p-4p-4F. SchumannW. SchappC. ÜberhorstH. Hofmann     
 
GERARD HEYMANS
[ 1857 - 1930 ]
Zur Raumfrage

"Nach dem erhaltenen Eindruck bestimmen wir den Ort des riechenden oder tönenen Gegenstandes; aber niemand wird behaupten, daß dem Geruchs- oder Gehörseindruck ansich ein räumlicher Charakter zukommt. Nur die größere oder geringere Intensität des Eindrucks läßt uns auf die Entfernung des Objekts -, nur die Zu- oder Abnahme jener bei Kopf- und Körperbewegungen läßt uns auf die Richtung, worin dieses sich befindet, schließen; und was diesen Schluß ermöglicht, ist ohne Zweifel die Erfahrung und die Assoziation. In einem Menschen, der nur Geruchs- und Gehörsempfindungen zugänglich wäre, könnte die Raumvorstellung nicht entstehen."

"Das Axiom von der  Unendlichkeit des Raumes bezieht sich für den Blindgeborenen nicht auf ein objektives, außer ihm gegebenes Etwas, sondern auf seine eigene Tätigkeit."

I.

Die nachfolgenden Untersuchungen beabsichtigen einen Beitrag zu liefern zur genaueren Bestimmung der Bedeutung, welche in Bezug auf das erkenntnistheoretische Raumproblem den HELMHOLTZ-RIEMANNschen Entdeckungen zuerkannt werden muß. Es wird die Frage zu beantworten versucht: Inwiefern sind diese Entdeckungen dazu geeignet, die Kantische Auffassung des Raumes als einer "formalen Beschaffenheit unseres Wesens" entweder zu widerlegen, oder aber zu bestätigen und weiter auszubilden. Der Inhalt jener Entdeckungen selbst wird dabei durchgehend als bekannt vorausgesetzt.

Die tiefste Wurzel des erkenntnistheoretischen Raumproblems finde ich noch immer in der von KANT aufgestellten Frage: Wie ist reine Mathematik a priori möglich? Das heißt also: wie ist es zu erklären, daß unserem mathematischen Wissen jene absolute Allgemeinheit, jene unbedingte Notwendigkeit und jene vollständige Exaktheit eigen ist, welche dasselbe zu jeder empirischen Erkenntnis in einen so schroffen Gegensatz stellen? Ausgangspunkt der Untersuchung ist demnach der  apriorische  Charakter der Mathematik, - wobei das viel verleumdete Wort nichts anderes bedeuten soll als eben jene über die Erfahrung hinausgehende Allgemeinheit, Notwendigkeit und Exaktheit. Der apriorische Charakter der Mathematik ist also kein zu beweisendes Theorem, sondern eine leicht konstatierbare, für jeden offen liegende, auch in diesem Sinne von niemandem bezweifelte Tatsache. Eine Tatsache aber, welche gar sehr der Erklärung bedarf. Denn es ist ohne weiteres keineswegs klar, warum denn unsere Raumerkenntnis so vollständig anders beschaffen sein sollte als unsere Erkenntnis der Dinge und Begebenheiten  im  Raum. Die geforderte Erklärung kann nun in irgendeinem subjektiven Ursprung der Raumvorstellung -, oder aber sie kann einfach in Assoziationswirkungen zu suchen sein, - darüber entscheidet natürlich unsere vorläufige Problemstellung nichts.

Die aufgestellte Frage scheidet sich nun aber von selbst in drei andere. Denn um dieselbe zu beantworten, muß man doch  erstens  erkennen,  was  wir denn eigentlich a priori vom Raum wissen, also eine Beschreibung des Raums zu finden versuchen.  Zweitens  aber wird man untersuchen müssen,  wie,  durch welche Sinne, die räumlichen Daten unserem Denken zugeführt werden. Und  drittens  wird dann die Frage zu erheben sein, wie das Zustandekommen jener Erkenntnis aus diesen Elementen erklärt werden kann.

Die  erste  dieser drei Fragen, jene nach einer Beschreibung des Raums, haben die HELMHOLTZ-RIEMANNschen Untersuchungen gelöst, und dadurch für die weitere erkenntnistheoretische Forschung ein Fundament von größter Wichtigkeit geschaffen. Die analytische Betrachtung des Raumes als Spezialfall einer  n- fach bestimmten Mannigfaltigkeit liefert uns eine Raumcharakteristik folgenden Inhalts: Der Raum ist eine stetige Größe, deren Elemente durch drei unabhängige Variablen eindeutig bestimmt sind, und deren Krümmungsmaß den konstanten Wert Null besitzt. Das heißt, ins Anschauliche übersetzt: der Raum ist eine dreifach ausgedehnte, in sich selbst kongruente, ebene (unendliche) Mannigfaltigkeit. Was wir vom Raum wissen, und was wir vom Raum zu wissen brauchen, um darauf unsere ganze Geometrie aufzubauen, das sind also eben jene fundamentalen Eigenschaften der Dreidimensionalität, der Stetigkeit, der Kongruenz oder Homogenität, der Unendlichkeit und der Ebenheit. Das erkenntnistheoretische Raumproblem läuft also auf die Frage hinaus: Wie ist es zu erklären, daß wir von diesen Eigenschaften des Raumes eine apriorische Erkenntnis besitzen?

Wenden wir uns jetzt der  zweiten  Frage zu. Welche Sinne sind es, durch deren Vermittlung wir den Raum und seine Eigenschaften kennen lernen? Diese Frage zu beantworten ist nicht so leicht, als es scheint. Denn diejenigen Sinne, deren wir uns vorzugsweise bedienen, um uns über das Gegebensein gewisser Erscheinungen zu unterrichten, brauchen keineswegs dieselben zu sein, in deren Gebiet die betreffenden Eindrücke ursprünglich zu Hause sind. Dem Erblindeten dient der Taststinn zur Unterscheidung der Farben; das heißt: die Vorstellungen bestimmter Farbenerscheinungen werden bei ihm durch die korrespondierenden Tasteindrücke regelmäßig reproduziert. Er meint vielleicht, er fühle unmittelbar, daß der betastete Gegenstand rot oder blau ist; tatsächlich fühlt er etwas Grundverschiedenes, faßt es aber auf als ein Zeichen für das Gegebensein einer roten oder blauen Farbe. Es wäre immerhin möglich, daß bei einigen von den Sinnen, welche uns unmittelbar räumliche Daten zu liefern scheinen, ein ähnliches Verhältnis stattfinden könnte.

Wenn wir nun dazu übergehen, die Gebiete der einzelnen Sinne zu durchmustern, so kann es kaum zweifelhaft erscheinen, daß für den Geruchssinn und für den Gehörsinn die Sache sich wirklich  so  verhält: Nach dem erhaltenen Eindruck bestimmen wir den Ort des riechenden oder tönenen Gegenstandes; aber niemand wird behaupten, daß dem Geruchs- oder Gehörseindruck ansich ein räumlicher Charakter zukommt. Nur die größere oder geringere Intensität des Eindrucks läßt uns auf die Entfernung des Objekts -, nur die Zu- oder Abnahme jener bei Kopf- und Körperbewegungen läßt uns auf die Richtung, worin dieses sich befindet, schließen; und was diesen Schluß ermöglicht, ist ohne Zweifel die Erfahrung und die Assoziation. In einem Menschen, der nur Geruchs- und Gehörsempfindungen zugänglich wäre, könnte die Raumvorstellung nicht entstehen.

Ähnliches scheint von den Tastempfindungen zu gelten. Auch diese werden, und zwar teilweise sehr genau, lokalisiert; aber auch hier wird diese Lokalisierung als eine abgeleitete, nicht als eine ursprüngliche zu betrachten sein. Dies geht nicht nur daraus hervor, daß die genaueste Analyse der Tastempfindungen keine andere als qualitative Unterschiede erkennen läßt, sondern auch aus der bekannten Tatsache, daß die Lokalisation schwerer zu vollziehen ist, je weniger die betreffende Körperstelle dem Auge oder der bewegenden Hand erreichbar ist; dementsprechend auch im Innern des Körpers die Lokalisation nur innerhalb sehr weiter Grenzen möglich ist. Auch dem Tastsinn (sowie dem Geschmackssinn und den passiven Organ- und Muskelgefühlen) kann daher für die Raumvorstellung nur eine sekundäre Bedeutung zuerkannt werden.

Ausführlicher werden wir von den beiden noch nicht erwähnten Sinnen, also von den Gesichts- und Bewegungs- (Innervations- [Nervenimpulse - wp]) Empfindungen zu handeln haben. In der Tat wird niemand bezweifeln, daß diese es sind, welche für das Zustandekommen unserer Raumerkenntnis die wesentlichen Faktoren liefern; nur über Quantum und Quale des beiderseitigen Beitrags wird man streiten können. Viele werden auch meinen, nicht beide zusammen, sondern jeder von beiden für sich, liefere schon den ganzen und vollen Inhalt der Raumvorstellung. Gegen diese dem natürlichen Denken geläufige Meinung (welche demselben beiläufig auch zur letzten und sichersten Stütze für die Überzeugung von der transzendenten Realität des Raumes zu dienen pflegt) hat nun aber schon RIEHL mit vollstem Recht die bekannten Wahrnehmungen an operierten Blindgeborenen angeführt, welche beweisen, daß zwischen den räumlichen Daten des Gesichtssinns und denen der anderen Sinne  nur  ein gesetzmäßiger Zusammenhang, aber  keine  Identität stattfindet (1). Es läßt sich demzufolge im Voraus vermuten, daß in der Vorstellung, welche beim normal organisierten Menschen das Wort Raum oder räumliche Beziehung erweckt, Data aus jenen  beiden  Sinnesgebieten vermischt sein werden. Und es erhebt sich die Frage, in welchem Gebiet  jene  Data zu suchen seien, aus denen wir die mathematischen Eigenschaften des Raumes kennen lernen.

Eine direkte Beantwortung jener Frage wäre nur möglich, wenn den Fällen angeborener Blindheit andere gegenüberständen, in denen von Geburt an Innervationsempfindungen fehlten. Solche Fälle gibt es aber nicht; und so muß also auf indirektem Weg vorgegangen werden. Dabei liefern uns die bekannten Beobachtungen an Blindgeborenen jedenfalls einen wertvollen Ausgangspunkt: die Gewißheit nämlich, daß  die Innervationsempfindungen für sich genügen, um das Verständnis der geometrischen Elemente zu ermöglichen.  Es bleibt nur noch die Frage: Ob auch der Gesichtssinn für sich die zur Grundlegung der Geometrie genügenden Data liefere, oder aber, ob den Gesichtsempfindungen nur durch Assoziation mit gleichzeitigen Innervationsempfindungen der mathematisch-räumliche Charakter zukommen.

Zur Erledigung dieser Frage wird es nun angemessen sein, zuerst darauf hinzuweisen, daß sich die Daten des Gesichtssinnes tatsächlich in ausgedehntem Maße Assoziationswirkungen unterworfen zeigen. Die bekannten Erscheinungen des blinden Flecks, mannigfache Gesichtstäuschungen (das geteilte Quadrat, das ZÖLLNERsche Muster, das Größersehen der untergehenden Sonne usw.) liefern den Beweis, daß im scheinbar reinen Gesichtseindruck schon vieles durch Assoziation modifiziert sein kann. Ähnliches gilt vom vermeintlichen Sehen in der dritten Dimension. Die elementaren Empfindungen, welche als Kennzeichen von Entfernungen in der dritten Dimension aufgefaßt werden, sind, wie bekannt, sehr verschiedener Art: Innervationsempfindungen beim Konvergieren der Augenachsen, Innervationsempfindungen beim Akkomodieren [tiefenscharfes Sehen - wp], die scheinbare Größe des gesehenen Objekts, die mehr oder weniger scharfe Begrenzung desselben, die Verschiedenheit der in beiden Augen empfangenen Eindrücke usw. Die Heterogenität jener Daten untereinander, und eines jeden derselben mit der (im zweidimensionalen Gesichtsfeld)  gesehenen  Entfernung, macht es undenkbar, daß dieselben ursprünglich, das heißt also ohne assoziative Verbindung mit anderen Eindrücken, als Entfernung aufgefaßt werden sollten. Und dennoch glauben wir die Tiefendimension ebenso unmittelbar durch das Gesicht zu erkennen, wie die beiden anderen. - Es stellt sich also heraus, daß wir in der Gesichtswahrnehmung gar vieles als unmittelbar gegeben auffassen, was die genauere Analyse als importierte Ware erkennen läßt; und so könnte man also jedenfalls hypothetisch die Frage aufwerfen, ob nicht vielleicht der ganze mathematische Charakter des Gesichtsraumes eine solche importierte Ware sein könnte. Zur Begründung dieser Frage ließe sich mehreres anführen. Vorerst die schon erwähnte wichtige Tatsache, daß es jedenfalls ein Gebiet (dasjenige der Innervationsempfindungen) gibt, woher -, und einen Weg (denjenigen der Assoziation), auf welchem der Import stattfinden könnte. Sodann die andere, ebensowohl beglaubigte Tatsache, daß dem operierten Blindgeborenen anfangs die Vorstellung des mathematischen Gesichtsraumes fehlt, und daß derselbe erst durch Assoziation mit gleichzeitigen Innervationsempfindungen die Gesichtseindrücke als Zeichen für geometrische Beziehungen zu interpretieren lernt. Drittens aber der Umstand, daß die genaueste Analyse desjenigen, was in der reinen Gesichtsempfindung gegeben ist, darin nichts von den Eigenschaften erkennen läßt, welche dem Raum der Geometrie zukommen. Dreidimensional ist dieser Raum, während sich die Gesichtsempfindungen im zweidimensionalen Gesichtsfeld ordnen; jener bildet ein strenges Kontinuum, während sich das Gesichtsfeld aus isolierten Lichtempfindungen zusammensetzt; hier jederzeit eine enge Begrenzung, dort die apodiktische [logisch zwingende, demonstrierbare - wp] Gewißheit der unendlichen Ausdehnung. Es hieße einfach auf jede Erklärung verzichten; wenn man so Heterogenes sich auseinander entwickeln lassen wollte. Dagegen erklärt sich die Sache sehr leicht, wenn wir annehmen, daß die Gesichtsempfindungen ursprünglich ebensowenig wie die Gehörsempfindungen in räumlicher Ordnung gegeben seien, und erst durch Assoziation mit Innervationsempfndungen räumliche Bedeutung erlangen. Man wird vielleicht meinen, es werde durch diese Lösung das Problem nur verrückt; denn jetzt handle es sich darum, zu erklären, wie den Innervationsempfindungen der räumlich-geometrische Charakter zukommt. Allerdings werden wir diese Frage stellen müssen; aber die Bedeutung der aufgestellten Hypothese ist von der Beantwortung derselben nicht abhängig. Denn daß aus den Innervationsempfindungen allein sich die mathematische Raumvorstellung entwickeln kann, das ist eine feststehende, durch die Beobachtung Blindgeborener bewiesene Tatsache. Von dieser Tatsache aus, sei dieselbe nun erklärt oder nicht, läßt sich das Entstehen eines "Gesichtsraumes" auf assoziativem Weg leicht erklären, während eine Entwicklung desselben aus den gegebenen Gesichtsempfindungen vollständig rätselhaft bleiben müßte.

Wenden wir unsere Aufmerksamkeit jetzt dem "Innervationsraum" zu! Wir werden dabei mit Vorteil die Raumvorstellung des Blindgeborenen als Hilfsvorstellung benutzen können. Der Blindgeborene hat eine Vorstellung von  Entfernung;  wie ist dieselbe aber beschaffen? Was meint der Blindgeborene damit, wenn er sagt, die Entfernung zwischen  A  und  B  sei größer als die Entfernung zwischen  C  und  D?  Wohl nichts anderes als dieses: daß, um von  A  nach  B  zu gelangen, mehr Muskelanstrengung (also mehr Innervationsempfindungen) erforderlich sind, als von  C  nach  D  zu kommen. Der Blindgeborene hat aber auch eine Vorstellung von  Richtung;  er unterscheidet zwischen demjenigen, was der Sehende (und ebenso er, weil er von Sehenden sprechen gelernt hat) oben und unten, rechts und links, vorn und hinten nennt. Es müssen also in den Innervationsempfindungen, außer der quantitativen Verschiedenheit von mehr und weniger, qualitative Unterschiede gegeben sein, dem entsprechend, was wir die drei Dimensionen des Raumes nennen. Natürlich muß, um sich in diese Vorstellungsweise zu versetzen, jedes dem Gesichtssinn entnommene Element, vor allem auch der Gedanke an Richtungen  im Raum,  eliminiert werden; nur das Gegebensein dreier qualitativ verschiedener Arten von Innervationsempfindungen, jede für sich quantitativ abgestuft, darf vorausgesetzt werden. Es ist eben, nach der treffenden Bezeichnung RIEHLs, die Geometrie des Blindgeborenen eine reine  Koordinatengeometrie;  zur Geometrie des Sehenden verhält sich dieselbe wie die analytische zur synthetischen. Von dieser Einsicht ausgehend (wozu man die lichtvolle Erörterung RIEHLs nachschlagen mag (2)), werde ich nun die Entstehung der mathematischen Raumvorstellung beim Blindgeborenen weiter zu erklären versuchen.

Was zuerst die geometrischen Begriffe anbelangt, ist es einleuchtend, daß dem Blindgeborenen die gerade Linie nichts anderes sein kann als eine Innervation, welche in konstantem Verhältnis aus Elementen der drei Arten zusammengesetzt ist. An der allmählichen Änderung dieses Verhältnisses wird er eine krumme -, an der plötzlichen Änderung desselben eine gebrochene Linie erkennen. Den Begriff der Richtung im Allgemeinen wird er definieren müssen als: ein bestimmtes Verhältnis zwischen gleichzeitigen Innervationsempfindungen der drei Arten. Und so weiter. Wie gelangt er nun aber zur Kenntnis der fundamentalen Eigenschaften des Raums? Was  ist  für ihn überhaupt der Raum?

Der Raum kann für den Blindgeborenen nichts anderes sein als  das System der überhaupt möglichen Innervationen.  In der unmittelbaren Erfahrung gegeben ist im bloß die Macht, nach Willkür bestimmte Empfindungen in drei verschiedenen Qualitäten hervorbringen zu können. Von einem Gesichtsbild der Bewegung, welches wir mit dem Bewußtsein dieses Hervorbringens zugleich wahrnehmen, hat er keine Ahnung; ebensowenig von einem Raum,  worin  sich irgendein Ereignis abspielt. Er kennt nur diese drei Arten von Empfindungen, welche erstens qualitativ verschieden, zweitens jede für sich von Null aus quantitative vermehrbar, drittens seiner Willkür unterworfen sind. Durch einen einfachen logischen Prozeß muß sich aus diesen Daten bei ihm der Begriff einer Gesamtheit der überhaupt möglichen oder zusammengesetzten Innervationen entwickeln. Dieser Begriff ist für ihn der Begriff des Raumes. Dieser Begriff ist aber offenbar kein physischer, sondern psychologischer Begriff. Derselbe bezieht sich nicht auf etwas ihm Fremdes, sondern auf sein eigenes willkürliches Tun; er ist nicht objektiv, sondern subjektiv. Die Objektivierung des Raumes kann nur ein Produkt des Gesichtssinnes sein; wie ich vermute, beruth dieselbe auf dem Umstand, daß sich im Gesichtsfeld die Bilder der Objekte auf einem "Hintergrund" abzeichnen, der mit denselben objektiviert wird. So einen Hintergrund gibt es für den Innervationssinn nicht; derselbe geht aus vom Zentrum, vom Nullpunkt der Innervation; und nur wo die willkürliche Innervation gehemmt wird, findet er die Veranlassung, ein Nicht-Ich voranzusetzen. So lange aber die Innervation ungehemmt stattfindet, gibt es für den Blindgeborenen kein einziges Motiv, diese seine eigene Tätigkeit als ein für-sich-seiendes Ding sich gegenüberzustellen.

Ist aber hiermit wirklich der Raum des Blindgeborenen richtig charakterisiert, so gilt, dem Vorhergesagten zufolge, dieselbe Charakteristik auch für den unsrigen. Denn wir fanden es wahrscheinlich, daß den Gesichtsempfindungen  nur  durch Assoziation mit gleichzeitigen Innervationsempfindungen räumliche Bedeutung zukomme, daß also dem "Gesichtsraum" ein durchaus sekundärer Charakter beizulegen sei. Wenn es demzufolge gelingen sollte, in Bezug auf den Innervationsraum die apriorische Erkenntnis der geometrischen Axiome zu erklären, so wäre damit das Rätsel der Geometrie prinzipiell gelöst. Wenn wir also jetzt an unsere  dritte Frage  herantreten (wie das Zustandekommen apriorischer Raumerkenntnis aus den gegebenen Daten zu erklären sei), können wir ohne Nachteil die Untersuchung simplifizieren, indem wir dieselbe auf den Raum der Blindgeborenen beschränken. Der "Gesichtsraum" ist ja recht eigentlich nur die Folie, welche dazu dient, die Eigenschaften des Innervationsraumes besser hervorzuheben.

Ich werde jetzt die verschiedenen fundamentalen Eigenschaften des Raumes, wie wir dieselben aus den HELMHOLTZ-RIEMANNschen Untersuchungen kennen gelernt haben, einzeln vorführen und auf die Möglichkeit ihrer apriorischen Bekanntheit bei Blindgeborenen untersuchen.

Was zuerst das Axiom von der  Dreidimensionalität  des Raumes anbetrifft, so liegt dasselbe, wie man leicht sieht, in der aufgestellten Hypothese unmittelbar eingeschlossen. Während  wir  uns einbilden zu  sehen daß von irgendeinem Punkt aus nur drei senkrecht aufeinander stehende Geraden gezogen werden können, hat der Blindgeborene die direktestes Erfahrung davon, daß er nur in drei unterscheidbaren Qualitäten Innervationen zustande bringen kann. Demnach wird für ihn wie für uns der Punkt (bei welchem Wort er sich nichts anderes denken kann als: der Endzustand einer beliebigen Innervation) durch drei unabhängig variable Größen bestimmt; - nur daß für ihn nicht, wie für uns infolge der Einmischung des Gesichtsbildes, der Punkt abgetrennt vom dahin führenden Weg vorgestellt werden kann. Der Punkt  ist  für den Blindgeborenen nichts anderes als das Vollendetsein einer beliebigen, gleichförmigen oder nicht gleichförmigen, einfachen oder zusammengesetzten Innervationsreihe; und der Satz, daß ein bestimmter Punkt auf verschiedenen Wegen erreicht werden kann, wird für ihn nur bedeuten: eine bestimmte Gesamtsumme von Innervationen der drei Arten kann in verschiedener Reihenfolge erzeugt werden. - Die  apoktische Gewißheit  aber des Axioms von der Dreidimensionalität findet ihre einfache Erklärung in dem Umstand, daß die Innervationsempfindungen zu den Empfindungen aus zentraler Reizung gehören, also nicht ein Gegebenes, sondern ein willkürlich Hervorgebrachtes sind. Es ist also nicht das bloße Fehlen einer vierten Art von Innervationsempfindung, worauf sich das Axiom von den drei Dimensionen stützt; es ist vielmehr die Beschränkung unserer subjektiven Machtsphäre, welche als solche empfunden wird und dem Axiom seinen apodiktischen Charakter verleiht. Daher dann auch die  absolute Allgemeinheit  des Axioms; der Raum ist  überall  dreidimensionial, das heißt also: solange ich bleibe, was ich bin (die konstante Voraussetzung bei allem Denken), werde ich niemals anders als dreifach innervieren können.

Ähnliches gilt von der  Kontinuität  des Raums: für den Blindgeborenen nur ein anderes Wort für die Tatsache des stetigen Verlaufs des Innervationsprozesses. Der Willensimpuls, zu innervieren, wirkt nicht intermittierend [unterbrechend - wp], sondern gleichmäßig; demnach kann der Raum, das System der überhaupt möglichen Innervationen, auch kontinuierlich gedacht werden.

Drittens: die  Kongruenz  der verschiedenen Raumteile, die  Homogenität  des Raums, kann für den Blindgeborenen nichts anderes bedeuten als die Identität des Innervationsprozesses in der Zeit. Wenn der Sehende behauptet, der ihn jetzt umgebende Raum sei absolut homogen mit dem Raum, in dem er gestern verweilte, so lautet dieser Ausspruch in der Übersetzung des Blindgeborenen: mein heutiges Innervieren ist mit dem gestrigen vollständig identisch; ich kann heute, gerade so wie gestern, Innervationen der drei Arten in einem beliebigen Quantum und in beliebiger Zusammensetzung erzeugen. Es sei mir zum besseren Verständnis noch eine kurze Ausführung in concreto gestattet. Wenn wir uns im Gesichtsraum zwei Kuben von gleicher Seitenlänge vorstellen, so behaupten wir dreist, es müssen sich auch andere, sich entsprechende Größen, etwa die Diagonalen der beiden Kuben, gleich sein. Nun führt aber die analytische Geometrie, sowie die Erwägung analoger Fälle in der Raumvorstellung zweidimensionaler Wesen, zur Frage, wo denn diese Gewißheit herrühre, und warum nicht, infolge etwaiger "Unebenheiten" im Raum, die eine Diagonale um ein Unmerkliches länger sein könnte, als die andere? Auch wäre es, solange man sich auf den Gesichtsraum beschränkt, wohl kaum möglich, diese Frage zu beantworten. Wie gestaltet sich nun aber dieses Problem für den Blindgeborenen? Ich vermute, er wird kaum fassen, daß hier überhaupt ein Problem vorliegt. Denn die Würfeldiagonale ist für den Blindgeborenen nichts anderes als eine konstant aus gleichen Teilen der drei Arten zusammengesetzte Innervation, welche so lange fortgesetzt wird, bis das Innervationsquantum jeder Art demjenigen der Würfelseite gleichkommt. Die Diagonale und die Summe der drei senkrecht aufeinander stehenden Seiten werden also für den Blindgeborenen durch dieselbe Innervationssumme repräsentiert, nur daß im ersten Fall die verschiedenartigen Innervationen zugleich, im zweiten aber nacheinander erzeugt werden. Offenbar liegt also für den Blindgeborenen in der gleichen Seitenlänge beider Kuben die Gleichheit der Diagonalen eingeschlossen. Analoges gilt allgemein. Wenn von den Punkten eines beliebigen Systems jeder für sich durch die drei zugehörigen Innervationsbeträge bestimmt ist, so sind damit für den Blindgeborenen alle denkbaren Beziehungen zwischen diesen Punkten, der ganze Charakter des davon eingenommenen Raumteiles, zugleich mitbestimmt. Er kann demnach getrost behaupten, daß, sofern sich nur die Innervationstätigkeit gleich bleibe, auch der Raum, welcher durch die Verbindungsflächen zwischen beliebig bestimmten Punkten eingeschlossen wird, immer derselbe sein werde. Übrigens kann dieser Punkt erst bei der nachfolgenden Besprechung der "Ebenheits"-Frage vollständig erledigt werden; hier soll nur betont werden, daß sich für den Blindgeborenen das Kongruenz-Axiom nicht auf verschiedene Teile eines objektiven Raumes, sondern nur auf verschiedene Betätigungen des subjektiven Innervationsvermögens beziehen kann.

In gleicher Weise erklärt sich das Axiom von der  Unendlichkeit  des Raumes. Auch dieses bezieht sich für den Blindgeborenen nicht auf ein objektives, außer ihm gegebenes Etwas, sondern auf seine eigene Tätigkeit. Die Unendlichkeit des Raumes kann er sich nur als die Möglichkeit einer unbeschränkten Fortsetzung der drei elementaren Innervationsreihen denken. In welchem Sinne und mit welchem Recht wird nun aber diese Möglichkeit von ihm behauptet? Offenbar nicht in dem Sinne, daß eine solche unbeschränkte Fortsetzung ihm tatsächlich möglich wäre: jeder empfundene Widerstand lehrt ihn ja das Gegenteil, und er hat keinen Grund zu behaupten, daß nicht irgendwann einmal dieser Widerstand ein absoluter sein könne. Auch tut die Voraussetzung eines solchen absoluten Widerstandes (wie ihn etwa das "Himmelsgewölbe" nach populärer Auffassung bieten würde) der Gewißheit des Unendlichkeitsaxioms keinen Abbruch. Wenn aber demnach das Axiom über die tatsächliche Möglichkeit einer ins Unendliche fortgesetzten Innervationsreihe nichts enthält, welchen Sinne hat es dann? Man braucht, um auf diese Frage die Antwort zu finden, nur wieder daran zu denken, daß die Innervationsempfindung zu den Empfindungen aus zentraler Reizung gehört, also nicht passiver, sondern aktiver Natur ist. Ich  will  innervieren; wenn ich nun aber von einem bestimmten Punkt an es nicht weiter  kann,  so führt dieser Widerspruch zwischen Wollen und Können zur Annahme eines Nicht-Ich, der Außenwelt, des Stoffs. In den passiven Empfindungen würde zur Bildung dieses Begriffs niemals eine Veranlassung gegeben sein; wie man denn auch, erkenntnistheoretisch ganz richtig, den Stoff zu definieren pflegt als "dasjenige, welches Widerstand leistet". Wird nun aber der Innervationsprozeß gegen den Willen gehemmt, und demnach ein "fremdes Ding" als Ursache der Hemmung postuliert, so bleibt noch immer der Gedanke zurück, es wären doch, wenn das fremde Ding nicht dagewesen wäre, noch weitere Innervationen möglich gewesen. In diesem Gedanken liegt der Keim des Unendlichkeitsaxioms. So oft ich, tatsächlich oder in der bloßen Vorstellung, auf Widerstand stoße, kann ich mir leicht noch eine weitere Fortsetzung des Innervationsprozesses vorstellen; es liegt ja im Innervierenwollen selbst nichts, wodurch dasselbe innerhalb bestimmter Grenzen beschränkt sein sollte. - Für den Blindgeborenen ist also die Unendlichkeit des Raumes nicht die gegebene Unendlichkeit eines vorgestellten Dings, sondern die gedachte Unendlichkeit eines psychischen Prozesses: des Innervierenwollens. Aus der bloßen Tatsache des willkürlichen Innervierens ergibt sich ihm auf rein analytischem Weg der fundamentale Gegensatz zwischen Raum und Stoff (leerem und erfülltem Raum, freier und gehemmert Innervation), sowie die notwendige Teilnahme des zweiten an den Eigenschaften des ersteren. Und der Begriff des unendlichen, an jedem Punkt entweder leeren oder stofferfüllten Raumes hat für ihn keinen anderen Inhalt als den des in Gedanken unendlicher Fortsetzung fähigen -, faktisch aber in jedem Moment entweder freien oder gehemmten Innervierens. Demnach wird auch meiner Ansicht nach (3), der Blindgeborene ganz wohl den Ausdruck: die Dinge seien im Raum von einander getrennt, verstehen können. Jedes Ding ist ja für ihn nur ein bestimmter Komplex von gehemmten Innervationien; und er wird leicht einsehen können, daß all diese Komplexe Teile des Systems der überhaupt vorstellbaren Innervationen sind, und daß dieselben als solche sich getrennt von einander befinden. Nur kann hierbei selbstverständlich nicht von einem Getrenntsein im Gesichtsfeld die Rede sein; vielmehr von einem Verhältnis wie dasjenige zweier beliebiger Zahlenreihen, von denen man auch ein Getrenntsein, innerhalb einer unendlichen Zahlenreihe, behaupten kann.

Und nun zuletzt die "Ebenheit" des Raumes! Wie bekannt, ist diese Ebenheit, analytisch gesprochen der Nullwert des Krümmungsmaßes, die notwendige Bedingung dafür, daß für unseren Raum die beiden Axiome der geraden Linie und der Parallelen Gültigkeit haben. In einem "pseudosphärischen" Raum ließen sich durch einen bestimmten Punkt unzählige, einer gegebenen Geraden parallele Linien ziehen; in einem "sphärischen" Raum dagegen gäbe es gar keine Parallelen, und zwei gerade Linien könnten einen Raum einschließen. Woher hat nun der Blindgeborene die Gewißheit, daß sein Raum weder ein sphärischer, noch ein pseudosphärischer ist? Ich glaube, die Frage läßt sich ziemlich einfach beantworten. Es sei mir gestattet, ein paar Begriffsbestimmungen vorhergehen zu lassen. Ich verstehe als unter  Innervationsreihe  eine Reihe sich ohne Unterbrechung folgender -, oder nur durch innervationslose Intervalle getrennter Innervationen; ich nenne dieselbe  gleichförmig,  wenn sie in allen Teilen in einem konstanten Verhältnis aus elementaren Innervationen der drei Arten zusammengesetzt ist. In diesem Fall (dem einzigen, den ich brauchen werde) wird die Innervationsreihe durch eben dieses konstante Verhältnis  qualitativ bestimmt;  also etwa durch die Formel  (a : b : c). Quantitativ bestimmt  wird die gleichförmige Innervationsreihe in Bezug auf ihren Anfangszustand durch die Angabe der von diesem Anfang an erzeugten Innervationsquanta der drei Arten: also durch die Formel  (ma, mb, mc)  oder  m (a, b, c). Innervationsmoment  endlich soll der Zustand heißen, der durch irgendeine Innervationsreihe herbeigeführt wird; in Bezug auf einen anderen ähnlichen Zustand wird derselbe wieder durch die elementaren Innervationen  (a, b, c)  bestimmt, welche nötig sind, um ihn von dort aus zu erreichen. Zwei Innervationsmomente  sind identisch  oder  fallen zusammen,  wenn sie in Bezug auf denselben Moment durch dieselbe Formel bestimmt werden. Es ist übrigens einleuchtend, daß die Buchstaben in den angeführten Formeln ebensowohl negative wie positive Größen bedeuten können, da zu jeder elementaren Innervation eine umgekehrte, dieselbe zum Anfangszustand zurückführende, gedacht werden kann.

[....]

Die Unabhängigkeit der beiden geometrischen Grundaxiome von etwaigen empirisch zu ermittelnden "spezifischen Eigenschaften unseres Raums" zeigt sich am deutlichsten in der Möglichkeit, für  jede  andere stetige,  n -fach bestimmte Mannigfaltigkeit analoge Sätze aufzustellen. So z. B. für die zweifach (durch Tonhöhe und Tonstärke) bestimmte Mannigfaltigkeit der Töne. Hier würde sich das erste Axiom etwa folgender Art gestalten: Wenn von einem nach Höhe und Stärke bestimmten Ton aus zwei Tonreihen von stetig wachsender Höhe und Stärke hervorgebracht werden, der Art, daß das Verhältnis zwischen der Zunahme der Anzahl der Schwingungen pro Sekunde und der Zunahme der Schwingungsintensität im ersten Fall konstant =  a : b,  im zweiten konstant =  p : q  ist, - so wird entweder (für  a : b = p : q)  jeder, oder (für  a : b  nicht =  p : q)  kein Ton der ersten Reihe nach Höhe und Stärke mit einem Ton der zweiten Reihe identisch sein. - Oder für die  n -fach bestimmte Mannigfaltigkeiteiner Mischung von  n  verschiedenen Substanzen, wo folgendes Analogon zum Axiom von der geraden Linie aufgestellt werden könnte: Wenn zu einer quantitativ bestimmten Mischen von  n  Substanzen allmählich von einer anderen hinzugefügt wird, welche im Verhältnis  p1 : p2 : p3 : .... : pn  aus den nämlichen Substanzen zusammengesetzt ist, und wenn ein anderes Mal zur gleichen ursprünglichen Mischung allmählich von einer Mischung hinzugefügt wird, in der dieselben Substanzen im Verhältnis  q1 : q2 : q3 : .... : qn  enthalten sind, so wird das Ergebnis des ersten Prozesses entweder zu jeder Zeit, oder niemals, in gleichem Verhältnis zusammengesetzt sein, als das Ergebnis des zweiten Prozesss zur irgendeiner Zeit zusammengesetzt ist. - Es wäre nicht schwer, nur etwas umständlich, in ähnlicher Weise Analoga zum Parallelaxiom aufzustellen. Ich hoffe aber, das Angeführte wird schon genügen zum Beweis, daß die "Ebenheit" nicht eine spezielle Eigentümlichkeit unseres Raumes ist, sondern vielmehr eine allgemeine Eigenschaft jeder  n -fach bestimmten Mannigfaltigkeit. Auf die abweichenden Resultate von HELMHOLTZ und anderer komme ich später zurück.

Für jetzt sei mir nur noch eine kurze Rekapitulation gestattet, hauptsächlich dazu bestimmt, die Übersicht über die vorhergehende Schlußkette und damit die Einsicht in die Bedeutung und die Tragweite derselben zu erleichtern.

Zahlreiche Beobachtungen haben es außer Frage gestellt, daß dem Blindgeborenen unsere Geometrie verständlich ist. Demnach müssen die Begriffe Entfernung und Richtung für ihn irgendeine Bedeutung haben, und muß er die drei Grundrichtungen im Raum, aus denen die anderen zusammengesetzt sind, unterscheiden können. Die bedeutendsten Forscher - ich nennen nur MILL (4), RIEHL (5) und HELMHOLTZ selbst (6) - sind darüber einverstanden, daß solches nur mittels Innervationsempfindungen geschehen kann. Hat aber der Blindgeborene wirklich das Vermögen, mittels eines Innervationssinnes ursprünglich zwischen demjenigen zu unterscheiden, was  wir  seine Bewegungen nach oben und unten, rechts und links, vorn und hinten nennen, so kann er auch unter "Linie" und "gerader Linie" nur verstehen, was ich Innervationsreihe und gleichförmige Innervationsreihe genannt habe, unter "Punkt", was ich Innervationsmoment bezeichnet habe usw. Aus den erwähnten Tatsachen und Definitionen lassen sich aber, wie ich bewiesen zu haben glaube, die beiden Grundaxiome der Geometrie analytisch ableiten. Für den Blindgeborenen sind also diese Axiome logisch enthalten in der Grundtatsache von der dreifachen Bestimmtheit des Innervationssystems [ vorn - hinten, links - rechts, -oben - unten / wp]. Wie nun aber für uns Sehende? Die psychologische Lehre von der Ideenassoziation, sowie alle Beobachtungen, an operierten Blindgeborenen, beweisen jedenfalls die Möglichkeit, daß sich das Verständnis des "Gesichtsraumes" auf assoziativem Weg, unter der Leitung des Innervationssinnes, entwickelt haben kann. Dagegen ließe sich das selbständige Entstehen der Euklidischen Raumvorstellung aus Gesichtsempfindungen in keiner Weise erklären. Die Annahme, daß die Raumerkenntnis des Sehenden eine andere Grundlage habe, als diejenige, welche er mit dem Blinden gemein hat, ist demnach eine überflüssige und zur Erklärung der Erscheinungen nichts leistende Hypothese.
LITERATUR - Gerard Heymans, Zur Raumfrage, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 12, Leipzig 1888
    Anmerkungen
    1) ALOIS RIEHL, Der philosophische Kritizismus II, Seite 136 - 139
    2) ALOIS RIEHL, Der philosophische Kritizismus II, Seite 142 - 148
    3) Vgl. RIEHL, a. a. O., Seite 146 - 147, wo eine entgegengesetzte Meinung verteidigt wird.
    4) JOHN STUART MILL, An Examination of Sir William Hamilton's Philosophy, Seite 274 - 275
    5) HELMHOLTZ, Vorträge und Reden II, Seite 231 - 232
    6) HELMHOLTZ, Vorträge und Reden II, Seite 231 - 232