ra-2Böhm-BawerkA. RapoportJ. Ofnervon Wieser    
 
IGNATZ KORNFELD
(1846-1921)
Soziale Machtverhältnisse

"Die Jurisprudenz soll eine praktische Diszplin sein und bleiben, was ebenso viel bedeutet, als ihr den Rang einer echten Wissenschaft abzusprechen. Denn Wissenschaft ist nichts anderes, als ein in allgemeinen Sätzen geordnetes Wissen; Wissen aber setzt ein Objekt voraus, das die menschliche Vernunft als etwas ihr Gegebenes, ihrer Willkür Entrücktes vorfindet." "Was wir als tatsächliche Verhältnisse des Rechtslebens tagtäglich in unendlicher Mannigfaltigkeit objektiv vor Augen haben, die  reale Macht des Herrschers, des Beamten, des Eigentümers, des Gläubigers, die realen Machtbeschränkungen der einzelnen Untergebenen, der Nichteigentümer, der Schuldner, sind der Normenlehre Konstruktionen, subjektive künstliche Gedankengebilde ohne objektives Dasein, lediglich zu dem Zweck geschaffen, um den Gedankeninhalt der Normen leichter und bequemer zusammenzufassen."

"Das positive Recht wird als ein Verwirklichung forderndes Gedankensystem, hervorgebracht von einer einheitlichen geistigen Autorität, und diese Autorität wird entweder als eine transzendente (Gott oder reine Vernunft) oder als eine dem Erfahrungsbereich angehörende erklärt. Für eine Wissenschaft des positiven Rechts können transzendente Anforderungen nicht in Betracht kommen. Denn die Rechtsregeln entstehen, ändern sich und vergehen in der Zeit und mit der Zeit, sie sind in verschiedenen Ländern und in verschiedenen Gesellschaften verschiedene, oft einander widerstreitende, sie können daher keine Vernunftnotwendigkeit in sich tragen."

"Niemals wird es künstlichen juristischen Konstruktionen gelingen, eine allgemeine Rechtsauffassung herbeizuführen, wonach das Eigentumsrecht nicht ein Interesse und eine Macht des Eigentümers, sondern eine Serie von Belastungen und Beeinträchtigungen aller anderen Menschen bedeutet und bezweckt, wonach das Wesen der Forderungsrechte nicht darin liegt, daß der Gläubiger empfängt, sondern darin, daß der Schuldner leistet; der Zweck der Steuerleistung nicht darin, daß die staatlichen Bedürfnisse befriedigt werden, sondern darin, daß der Staatsbürger zahlt."


Vorwort

Seit altersher ist die Rechtslehre von dem Dogma beherrschat, das positive Recht sei seinem Wesen nach ein Komplex von Normen, welche an die Mitglieder der Rechtsgesellschaft ergehen, ihnen hinsichtlich ihres äußeren Verhaltens Verpflichtungen auferlegen und mittels der Verpflichtungen Befugnisse gewähren. Dieses Dogma wird in der Rechtsliteratur, trotz der steti wachsenden Einsicht, daß Rechtsgesetze die unendliche Mannigfaltigkeit des Rechtslebens nicht erschöpfen, für nahezu unantastbar gehalten. Selbst jene juristischen Schriftsteller, die hervorheben, daß die Rechtsregeln außer ihrer normativen auch eine tatsächliche Geltung haben, wollen letztere einer neben der juristischen einhergehenden soziologischen Betrachtungsweise des positiven Rechts vorbehalten. Die Jurisprudenz soll eine "praktische Diszplin" sein und bleiben, was ebenso viel bedeutet, als ihr den Rang einer echten Wissenschaft abzusprechen. Denn Wissenschaft ist nichts anderes, als ein in allgemeinen Sätzen geordnetes Wissen; Wissen aber setzt ein Objekt voraus, das die menschliche Vernunft - entweder in sich selbst oder in ihren Lebenserfahrungen - als etwas ihr Gegebenes, ihrer Willkür Entrücktes vorfindet.

Das vorliegende Buch unternimmt es, jenes Dogma vom normativen Wesen des positiven Rechts zu bekämpfen und darzulegen, daß positives Recht als ein System tatsächlicher Regeln des gesellschaftlichen Lebens begriffen werden muß, denen eine normative Funktion nur infolge dieser ihrer tatsächlichen Geltung zukommt. Es soll gezeigt werden, daß der Inhalt gesetzgeberischer Gebote und Verbote den realen Erscheinungen des Rechtslebens niemals adäquat ist; und es soll zugleich eine Auffassung der tatsächlichen Regelmäßigkeiten des Rechtslebens entwickelt werden, welche ein Verständnis dieser Erscheinungen als Realitäten ermöglicht. Zu diesem Zweck wird versucht, aus dem sozialen Wesen des positiven Rechts realistische Erklärungen abzuleiten:
    - für das Rechtsleben als System sozialer Machtverhältnisse (Kap. I-III);

    - für die Rechtsquellen (Kap. IV);

    - für die Daseinsbedingunen und das Wesen der wichtigsten Rechtsverhältnisse (Kap. V-VII);

    - für das Unrecht und seine Folgen (Kap. VIII).
Unter einer realistischen Erklärung verstehe ich jene, welche die Erscheinungen des Rechtslebens in nackter Wahrhaftigkeit, ohne allen Flitter von Fiktionen erfaßt und unter Begriffe bringt. Die Entbehrlichkeit jedweder Fiktionen ist meines Erachtens der beste und schärfste Prüfstein für die Reinheit des Spiegels, welchen alles wissenschaftliche Denken seinem Objkt, somit auch der Rechtswissenschaft dem ihrigen, entgegenzuhalten berufen ist.

Indem ich nach langem Zögern dieses Werk der Öffentlichkeit übergebe, bin ich mir dessen vollkommen bewußt, daß die Kühnheit des Planes nicht anders als durch eine überzeugende Kraft seiner Ausführung und durch seine pragmatischen Ergebnisse gerechtfertigt werden kann. Nur um einer mißverständlichen Beurteilung im Voraus zu begegnen, möchte ich schon an dieser Stelle hervorheben, daß sein Gegenstand mit dem "Recht, das mit uns geboren ist", nichts zu tun hat. Hier ist ausschließlich die Frage vom positiven Recht als einer erfahrungsmäßig bestimmten Art von Regeln gesellschaftlichen Zusammenlebens, wie es uns sowohl in der historischen Erfahrung als auch in der unmittelbaren Erfahrung des täglichen Lebens entgegentritt, und von den aus diesen Regelmäßigkeiten resultierenden realen Rechtsverhältnissen, die als soziale Machtverhältnisse charakterisiert werden.

Ebensowenig darf eine Ausgestaltung der gewonnenen Resultate ins Einzelne erwartet werden. In dem engen Rahmen der vorliegenden Abhandlung, welche nicht eine neue Rechtslehre, sondern  Prolegomena  für eine solche enthalten soll, konnte nur eine grundsätzliche Erörterung der für das Rechtsleben wichtigsten Begriffe Raum finden; und selbst bei der Darstellung des so begrenzten Stoffes wurde die möglichste Konzentration und Selbstbeschränkung, insbesondere hinsichtlich der Auseinandersetzung mit anderen Lehrmeinungen beobachtet. Ich bin der Ansicht, daß hierdurch zwar vielleicht die bereitwillige Aufnahme des Gebotenen auf seiten eines flüchtigen Lesers beeinträchtigt, dagegen aber die denkende Mitarbeit auf seiten jener - möglicherweise nur einer Minderheit oder einer entfernteren Zukunft angehörenden - Leser, welche dem Gegenstand ein gesinnungsverwandtes Interesse entgegenbringen, gefördert wird.



I. Kapitel
Einleitung

§ 1. Ausgangspunkt

1. Wir wollen das positive Recht als einen Inbegriff tatsächlich geltender Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens der Menschen begreifen. An diese Aufgabe herantretend lehnen wir das Axiom der herrschenden Rechtslehren, wonach die Rechtsregeln ihrem begrifflichen Wesen nach Normen, Imperative und Erlaubnisse, seien, welche an die einzelnen Gesellschaftsmitglieder von einer über ihnen stehenden Autorität erlassen werden, wie immer man diese definieren möge, ab. Solange jenes Axiom den Ausgangspunkt bildet, können reine Erfahrungsbegriffe vom rechtsgesellschaftlichen Zusammenleben und von dessen einzelnen Erscheinungen meines Erachtens nicht gewonnen werden. Denn Imperative und Erlaubnisse führen nur unter der Voraussetzung, daß sich die Menschen ihnen gemäß verhalten, zu den positiv geltenden Rechtsordnungen als realen Erkenntnisobjekten. Die Erkenntnis von Normen als solchen kann nur deduktiv und analytisch vorgehen: sie befaßt sich nicht mit tatsächlichen Erscheinungen des Rechtslebens, sondern mit einem von einer gesetzgebenden Autorität gebildeten Gedankensystem, welches dem Leben selbständig gegenübersteht und an und für sich davon unberührt bleibt, ob das Leben ihm gerecht wird oder nicht. Da Gedanken nur mittels der Sprache erfaßt und erforscht werden, so erübrigt einer solchen Doktrin kein anderer Inhalt als derjenige einer "Erforschung des wahren Willens des Gesetzgebers", eines "Sein-sollenden" oder "Geschehen-sollenden" im Gegensatz zum "Seienden" oder "Geschehenden". Aber nur Seiendes oder Geschehendes und deren tatsächliche Verhältnisse sind Objekte einer Erfahrungswissenschaft. Was wir als  tatsächliche  Verhältnisse des Rechtslebens tagtäglich in unendlicher Mannigfaltigkeit objektiv vor Augen haben, die  reale  Macht des Herrschers, des Beamten, des Eigentümers, des Gläubigers, die realen Machtbeschränkungen der einzelnen Untergebenen, der Nichteigentümer, der Schuldner, sind der Normenlehre "Konstruktionen", subjektive künstliche Gedankengebilde ohne objektives Dasein, lediglich zu dem Zweck geschaffen, um den Gedankeninhalt der Normen leichter und bequemer zusammenzufassen.

In diese Gedankensphäre gebannt muß die Wissenschaft des positiven Rechts unvermeidlich zwischen einer die autoritativen Vorschriften betreffenden Interpretationslehre und einem System von Fiktionen, die sich bewußt aller Realität entschlagen, schwanken. Sie ist nicht, wie die übrigen Wissenschaften, eine Herrin, welche einen ihr objektiv gegebenen Stoff mittels Begriffs- und Urteilsbildung zu einem Gedankensystem umgestaltet, sondern eine Dienerin, welche von den subjektiven Ideen eines Gesetzgebers abhängt und darauf beschränkt ist, deren Inhalt aus ihrem Ausdruck zu erforschen, wenn sie sich auch, wie es guter Diener Art ist, hin und wieder herausnimmt, sie zu korrigieren. Sie wird von der angewandten Logik mit Recht in das Gebiet der Hermeneutik verwiesen.

Die Unbefriedigung, man kann sagen, Widerwilligkeit, der diese Art wissenschaftlicher Behandlung des positiven Rechts in erleuchteten Geistern, zumal seit die naturwissenschaftlichen Methoden eine so unermeßliche Fruchtbarkeit gezeitigt haben, in immer steigendem Maß begegnet, hat in neuerer Zeit zu Auffassungen geführt, welche an der Möglichkeit einer eigentlichen Wissenschaft vom positiven Recht verzweifeln und an deren Stelle ein unbestimmtes und unbestimmbares subjektives Gefühl von dem, was, sei es allgemein, sei es im einzelnen Fall, geschehen soll, setzen zu müssen glauben. Aber auch diese Meinungen halten zumeist an der vermeintlichen Natur des Rechts als eines  Geschehen-sollenden  fest; nur daß sie die, bald als ausschließliche, bald als suppletorisch [ergänzend - wp] betrachtete Quelle des Geschehen-sollens, den Autor der Normen, in einem subjektiven Gefühl jedes einzelnen suchen. Die subjektive Meinung des Beurteilers oder Richters von einer dem einzelnen Fall angemessenen Lösung soll als - ausschließlich für diesen Fall - normgebende Autorität zu derjenigen des Gesetzgebers, dieselbe ergänzend, wohl auch berichtigend, hinzutreten (1).

2. In einem grundsätzlichen Gegensatz zu all diesen, das positive Recht mit einem System von Imperativen und Erlaubnissen identifizierenden Lehren, welche weiterhin unter dem Sammelnamen  "Normentheorien"  (2) zusammegefaßt werden, setzen wir uns zur Aufgabe, das positive Recht als ein System  tatsächlich geltender Regeln des gesellschaftlichen Lebens, also soziologisch,  zu erklären, und hierdurch die Wissenschaft vom positiven Recht,  soweit sie nicht bloß Anwendungslehre oder Technik, sondern allgemeine Rechtslehre ist, denselben logischen Methoden zuzuführen,  welche auf allen anderen Gebieten theoretischen Wissens befolgt werden. Diese Aufgabe ist mit den öfters bereits unternommenen, niemals aber zur durchgängigen Ausführung zwecks Erklärung der einzelnen Rechtsinstitut gelangten Versuchen, in die allgemeine Rechtslehre eine "naturwissenschaftliche" Methode einzuführen, nicht in eine Linie zu stellen. Denn auch diese Versuche beharrten durchwegs bei der Grundvorstellung, die Regeln des positiven Rechts seien ihrem logischen Charakter nach Imperative, die irgendein höherer Wille an jedes einzelne Mitglied einer menschlichen Gesellschaft richtet. Sie liefen darauf hinaus, zwischen der Natur und dem positiven Recht Analogien zu suchen, die in Gleichnissen und Redefiguren ihren Ausdruck finden, ohne pragmatische Früchte, sei es für die Erklärung der Rechtserscheinungen, sei es für das praktische Rechtsleben. Eine empirische Rechtslehre ist aber nicht davon bedingt, daß ihr Objekt zu den, exakten Kausalitätsgesetzen unterliegenden, Naturerscheinungen gehört. Unser Prinzip tatsächlicher Geltung deckt sich auch nicht mit dem öfters geäußerten Gedanken, daß ebenso wie den normativen Regeln der Ethik und der Logik auch den Rechtsregeln eine Regelmäßigkeit des tatsächlichen Verhaltens der einzelnen Menschen parallel geht. Denn jener Gedanke bezieht sich auf den Begriff eines "Rechtes", das als Vernunftpostulat an die einzelnen Menschen gerichtet ist, somit eine selbständige aprioristisch normative Geltung besitzt, sodann erfahrungsgemäß von den Menschen befolgt wird. Wir haben es mit "Recht" in diesem ethischen Sinn überhaupt nicht zu tun. Das "Recht", welches wir zu erkennen suchen, erfüllt das in historischer Erfahrung gegebene  gesellschaftliche  Leben der Menschen, und ist, abgesehen von diesem, ihm vorausgehend, überhaupt nicht vorhanden. Die tatsächliche Geltung oder Positivität bildet somit ein wesentliches Merkmal unseres Erkenntnisobjekts; nur darf  tatsächliche  Regelgeltung nicht mit  Wirklichkeit die nur Einzelerscheinungen zukommt, verwechselt werden. Die so verstandene tatsächliche Geltung erachten wir als das primäre Wesen der Rechtsregeln, zu welcher deren normative Bedeutung für jeden einzelnen an der Gesellschaft Teilnehmenden als sekundäre Funktion hinzutritt.

Die Möglichkeit einer auf dieser Grundauffassung beruhenden Theorie des positiven Rechts muß sich aus ihrer Darlegung, ihre pragmatische Bedeutung muß sich aus ihren Resultaten, aus der Erklärung der wichtigsten Erscheinungen des Rechtslebens, ergeben. Nur um das Wagnis eines Unternehmens, welches das derzeit herrschende Axiom vom Normencharakter des positiven Rechts und zahlreiche daraus abgeleitete Grundsätze bekämpft, im voraus einigermaßen zu rechtfertigen, mögen einleitungsweise die folgenden Bemerkungen zur Kritik der Normenlehre Raum finden.


§ 2. Die Irrealität der Normentheorie

1. Jede Norm, gleichviel ob Imperativ oder Erlaubnis, muß entweder von einem (befehlenden oder erlaubenden) Willensträger und dessen Ideen oder von einem tatsächlich geltenden Gesetz und den disem immanenten Zwecken ausgehen. Von diesen beiden möglichen Normenquellen wird in den herrschenden Rechtstheorien nur die erstgenannte, eine substanzielle geistige Autorität, ein über der Gesellschaft oder den Gesellschaftsmitgliedern schwebender und sie irgendwie beeinflussender oder bestimmender persönlicher Willensträger ins Auge gefaßt. Das positive Recht wird als ein Verwirklichung forderndes Gedankensystem, hervorgebracht von einer einheitlichen geistigen Autorität, und diese Autorität wird entweder als eine transzendente (Gott oder reine Vernunft) oder als eine dem Erfahrungsbereich angehörende erklärt. Für eine Wissenschaft des positiven Rechts können transzendente Anforderungen nicht in Betracht kommen. Denn die Rechtsregeln entstehen, ändern sich und vergehen in der Zeit und mit der Zeit, sie sind in verschiedenen Ländern und in verschiedenen Gesellschaften verschiedene, oft einander widerstreitende, sie können daher keine Vernunftnotwendigkeit in sich tragen. Normen, welche der Vernunftnotwendigkeit entbehren, welche an einen nach Zeit und Raum bestimmten Menschenkreis gerichtet sind, und einem beständigen Wechsel nach Raum und Zeit unterliegen, können nur einer der Erfahrungswelt angehörenden Quelle entstammen. Wer von dem Axiom ausgeht, daß diese Quelle nur eine substanzielle Autorität sein kann, muß daher ein denkendes und wollendes Subjekt, eine Persönlichkeit, postulieren, welche die Rechtsnormen schafft, indem sie deren gedanklichen Inhalt produziert, sprachlich formt und mit dem Charakter eines Befehls oder einer Erlaubnis ausstattet.

Es ist nun gewiß von vornherein sehr befremdlich, daß über die Natur und das Wesen dieses überall vorausgesetzten rechtsschöpferischen Subjekts die mannigfaltigsten und widerstreitenden Meinungen bestehen; schon dies weist darauf hin, daß ein solches Subjekt in der realen Welt nicht zu finden ist. Den Personen, welche das jeweilige Staatsoberhaupt bilden, kann die rechtsschöpferische Kraft nicht innewohnen. Mag das Staatsoberhaupt eine einzelne Person oder ein Kollegium oder eine Volksversammlung sein: niemals ist es imstande, die volle Bedeutung und Tragweite der von ihm enunzierten [verkündeten - wp] Gesetzesformeln zu erfassen. Die abstrakten Worte und Sätze dieser Formeln gelangen im Laufe der Zeiten zu verschiedenen Auffassungen und Anwendungen, an die ihre Verfasser nicht dachten, die sie nicht voraussahen und nicht voraussehen konnten. Es ist aber widersinnig, von einem autoritativen Befehl, dessen Inhalt seinem Autor nicht bewußt ist, nicht bewußt sein kann, zu sprechen. Rechtssätze, deren Sinn dem Gesetzgeber fremd ist oder fremd war, können nicht seinem Denken und Wollen entsprungen sein. (vgl. § 13, Ziffer 5)

Diesem Bedenken entgeht man auch dann nicht, wenn man der Lehre LABANDs (3) folgend, den Gesetzesinhalt und einen ihn begleitenden Befehl  "lex esto"  unterscheidet. Der gesetzgeberische Imperativ würde demnach nicht dahin lauten, daß ein bestimmter Rechtssatz (als Inhalt der Gesetzesformel), sondern dahin, daß die Gesetzesformel, wie immer auch ihr Inhalt jetzt oder in Zukunft verstanden werden mag, von den Untertanen befolgt wird: "Verhaltet euch, wie geschrieben steht", gleichgültig ob der Befehlende und wie er das Geschriebene versteht. Abgesehen von der Herabwürdigung, welche darin liegt, das  Wesen  des Rechts in einem Befehl zu erblicken, dessen das Wohl und Wehe der Rechtsgenossen ergreifende Bedeutung und Tragweite seinem Autor fremd und unverstanden bleibt, kann diese Trennung von Befehl und Befehlsinhalt den gegen die Normentheorie erhobenen Vorwurf der Irrealität nicht entkräften. Denn das "lex esto" ist an und für sich eine Velleität [kraftlose Wollen - wp], Wort und Wunsch ohne soziale Bedeutung, solange ihm nicht eine weiter zurückliegende Rechtsregel zur Seite steht, des Inhaltes, daß seinem Autor tatsächlich gehorsamt wird. Dies ergibt sich am deutlichsten, wenn beachtet wird, daß nicht jedes beliebige "lex esto" des Staatsoberhauptes das Inslebentreten von Rechtsregeln vermittelt, sondern nur ein in bestimmten Formen und unterbestimmten Bedingungen ausgesprochenes. Gewiß aber kann die allgemeine Rechtsregel des Gehorsams nicht selbst wieder für eine gesetzgeberische Norm gehalten werden. Die Dazwischenschiebung eines Staatsverfassungsgesetzes vermag hieran nichts zu ändern. Denn wenn das "lex esto" ohne die tatsächliche Regel des Gehorsams sozialer Bedeutung entbehrt, so könnte eine solche auch dem "lex esto" eines weiter zurückliegenden, als "Staatsgrundgesetz" bezeichneten Befehls, der den Gehorsam gegenüber dem späteren "lex esto" anordnen soll, nicht beigemessen werden.

Zur Realität, zu einer dem gesellschaftlichen Leben der Menschen innewohnenden Regelmäßigkeit gelangt somit der Gesetzesbefehl erst vermöge einer Regel des Gehorsams, die unter die Kategorie des Gewohnheitsrechts fällt. Damit aber ergibt sich die weitere Frage:  Wer ist der befehlende Autor des Gewohnheitsrechts Wenn die Gesetzesbefehle nur vermöge eines gewohnheitsrechtlichen Gehorsams gelten, so kann nicht umgekehrt wieder der Bestand des Gewohnheitsrechts auf einen Befehl des Gesetzgebers zurückgeführt, somit der Gesetzgeber nicht als Autor des Gewohnheitsrechts angesehen werden.

2. Die Einsicht, daß die Autorität der Gesetzgebungsorgane selbst nur auf einem positiven Recht beruth, drängt zur Aufstellung einer anders gearteten Autorität, für welche verschiedene Namen: "Allgemeiner Wille", "Gesamtwillen", "Verbandswille", "Volksgeist" angewendet werden. Diese Namen können einen zweifachen Sinn haben: sie enthalten entweder die logische Anforderung zur Vorstellung eines substanziellen Willensträgers, einer  Persönlichkeit,  oder aber die logische Anforderung zur Vorstellung einer  Regel tatsächlichen Wollens und Verhaltens  der Gesellschaftsmitglieder.

Wer - wie die Normentheorien - das Wesen des positiven Rechts primär als ein System von Imperativen und Erlaubnissen begreifen will, muß sich der ersten Alternative anschließen, weil ein Befehl oder eine Erlaubnis ohne ein befehlendes oder erlaubendes Willenssubjekt nicht denkbar ist. Wer hingegen das positive Recht, wie es in den nachfolgenden Ausführungen geschieht, als ein System von Regeln eines tatsächlichen Verhaltens der Gesellschaftsmitglieder zu erkennen sucht, wird der Hypostasierung [einem Gedanken gegenständliche Realität unterschieben - wp] einer Gesamtwillenspersönlichkeit entraten können und müssen. Diese Hypostasierung hat schlechthin keinen anderen Anlaß, als eben die Theorie, welche die Rechtssätze als Imperative und Erlaubnisse erklärt. Andere Attribute, Eigenschaften oder Wirksamkeiten einer unter jenen Namen zu denkenden Persönlichkeit, als eben jene vermeintlichen Imperative oder Erlaubnisse, sind weder sinnlich noch geistig wahrnehmbar, somit nicht gegeben. Man deduziert also die supponierte Existenz eines substanziellen Gesamtwillens aus der supponierten [unterstellten - wp] Natur des positiven Rechts als eines Systems von Normen; findet aber für eben diese supponierte Natur des positiven Rechts keine andere Erklärung als die Supposition eines der Gesellschaft innewohnenden persönlichen Willens (§ 4, Ziffer 5, § 22, Ziffer 1).

Zu einem auf so schwachen Fundamenten beruhenden Induktionsschluß dürfte man jedoch nach logischen Grundsätzen äußersten Falles nur dann greifen, wenn es  einerseits  für den tatsächlichen Bestand der Rechtsordnung und für deren normative Funktion keine andere reale Erklärung gäbe, als diejenige der Normentheorien, und wenn  andererseits  die Normentheorie sich aus ausreichend erweisen würden, um die realen Erscheinungen des positiven Rechts zu erklären. Daß die erste dieser beiden Voraussetzungen nicht zutrifft, daß die positiven Rechtsordnungen als Regeln eines Geschehens begriffen werden können, ja in erster Linie als solche, nicht als Regeln eines Geschehen-sollenden, begriffen werden müssen, will die vorliegende Abhandlung in ihrer Gänze dartun; über den Mangel der zweiten Voraussetzung sei an dieser Stelle noch Einiges vorausgeschickt.


§ 3. Die Unzulänglichkeit der Normentheorien
zur Erklärung der Rechtserscheinungen.

Die Definition der Regeln des positiven Rechts als Vorschriften eines Geschehen-sollenden läßt eine Reihe von Problemen ungelöst (4).

1.  An wen sind die Rechtsvorschriften, Imperative oder Erlaubnisse gerichtet?  Unterliegen ihnen auch Personen, welche ihrer Sprache nicht mächtig, ihrem Sinn unzugänglich, ihrer tatsächlichen Voraussetzungen unkundig sind? Kann man die Rechte und Rechtsverbindlichkeiten abwesender oder des Vernunftgebrauchs ermangelnder Personen, der Kinder, der sogenannten juristischen Personen, aus bloßen Geboten, Verboten und Erlaubnissen deduzieren? Ist die Vorstellung faßbar, daß die supponierte Staatspersönlichkeit durch ihre vermeintlichen Imperative und Erlaubnisse sich selbst Pflichten auferlegt und sich selbst Befugnisse verleiht? Setzt nicht jeder Befehl und jede Erlaubnis zwei Willenssubjekte, ein befehlendes und ein dem Befehl unterliegendes, ein erlaubendes und ein der Erlaubnis teilhaftiges Subjekt, voraus?

Diesen Fragen eines unbefangenen logischen Denkens sind Antworten aller Art zu teil geworden, die nur das eine Gemeinschaftliche an sich tragen, daß sie die Fragen nicht erledigen, sondern beiseite schaffen wollen. Die mannigfaltigen Scholastizismen und Fiktionen, mittels deren dies geschieht, können an dieser Stelle nicht besprochen werden. Es genügt für den Zweck dieser einleitenden Bemerkungen, dieselben in gleicher Weise wie die Hypostasierung einer Gesamtwillenspersönlichkeit als Notbehelfe zu charakterisieren, deren sich die Wissenschaft äußersten Falles nur dann bedienen dürfte, wenn ihr die Möglichkeit einer anderweitigen Erklärung der in der Erfahrung des positiven Rechts gegebenen realen Erscheinungen durchaus mangelte.

2.  Welchen Wert, welche soziale Bedeutung sollten Erlaubnisse, für sich allein genommen, für den von ihnen Begünstigten und mittels desselben für die öffentlichen Interessen besitzen?  Erlaubt ist, was nicht verboten ist, eine inhaltlose, logische Verneinung. Auch wenn man zur bloßen Erlaubnis das positive Moment einer Billigung hinzunimmt, erlangt sie keine soziale Bedeutung. Durch "Erlaubnisse" und "Billigungen" allein kann weder eine Ordnung des gesellschaftlichen Zusammenlebens noch irgendein Wohlfahrtszweck realisiert werden. Allgemein wird gelehrt, daß die Rechtsnormen äußere Willensbetätigungen zum Gegenstand haben. Äußere Willensbetätigungen zum Gegenstand haben. Äußere Willensbetätigungen, Handlungen oder Unterlassungen aber werden durch bloße Erlaubnisse oder Billigungen nicht behindert und nicht gefördert. Sieht man dies ein und spricht man dem Eigentumsrecht oder sonstigen Berechtigungen einen über das bloße Erlaubtsein hinausreichenden  realen  Effekt des positiven Rechtes zu, so muß man auch der betreffenden Rechtsregel einen über die bloße Erlaubnis hinausreichenden, in das reale Leben eingreifenden Inhalt beilegen: denn Reales kann nur durch Reales gefördert, gehemmt oder überhaupt beeinflußt werden.

Die von zahlreichen Schriftstellern vertretene Ansicht, das subjektive Recht erlange einen über das bloße Erlaubtsein hinausgehenden Inhalt durch Gebote und Verbote, welche der supponierte persönliche Gesetzgeber "allen anderen" oder "einzelnen anderen" in dem Sinne, die erlaubten Handlungen des Berechtigten nicht zu stören, auferlege, benimmt dem subjektiven Recht jede selbständige Bedeutung. Sie läßt das *subjektive Recht als einen bloßen Reflex von Rechtspflichten erscheinen, die allen anderen Menschen (auch denjenigen, welche sich solcher Pflichten nicht bewußt sein können) obliegen. Die Macht und das Interesse des Berechtigten, das charakteristische Moment des subjektiven Rechts, wird dabei außer acht gelassen und bleibt unaufgeklärt. Und doch liegt zweifelsohne der Schwerpunkt der subjektiven Berechtigungen auf seiten des Berechtigten. Alles menschliche Verhalten, das isolierte wie auch das soziale und seine Regeln, somit auch die durch Rechtsregeln begründeten subjektiven Rechte, sind durch ihre Zwecke bestimmt. Sicherlich aber liegt der Zweck der subjektiven Rechte nicht in den Beschränkungen und Entbehrungen, welche sie anderen auferlegen, sondern in der Macht und dem Genuß, welche sie dem Rechtssubjekt gewähren. Niemals wird es künstlichen juristischen "Konstruktionen" gelingen, eine allgemeine Rechtsauffassung herbeizuführen, wonach das Eigentumsrecht nicht ein Interesse und eine Macht des Eigentümers, sondern eine Serie von Belastungen und Beeinträchtigungen aller anderen Menschen bedeutet und bezweckt wonach das Wesen der Forderungsrechte nicht darin liegt, daß der Gläubiger empfängt, sondern darin, daß der Schuldner leistet; der Zweck der Steuerleistung nicht darin, daß die staatlichen Bedürfnisse befriedigt werden, sondern darin, daß der Staatsbürger zahlt; der Zweck des Militärdienstes nicht darin, daß die Staatsinteressen gesichert und gefördert werden, sondern darin daß die Heeresangehörigen in Friedenszeiten militärische Übungen verrichten und in Kriegszeiten ihr Leben und ihre Gesundheit zum Opfer bringen. Theorien, welche das Wesen der allen diesen Institutionen zugrunde liegenden subjektiven Rechte in Imperative und Pflichten auflösen wollen, müssen am gesunden Sinn all jener scheitern, welche die Rechtsbegriffe aus dem Rechtsleben, nicht aber das Rechtsleben aus künstlich konstruierten Begriffen zu erkennen suchen.

3.  Was ist übrigens mit einer solchen "Konstruktion" gewonnen? Imperative und die aus ihnen abgeleiteten Pflichten vermögen für sich allein die Erscheinungen des Rechtslebens ebensowenig zu erklären, wie Erlaubnisse und das Erlaubtsein.  Sie beeinflussen das soziale Verhalten nur insofern, als sie ein ethisches Motiv zur Vornahme von Handlungen und Unterlassungen abgeben, versagen aber überall, wo die Achtung vor ihnen und damit die freiwillige Unterwerfung mangelt oder mangeln muß, wie bei Landesfremden, Rechtsunkundigen, Kindern, Wahnsinnigen und bei Personen, denen das Wissen vom Vorhandensein der tatsächlichen Voraussetzungen und damit zugleich von der Anwendbarkeit der Rechtsvorschriften abgeht. Rechtliche Verbindlichkeiten solcher Personen können schlechterdings nicht aus Imperativen für sich allein betrachtet, abgeleitet werden, bedürfen also eines anderen Erklärungsprinzips. Da sie aber  inhaltlich  mit denjenigen aller anderen Rechtsgenossen übereinstimmen, so können auch letztere nicht aus einem bloß ethischen Prinzip resultieren.

Die Worte "Zwangspflicht" oder "äußere Pflicht", mittels deren man dieser Notwendigkeit entgehen und das Axiom vom imperativischen, pflichtenwirkenden Wesen des positiven Rechts festhalten zu können meint, bezeichnen Verhältnisse, denen das Wesen der Pflicht völlig fremd ist. Sie verunreinigen, wie an späterer Stelle näher auszuführen sein wird, den Begriff der  Rechtspflicht,  ohne der Rechtstheorie einen faßbaren, dem Rechtsleben entnommenen Begriff zuzuführen. Wo der Zwang beginnt, hört die Pflicht auf; wer gezwungen handelt, erfüllt keine Pflicht. Eine wissenschaftliche Betrachtung darf sich einer solchen Wortvermengung nicht schuldig machen, weil dadurch der echte und hohe Begriff der Pflicht korrumpiert wird. Man verwischt die Verschiedenheit zwischen schuldhafter und unverschuldeter Rechtswidrigkeit, wenn man beide gleichmäßig als "Pflichtverletzung" bezeichnet. Wer keinen Anstand nimmt, die erzwungene Handlung oder Unterlassung als "Pflichterfüllung" gelten zu lassen, der nimmt der freiwilligen, aus dem Pflichtbewußtsein hervorgegangenen Handlung und Unterlassung allen inneren Wert. Indem er das rechtmäßige Wollen dem unrechtmäßigen Wollen gleichstellt, beraubt er die Rechtspflicht ihrer engeren, aber umso tieferen Bedeutung (§ 9, Ziffer 4)

4.  "Zwang"  ist eine selbständige Erscheinung des Rechtslebens, die neben der Pflicht einhergeht, aber deren Lücken,  somit auch die Lücken der Normentheorien, keineswegs auszufüllen vermag.  Deshalb denen diese die Anwendung des Wortes "Zwang" in sehr willkürlicher Weise weit über dessen zulässigen Sinn aus.

Ein Sprachgebrauch, der sich dem realen Denken unterordnet, kann das Wort "Zwang" nur auf einen durch Übelandrohungen bewerkstelligten Willensanreiz anwenden. Wer als "Zwang" außerdem noch Maßnahmen bezeichnet, durch die den Rechtszwecken in anderer Art, als durch derart motivierte Handlungen oder Unterlassungen Genüge geleistet wird, bedient sich zwar des gleichen  Wortes,  aber nicht des gleichen  Begriffs.  Die Unterstellung sachlich verschiedener Gegenstände unter ein gleiches Wort ohne gleichen Begriff, wird infolge der Armut der Sprache zuweilen entschuldbar sein, sollte aber jedem wissenschaftlichen Verfahren fern bleiben. Wenn mit Hilfe der Staatsgewalt der Eigentümer seine Sache dem Besitzer wegnimmt, oder der Gläubiger auf dem Weg der Pfändung dem Vermögen seines Schuldners einen bestimmten Wert entzieht; wenn durch richterliches Urteil eine Erklärung ersetzt wird, die abzugeben der Verklagte beharrlich ablehnt; wenn die Baubehörde einen vorschriftswidrigen Bau demolieren läßt; wenn der Verbrecher im Kerker angehalten oder zur Richtstatt gebracht wird: so mag man vielleicht alle diese Maßnahmen (welche ohne oder wider das Wollen des sogenannten "Gezwungenen" stattfinden) in Ermangelung eines besseren Wortes "Zwang"  nennen;  aber man begeht zweifelsohne einen Verstoß gegen das richtige  Denken wenn man sie unter den psychologischen  Begriff  des Zwangs subsumiert und mit denjenigen Erscheinungen konfundiert, welche unter diesen psychologischen Begriff fallen. Zweideutigkeiten sind von jeher die schlimmsten Feinde der Wahrheit gewesen. Verschiedene Dinge bedürfen in der  wissenschaftlichen  Darstellung verschiedener Bezeichnungen; wenn aber verschiedene Bezeichnungen fehlen, einer umso schärferen Auseinanderhaltung. Dies zeigt sich gerade hier auf das Deutlichste. Dadurch, daß die Rechtstheorie tatsächliche, jedermann bekannte Vorgänge des Rechtslebens, die mit dem Wollen der von ihnen Betroffenen nicht das Geringste zu tun haben, als einen wider dieselben geübten "Zwang" bezeichnet, legt sie sich in rein scholastischer Wortkunst die Möglichkeit zurecht, deren rechtliche Situation als diejenige einer "Pflicht" hinzustellen; diese "Pflicht" aber führt wieder zu der Nomenklatur, welche von Geboten und Verboten spricht, die sich nicht auf innere Selbstbestimmungen, sondern auf ein sogenanntes "äußeres Verhalten" der Adressaten (auch der dem Imperativ unzugänglichen) beziehen: eine ganze Kette von Wortspielen, die aus der Wissenschaft verbannt sein sollten, auch wenn sie für den außerwissenschaftlichen Sprachgebrauch unumgänglich wären.

5. Wenn die vorstehend angeregten Erwägungen auch nur zu einem Zweifel daran nötigen:
    a) ob eine persönliche Autorität als Schöpferin des positiven Rechts überall zu finden sind, und

    b) ob Normen, das ist Imperative und Erlaubnise, für sich allein die tatsächlich geltenden Rechtsordnungen zu begründen vermögen:
so ergibt sich nicht nur das Erfordernis einer anderen, erschöpfenderen Rechtstheorie, sondern zugleich ein Wegweiser zu deren Findung. Denn nach Ausschluß der persönlichen Autorität tatsächlich geltender Regeln; und abgesehen von der Geltungsart als Norm eines Sein- oder Geschehen-sollenden erübrigt für die Rechtsregel nur die Geltungsart eines Seienden oder Geschehenden. Dieser Auffassung gegenüber sind die Verhältnisse des rechtlich-sozialen Lebens der Menschen Objekte, nicht anders als die im isolierten Leben der Menschen gegebenen Verhältnisse. Sie ermöglicht die Einreihung der Rechtslehre in das System der menschlichen Erfahrungswissenschaften und der rechtswissenschaftlichen Methode in das System der für alle anderen Wissenschaften geltenden Erkenntnisgesetze.

Die so oft geäußerte Ansicht, daß eine solche Einreihung deshalb ausgeschlossen ist, weil die Rechtsgesetze, in einem vermeintlichen Gegensatz zu den Naturgesetzen, keine kausale Notwendigkeit in sich schließen, beruth auf der ungerechtfertigten Supposition, daß wissenschaftliche Erkenntnis des Seienden auf exakte, ausnahmslose Gesetze beschränkt ist. Auch die Erkenntnis der außersozialen oder (im engeren Sinne des Wortes) natürlichen Erscheinungen beruth im weitesten Umfang auf Induktionen, die keine Notwendigkeit, sondern bloß Wahrscheinlichkeit ausdrücken. Nicht nur schlechthin allgemeine Gleichförmigkeiten, sondern auch empirische Erfahrungen, die wir nicht exakt zu bestimmen imstande sind, ermöglichen uns, tatsächliche Erscheinungen systematisch in Begriffen und Urteilen zu erfassen. Ja gerade diese sind es, welche im isolierten Leben jedes einzelnen all unser Tun und Lassen bestimmen, unserer gesamten Voraussicht, unseren Meinungen und Vorsätzen zugrunde liegen. Der in der vorliegenden Abhandlung unternommene Versuch, das rechtlich-soziale Leben als unter solchen Regeln stehend zu begreifen, wird daher nicht von vornherein abgewiesen werden dürfen (§ 5).

6. Freilich werden wir uns vorerst vergegenwärtigen müssen, daß es zwei Richtungen oder Zweige der Lehre vom positiven Recht gibt, die sich zueinander ungefähr so verhalten, wie Mechanik und mechanische Technologie. Rechtsgesellschaftliches Zusammenleben der Menschen gestattet und fordert eine doppelte Fragestellung und eine doppelte Behandlung (5).

Wir können fragen:
    a)  Was ist "positives Recht"? Wie sind die realen Vorgänge, Zustände, Verhältnisse beschaffen, deren Regeln wir "positives Recht" nennen?  Welcher Art und Regelmäßigkeit sind die auf- und niedersteigenden, einander unterstützenden oder hemmenden Willensenergien, die jenen Gleichgewichtszustand, jenen Frieden, jene gemeinschaftlichen Arbeiten für gemeinschaftliche Wohlfahrtszwecke, jene gemeinschaftlichen Kämpfe gegen Störungen, Schädlichkeiten, Angriffe und Mißgeschicke darstellen, die sich tagtäglich vor unseren Augen abspielen? Welche realen Willensbestrebungen und realen Zwecke begründen jene Verhältnisse, die uns als Eigentum, Servitut [Dienstbarkeit - wp], Schuldforderung, Verbindlichkeit, Ehe, Amtsgewalt usw. objektiv gegeben sind? Aus welchen elementaren Erscheinungen besteht die Gesamterscheinung des unserer Erfahrung vorliegenden Rechtslebens und wie können wir sie im Geiste synthetisch zu einem systematischen Ganzen rekonstruieren?
Wir können aber auch fragen:
    b)  Was ist "positiv Rechtens"?  Was habe ich und was hat ein anderer zu tun oder zu lassen, um dem "Recht" - was immer sein Wesen sein mag - zu entsprechen? Welches Verhalten verlangen die Rechtsregeln, woher auch immer ihre Autorität stammt,  von jedem Einzelnen?  Wer so fragt, kümmert sich nicht um die Analyse und Synthese des Rechtslebens, sondern begnügt sich damit, die Grundsätze zu erforschen, nach welchen jeder Einzelne sein Leben einzurichten hat, um es mit einem gegebenen System von Regeln, "Recht" genannt, in Einklang zu bringen. Er "rechnet mit Begriffen". Was der Begriff "Recht" und die ihm subsumierten Rechtsbegriffe bedeuten, kann er hierbei außer Betracht lassen. Man kann auch algebraisch, man kann nötigenfalls mit Fiktionen und irrealen Figuren rechnen, wenn nur der angestrebte technologische Zweck, uns über die Anwendung irgendwelcher, als gegebene Autorität hingenommener Rechtssätze zu belehren, erreicht wird. Vom Standpunkt und für die Zwecke dieser Lehre wird das positive Recht allerdings eines jeden einzelnen aufgefaßt werden, ganz ähnlich, wie der Maschinentechniker als solcher Regeln der Mechanik nur als Vorschriften darüber, wie die Maschinen zu konstruieren und zu handhaben sind, ansieht.
Nichts ist wichtiger und notwendiger, als diese zweite Art der Fragestellung und Untersuchung. Nur darf sie nicht die Alleinherrschaft auf dem ganzen Gebiet der Rechtsforschung beanspruchen. Nur darf sie ihre Ausgangspunkte nicht für die in der Rechtswissenschaft allein möglichen, ihre Resultate nicht für die einzig wertvollen, ihre Methode nicht - als ein vermeintlich spezifisch "juristisches Denken" - für die einzig richtige halten. Ich bin vielmehr der Meinung, daß der menschliche Geist  auf allen theoretischen Wissensgebieten  nur ein und dasselbe Denken, nur ein und dieselbe Logik und nur dieselben Methoden, wenn auch in verschiedenen Abstufungen und Anwendungsformen, betätigen kann. Und wir sind ferner der Meinung, daß es auch für die Lehre von der Auslegung und Anwendung der gesetzlichen Vorschriften in hohem Maße förderlich ist, wenn sie einer Wissenschaft, deren Arbeit auf die Erforschung des realen Wesens der rechtlichen Erscheinungen gerichtet ist, nicht bloß eine Daseinsberechtigung, sondern sogar das wissenschaftliche Primat einräumt. Bis vor kurzer Zeit hat man derartige Untersuchungen der Rechtsphilosophie vorbehalten zu müssen geglaubt. Vielleicht war dies für manchen Autor zugleich der bequemste Weg, sich ihrer zu entledigen. Aber die Rechtsphilosophie hat nicht den Beruf, die Rechtsphänomene als solche zu erfassen, sondern deren Stellung im Weltganzen, im Zusammenhang der die Welt erfüllenden Ideen darzulegen. In der Mitte zwischen diesem Beruf und dem vorhin gekennzeichneten Beruf der technischen Jurisprudenz steht der Beruf einer Rechtslehre, die das rechtliche Zusammenleben der Menschen als eine Art des Zusammenlebens der Menschen überhaupt, die Rechtsregeln als eine Art jener Regeln, nach denen menschliche Gesellschaften überhaupt bestehen, und sich selbst als eine Lehre soziologischer Art betrachtet.

Dieser Gedankenrichtung folgend, will die vorliegende Abhandlung zu einer klaren und bestimmten Auffassung vom positiven Rechtsleben und von dessen wichtigsten Erscheinungen dadurch gelangen, daß sie die Rechtsregeln als ein System von Regeln tatsächlichen sozialen Verhaltens und die Rechtsverhältnisse als durch Wohlfahrtszwecke bestimmte soziale Machtverhältnisse erklärt. Was immer für Gebrechen diesem Versuch im einzelnen anhaften mögen, sein leitendes Prinzip,  das positive Recht als eine soziale Gesamttatsache zu erfassen und diese in reale Elemente zu zerlegen,  ist nach unserer Überzeugung ein solches, dem die Rechtswissenschaft der Zukunft sich nicht verschließen kann noch wird. Denn sie gleicht einem aufgehenden Licht, in welchem tausend Erscheinungen, die bisher, von treibenden Nebeln verschleiert, dem Auge nur undeutliche Umrisse darboten, in klaren Gestalten und lebendigen Zusammenhängen anschaulich hervortreten.
LITERATUR Ignatz Kornfeld, Soziale Machtverhältnisse, Wien 1911
    Anmerkungen
    1) Vgl. z. B. BÜLOW, Gesetz und Richteramt, Seite 10f und 48; SCHLOSSMANN, Der Vertrag, Seite 175f; sodann von den Anhängern der sogenannten "Freirechtsbewegung": EHRLICH, Freie Rechtsfindung und freie Rechtswissenschaft, Seite 11f; GNAEUS FLAVIUS, Der Kampf umd die Rechtswissenschaft, Seite 12f - SPIEGEL in der Abhandlung "Jurisprudenz und soziale Wissenschaft" (Grünhuts Zeitschrift, Bd. 36) und EHRLICH in dem Aufsatz "Soziologie und Jurisprudenz" (Zukunft, 14. Jahrgang, Nr. 19, Seite 231) unterscheiden zwar zwischen Rechtsnorm und tatsächlich geltender Rechtsregel; sie bleiben jedoch insofern bei der hergebrachten Behandlung der Jurisprudenz, als sie diese bloß als Normenlehre, somit als eine rein praktische Disziplin betrachten und die Untersuchung des positiven Rechts als Komplexes tatsächlich geltender Regeln der Soziologie zuweisen. Uns hingegen scheint es gerade notwendig, diese letztere Betrachtungsweise in die Rechtswissenschaft selbst zwecks Wahrung ihres Charakters als Erfahrungswissenschaft einzuführen und innerhalb derselben zwischen dem theoretischen Wissen von den Rechtsregeln und Rechtserscheinungen einerseits und der praktischen Anwendungslehre andererseits zu unterscheiden.
    2) Der Ausdruck "Normen" ist mehrdeutig. Bald werden darunter bloß "Imperative", bald Imperative und Erlaubnisse verstanden; bald bloß solche Imperative und Erlaubnisse, die von einem Gesetzgeber erlassen sind, bald auch andere das Zusammenleben von Menschen betreffende Imperative und Erlaubnisse, welcher Provenienz (Gesetz, Gewohnheit, Rechtswissenschaft, Rechtsgefühl) immer. Bei unseren Erörterungen kommt es nun gar nicht darauf an, wie der persönliche Wille beschaffen wäre, welcher die Rechtsnorm schüfe. Sie wenden sich gegen die Erklärung der Rechtsregeln als Ideen oder Kundgebungen von Ideen eines persönlichen Autors überhaupt, gleichviel, wie derselbe geartet sei und gleichviel, ob sie bloß Befehle oder auch Erlaubnisse enthalten. Da wir demgemäß alle Theorien, welche das positive Recht als einen Komplex solcher Ideen definieren, unter der Bezeichnung "Normentheorien" zusammenfassen, so ist unsere Stellungnahme gegen diese wesentlich verschieden von jener Opposition, welche (wie z. B. LÖNING, "Wurzel und Wesen des Rechts", Seite 15f; E. J. BEKKER, "Grundbegriffe des Rechts", Seite 64f) sich nur wider die Beschränkung des Normenbegriffs auf gesetzgeberische Gebote und Verbote wendet.
    3) LABAND, Staatsrecht, vierte Auflage, Bd. II, Seite 3f; dagegen GIERKE, in Grünhuts Zeitschrift, Bd. VI, Seite 229f. - Die wahre Bedeutung, welche meines Erachtens das "lex esto", wenn man esals "jus esto" versteht besitzt, wird in § 13, Ziffer 4 dargelegt.
    4) Mehrere der hier dargelegen Unzulänglichkeiten gesetzgeberischer Imperative zur Erklärung der tatsächlich geltenden Rechtsverhältnisse, Befugnisse und Erlaubnisse, sind schon anderweitig öfters hervorgehoben worden (z. B. LÖNING, a. a. O., Seite 17f). - Die Kritik darf aber nicht bloß jene Normenlehren treffen, welche Norm und Gesetzesimperativ für gleichbedeutend halten.
    5) Wir sprechen hier vom Gegensatz zwischen einer  theoretischen Erkenntnis  der Regelmäßigkeiten des Rechtslebens als eines Erfahrungsobjekts und der  praktischen Methode,  welche in jedem konkreten Fall beobachtet werden muß, um diesen Regelmäßigkeiten gemäß zu verfahren. Dieser innerhalb des positiven Rechts sich bewegende Gegensatz ist ein anderer, als die zuerst von SCHLOSSMAN, Der Vertrag, Seite 189f, sodann von STAMMLER, Lehre vom richtigen Recht, Seite 83f und von KOHLER, Rechtsphilosophie, Seite 43f hervorgehobene Unterscheidung zwischen einer theoretischen und einer technischen  Rechtslehre,  weil diese Schriftsteller die erfahrungsmäßige Regelmäßigkeit des Rechtslebens überhaupt nicht als selbständiges Erkenntnisobjekt behandeln, daher unter der theoretischen Rechtslehre die von ihnen aufgestellten Rechtsideen, unter technischer Disziplin die Lehre vom positiven Recht selbst, als Art, wie diese Rechtsideen in gesetzgeberischen Imperativen zur Erscheinung kommen, verstehen.