ra-1 H. RickertL. Krehl    
 
JOHANNES REINKE
Einleitung
in die theoretische Biologie


"Wir müssen uns gewöhnen, gewisse Erscheinungen als  gegeben  hinzunehmen. Über sie kann man grübeln und phantasieren, man kann sie aber nicht erforschen. Woher die Atomkräfte und die Schwere stammen, ist eine der Empirie so unzugängliche Frage, wie die nach der Herkunft der Kausalität und der Teleologie. Auch unser Naturerkennen ist in die Grenzen des zeitweilig Möglichen gebannt. Als möglich darf aber alles das gelten, was nicht im Widerspruch steht zu sicher festgestellten Tatsachen."

Vorrede

Von einer theoretischen Biologie hat man bisher kaum gesprochen, wenigstens nicht als von einer zusammenhängenden Disziplin. Im Einzelnen ist zwar Theorie in die Beschreibungen der wissenschaftlichen Spezialarbeiten genugsam eingestreut, und gar nicht wenige Bücher bezeichnen sich auf dem Titel als Theorie dieses oder jenes Zweiges der biologischen Wissenschaften. (1) Auch in den Zeitschriften der Philosophen seit dem griechischen Altertum bis in die Gegenwart finden sich mancherlei Erörterungen theoretisch-biologischer Fragen. Doch im Zusammenhang harrt eine Theorie des Lebens noch der Bearbeitung.

Die Ergebnisse der empirischen Biologie sind das Objekt der theoretischen. Es hat aber die theoretische Biologie nicht nur die Grundlagen es biologischen  Geschehens  festzustellen, sondern auch die Grundlagen zu prüfen, auf denen unsere biologischen  Anschauungen  ruhen. Der Wert theoretisch-biologischer Erörterungen ist danach zu bemessen, daß eine Erkenntnis umso wichtiger ist, je allgemeiner sie ist, je weiter ihre Tragweite, je mehr Einzelheiten sie umspannt.

Nichts liegt mir ferner, als eine umfassende Theorie des Lebens oder ein Handbuch der theoretischen Biologie liefern zu wollen. Der Umfang eines solchen würde ein sehr bedeutender sein, und zahlreiche Kräfte müßten sich zu seiner Herausgabe vereinigen: Physiologen, Anatomen, Systematiker; Zoologen und Botaniker. Ein Einzelner wird eine solche Aufgabe heute schwerlich bewältigen können. Darum nannte ich dieses Buch in Beschränkung seiner Aufgabe eine  Einleitung,  da es vielleicht der Zukunft die Anregung gibt, eine theoretische Biologie zu schaffen.

Um das mir gesteckte Ziel zu erreichen, mußte ich von vornherein darauf verzichten, die gesamte biologische Literatur zu berücksichtigen. Ich mußte mir daran genügen lassen, aus dem ungeheuren Material der empirischen Biologie Beispiele und einzelne Abschnitte herauszugreifen, um an ihnen meine Gedanken zu entwickeln. Ich mußte Sorge tragen, in der massen der in den Monographien aufgestapelten Einzelforschungen nicht hängen zu bleiben. Dies war nur möglich, wenn ich mich der Hauptsache nach darauf beschränkte, den Niederschlag des eigenen Denkens darzulegen, wie er sich in langjähriger praktischer Beschäftigung mit biologischen Fragen und in der kritischen Assimilation fremder Ansichten gebildet hat. Ich suchte daher selbständige Anschauungen zur Geltung zu bringen, zu denen ich in langem, geistigem Kampf mit dem Objekt mich durchgerungen habe. Nicht fremdes, mein eigenes Garn wollte ich spinnen. Darum bitte ich auch, wegen der Auswahl des Materials, namentlich des morphologischen, nicht mit mir zu rechten. Als Botaniker lag mir die Pflanzenwelt am nächsten; doch wo ich ihr meine Beispiele entnehme, sind es meines Dafürhaltens solche, die für den Zoologen kein geringeres Interesse besitzen dürften, als für meine engeren Fachgenossen.

Die Literatur benutzte ich daher besonders deswegen, um mir Hilfstruppen heranzuholen oder um den meinen entgegenstehende Ansichten zu bekämpfen. Nach beiden Richtungen bin ich mit Zitaten nicht sparsam gewesen und ich denke, man wird mir deswegen nicht zürnen. Denn nur aus wörtlichen Zitaten von hinreichendem Umfang kann man eines Autors Meinung erkennen; und wer hat heute noch die Zeit, zahlreiche in Fußnoten zitierte Seitenzahlen von Büchern nachzuschlagen, die er vielleicht nicht einmal besitzt?

Ein Buch wie das vorliegende mußte, nachdem seine Grundgedanken einmal feststanden, möglichst in einem Fluß niedergeschrieben werden. Ich durfte das Spinnen des Fadens nicht durch allzuviel Literaturstudien auf dem mir fremderen Gebieten der Biologie unterbrechen; darum hielt ich mich für die Gebiete der Tierphysiologie, der Tierchemie und der tierischen Zellenlehre an drei zusammenfassende Bücher, die meine wichtigste Hilfe geworden sind, da ich seinerseits mit den in ihnen vertretenen Grundanschauungen weitgehend sympathisiere, sie andererseits aber so meisterhafte Darstellungen der von ihnen bearbeiteten Gebiete enthalten, daß meines Dafürhaltens die zeitgenössische Literatur ihnen nichts Ebenbürtiges an die Stelle zu setzen hat. Diese Bücher sind CLAUDE BERNARDs "Lecons sur les phénoménes de la vie", GUSTAV von BUNGEs "Lehrbuch der physiologischen Chemie" und EDMUND WILSONs "The cell in development an inheritance. Allen drei Büchern ist gemeinsam, daß sie nicht nur die Tierwelt, worauf es mir in erster Linie ankam, sondern auch die Pflanzenwelt berücksichtigen.

Diese drei hervorragenden Werke sind nicht nur durch die Gediegenheit des Inhalts und die Objektivität des Urteils, sondern auch durch eine ebenso klare wie geistvolle Sprache ausgezeichnet, die ihre Lektüre zu einer genußreichen macht. Sie liefern den Beweis, daß Klarheit der Sprache Klarheit des Denkens bedeutet, wie wir aus Unklarheit der Sprache auf mehr oder weniger verworrene Gedanken zu schließen befugt sind. Denn die Sprache ist die Verkörperung der Gedanken; sie bildet das Maß, um die Gedanken anderer wie unsere eigenen daran zu messen. Wer sich bemüht, klar zu schreiben, hat sich auch bemüht, klar zu deken und den Unrat, der sich bei jeder Gedankenarbeit einstellt, rechtzeitig auszukehren. Ist doch die Sprache das alleinige Werkzeug, um den Gedanken in weiteren Kreisen die Bahn zu brechen, wo ihre Aufgabe ist, anregend zu wirken. Es ist mir daher ein Bedürfnis, den Verfassern jener drei Bücher, den Meistern des Wissens und der Gedanken, für die vielfach von ihnen mir gewordene Anregung hier meinen Dank auszusprechen. Leider ist einer derselben nicht mehr in der Lage, diesen Dank entgegenzunehmen.

Aber auch mit der heute wieder aufstrebenden Naturphilosophie hatte ich mich auseinander zu setzen. Um Fühlung mit derselben zu gewinnen, las ich zunächst EDUARD von HARTMANNs "Philosophie des Unbewußten", und zwar mit lebhaftem Interesse. Wenn ich von dem im engeren Sinne metaphysischen Inhalt jenes Werkes absehe, dem ich als Naturforscher fremd gegenüberstehe, so fand ich in seinen naturphilosophischen Abschnitten ein gutes Stück theoretischer Biologie von nicht geringem Wwert. Ich konnte dies für jeden Biologen beachtenswerte Werk vielfach unter meine Hilfstruppen einreihen; als hohes Verdienst ist es meines Dafürhaltens demselben schon anzurechnen, daß es die in den Organismen herrschende finale Gesetzmäßigkeit als eine der kausalen gleichwertige hinstellt.

Immerhin wollte ich bei HARTMANN, der als Philosoph zu den Naturwissenschaften gekommen ist, nicht stehen bleiben, sondern ich hoffte weitere Förderung in WILHELM WUNDTs "System der Philosophie" zu finden, von dem ein großer Teil sich speziell der Naturphilosophie widmet. WUNDT hat in seinem Entwicklungsgang den umgekehrten Weg gemacht wie HARTMANN, er ist von den Naturwissenschaften zur Philosophie übergegangen. Er war einst Professor für Physiologie und ist Verfasser nicht nur eines Lehrbuchs dieser Wissenschaft, sondern auch eines vortrefflichen Lehrbuchs der Physik, das ich seit langen Jahren mit Nutzen gebraucht hat. Bei WUNDT erwartete ich daher geklärte, auf naturwissenschaftlichem Fundament ruhende philosophische Anschauungen zu finden.

In einer Beziehung wurde meine Erwartung erfüllt. Auch WUNDT tritt für die in der Welt der Organismen herrschende objektive Zweckmäßigkeit ein und stellt sich damit auf die meines Erachtens unerläßliche Grundlage jeder gesunden theoretischen Biologie, die nicht in unfruchtbarem Dogmatismus und in unhaltbaren Vorurteilen erstarren will. In vielen anderen Richtungen aber fühlte ich mich durch das Studium von WUNDTs  System der Philosophie  enttäuscht. In wichtigen theoretischen Fragen ließ er mich entweder unbefriedigt oder forderte meinen lebhaften Widerspruch heraus. Was ihm weiß erschien, erscheint mir vielfach schwarz, und umgekehrt. Unter diesen Umständen konnte mir eine sachlich geführte Polemik gegen WUNDTs Lehren nicht erspart bleiben; ich hob nur den Handschuh auf, den er der Biologie hingeworfen hat. Auch hoffe ich, mein Verhalten wird dem bekämpften Philosophen erwünschter sein, als jener stumme Hochmut, mit dem heute noch manche Naturforscher auf jede von philosophischer Seite kommende Äußerung hinabsehen.

Wie in jeder Wissenschaft, sollten auch in der Biologie die erkenntnistheoretischen Fragen vorangestellt werden. Ich habe mir jedoch in dieser Hinsicht, um nicht in zu großer Breite auf das als Domäne der Philosophen betrachtete Gebiet überzugreifen, Zurückhaltung auferlegt. Sofern ich erkenntnistheoretische Fragen behandle, die für die Naturwissenschaft im Allgemeinen Geltung besitzen, stütze ich micht mehrfach auf die treffliche Schrift von PAUL DUBOIS-REYMOND, "Über die Grundlagen der Erkenntnis in den exakten Naturwissenschaften". Die erkenntnistheoretische Hauptfrage, nämlich die Frage des Idealismus und Realismus [humjac2], habe ich aber ganz unberücksichtigt gelassen, und zwar aus zwei Gründen.

Einmal kann man, worauf ich im Kapitel 4 hinweise, sagen,, daß es für den Naturforscher gleichgültig oder vielmehr für seine wissenschaftliche Arbeit einflußlos ist, ob er in erkenntnistheoretischer Hinsicht dem Idealismus oder dem Realismus huldigt, oder ob er sich um gar keinen dieser erkenntnistheoretischen Standpunkte kümmert, wie so Viele es machen. Denn gesetzt er wäre transzendentaler Idealist, er wäre überzeugt, daß ihn nur träume, wenn er den Embryo eines Hühnchens in Schnitte zerlegt und diese unter dem Mikroskop studiert, wenn er eine Dynamomaschine spielen läßt oder ein Bleisalz mit Schwefelwasserstoff fällt, überzeugt, daß er an die Wirklichkeit aller solcher "Vorstellungskomplexe" nicht glaubt, sondern höchstens ein Räuspern des "Ding-ansichs" dahinter vermutet, so ist zuzugeben, daß er allerdings unter der Voraussetzung eines solchen Jllusionismus so gut nachforschen kann, wie ein Realist. Weil also zweifellos der Idealist den Darlegungen des vorliegenden Buches ebensogut folgen kann, wie der Realist, hatte ich keinen dringenden Anlaß, die Frage des Idealismus im Rahmen desselben aufzurollen.

Sodann habe ich aus meinem eigenen Standpunkt jener Frage gegenüber bereits in meinem Buch "Die Welt als Tat" keinen Hehl gemacht. Ich bekannte mich dort zu einem Realismus, den ich im Gegensatz zum sogenannten naiven Realismus als wissenschaftlichen Realismus bezeichnen möchte, und der sich wie ich glaube im Wesentlichen mit demjenigen deckt, den EDUARD von HARTMANN in seiner Schrift "Das Grundproblem der Erkenntnistheorie" als transzendentalen Realismus vertritt. Diese gründliche, nach meiner Meinung in ihren Ergebnissen unwiderlegliche Schrift sei jedem Naturforscher empfohlen, der sich über die erkenntnistheoretische Grundfrage ein eigenes Urteil zu bilden wünscht und nicht, an den Leimruten SCHOPENHAUERscher oder sonstiger Dialektik gefangen, sich im Nebel des Jllusionismus so wohl fühlt, daß er ihn mit erkenntnistheoretischer Klarheit schlechterdings nicht vertauschen mag.

Da ich hierzu doch einmal außerhalb des Rahmens meines Buches das Wort genommen habe, so sei noch das Folgende bemerkt.

In meinen Augen ist der "transzendentale Idealismus" das gleißendste Blendwerk, welches die Menschen von der Philosophie sich haben vorspiegeln lassen, obgleich man ihnen auch in der prästabilierten Harmonie und im psychophysichen Parallelismus starke Dinge geboten hat.  Mundus vult decipi  [Die Welt will betrogen sein. - wp], an dieses Sprichwort muß ich immer denken, sobald ich auf jemanden treffe, der in jenen Lehren der Weisheit Gipfel zu erblicken glaubt. Mir scheint die Realität des Nichtich so sicher zu sein, wie die des Ich. Will man daran zweifeln, so frage ich: Wer garantiert denn den Idealisten, daß ihre "innere" Wahrnehmung nicht ebenso trügerisch ist, wie die "äußere", daß sie nicht gleichfalls auf  Jllusion  beruth?

So sicher wie mein Denken sich in den Anschauungen des Raums, der Zeit und der Kausalität bewegt, so gewiß bin ich, daß Ausdehnung und Bewegung, d. h. Raum, Zeit und Kausalität auch dem Zusammenhang der Dinge  ohne uns  zukommen; ich glaube, es ist schon einiges gewonnen, wenn man anstatt "Dinge ansich einmal "Dinge ohne uns", d. h. ohne uns Menschen, sagt. Jeder beliebige Vorgang des täglichen Lebens, sobald wir ihn vorurteilslos analysieren, führt meiner Meinung nach den erkenntnistheoretischen "transzendentalen" Idealismus ad absurdum. Ein einziges Beispie sei angeführt. Ich höre ein Quartett von BEETHOVEN. Da soll nach idealistischer Lehre nicht davon die Rede sein dürfen, daß in Wirklichkeit meine Empfindungenn durch Luftschwingungen veranlaßt werden, die objektiv räumlich und zeitlich voneinander gesondert sind, die kausal verursacht werden durch die Muskelarbeit der Musiker. Der psychophysische Parallelismus aber erlaubt nicht, daß die Seele der Musikanten oder mittelbar die Seele BEETHOVENs kausal jene Muskelkontraktionen verursacht, daß durch sie und ihre mechanische Tätigkeit wieder meine Seele beeinflußt wird. - Mir scheint es ein namenloser Unsichh zu sein, daß ich mir das alles nur einbilden soll; ich zweifle meinerseits darum nicht daran, daß es eine reale Außenwelt" gibt, in der Raum, Zeit und Kausalität in Geltung stehen, und daß durch dieselbe meine Seele im Falle jenes Konzerts wie in jedem anderen kausal affiziert wird.

Gewiß werde ich in der Schroffheit meiner Verwerfung des transzendentalen Idealismus bei manchem Anstoß erregen; doch hier vermag ich nur mit GOETHE zu sagen: "Aufrichtig zu sein kann ich versprechen; unparteiisch zu sein aber nicht."
Allerdings steht hier Weltanschauung gegen Weltanschauung, und da kommt der Ausspruch FRIEDRICH NIETZSCHEs in Betracht: "Weltanschauungen werden weder durch Logik geschaffen noch vernichtet". - Das ist richtig, aber nicht ganz richtig; wie so viele Äußerungen NIETZSCHEs enthält auch dieser Satz nur die halbe Wahrheit. Er gilt für diejenigen, die so fest an ihren Vorurteilen kleben, daß sie von ihnen nicht lassen können oder wollen. Er gilt nicht für diejenigen, die ihre vornehmste Aufgabe darin erkennen, unausgesetzt an sich selbst zu arbeiten, immer wieder die Sonde der Kritik an die eigenen Anschauungen zu legen und wo sie ein Vorurteil entdecken, es mit Stumpf und Stiel auszurotten sich bemühen. Diesen letzteren kann eine Korrektur ihrer Weltanschauung durch die Logik gar wohl gelingen.

Erfreuliche Zeichen einer fortschreitenden Selbstkritik sind auch in den biologischen Anschauungen unserer Tage zu erkennen. So hat jene Kinderkrankheit der Biologie, die KARL ERNST von BAER einst  Telephobie  nannte, ihren Höhepunkt längst überschritten. So ist die Zahl derjenigen, die an die Allmacht der Naturzüchtung glauben, immer mehr im Schwinden begriffen, und die Meinung, wir würden den Lebensprozeß demnächst durch eine mathematische Formel definieren können, wie etwa das Fallgesetz, wird kaum noch gehört. Darum werden wir hoffentlich bald ganz aufhören zu fordern, daß die Natur nach der Pfeife unserer Stimmungen und Wünsche tanzen müsse.

Keine Vorurteile, sondern Voraussetzungen! sollte die Losung jedes Naturforscher sein. Vorurteilslose Forschung hatten wir anzustreben, voraussetzungslose Forschung ist ein Unding. Jedes Vorurteil ist halb unbewußt, es beruth auf Unklarheit im Denken; eine Voraussetzung wird durch klares Denken in vollem Bewußtsein anerkannt. Das Ideal mag sein, mit einem Minimum von Voraussetzungen auszukommen; da wir aber Menschen sind, wird dieses Minimum niemals den Wert von Null erreichen.

Darum sind alle unsere Vorstellungen und Urteile immer nur menschlich, wir mögen es anfangen wir wir wollen; und vielfach habe ich bemerkt, daß diejenigen, die am lautesten auf den Anthropomorphismus schelten, besonders tief in anthropomorphen Vorurteilen befangen sind. Über den Satz des alten Weisen, daß der Mensch das Maß aller Dinge sei, werden wir doch nicht hinauskommen.



Erster Abschnitt
Biologie und Philosophie

Kapitel 1
Das Verhältnis der theoretischen Biologie
zur Naturphilosophie

Die Grenzen zwischen Philosophie und Naturwissenschaft sind flüssig. Sie sind es von jeher gewesen. Darum lassen sie sich nicht in scharfen Linien ausziehen. Was aus dem Altertum an naturwissenschaftlichen Lehren auf uns gekommen ist, sind Äußerungen der Philosophen; und man zeige uns einen hervorragenden Naturforscher der Neuzeit, dessen Arbeiten nicht auch philosophische Ideen enthielten und der Philosophie unmittelbar zugute gekommen wären.

Das Gebiet beider Wissenschaften greift vielfach ineinander Die Wechselbeziehungen sind besonders eng und zahlreich zwischen der Naturphilosophie und der Biologie. Unsere ganze Biologie ist von naturphilosophischen Elementen durchsetzt, und in naturphilosophischen Werken sind mancherlei Anregungen für den Biologen zu finden. Beide, der Biologe und der Philosoph, mühen sich oft um das gleiche Objekt, suchen die gleichen Probleme zu lösen; und man nennt eine Arbeit gewöhnlich nur darum eine philosophische, weil ein Philosoph von Fach sie geschrieben hat, eine biologische, weil ein Biologe von Beruf der Verfasser war. Danach bestünde die Naturphilosophie in Untersuchungen der Philosophen über die Natur, die Bioloie in Untersuchungen der Botaniker, Zoologen usw. über die Erscheinungen und das Wesen des Lebens und über den allgemein gültigen und notwendigen Zusammenhang dieser Erscheinungen. So töricht dies scheinen mag, wird doch häufig genug nicht anders klassifiziert.

Diese Wechselbeziehungen zwischen der Philosophie und anderen Wissenschaften werden allseitig anerkannt.

"Die Philosophie", sagt WUNDT, (2) "sieht sich veranlaßt, ergänzend und, wenn nötig, berichtigend in die Arbeit der besonderen Wissenschaften einzugreifen, um von ihrem allgemeinem Standpunkt aus die Arbeit weiterzuführen; die Einzelwissenschaften werden wider ihren Willen gezwungen zu philosophieren, wenn sie sich nicht den besten Teil ihrer Ergebnisse wollen entgehen lassen."

Dennoch sind der Naturphilosophie und der Biologie besondere Aufgaben gestellt, in denen die Ziele sich trennen und die Wege auseinanderlaufen. Dies zeigt sich schon darin, daß wenigstens zur Zeit noch der Blick des Biologen ganz überwiegend auf das Spezielle, der des Philosphen auf das Allgemeine gerichtet ist.

Um nur ein Beispiel anzuführen, so bilden die Fragen: wozu hat der Wolf sein Gebiß, seine Augen, seine Extremitäten, seinen Magen? sicher ein biologisches Problem; allein die Frage: wozu ist der Wolf da? perhorresziert [lehnt ab - wp] die Biologie und überläßt sie ohne daran zu rühren der Naturphilosophie, ganz unbekümmert darum, ob diese etwas damit anzufangen weiß oder nicht.

Auf die theoretische Biologie muß sich unser Vergleich zuspitzen. In jedem Biologen regt sich, wenn auch manchmal nur träge und undeutlich, der Wunsch, eine zusammenfassende Einsicht in das Triebwerk des Lebens zu gewinnen; und nur wer sich absictlich diesem Verlangen verschließt, wird ihm dauernd widerstehen können. In Wirklichkeit gelangt jenes Streben auch in den meisten biologischen Einzeluntersuchungen zum Durchbruch. Wenn man es mit Recht als die Aufgabe der Philosophie bezeichnet, das Allgemeine aus den Einzelheiten der Erscheinungswelt herauszulesen, so steckt ein Stück Philosophie fast in jeder biologischen Arbeit. Denn ohne Vergleich und Abstraktion, ohne Verallgemeinerung des Beobachteten in irgendeiner Richtung vermag niemand auch nur die Monographie eines eng umgrenzten Gebietes zustande zu bringen: in jedem Vergleich ist aber schon die Richtung auf das Allgemeine gegeben. Dieses philosophische Element in der Forschung erhöht den Reiz ihrer Ergebnisse; es verhält sich zu diesen wie die Farbe zur Zeichnung auf einem Gemälde. Weil aber umgekehrt die Naturphilosophie das ganze Rüstzeug der gemachten Beobachtungen zur Verwertung verfügbar hat, ist es im Grunde ein wissenschaftliches Unding, daß beide als zwei getrennte Strömungen nebeneinander herlaufen, ohne von einander Notiz zu nehmen. In Wirklichkeit kann die Biologie auch gar nicht ohne philosophische Elemente auskommen, wie schon die Begriffe von Kraft, von Kausalität, von Zweck beweisen. Diese Elemente als Werkzeug im eigenen Interesse zu handhaben, ist die Aufgabe der theoretischen Biologie, und in diesem Sinne hat man mit Recht gesagt, daß jede Wissenschaft sich ihre Philosophie selbst schaffen müsse. (3)

So fällt die Arbeit der Philosophen und der Biologen vielfach zusammen. Wollte der Zoologe oder Botaniker etwa jedes Nachdenken über den Zusammenhang beobachteter Einzelheiten und man kann nur Einzelheiten beobachten - dem Philosophen überlassen, er würde sich selbst aufgeben. Andererseits wäre es eine unverzeihliche Torheit, wollte der Biologe das Nachdenken der Philosophen über den Zusammenhang der Naturerscheinungen weniger ernst nehmen, als die Spekulationen der eigenen Fachgenossen über den gleichen Gegenstand. Wenn Philosophen Synthesen ausführen, die auf dem  sichergestellten  empirischen Material der Biologie fußen, dann haben jene Philosophen eine  biologische  Gedankenarbeit vollbracht, die man nur darum zur Naturphilosophie rechnet, weil ihre Urheber sich Philosophen nennen.

Sehen wir aber endlich einmal ab von diesem ganz äußerlichen Einteilungsgrund, so besitzen wir innerhalb der biologischen Fachliteratur die reichste Fülle naturphilosophischer Spekulationen. Ich rechne dahin z. B. den Darwinismus in allen seinen Schattierungen. Sofern er ein Gesamtbild vom Zusammenhang der Organismen zu geben strebt, geht er weit über die unmittelbare, einwandfreie Erfahrung hinaus. Schon die bloße Deszendenzlehre, welche von den Ursachen der Umbildung absieht, ist spekulativ und durchbricht die Schranken des empirisch Erkennbaren. Daher kann man sie zur Metaphysik rechnen, auch wenn man mit KANT die Aufgabe der letzteren dahin bestimmt, von der Erkentnis des Sinnlichen zu der des Übersinnlichen fortzuschreiten; (4) denn was der Erfahrung unserer Sinne nicht zugänglich ist, ist doch Übersinnlich. NÄGELIs Vervollkommnungstendenz ist sicher ein metapyhisches Prinzip, das dadurch von seinem Wesen nichts einbüßt, wenn NÄGELI ihm später im Phantasie-Erzeugnis eines kontinuierlich den Körper durchsetzenden Idioplasma einen materiellen Träger zu geben suchte. - Übrigens liebe ich das Wort "Metaphysik" nicht sehr, weil die verschiedenen Autoren einen abweichenden Sinn damit verbinden.

Ich gelange zu dem Ergebnis, daß die theoretische Biologie Fühlung zu halten hat mit der Naturphilosophie, sofern auch letztere sich auf dem festen Fundament der Erfahrung aufbaut oder in ihren Deduktionen sich wenigstens mit den Ergebnissen der Erfahrung nicht in Widerspruch setzt. Umso lebhafter wird sich das Gefühl des Biologen aufbäumen gegen philosophische Versuche, die unbeküert um die Tatsachen oder gar im vollen Widerspruch mit ihnen, am Schreibtisch die Erklärung biologischer Vorgänge diktieren wollen. Unser Kapitel 9 ist der Abweisung eines solchen Versuches einer unberechtigten Naturphilosophie aus neuester Zeit gewidmet.


Kapitel 2
Wahrheit oder Befriedigung?

Ich habe es stets für die Aufgabe einer Wissenschaft gehalten,  die  Wahrheit auf ihrem Gebiet festzustellen oder derselben doch so nahe wie möglich zu kommen. Das tief in jeder Menschenbrust lebende Streben nach Ermittlung der Wahrheit ist eine fundamentale, sittliche und intellektuelle Triebkrat; und Wahrheitssinn gilt als die erste Voraussetzung, die oberste Richtschnur wissenschaftlichen Forschens. Mit einigem Erstauen fand ich daher auf der ersten Seite von WUNDTs "System der Philosophie" den Zweck dieser Wissenschaft dahin bestimmt: "Er besteht überall in der Zusammenfassung unserer Einzelerkenntnisse zu einer die Forderungen des Verstandes und die Bedürfnisse des Gemütes befriedigenden Welt- und Lebensanschauung"; mit keiner Silbe wird der Forderung nach Wahrheit gedacht.

Während somit der Trieb nach Wahrheit, der in uns lebt, unbeachtet bleibt, soll die Philosophie die Forderungen des Verstandes und die Bedürfnisses des Gemüts befriedigen. Ich will von der subjektiven Färbung, die hiermit der wissenschaftlichen Aufgabe erteilt wird, absehen; ich will sie auch nicht tadeln, denn alle Wissenschaft ist menschlich. Allein ich halte es für bedenklich, die Aufgabe einer Wissenschaft in der  Befriedigung  von Verstand und Gemüt zu suchen. Was befriedig, gefällt, und was gefällt, befriedigt. Für die Wissenschaft und die Wahrheit muß es aber ganz gleichgültig sein, ob sie gefällt oder nicht gefällt. Die Kunst mag gefallen; die wissenschaftliche Wahrheit mag noch so unbefriedigend sein, wir müssen sie hinnehmen; da hilft kein Sträuben. In der Wissenschaft pflegt das am meisten zu gefallen, was den eingewurzelten Vorurteilen entspricht, und jeder Widerspruch gegen diese Vorurteile wird bitter empfunden. Warum soll aber das Ideal, das von WUNDT als Ziel der Philosophie hingestellt wird, nicht auch für die Naturwissenschaft und spezielle für die Biologie Geltung haben? Dann würde es allerdings nicht nur für die allgemeinsten Ergebnisse der Biologie gelten, sondern auch für jeden Fall der Einzelforschung. Und da den Einen dieses befriedigt, den Andern jenes, so fiele dem subjektiven Lust- oder Unlustgefühl die Entscheidung zu. Der Konflikt zwischen Befriedigung und Wahrheit würde ein permanenter. Wenn es mir zur Befriedigung gereichen würde, bei allen Moosen eine  dreiseitige  Scheitelzelle zu finden, das Auftreten einer  zweiseitigen  Scheitelzelle bei Fissidens [Laubmoos - wp] aber die Forderungen meines Verstandes nicht befriedigte, soll ich da beim Auffinden einer solchen der Wahrheit die Ehre geben, auch wenn sie mir mißfällt? Ich glaube, den Zweck der Wissenschaft bloß in der Befriedigung des Verstandes suchen zu wollen, ist ein gefährlicher Irrtum. Denn die Befriedigung ist Sache des Vorurteils und des Geschmacks, des Geschmacks des Einzelnen; nicht einmal als Kriterium einer subjektiven, nur für den Einzelnen und seine Phantasie gültigen Wahrheit ist sie brauchbar. Die Wissenschaft soll aber eine objektiv und allgemein geltende Wahrheit erstreben. Sachlicher Wahrheitssinn steht höher als jede noch so elegante und noch so befriedigende Spekulation. Die letztere ohne Rücksicht auf Wahrheit wäre der Wissenschaft unwürdig und höchstens eine Art von geistigem Sport. Damit würde auch jeder objektive Wert wissenschaftlicher Forschung schwinden; das Streben nach bloßer Befriedigung wäre der schlimmste wissenschaftliche Verfall, der sich denken läßt.

Darum wäre die Entscheidung der Frage: Wahrheit oder Befriedigung? von fundamentaler Bedeutung, wenn nicht glücklicherweise diese Frage ansich schon unrichtig gestellt wäre. Denn unzweifelhaft werden sich edlere Geister nur befriedigt fühlen durch die Ermittlung der Wahrheit, und nur in diesem Sinne möchte ich auch WUNDTs Zweckbestimmung der Philosophie deuten, dann aber auch nicht mit ihm rechten. -

Unser innerer Trieb nach einheitlicher Naturauffassung deutet allerdings auf ein geistiges Bedürfnis hin, aber dieses Bedürfnis ist ein Wahrheitsbedürfnis. Die Befriedigung dieses Triebs dürfen wir nur anstreben bei vorurteilsloser Abwägung aller uns entgegentretenden Tatsachen, mögen sie uns gefallen oder nicht. Eine weitergehende Geltung möchte dem Moment der Befriedigung in der Wissenschaft keinesfalls einzuräumen sein, als daß im befriedigenden Zusammenstimmen vieler Einzelheiten, im Minimum der Widersprüche, sich ein Prüfstein für ihre Wahrheit ergeben kann.

Gerade die theoretische Biologie findet ihre Berechtigung in dem als wissenschaftliches Gebot erscheindende Verlangen, das Einzelne in seiner Beziehung zum Ganzen, zu dem es gehört, zu betrachten. So suchen beide die Wahrheit im Zusammenhang der Natur, die Philosophen wie die Naturforscher. Da es nur  eine  Wahrheit gibt, kann es sich nur um zwei Wege handeln, die schließlich zusammenführen müssen; daraus folgt, daß beide, schon der wechselseitigen Kritik wegen, einander nicht ignorieren dürfen. Es kann nur ein gemeinsames Ziel beider Wissenschaften geben; darum  müssen  der Biologe und der Philosophie einander in die Hände arbeiten, sofern nicht der ein von ihnen irrt; der Wahrheit selbst als auch der aus der Wahrheit entspringenden Befriedigung. Niemals aber dürfen wir subjektive Befriedigung zum Kriterium der Wahrheit machen, selbst wenn wir sonst keinen Gradmesser der Wahrheit zu finden wissen. Und ebensowenig ist es statthaft zusagen: für die Biologie weise ich diesen oder jenen Schluß zurück, doch innerhalb der Naturphilosophie lasse ich ihn mir gerne gefallen.

Die biologische Wahrheit ist nicht unveränderlich; genau genommen besteht sie nur für das gegebene Zeitalter, oder, wenn man es lieber hört, für den Zeitgeist. Sie ist daher entwicklungsfähig und kann definiert werden als dasjenige, was man in der Gegenwart für wissenschat wahr zu halten gezwungen ist. Die absolute Wahrheit ist ein Ideal; wir können immer nur den Besitz relativer Wahrheit, d. h. Wahrheit für uns und für unsere Zeit beanspruchen. Daher ist die Aufgabe der Wissenschaft  der Kampf um die Wahrheit  und das Bestreben, die errungene Wahrheit zu befestigen, zu verbessern, zu vervollständigen. Der größte Teil biologischer Wahrheit liegt noch außerhalb des Systems unseres zeitigen Wissens, und wieviel von dieser Wahrheit wir uns einst aneignen werden, wissen wir nicht. Unsere Pflicht aber ist es, in der Biologie vorwärts zu dringen, als wäre es sicher, daß diese Wahrheit einst restlos für unseren Verstand aufgehen wird, mögen wir uns in dieser Annahme verrechnen oder nicht. Heute ist das Geständnis des "ignoramus" [wir wissen es nicht - wp] vielem gegenüber ein Gebot der Ehrlichkeit; während das "ignorabimus" [wir werden es niemals wissen - wp] mir wie ein Ruf der Fahnenflucht erscheint. Und handelt es sich auch nur um Versuche - immer neue Versuche wenigstens sind anzustellen, um den über den Rätseln des Lebens lagernden Schleier zu lüften, mag der Erfolg uns befriedigen oder nicht. Das Ziel ist und bleibt die Wahrheit.


Kapitel 3
Die Grundprobleme

Wenn man den von Jahr zu Jahr immer gewaltiger anschwellenden Strom biologischen Wissens ins Auge faßt, wenn man berücksichtigt, wieviel neue Kenntnisse von fleißigen Arbeitern auf den Gebieten der Zoologie und Botanik, der Anatomie und der Physiologie, der Zellenlehre und Paläontologie in Hunderten von Zeitschriften zusammengetragen werden, so ist man versucht, "Halt ein!" zu rufen, halt ein, damit man Ruhe findet, diesen Schatz menschlichen Wissens zu ordnen, zu gestalten, zu assimilieren. Aber selbst wenn eine Götterhand sich aus den Wolken hervorstreckte und eine Stimme von Oben "Halt" riefe - niemand würde den Ruf beachten, wirkungslos würdeer verhallen und in gleicher, ja in steigender Rastlosigkeit würde die Forschungsarbeit ihren Lauf nehmen. Einen Ruhepunkt in dieser großartigen Bewegung und Entwicklung gibt es nicht. Nur der Einzelne kann dann und wann einen Strich unter die zu summierenden Einzelnheiten machen und das Fazit ziehen.

Oft hat man den Naturforscher einem Bergmann verglichen, der seinen Schacht in die Tiefe treibt und Gestein aller Art fördert, um die Beschaffenheit des Gebirges kennen zu lernen; glücklich wer dabei Stufen von Edelmetall findet, meist verborgen unter Haufen von taubem Geröll! Aber auch der Stärkste dringt nicht über eine gewisse Tiefe hinab, die doch nur einen kleinen Teil des Erdhalbmessers bildet. Immer bleibt das Meiste darunter verborgen, der Erfahrung sinnlicher Wahrnehmung unerreichbar: trotzdem darf kein "ignorabimus" die Kräfte lähmen, trotzdem hat der  Gedanke  das Recht, auch in die verborgenen Tiefen zu dringen und vom Bekannten auf das Unbekannte zu schließen. Aber grundverschieden ist diese verborgene Unterlage von dem, was sich der Beobachtung darbietet, sich zeigt, und die Wissenschaft nennt sie  das Transzendente. 

So kann man das biologische Problem nach einer Richtung gliedern in Erreichbares und Transzendentes; in einer anderen Richtung, verschiedenen parallel nebeneinander getriebenen Schächten vergleicbar, treten uns vielseitigere Verhältnisse entgegen, die aber alle in transzendente, d. h. nur unserem Denken und unserer Phantasie zugängliche Gebiete münden, in denen das Beobachten aufhört und das "Erschließen" beginnt, denen wir jedoch erst später unsere Aufmerksamkeit zuwenden wollen. Dagegen möchte ich hier schon hervorheben, daß die Biologie in der Luft schweben würde, wollte sie das Verhältnis der Lebensvorgänge zum gesamten Naturgeschehen außer Acht lassen. In allen diesen Beziehungen berührt sich die Biologie mit philosophischen Aufgaben, sie ist vielfach von philosophischen Gesichtpunkten getraen und nur zum eigenen Schaden würde sie denselben ausweichen. Denn es handelt sich teilweise um maßgebende, unvergängliche Gesichtspunkte, die sich immer in der biologischen Wissenschaft zur Geltung bringen werden und müssen.

Im Prinzip ist die theoretische Biologie nicht weniger berechtigt als jede andere "theoretische" Naturwissenschaft, z. B. die theoretische Physik oder die theoretische Chemie. Freilich entbehrt sie des wichtigen Prüfungsmittels der Rechnung, welches den beiden letzteren zur Verfügung steht. Trotzdem ist die theoretische Biologie nicht etwa Schaum, den das wogende Meer der beobachtenden und experimentierenden Disziplinen emporwirft, sondern eher ein geistiges Destillat aus der im Boden sinnlicher Wahrnehmung wurzelnden Erfahrung. So knüpfen sich z. B. an die Namen ERASMUS und CHARLES DARWIN großartige Versuche, einen Teil der Biologie theoretisch zu behandeln, deren wissenschaftliche Berechtigung nicht in Frage gestellt werden kann.

Wenn die Biologie sich mit allen Organismen vom Menschen bis zur Amöbe und zum Spaltpilz hinab beschäftigt, so hat ihr theoretischer Teil auch für den logisch gegliederten Aufbau der ganzen Wissenschaft Sorge zu tragen, die Grundlagen ihrer Erkenntnis zu diskutieren und die Probleme zu formulieren. Als solche treten insbesondere die folgenden hervor:

Das Zellenproblem.  Die Zelle ist die biologische Einheit im Tier- und Pflanzenreich, während der Mensch und die frei lebende Einzelzelle die morphologischen und physiologischen Grenzwerte der Organismen darstellen. Daher hängt das Zellenprobleme eng mit dem morphologischen Problem zusammenh. Ein Apfelbaum ist nicht bloße die Summe seiner Zellen, sondern auch etwas eigenartig Neues, das aus der harmonischen Kombination dieser Zellen entstanden ist; kombinierten wir die gleiche Zahl jener Zellen anders, das Ergebnis würde ganz anders ausfallen. - Physiologisch kann man von der Zelle ausgehen und aus ihr z. B. die Muskel- und Nervenfunktionen als gesteigerte Zellfunktionen abzuleiten versuchen; aber der umgekehrte Weg ist genauso berechtigt. Man fange beim Menschen an und verfolge alle seine körperlichen und seelischen Funktionen bis zu ihrem Rudimentärwerden oder Schwinden in der Zelle. Dann erscheint uns auch die Zelle im Prinzip ausgerüstet mit den Eigenschaften der höchsten Organismen, soweit  letztere nicht erst in der Kombination von Zellen ihren Ursprung nehmen  oder sonstwie als etwas Neues zu den Zellen hinzutreten sollten. Aber in der Eizelle und im Spermatozoid sind jene Eigenschaften doch sicher als Anlagen, sei es auch als indirekte Anlagen in einem epigenetischen Sinn, vorhanden.

Das Problem der Form.  Charakteristisch ist für die Organismen die Erhaltung ihrer Form im fortwährenden Wechsel der Stoffe, wobei die Form selbst aber vom Ei bis zum neuen Ei eine Stufenleiter der Entwicklung durchläuft.

Das Problem der Notwendigkeit.  Es stellt die Aufgabe, die dem Zusammenhang der biologischen Erscheinungen zugrunde liegenden Notwendigkeiten aufzuzeigen, die sich in kausale und in finale gliedern.

Das Problem der Kräfte.  Die Lebensvorgänge lassen sich nur verstehen durch  Vergleich  untereinander und mit den Erscheinungen der leblosen Natur, den physikalischen und chemischen Prozessen. Diese beruhen auf der Wirkung von Kräften, die dem Erhaltungsgesetz gehorchen, und so haben wir in der Analyse der Lebenserscheinungen überall den energetischen Gesichtspunkt zur Geltung zu bringen, soweit das möglich ist, bis wir auf einen nicht darin aufgehenden Rest stoßen, den wir dann wiederum durch Vergleich mit analogen Erscheinungen unseres Erfahrungsgebietes zu begreifen suchen.

Das psychische Problem  erhebt sich für die Zelle wie für jeden anderen Organismus. Wer leugnet, daß der Mensch mit allen seinen geistigen Eigenschaften zur Natur gehört, der muß ihn für ein übernatürliches Wesen erklären. Darum reicht das psychische Problem, beim Menschen anhebend, einerseits bis zum Ei und Spermatozoid, andererseits bis zur Amöbe und zum Spaltpilz hinab und tritt uns in der Entwicklungsgeschichte so gut entgegen wie die äußere Form und die körperliche Struktur.

Das vitalistische Problem  erörtert spezieller die schon im Problem der Kräfte enthaltene Frage, ob in den Lebensvorgängen, z. B. in den Erscheinungen der Entwicklung, Vererbung, Anpassung, den vielfachen Selbstregulierungen im Organismus usw. die der Chemie und Physik entnomnenen Erklärungsprinzipien ausreichen oder nicht. Die psychische Frage spielt dabei eine Rolle, besonders auch jener in der neueren Philosophie hervorgetretene Erklärungsversuch, der sich selbst als Voluntarismus bezeichnet.

Das Problem der Abstammung  schließt die Probleme der Entwicklung und der Mannigfaltigkeit ein. Es ist das komplizierteste, in dem sich fast alle übrigen Probleme der theoretischen Biologie geltend machen, wie dann überhaupt keins derselben unabhängig von andern besteht, sondern alle mehr oder weniger ineinander übergreifen. Ihre Sonderung wird erst durch unseren Verstand vollzogen; wir können fast jede Einzelheit unter dem Gesichtspunkt aller dieser Probleme behandeln. Die gleichen Gesichtspunkte sind es, unter denen auch die Philosophie die belebte Natur betrachtet, so daß Naturphilosophie und theoretische Biologie auf der ganzen Linie dieser Probleme Fühlung miteinander aufnehmen.


Kapitel 4
Voraussetzung der Forschung. -
Das Transzendente.

Wir können über die Natur nur nach Maßgabe unseres Erkenntnisvermögens urteilen. (5) Das ist die grundlegende Voraussetzung allen Forschens, durch die allerdings die Wissenschaft eine anthropomorphe Grundlage erhält. Es versteht sich indessen auch von selbst, daß die Wissenschaft und mit ihr die Wahrheit weder übermenschlich noch untermenschlich ist. Dagegen ist es nach meinem Dafürhalten für die Methoden und Ziele der Naturforschung ansich gleichgültig, ob sie auf dem erkenntnistheoretischen Standpunkt der sogenannten idealistischen Lehre steht oder nicht. Daß ich persönlich diesen Standpunkt nicht teile, habe ich in der "Welt als Tat" (6) auseinandergesetzt, hier liegt mir nur daran, festzustellen, daß man ebensogut Naturforscher und Biologe sein kann, wenn man nur die "Erscheinungen" und nicht die "Dinge ansich" glaubt erkennen zu können. Weder an der Beobachtung noch an der theoretischen Kombination braucht durch eine solche Verschiedenheit erkenntnistheoretischer Anschauung das geringste verändert zu werden. Es versteht sich ganz von selbst, daß unser Geist lediglich mit Vorstellungen arbeitet, und daß die Ursache dieser Vorstellungen einerseits die Psyche, andererseits die Objekte der Natur sind. Wenn ich meinerseits glaube, daß in unserer Seele hinlänglich getreue Abbilder der "Dinge ansich" zustande kommen, so hindert mich das nicht an der Zustimmung zu KANTs Lehre, daß unsere Denkformen  a priori  sind; insofern KANT darunter keineswegs angeborene, sondern nur in ihrer  Möglichkeit  gegebene Eigenschaften versteht, (7) wie sie meiner Meinung nach jeder Anpassung vorausgehen und zugrunde liegen müssen. -

Die Mittel unserer Forschung bestehen in der Beobachtung, bzw. Erfahrung und dem Nachdenken über das Beobachtete. Danach glieder sich die Biologie in einen empirischen und einen theoretischen Teil, wenn auch die empirische Biologie selbst schon immer mit theoretischen Elementen durchtränkt sein wird, und die theoretische Biologie sich stets auf die Ergebnisse der Erfahrung zu stützen hat. Genau genommen sind aber nur  Einzelheiten  der Erfahrung zugänglich, darum ist sie wohl die Quelle unseres Wissens von der Natur, allein das Wissen selbst ist sie nicht, denn dieses entsteht erst aus dem Zusammendenken des Erfahrungsinhaltes.

Aber wohl zu beherzigen ist das Wort des HIPPOKRATES: "Experentia fallax, judicium difficile" [Die Erfahrung ist trügerisch, die Entscheidung schwierig. - wp]. Die Ausübung beider Funktionen kann eine richtige oder eine falsche Sein, und nichts ist menschlicher, als der Irrtum; der ist daher auch in der Wissenschaft stets vorzubehalten. Weil unser Wissen mit Irrtümern beladen ist, darum ist auch die Wahrheit - sofern sie nicht mathematisch beweisbar ist - eine Funktion unseres Zeitalters; aus unserer Zeit können wir so wenig heraus wie aus unserer Haut. Und viele Erscheinungen sind auch dem Angriff weder der Beobachtung noch des Denkens zugänglich, weil beide dafür noch nicht reif sind. Wir müssen uns daran gewöhnen, gewisse Erscheinungen als gegeben hinzunehmen. Über sie kann man grübeln und phantasieren, man kann sie aber nicht erforschen. Woher die Atomkräfte und die Schwere stammen, ist eine der Empirie so unzugängliche Frage, wie die nach der Herkunft der Kausalität und der Teleologie. Auch unser Naturerkennen ist in die Grenzen des zeitweilig Möglichen gebannt. Als möglich darf aber alles das gelten, was nicht im Widerspruch steht zu sicher festgestellten Tatsachen.

Die dem Zeitbewußtsein angemessenen wissenschaftlichen Überzeugungen dürfen nicht zu Dogmen und Vorurteilen erstarren. Dogmen und Vorurteile sind eine Karikatur des Wissens. "Es ist etwas sehr Ungereimtes, von der Vernunft Aufklärung zu erwarten und ihr doch vorher vorzuschreiben, auf welche Seite sie notwendig ausfallen müsse", sagt KANT. (8) Aber leider fehlt es in der biologischen Literatur nicht an Beispielen einer solchen Tyrannei des Vorurteils. Ja, wir haben  alle  daran zu arbeiten, um uns nicht in den Schlingen der eigenen Vorurteile zu fangen.

Die leitenden Gesichtspunkte der Biologie dürfen nicht uferlos, sie dürfen aber auch nicht zu eng sein. Sobald es sich z. B. um  ganz allgemeine  biologische Fragen handelt, darf man nicht sagen: ich schließe die Tiere oder die höheren Tiere aus mit ihrem Bewußtsein etc.; ich beschränke die Betrachtung, die Fragestellung auf die Pflanzen, die Tiere gehen mich nichts an, interessieren mich nicht; oder umgekehrt. Ein solcher Standpunkt mag bequem sein, aber wissenschaftlich ist er unzulässig, sobald allgemeine Lebenserscheinungen und fundamentale Probleme der Biologie in Frage kommen. Dann müssen  alle  von der Natur hervorgebrachten Organisationsstufen Berücksichtigung finden, sonst werden wir zu keiner umfassenden und allgemeingültigen biologischen Theorie gelangen können.

Freilich blickt mancher der "reinen" Empiriker mit Geringschätzung und Achselzucken auf theoretische Bestrebungen jeder Art, und GOETHEs Wort vom Kerl, der spekuliert, ist oft mißbraucht worden. Aber welcher Biologe hätte in Wirklichkeit  alle  spekulativen Betrachtungen, die sich ihm schon wegen der Organisation des menschlichen Geistes aufdrängen mußten, unterdrückt, jedes Aufblitzen einer naturphilosophischen Idee auch bei der trockensten Spezialarbeit erstickt? LINNÉ und LAMARCK waren doch beide spezielle Systematiker und Floristen, und ersterer ist der Verfasser der  Elementae philosophiae botanicae,  letzterer der  Zoologie philosophique.  Beide Bücher sind nicht nur spekulativ, sondern wagen sich auch mit kühnem Flug der Gedanken auf das Gebiet des Transzendenten hinüber.

Der Begriff des Transzendenten bedarf noch einer kurzen Erläuterung.

An das Bestreben, aufgrund von Erfahrung die Erscheinungen zu erklären, schließt sich auch in der Biologie überall der Drang, die Erscheinungswelt durch ein Weiterspinnen der Erklärungsversuche auf das Gebiet des Transzendenten zu ergänzen. Dazu ist die Biologie nicht nur berechtigt, es ist dem Erkenntnistrieb unseres Geistes gegenüber ihre wissenschaftliche Pflicht, so zu handeln. Denn auf Schritt und Tritt stößt die biologische Erfahrung auf das Transzendente: darum darf sie es nicht ignorieren, sondern muß sich mit ihm auseinandersetzen, sonst würde das Transzendente zur chinesischen Mauer der Erfahrung werden. Vortrefflich bemerkt WUNDT (9): "Nirgends begnügt sich die wissenschaftliche Verfolgung der Kausalreihen mit der Verbindung der unmittelbaren Erfahrungstatsachen; sondern mit unwiderstehlicher Gewalt treibt eine solche Verknüpfung über die Grenzen des Gegebenen hinaus, um vor- und zurückblickend die unmittelbare Wirklichkeit einem Ganzen einzureihen, in dessen Zusammenhang erst das volle Verständnis für die Bedeutung des Einzelnen enthalten sein kann."

Vielfach ist das Transzendente nicht vorstellbar, sondern nur begrifflich zu erfassen. Der Begriff des Transzendenten aber ist selbst ein relativer, dem die verschiedenen Autoren eine sehr verschiedene Ausdehnung geben. Nach EDUARD von HARTMANN (10) ist die gesamte Natur für unser Erkennen transzendent, er sagt darüber: "Die gesamten Naturwissenschaften sind so wenig empirisch im philosophischen Sinne, daß sie sich vielmehr ausschließlich auf transzendentem Gebiet bewegen, und die immanenten Erfahrungen des Geistes nur als Sprungbrett brauchen, um sich über die Erfahrung, d. h. die subjektive Erscheinungswelt hinauszuschwingen in die Welt der Dinge ansich, welche der subjektive Idealismus für unerkennbar, streng genommen sogar für nicht existierend hält."

WUNDT dagegen (11) unterscheidet ein Real- und ein Imaginär-Transzendentes; das erstere wird beschritten beim Fortschreiten des Denkens über die Erfahrung hinaus, das letztere besteht in ganz neuen Begriffsbildungen auf dem Gebiet des Möglichen, wie die Platonischen Ideen, LEIBNIZ' Monadenlehre usw.

Transzendent ist für die Biologie alles Geschehen, das in Vergangenheit und Zukunft unserer Erfahrung unzugänglich bleibt. Durch und durch transzendent ist daher die Entstehung der Urorganismen auf der Erde und ihre Phylogenie [Stammesgeschichte - wp] vor dem Cambrischen Zeitalter. Transzendent bleibt für uns aber auch die Phylogenie der ungeheuren Mehrzahl aller jetzt lebenden Organismen. Kaum minder transzendent ist für uns  zur Zeit  die Erhaltung des Lebens in der Fortpflanzung. Denn die Hypothesen, die es versuchen, uns die Tatsache der Fortpflanzung im Einzelnen verständlich zu machen, bewegen sich auf einem Gebiet reiner Spekulation, dem Gebiet von Möglichkeiten. Dennoch dürfen wir die Hoffnung nicht fahren lassen, das Wesen der Vererbung in der Zeugung einmal besser als durch die Hypothesen des Tages begreifen zu können; vorläufig ist dazu jedoch wenig Aussicht vorhanden; wir nehmen die Tatsache der Zeugung als gegeben hin, weil das Problem, welches sie stellt,  für uns  ein transzendentes ist, dem wir mit dem Mikroskop sowenig wie mit dem Experiment beizukommen wissen.

Für unser Vorstellungsvermögen ist nicht nur der Begriff des Unendlichen, sondern schon der Begriff des sehr Großen und des sehr Kleinen transzendent. Dahin gehört einerseits die Maßeinheit der Siriusweite, andererseits die Größe des Moleküls und des Atoms; oder glaubt wirklich jemand, daß er sich das auf O,04 Trillionstel Milligramm berechtnete Gewicht eines Wasserstoffatoms vorstellen kann? Wir können das umso weniger, als das Atom des Wasserstoffs doch wieder ein sehr kompliziertes Ding sein muß, da es gleichzeitig mit ganz verschiedenen Schwingungszahlen schwingt; denn sein Spektrum zeigt eine Linie im Rot, zwei im Blau und eine vierte im Violett. Und die Ionen wird die Größe eines Millionstel-Wasserstoffatoms zugeschrieben!

So branden die Wellen der Naturforschung überall an die Klippen des Transzendenten, überall stoßen wir auf ein Etwas, das nicht vorstellbar, sondern nur begrifflich zu erfassen ist, und doch vermag sich die Naturwissenschaft dem Bedürfnis, um nicht zu sagen, der Notwendigkeit keineswegs zu entschlagen, auch ihrerseits den empirischen Tatbestand durch transzendente Voraussetzungen zu ergänzen (12). Dadurch wird sie aber noch nicht zur Naturphilosophie, sondern Philosophie und Naturforschung, ganz besonders aber die Biologie, sind nur beide durchsetzt von transzendenten Problemen und Voraussetzungen.

Alle theoretischen Abstraktionen aber, auch wenn sie schließlich zu transzendenten Ideen, wie zur Deszendenzlehre [Abstammungslehre - wp] führen sollten, haben doch in der Biologie ihren Ursprung zu nehmen aus der Erfahrung, deren Einzelheiten sie zu verknüpfen bemüht sind. Ein Prüfstein für ihre Zuverlässigkeit ist uns darin gegeben, ob sie mit der Erfahrung in Widerspruch geraden oder nicht. Tut dies eine biologische Theorie, so ist sie verloren, wie das meines Erachtens z. B. mit der Urzeugung der Fall ist.

Aus unseren Vorstellungen ziehen wir Schlüse auf die Dinge der Außenwelt, ihre Veränderung und ihre als Notwendigkeit sich äußernde Verknüpfung. Jene Schlüsse bilden unsere Erfahrung, die daher immer eine mehr oder weniger unvollkommene sein wird. Diese Unvollkommenheit der Erfahrung suchen wir durch das Denken zu ergänzen, ihre Lücken auszufüllen oder zu überbrücken. Dadurch werden wir zur Bildung von  Hypothesen  veranlaßt, die teils als Ergänzungshypothesen unserem Streben nach Abrundung der Erkenntnis Genugtuung gewähren, teils als Arbeitshypothesen für den Fortschritt im Erkennen Dienste leisten Darum sind die Hypothesen wertvoll und für die Biologie nicht zu entbehren. Aber während der Hauptwert der Arbeitshypothesen darin besteht, daß sie uns Fragen an die Natur richten helfen, um der Wahrheit näher zu kommen, ist der Wert der Ergänzungshypothesen nur ein subjektiver, um nicht zu sagen illusorischer, insofern Befriedigung und Wahrheit himmelweit verschiedene Dinge sind; das Ziel der Wissenschaft bleibt immer der Fortschritt im Erkennen der Wahrheit.

Darin liegt auch der Grund zu der wohlberechtigten Forderung, in der Biologie die Hypothesen und die transzendenten Voraussetzungen auf ein Minimum einzuschränken, mag man auch noch so sehr davon überzeugt sein, "daß die raison d'être [Daseinsberechtigung - wp] von allem, was den Sinnen, der Erfahrung und der Beobachtung zugänglich ist, sich hinter den Kulissen der empirischen Bühne birgt." (13)

Man könnte versucht sein, die biologischen Probleme einzuteilen in empirisch lösbare und transzendente. Allein eine solche Einteilung würde doch immer nur für uns und für unsere Zeit Gültigkeit haben; was uns heute noch nicht lösbar scheint, ist es vielleicht morgen. Dem gegenüber gibt es dann viele transzendente Ereignisse, von deren Stattfinden wir überzeugt sind, die aber für alle Zeiten transzendent bleiben werden; ich erinnere noch einmal an das erste Auftreten von Organismen auf der Erde. Aber mit der Lösbarkeit der meisten Probleme ist es ein ebenso heikles Ding wie mit der Begreiflichkeit vieler Erscheinungen. Es ist gewiß eine richtige Arbeitshypothese, die Begreiflichkeit aller Naturerscheinungen vorauszusetzen; aber ob diese Hypothese in ihrem ganzen Umfang richtig ist, ich meine, ob wir wirklich alle Naturvorgänge begreifen können, ist darum doch eine ganz andere Frage. Noch ist es keineswegs ausgemacht, daß die ganze Natur für uns begreiflich ist, und gewichtige Autoritäten haben sich gegen die Begreiflichkeit gerade der fundamentalsten Erscheinungen ausgesprochen. So werden durch PAUL DUBOIS-REYMOND alle mechanischen Kräfte (Zug, Druck und Stoß) als Fernkräfte nachgewiesen, von den Fernkräften aber wird gezeigt, daß sie unbegreiflich sind. (14) Um auch einen Philosophen zu zitieren, so sagt SCHOPENHAUER (15) man könne die Welt nur begreiflich finden, "wenn man mit überaus flachem Blick in sie hineinschaut, der keine Ahnung davon zuläßt, daß wir in ein Meer von Rätseln und Unbegreiflichkeiten versenkt sind."

Die praktische Regel, die der Biologe diesen Schwierigkeiten gegenüber befolgt, ist die, daß er die Probleme, deren Analyse durch Beobachtung oder Denken sich zur Zeit als unausführbar erweist, zurückstellt, um sich solchen zuzuwenden, deren Bearbeitung Aussicht auf Erfolg verheißt. Damit ist zwar keine Prinzipienfrage entschieden, es ist sogar nur ein Umgehen derselben, aber es ist der wissenschaftlichen Forschungauch nicht damit in einer die Erkenntnis der Wahrheit schädigenden Weise präjudiziert.

Eine vollkommene Einsicht in das Wesen der Dinge mag das Ideal sein - wieweit wir uns diesem Idealwerden nähern können, ist  jetzt, d. h. im Anfang unseres Forschens,  nicht zu entscheiden.
LITERATUR - Johannes Reinke, Einleitung in die theoretische Biologie, Berlin 1901
    Anmerkungen
    1) HANS DRIESCH, Analytische Theorie der organischen Entwicklung, Leipzig 1894
    2) WILHELM WUNDT, System der Philosophie, 2. Auflage, Leipzig 1897, Seite 105
    3) Vgl. PAUL DUBOIS-REYMOND, Über die Grundlagen der Erkenntnis in den exakten Wissenschaften, Tübingenn 1890, Seite 13.
    4) Vgl. FRIEDRICH PAULSEN, Immanuel Kant, Stuttgart 1899, Seite 246
    5) Vgl. KANT, Kritik der Urteilskraft, Sämtliche Werke V, Seite 410
    6) KANT, ebd. Seite 18f
    7) Vgl. EDUARD von HARTMANN, Philosophie des Unbewußten, 10. Auflage, Kap. III, Seite 208f.
    8) KANT, Kritik der reinen Vernunft, 5. Auflage, Seite 775
    9) WILHELM WUNDT, System der Philosophie, Seite 195
    10) E. von HARTMANN, Philosophie des Unbewußten [Leider ist mir die Seitenzahl des Zitates abhanden gekommen.]
    11) WUNDT, System der Philosophie, Seite 187
    12) Vgl. WUNDT, a. a. O. Seite 340
    13) PIROGOFF, Lebensfragen, Stuttgart 1894, Bd. III, Seite 42
    14) PAUL DUBOIS-REYMOND, a. a. O. Seite 94f
    15) SCHOPENHAUER, Über den Willen in der Natur, 3. Auflage [Ausgabe FRAUENSTAEDT] Leipzig 1867, Seite 109.