsten liegenden Arbeiten deutscher Forscher konnten nicht alle gewürdigt werden. Trotzdem ist das Literaturverzeichnis umfangreich genug geworden. Wer sich über die ganze gewaltige Fülle der einschlägigen Natur unterrichten will, wird an den am Schluß namhaft gemachten Autoren, besonders an CLAPARÉDE, verlässige Führer finden.

Fürs andere war es nötig, über ein rein referierendes und kritisierendes Zusammenstellen der bisherigen Forschungsergebnisse hinauszugehen und eine möglichst einheitliche, die Mannigfaltigkeit der einzelnen Erscheinungen zu einem geschlossenen Bild zusammenfassende Psychologie des Gedächtnisses zu bieten oder wenigsten die Skizze zu einem solchen Gesamtbild. Daß dabei manchmal Hypothesen die Lücken der gesicherten Erfahrung ausfüllen müssen, ist beim gegenwärtigen Stand der experimentellen psychologischen Forschung, die ja noch sehr jung ist und trotz aller Erfolge mit der Ausbildung ihrer Methoden noch lange nicht am Ende ist, nur selbstverständlich. Es schadet auch nichts, sofern nur der problematische Charakter einer Annahme nicht verwischt, die Lücken nicht verdeckt werden. Im Gegenteil, offene Fragen reizen zur Mitarbeit, zu neuen Lösungsversuchen.

Möge es dem Buch gelingen, nicht nur mit den Ergebnissen der gegenwärtigen Gedächtnisforschung bekannt zu machen, sondern auch für die Methode der neueren Psychologie überhaupt Verständnis und Vertrauen zu wecken.


I. Übersicht über das Ganze des psychischen Geschehens
und die Stelle des Gedächtnisses in diesem Ganzen.

Wenn wir einen Blick werfen auf das, was sich in unserem Bewußtsein jeweils vorfindet, so zeigt sich uns ein buntes Vielerlei, das sich obendrein noch keinen Augenblick gleich bleibt, ein unbeständiges, kaleidoskopisch wechselndes Bild, dessen Bestandteile bald langsamer bald rascher kommen und gehen, sich bald deutlicher bald unauffälliger verändern. Es läßt sich mit einem Strom vergleichen, der bald schmäler bald breiter, jetzt in kleinen flüchtigen Wellen, dann wieder in großen und länger anhaltenden Wogen dahinfließt. Und wie Form, Größe und Dauer, so änder sich auch die Zahl dieser sich berührenden und kreuzenden, wechselseitig bald sich steigernden, bald sich abschwächenden Wellen, die seine stets bewegte Oberfläche bilden.

Wohl haben alle das eine gemeinsam, daß sie uns als unsere Erlebnisse, als Bestandteile unseres Bewußtseins erscheinen. Aber die einen von ihnen treten uns als Wirkungen der Außenwelt auf unsere Sinne entgegen; wir beziehen sie auf Dinge und Vorgänge, die außer uns sind und unabhängig von unserem Willen. Diese Inhalte nennen wir  sinnliche Empfindungsinhalte,  gelegentlich bloß Empfindungen, wie süß, sauer, hart, weich, weiß, gelb, glatt, rauh. Und bilden ihrer mehrere einen Komplex, ein enger verbundenes Ganzes, das oft durch Vorstellungsinhalte ergänzt wird, ohne daß wir uns dieser Ergänzung bewußt werden - wir nehmen z. B. einen Körper wahr, d. h. wir sehen nur einen Teil seiner Oberfläche und ergänzen dazu die Vorstellung der Tiefe -, so reden wir von einer  Wahrnehmung,  einem  Wahrnehmungsinhalt. 

Wieder ein anderes Erlebnis ist es, wenn mir bewußt ist, nicht sowohl was ich empfinde, was ich wahrnehme, sondern  daß  ich empfinde,  daß  ich wahrnehm. Wenn ich dessen nicht auch in irgendeiner Weise bewußt wäre, es erleben würde, wie käme ich sonst darauf, von einem Empfinden, einem Wahrnehmen zu reden? Und wenn es nicht in allen Fällen gleichartig wäre, wie käme ich dazu, gegenüber der bunten Fülle von Empfindungs- und Wahrnehmungsinhalten, nur vom Empfinden, vom Wahrnehmen als solchem zu reden? Dieses Wissen um den Akt des Empfindens und Wahrnehmens können wir als die eine Seite und die Inhalte als die andere Seite einer Empfindung, einer Wahrnehmung bezeichnen. Durch dieses Wissen gibt sich jeder Empfindungsinhalt, jeder Wahrnehmungsinhalt als etwas von  mir  Erlebtes, als etwas von  mir, zu meinem Ich Gehöriges,  als  mein  Empfindungsinhalt,  mein  Wahrnehmungsinhalt.

Auch dieses  Ich,  dem sie zugehören, erlebe ich mit, selbst dann, wenn ich ihm keine besondere Beachtung schenke, wenn ich es nicht zum Gegenstand meiner Beobachtung und Reflexion mache. Definieren kann ich es freilich nicht, so wenig ich definieren kann, was warm, kalt, rot und dgl. ist.

Aber noch mehr. Ich fühle mich von diesen Empfindungs- und Wahrnehmungsinhalten in verschiedener Weise berührt. Bald erlebe ich ein  Lustgefühl,  das ich auf einen bestimmten im Moment gegenwärtigen Inhalt zurückführe, bald ein  Unlustgefühl,  das ich auf einen anderen gegenwärtigen Inhalt beziehe. Im einen wie im anderen Falle freilich sehe ich als die eigentliche Ursache nicht diese Inhalte als solche an, sondern das, was ich in diesen Inhalten empfinde, wahrnehme, einen Gegenstand oder einen Vorgang außerhalb meines Körpers, insofern sie in irgendeiner Weise auf mich einwirken, oder einen Vorgang in diesem. Ich könnte auch sagen: Ich fühle mich fröhlich, heiter gestimmt, überrascht, voll Bewunderung gegenüber diesem Inhalt, bzw. dem in ihm Empfundenen, ich fühle mich niedergedrückt, mißgestimmt, geärgert, voll Ekel und Widerwillen gegenüber einem anderen im Moment gegenwärtigen Inhalt, bzw. dem durch ihn Empfundenen und Wahrgenommenen.

Mit diesen Gefühlen, diesen Ich-Erlebnissen, in denen die Zustände meines Ichs mir selbst zu Bewußtsein kommen, hat es nicht sein Bewenden. Ich strebe bekanntlich danach, einen angenehmen Empfindungsinhalt, bzw. das, was ich als die Ursache dieses angenehmen Gefühls erkenne, festzuhalten, einen widerlichen Empfindungsinhalt, bzw. Gegenstand zu entfernen oder mich ihm zu entziehen.  Wünsche, Neigungen  und  Abneigungen,  Streben und  Widerstreben  können ebenfalls Bestandteil dieser im Moment gegeben Fülle von Bewußtseinserlebnissen sein.

Dieses Streben kann zur  Tätigkeit  führen. Neue Empfindungen in den Muskeln und Gelenken,  kinästhetische  [Wahrnehmung der Bewegungsrichtung - wp] oder  Bewegungsempfindungen,  und neue Gefühle,  Spannungs- und Tätigkeitsgefühle,  treten ein und vermehren die Zahl der Bewußtseinserlebnisse.

Aber auch damit ist der Reichtum des psychischen Lebens noch nicht erschöpft. Neben jenen uns ziemlich selbständig gegenüberstehenden, von unserem Willen wenig abhängigen Empfindungs- und Wahrnehmungsinhalten finden wir in uns andere, durch ihre ganze Eigenart gleichfalls als Inhalte erscheinende Erlebnisse, aber als Inhalte, die wir nicht als Wirkungen oder Anzeichen von gegenwärtig uns gegenüberstehenden Dingen oder von außer uns sich abspielenden Ereignisse deuten, sondern als Nachwirkungen solcher. Wir nennen sie  Vorstellungsinhalte,  gelegentlich bloß  Vorstellungen,  auch  Erinnerungsbilder.  Sie sind jenen qualitativ ähnlich. Auch an der vorgestellten Rose unterscheiden wir Gestalt und Farbe, im Vorstellungsinhalt "Apfel" Teilinhalte wie "rot" und "rund", am vorgestellten Geigenton die eigentümliche Klangfarbe neben einer bestimmten Tonstärke und Tonhöhe, um derentwillen wir ihm, als wir ihn wirklich hörten, eine ganz bestimmte Bezeichnung gaben. Aber völlig gleich sind beide Arten von Inhalten darum nicht. Und dementsprechend ist unter normalen Umständen eine Verwechslung der Empfindungsinhalte und der Vorstellungsinhalte ausgeschlossen. Auch diese bunten, unter sich so außerordentlich verschiedenen und stets wechselnden Vorstellungsinhalte begleitet, wie die Empfindungs- und Wahrnehmungsinhalte, das gegenüber allen Inhalten gleichartige Bewußtsein,  daß  ich sie mir vorstelle und daß sie  meinem Ich angehören,  wenn ich auch keineswegs immer darauf achte. Sonst könnte ich ja nichts wissen von diesem Vorstellen wie von diesem Haben der Vorstellungsinhalte durch mich.

Und noch mehr. Den Wahrnehmungen und Vorstellungen stehen wir nicht passiv gegenüber. Nich tnur, daß wir uns den einen mehr und den anderen weniger zuwenden, nehmen wir auch denkend Stellung zu ihnen. Wir urteilen über sie, mehr noch als über die Inhalte über die von ihnen vertretenen, in ihnen gegebenen Gegenstände, die Dinge, Zustände und Vorgänge. Wir vergleichen diese, wir unterscheiden sie voneinander oder fassen sie zu Gruppen zusammen, so daß  neue psychische Gebilde  entstehen. Wir setzen sie zueinander in räumliche oder zeitliche Beziehung oder bringen sie in kausalen Zusammenhang, indem wir das eine als die Ursache des anderen betrachten, bilden abstrakte Begriffe und formulieren allgemeine Gesetze. Auch dieser  intellektuellen Funktionen  sind wir uns bald mehr bald weniger bewußt und ihre Ergebnisse können in irgendwelcher Gestalt, besonders in sprachlicher Form, als Wissen in der Erinnerung bewahrt und wieder bewußt werden. Das alles also kann sich in meinem Bewußtsein nebeneinander und nacheinander abspielen, kann von mir erlebt werden.

Wohl sind nun alle diese Erlebnisse Leistungen, Betätigungs- und Verhaltungsweise meines Ichs. Aber das Ich, das so empfindet, wahrnimmt, sich diesen oder jenen Inhalt vorstellt und denkend bearbeitet, das neben diesen und jenen Inhalten auch um sein Empfinden, sein Wahrnehmen, sein Vorstellen, sein Denken weiß, das sich heiter oder traurig fühlt, das strebt und widerstrebt und handelt und zugleich sich als strebend und handelnd erlebt, dieses Ich, das sich in diesen verschiedenen Erlebnissen mehr oder weniger seiner selbst bewußt wird, ist durchaus nicht das ganze Ich. Es ist nur das gerade bewußte  Ich.  Das  volle Ich, die Psyche,  ist stets viel reicher, als es sich in einem gegebenen Augenblick darstellt. "Psychisch" und "bewußt" ist nicht das gleiche. Trägt die Psyche doch die unabsehbare Menge von Erinnerungen, die in diesem Moment latent in ihr schlummern, aber bei anderen Gelegenheiten ins Bewußtsein treten oder unbewußt unsere Stimmungen und Entschlüsse beeinflussen. Sie sind ruhende Bestimmtheiten der Seele. Erregungszustände dagegen dieses Ichs und ihr Wechsel sind es, was wir als psyschische Vorgänge im strengen Sinn bezeichnen. Ihre  Symptome,  die vorhanden sein können, aber nicht müssen, die kommen können, nachdem jene schon eingetreten sind und schwinden können, ehe jene sich verloren haben, sind die aufgezählten Bewußtseinserscheinungen, die  Inhalte  und die  Gefühle.  Beide sind nicht selbständige psychische Vorgänge, sondern nur die Bewußtseinsreflexe solcher.

Dieses ganze volle Ich nun, die Psyche, ist gebunden an ein bestimmtes Stück der von ihm mehr oder weniger unabhängigen Außen- oder Umwelt, an seinen  Körper,  der ihm übrigens nur als Empfindungs-, Wahrnehmungs- und Vorstellungsinhalt gegeben ist, freilich als ein Inhalt, der seinen Strebungen und seinem Willen immerhin erheblich mehr unterworfen ist, als die übrige ihm gleichfalls nur als Inhalt seines Bewußtseins gegebene Welt. Und von diesem Körper ist es wiederum ein Teil, an den in ganz besonderem Maße die Erlebnisse des Ichs, das Kommen und Gehen, die Qualität und die Quantität jener Bewußtseinserlebnisse geknüpft ist, das  Gehirn.  Bestimmten Teilen seines Mantels, der Großhirnrinde, entsprechen bestimmte Arten von Inhalten. Denn bei Störungen im Erscheinen und Verschwinden dieser zeigt der anatomische Befund vielfach krankhafte Veränderungen jener.

Damit ist das Gebiet umschrieben, innerhalb dessen wir dem  Gedächtnis  seine Stelle anzuweisen haben. Daß wir Vorstellungsinhalte haben, das danken wir dem Gedächtnis. Oder,  die Fähigkeit der Seele vorzustellen, Vorstellungsinhalte zu haben, die Möglichkeit, daß in der Seele Vorstellungserlebnisse auftreten, das ist das Gedächtnis.  Da aber Vorstellungsinhalte nicht möglich sind, ohne früher gehabte Empfindungs- und Wahrnehmungsinhalte, auf welche als Urbilder diese Vorstellungsinhalte wie Nachbildungen oder Reproduktionen zurückbezogen werden und da im Anschluß an die Vorstellungsinhalte Lust, Unlust und andere Gefühle, Strebungen, kurz bestimmte Ich-Erlebnisse von ähnlicher Qualität neu erlebt werden wie erstmals im Anschluß an jene Empfindungs- und Wahrnehmungsinhalte, so können wir das Gedächtnis auch etwas lockerer definieren als  die Fähigkeit der Seele, früher gehabte Bewußtseinserlebnisse - Inhalte und Ich-Erlebnisse - unter bestimmten Bedingungen aber ohne Wiederkehr der äußeren Umstände, welche sie erstmals veranlaßt haben, in mehr oder weniger ähnliche Weise wiederzuerleben. 

Diese Fähigkeit ist angeboren. Jeder Mensch besitzt sie und auch bei Tieren, sicherlich bei den etwas höher organisierten, sind wir gezwungen, sie vorauszusetzen. Wir dürfen sie annehmen, so weit wir Bewußtseinsleben vermuten. Aber nicht weiter. Denn dem Begriff "Gedächtnis" (Mneme) liegt der Begriff Denken zugrunde und Denken schließt das Wissen um etwas ein, das Bewußtsein. Es ist also trotz der großen inneren Verwandtschaft, die schon MALEBRANCHE erkannt hat und die sich nicht auf bloße Analogie reduzieren läßt, doch eine nicht berechtigte Erweiterung des psychologischen Wortbegriffs zu einem biologischen, eine vom Standpunkt unseres Sprachgebrauches unzulässige Gleichsetzung des Gedächtnisses mit Übung, Gewohnheit und Instinkt, wenn W. PREYER, E. HERING, V. HENSEN., W. OSTWALD, E. MACH, A. FOREL, E. HAECKEL, W. PFEFFER, FR. DARWIN, K. LASSWITZ, H. PIÉRON, M. ALSBERG und andere unter Gedächtnis oder wenn R. SEMON in seinen gedankenreichen Betrachtungen unter Mneme die Gesamtheit der vorhandenen Dispositionen [dauernde Persönlichkeitseigenschaft - wp] oder dynamischen Spuren oder Engramme verstehen, d. h. der Nachwirkungen, welche alle Betätigungen, Zustände, Vorgänge in einem organischen Körper zurücklassen und deren Eigenheit darin besteht, daß sich späterhin nicht nur gleiche oder ähnliche Betätigungen mit geringerem Kraftaufwand vollziehen, gleiche oder ähnliche Zustände und Vorgänge sich leichter und rascher einstellen, sondern daß solche auch dann eintreten, wenn nicht mehr die gleichen Umstände wie das erste Mal einwirken oder wenigstens nicht mehr im gleichen Maße - oder wenn sie damit nur die Fähigkeit eines Organismus meinen, solche Dispositionen zu erwerben. Von dieser Fähigkeit Dispositionen zu erwerben (Übungsfähigkeit) und eventuell in der Form von weniger bleibenden Veränderungen des Nervensystems (als Merksysteme, HIRTH) auf die Nachkommen zu vererben - individuelle und generelle Disponibilität - und dem Besitz solcher - Einzel- und Artgedächtnisse oder Instinkte - ist das Gedächtnis im üblichen engeren Sinne ein Spezialfall, eine individuelle Disponibilität und zwar nur zu Vorstellungen, bzw. die Summe der erworbenen Dispositionen zu Vorstellungen. Für jenes Gedächtnis im weiteren Sinne finden wir die physiologische Unterlage im ganzen Nervensystem, ja im gesamten Organismus, für das Gedächtnis im engeren Sinne in einem kleinen Teil des Organismus, im Gehirn und zwar vornehmlich im Großhirnmantel, in der grauen Substanz der Großhirnrinde.

Diese Disponibilität zu Vorstellungen ist nun bekanntlich nicht für alle Arten von Eindrücken und Vorstellungen gleich. Ein und derselbe Mensche kann, wie man sagt, ein gutes Gedächtnis für Gesehenes haben, ein schlechtes für Gehörtes. Diese Verschiedenheit der Disponibilität je nach den Sinnesgebieten meint man, wenn man von einer  Mehrheit von Gedächtnissen  redet. Wenn man dabei nicht selten auch an die Summe des durch die einzelnen Sinne Aufbewahrten denkt, Gedächtnis also nicht nur als Disponibilität zu einer bestimmten Art von Vorstellungen, sondern auch als Disponiertheit oder als Gruppe von Dispositionen zu einer bestimmten Art von Vorstellungen auffaßt, so ändert das nichts an der Sache. Wie diese Sondergedächtnisse von Anfang an ungleich leistungsfähig sind, so geht auch ihre Entwicklung ungleich, nicht parallel vor sich, indem das eine rascher als das andere langsamer an Leistungsfähigkeit zunimmt. Endlich kann auch das eine abnehmen und schwinden, während andere ungeschwächt fortbestehen. Es sei aus der Fülle von Beispielen nur CHARCOTs (1883) berühmter Fall partialer Amnesie erwähnt. Ein Wiener Kaufmann, der sich durch ein hervorragendes visuelles Gedächtnis auszeichnete, verlor es plötzlich infolge von Überarbeitung. Was er oft gesehen hatte, erkannte er nicht wieder, so daß ihm z. B. die Straßen seiner Geburtsstadt völlig fremd erschienen. Auch alle seine optischen Erinnerungsbilder waren ausgelöscht, so daß er sich weder seine Frau noch seine Kinder vorstellen konnte. Von den akustisch-motorischen Vorstellungsinhalten aber, besonders von den Wörtern, war keines verloren worden und ebensowenig hatte seine Fähigkeit gelitten, neue Inhalte dieser Art und neue Verbindungen solcher zu erwerben. Diese Sonderung der Gedächtnisse geht so weit, daß man Spezialgedächtnisse für Formen wie für Farben, für musikalische Töne wie für sonstige akustische Eindrücke und dgl. auseinanderhalten muß. Je nach dem Vorherrschen eines Spezialgedächtnisses in den verschiedenen Individuen unterscheiden wir Disponibilitäts- oder Vorstellungstypen. Ihr Unterschied von den Interessentypen wird uns bei der Besprechung der individuellen Differenzen noch mehr beschäftigen. Dem entspricht auf der physiologischen Seite eine ebensolche Vielheit von Bezirken der Großhirnrinde oder der Rindenzentren, deren jedes eine gewisse Sonderexistenz führt, eine Anschauung, an die sich schon Anklänge bei dem im 18. Jahrhundert lebenden Freiburger Anatomen J. BAADER, dem englischen Psychologen D. HARTLEY und dem Begründer der Phrenologie J. GALL finden, der aber erst 1877 H. MUNK zum Sieg verholfen hat.

Aber obwohl wir es demnach in Wirklichkeit mit einer Mehrheit von mehr oder weniger selbständigen Gedächtnisen, bzw. Großhirnregionen zu tun haben, obwohl wir sagen müssen, daß der Mensch mindestens so viele Gedächtnisse besitzt, als er Arten von Sinneseindrücken hat, dürfen wir nichts destoweniger von  dem  Gedächtnis, von Gesetzen  des  Gedächtnisses reden. Die Beobachtung hat uns längst das Recht zu der Vermutung gegeben,  daß für alle Gedächtnisse die gleichen Grundgesetze gelten,  genauer gesprochen:  daß die Gesetzmäßigkeiten, nach denen Dispositionen erworben werden, zur Wirksamkeit gelangen und wieder verschwinden, für alle Seiten der Seele, bzw. für alle Bezirke der Großhirnrinde, welche fähig sind, durch Betätigung Vorstellungsdispositionen zu gewinnen, im großen und ganzen die gleichen sind.  Die Unterschiede zwischen den Spezialgedächtnissen in formaler Hinsicht sind nicht genereller, sondern quantitativer Art, drücken sich nur in Maßunterschieden aus.

Wir dürfen also heute wie ehedem von  dem  Gedächtnis reden, als der  Fähigkeit oder dem Vermögen der Seele, Dispositionen zu Vorstellungen zu erwerben und wirksam werden zu lassen.  Die erste Betätigung dieser Fähigkeit ist das Einprägen, das Erwerben der Dispositionen. Die Wirksamkeit aber dieser Dispositionen ist vornehmlich das Wiedererkennen, die Reproduktioni, das Vorstellen oder das Entstehen von Vorstellungsinhalten. Indem wir auch im Vorstellen und nicht nur im Erinnern die Wirksamkeit der Dispositionen sehen, haben wir den Begriff des Gedächtnisses weiter gefaßt als manchmal üblich. Nicht ohne Grund. Wir reden von einem guten Gedächtnis, wenn wir jemanden eine lange Reihe von Wörtern rascher und sicherer lernen sehen und denken dabei nur an das Haben der entsprechenden Vorstellungsinhalte, das sich im Falle des Rezitierens zeigt. Es ist uns aber ganz gleichgültig, ob der Rezitierende sich dabei an das Erwerben dieser Inhalte, an das Lernen erinnert oder nicht.

So sind es lediglich zwei allerdings wohl auseinander zu haltende Annahmen, die im Begriff "Gedächtnis" eingeschlossen sind,
    1. die Annahme, daß Bewußtseinserlebnisse dauernde Nachwirkungen hinterlassen (Disponibilität, Merk- oder Einprägungsfähigkeit), und

    2. Die Annahme, daß aufgrund dieser Nachwirkungen unter gewissen Bedingungen neue, aber jenen ersten ähliche Bewußtseinserlebnisse (Vorstellungen) entstehen.
Erst wenn zur Betätigung der Vorstellungsfähigkeit, des Gedächtnisses noch ein wenngleich dunkles Bewußtsein tritt, daß wir die vorgestellten Inhalte schon früher einmal gehabt haben, haben wir ein  Erinnern,  nennen diesen Vorgang Erinnerung, ein Wort, mit dem freilich auch die erinnerten Inhalte bezeichnet werden, so in Ausdrücken, wie angenehme, peinliche Erinnerungen und dgl. Daß uns Vorstellungsinhalte gegenwärtig sein können, ohne dieses Bewußtsein, zeigt die alltägliche Erfahrung. Und daß Vorstellungsinhalte, die ursprünglich von diesem Bewußtsein begleitet waren, auch ohne dieses wieder auftreten können, zeigt ebenfalls die tägliche Erfahrung. Wie oft beschäftigen wir uns mit Vorstellungsbildern eines Gegenstandes, etwa einer Pflanze, eines Tieres, einer mathematischen Figur, ohne nur im geringsten daran zu denken, daß, bzw. wann und wo wir sie oder ihresgleichen gesehen haben. Je öfter uns ein Vorstellungsinhalt - das Bild einer Münze, eines Buchstabens, einer Zahl - entgegentritt, umso mehr löst er sich von jeder Beziehung zur Vergangenheit los.

Es ergibt sich nach all dem für uns folgende allgemeine Gliederung des Stoffes. Wir werden zunächst genauer das  Wesen der Vorstellungsinhalte  im Gegensatz zu den Empfindungs- und Wahrnehmungsinhalten zu betrachten haben. Wir werden dann die Bedingungen für die Entstehung dieser Vorstellungen zu untersuchen haben und zwar einerseits die von den psychischen Erlebnissen zurückbleibenden Nachwirkungen, die  Vorstellungsdispositionen  und  Assoziationen,  mitinbegriffen die Bedingungen ihrer Entstehung und ihre Verschiedenheiten, andererseits die Bedingungen und die Verschiedenheiten des Wirksamwerdens dieser zurückgebliebenen Nachwirkungen, der sogenannten  Reproduktion. 
LITERATUR - Max Offner, Das Gedächtnis, Berlin 1911