ra-2E. CassirerC. PrantlK. LewinR. HönigswaldR. HönigswaldP. Natorp    
 
ALOIS RIEHL
Über den Begriff der
Wissenschaft bei Galilei


"Ohne Hilfe der Geometrie naturwissenschaftliche Fragen behandeln zu wollen, heißt nach  Galilei: etwas Unausführbares unternehmen. Das Buch der Natur ist in mathematischen Zeichen geschrieben. An die Stelle der antiken Spekulation über die Dinge aus Begriffen tritt mit  Galilei die mathematische Analyse der Dinge."

"Durch bloße Induktion läßt sich keine irgendwie wertvolle Erkenntnis erzielen. Soll der induktive Schluß durch alle Einzelfälle geführt werden, so ist er unmöglich wo das Einzelne sich unendlich oft wiederholt, und unnütz wo er möglich ist. Man kann auf diesem Weg zu nichts Neuem, zu keinem wirklich brauchbaren Schlußsatz gelangen. Es wird nur zweimal dasselbe gesagt, das Übereinstimmende der sämtlichen Fälle in einen Satz von bloß numerischer Allgemeinheit, zusammengefaßt, aber nicht der Grund und damit die Notwendigkeit ihres übereinstimmenden Verhaltens angegeben."

"Als Gipfel der Vermessenheit ist  Galilei von jeher die Meinung derer erschienen, welche die menschliche Fassungskraft zum Maß all dessen machen wollen, was die Natur ins Werk zu setzen vermag, während es doch im Gegenteil keine einzige Wirkung in ihr gibt, die nicht - sie mag so unscheinbar sein, wie sie will - vollständig zu erkennen das Vermögen auch der erleuchtetsten Geister übersteigt."

Selten, ja vielleicht kein zweites Mal, haben sich die Fähigkeiten des Forschers in so gleichem Maße mit jenen des Denkers zusammengefunden wie in der Person GALILEIs. Wer der Philosophie, es sei ausschließlich oder doch in erster Linie, die Aufgabe zuweist, die Quellen und Wege des Wissens zu prüfen und die Grenzen des Erkennens festzustellen, wird den Schöpfer der modernen Physik auch zu den Urhebern der modernen Philosophie zu zählen haben. GALILEI, der bei der Erforschung der Natur das richtige, hauptsächlich von ihm selbst entdeckte Verfahren befolgte, besaß auch das klarste Bewußtsein von den Gründen seines Verfahrens; er liebte es daher, Betrachtungen über die Aufgaben und Methoden der Wissenschaft und über den Umfang des Erkennens in seine lebensvollen Dialoge einzuflechten.

Aber auch wer von der Philosophie umfassende Ansichten über die Welt und das Verhältnis des Menschen zu ihr erwartet, kann vereinzelte Aussprüche unseres Denkers und Forschers zu einer solchen, in sich einstimmigen und charaktervollen Gesamtanschauung verbinden.

Inzwischen rechtfertigen es schon allein jene allgemein wissenschaftlichen Betrachtungen GALILEIs, wenn wir ihn zu den Begründern der modernen, wissenschaftlichen Philosophie rechnen. Bilden sie doch gleichsam den Text, zu dem die philosophische Erkenntnislehre den Kommentar liefert; sie geben, anders ausgedrückt, die Resultate, zu welchen die Erkenntnistheorie die Voraussetzungen hinzufügt.

Schon PRANTL und ihm folgend NATORP haben die philosophische Bedeutung GALILEIs, jener nach der Seite der Logik im engeren Sinne, dieser nach ihrem Verhältnis zur kritischen Erkenntnistheorie, zum Gegenstand kleinerer Arbeiten gemacht. Dabei ist besonders dem aufmerksamen Blick NATORPs kaum eine Stelle in den Schriften GALILEIs entgangen, die für dessen Wissenschaftslehre von Belang ist.

An diese Vorarbeiten haben sich daher die folgenden Bemerkungen anzuschließen. Sie beschränken sich darauf, in dem Bild, das bereits im Ganzen feststeht, hier einen Strich zu verstärken, dort einen Zug zu berichtigen. Eine erschöpfende Untersuchung der geschichtlichen Stellung GALILEIs dagegen liegt nicht in ihrer Absicht; an eine solche wäre wohl auch erst nach der Vollendung einer Nationalausgabe seiner Werke zu denken. Schon der erste Band dieser Ausgabe hat die bisherige Auffassung des Verhältnisses GALILEIs zur aristotelisch-scholastischen Philosophie nicht unwesentlich verändert, indem er zeigte, wie sich GALILEI allmählich von den herrschenden Anschauungen der Schule lossagte, und wie nahe er noch zur Zeit seiner Pisaner Professur selbst in der Bewegungslehre der Naturphilosophie des ARISTOTELES stand, die er gründlich studierte; weit näher, als man bisher wohl allgemein angenommen hatte. Auch EMIL STRAUSS, der sich mit seiner wissenschaftlich höchst wertvollen Übersetzung und Erläuterung des  Dialogs über die beiden hauptsächlichsten Weltsysteme  ein bleibendes literarisches Denkmal gesetzt hat, bemerkte das scholastische Gepräge einiger, offenbar älterer Teile dieses Werkes und eine gewisse Verwandtschaft derselben mit der Denkmethode der aristotelischen Schule. Welche Mühe gibt sich nicht GALILEI u. a. im  Dialog  die Unterscheidung zwischen der elementaren, irdischen und der himmlischen Substanz zu widerlegen. Seine Geistestag: sich und die Wissenschaft von der Autorität dieser Schule befreit zu haben, erscheint dadurch nur umso größer, und das Wort zu SIMPLICIO: fort mit Deinem ARISTOTELES,  der nicht sprechen kann,  das man zum Wahlspruch für die autoritätsfreie Forschung nehmen könnte, gewinnt umso stärkeren Nachdruck.

Doch nicht die Beziehung GALILEIs zu der ihm vorangegangenen aristotelisch-scholastischen Philosophie, die niemand tödlicher getroffen hat, als er, sein Verhältnis zur nachfolgenden, modernen, die er begründen half, soll Gegenstand unserer Betrachtung sein. Diese hat sich, wie es sich eigentlich von selbst versteht, außer auf die früher erwähnten Arbeiten von PRANTL und NATORP auch auf die bekannten und vorzüglichen, einanander ergänzenden Darstellungen DÜHRINGs und MACHs zu stützen.

Als tief eindringende Spekulation - aber auf dem Boden der Erfahrung und überwacht durch das Experiment - so kennzeichnet sich die Forschungsmethode GALILEIs, der es selbst als seine eigentümlichste Begabung erkannt hat, aus alltäglichen Erscheinungen Grundgesetze der Natur ableiten zu können. Von seinem experimentellen Verfahren an zählte KANT eine neue Epoche des Naturerkennens und verglich die davon ausgegangene Wirkung mit der Verwandlung der Geometrie aus einer empirischen Kunst in demonstrierte Wissenschaft. In der Tat hat GALILEI das Experiment in gewissem Sinne erst entdeckt, erst er seine Bedeutung im Zusammenhang des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses richtig und vollständig erfaßt.

Erfahrungen der Sinne sind zwar an den Anfang jeder wissenschaftlichen Untersuchung zu stellen; für deren weiteren Fortgang aber ist das Wissen, "das der Geist von sich aus hat", nicht minder wesentlich. Weder reine Erfahrung, noch bloßes Denken, Erfahrung mit Denken verbunden, (senso accompagnato col discorso) führt zur Erkenntnis; diese enthält somit außer rein empirischen Bestandteilen immer auch Elemente, die in der Natur des Verstandes ihre Quelle haben. Unter dem Wissen nämlich, "das der Geist von sich aus hat", ist vor allem das mathematische zu verstehen; es allein befähigt den Menschen, sich über die Sinneserscheinungen zu den Gesetzen derselben zu erheben. Wo GALILEI Beispiele eines vollkommenen Begreifens anführen will, verweist er auf die rein mathematische Erkenntnis, auf Geometrie und Arithmetik. Und seine eigentliche Methode des Erkennens umgestaltende Entdeckung besteht in der Anwendung der Arithmetik auf die Erscheinungen der äußeren Natur. Auch das Experiment ordnet sich diesem Hauptpunkt seiner Methode unter. Ohne Hilfe der Geometrie naturwissenschaftliche Fragen behandeln zu wollen, heißt nach GALILEI: etwas Unausführbares unternehmen. Das Buch der Natur ist in mathematischen Zeichen geschrieben. An die Stelle der antiken Spekulation über die Dinge aus Begriffen tritt mit GALILEI die mathematische Analyse der Dinge.

Durch bloße Induktion läßt sich, wie GALILEI zeigt, irgendeine wertvolle Erkenntnis nicht erzielen. Soll der induktive Schluß durch alle Einzelfälle geführt werden, so ist er unmöglich wo das Einzelne sich unendlich oft wiederholt, und unnütz wo er möglich ist. Man kann auf diesem Weg zu nichts Neuem, zu keinem wirklich brauchbaren Schlußsatz gelangen. Es wird nur zweimal dasselbe gesagt, das Übereinstimmende der sämtlichen Fälle in einen Satz von bloß numerischer Allgemeinheit, zusammengefaßt, aber nicht der Grund und damit die Notwendigkeit ihres übereinstimmenden Verhaltens angegeben. Dagegen eröffnet uns die Erkenntnis einer einzigen Wirkung aus ihren Ursachen das Verständnis aller Wirkungen derselben Art, ohne daß wir dafür auf die Erfahrung zurückzugreifen brauchen. Schließt doch schon jeder einzelne Vorgang, z. B. das Fallen eines Steins, das ganze Gesetz seiner Ursache in sich ein, obschon in unzerlegter Form und vermischt mit den Wirkungen anderer Ursachen. Zur Kenntnis des Gesetzes gelangen wir daher nicht durch die Vergleichung einer möglichst großen Zahl von Fällen einer bestimmten Klasse, sondern durch die vollständige Analyse eines einzelnen Falles.

Eben in diesem analytischen Verfahren, dem "metodo risolutivo", durch welches die Gesetze aus den Erscheinungen hergeleitet werden, liegt die Macht der GALILEIschen Methode. Es geht notwendig dem entgegengesetzten synthetischen, dem "metodo compositivo" voraus, das die Erscheinungen aus den Gesetzen erklärt. GALILEI selbst nennt es das beste Mittel der Erfindung; es ist der Weg die Hypothesen einzuführen, deren deduktive Entwicklung und experimentelle Prüfung die weiteren Stadien des wissenschaftlichen Prozesses bilden.

Wir versuchen m Beispiel der Entdeckung und des Beweises der Fallgesetze den Gebrauch dieser Doppelmethode zu erläutern. Auf die Frage, wie GALILEI auf die wahre Hypothese geriet, deren Entwicklung die Gesetze des freien Falls der Körper ergab, kann die Antwort nicht durchaus bestimmt lauten. Es gibt keine Regeln, wahre Hypothesen zu erfinden, so wenig wie es Regeln gibt, schöne Gedichte zu machen. Es kann nur von gewissen Forschungsmaximen die Rede sein, praktischen Grundsätzen, die individuell verschieden sein mögen und in denen sich so die Eigenart eines wissenschaftlichen Entdeckers zu erkennen gibt. Auch GALILEI besaß solche Maximen. Nicht auf die Art, wie er sie teilweise der Sprache der Schule sich bedienend, ausdrückt, ist dabei das Gewicht zu legen, sondern auf seinen angeborenen Sinn für das Natürliche und Einfachwahre, der ihn überall bei seinen Forschungen leitete und selbst so abgebrauchten Sätzen, wie:  die Natur tut nichts vergeblich,  neues Leben einflößt. Es ist nicht anders, nicht allein der Poet, auch der Forscher wird geboren. Die Natur stattet ihn mit einem Sinn und Takt aus, der die Bewegung seiner Vorstellungen mit ihrem Gang und Verfahren in Einklang bringt. GALILEI selbst hat es uns verraten, wie ihn zur Erforschung der natürlich beschleunigten Bewegung die beständige Achtsamkeit auf die Gewohnheit und Einrichtung der Natur selbst bei allen ihren übrigen Werken, gleichsam an der Hand hingeleitet hat. Das Schwimmen der Fische, das Fliegen der Vögel, von dem niemand glauben wird, daß es auf noch einfachere und leichtere Weise als die tatsächlich befolgte, bewerkstelligt werden kann, lieferte ihm die völlig naturgemäße Analogie für das Fliegen des fallenden Steins und die Annahme, daß das Anwachsen der Geschwindigkeitsgrade in der einfachsten Art und Weise erfolgt.

Ehe GALILEI jedoch dieses einfache Verhältnis entdeckte, berichtigte er zwei entgegenstehende Annahmen, deren eine von der ganzen Autorätit des ARISTOTELES unterstützt wurde. Erwägungen tatsächlicher Art, wie die im  Dialog  über die beiden Weltsystem mitgeteilten (Seite 214, 237 u. ö. der deutschen Ausgabe von E. STRAUSS) und die vielleicht erst durch sie veranlaßten Experimente auf dem schiefen Turm von Pisa mußten ihm sehr bald die Unrichtigkeit der aristotelischen Lehre der Geschwindigkeitszunahme im Verhältnis zum Gewicht der schweren Körper gezeigt haben. Es blieb also die Annahme zu prüfen: ob nicht die Geschwindigkeiten im Verhältnis zu den durchfallenden Räumen wachsen - GALILEIs eigene, frühere Annahme. Er ließ sie fallen, anscheinend nur aus dem von ihm angebenen, aber wie MACH zeigte, untriftigen Grund. In Wahrheit gab er der Vorstellung der Proportionalität des Anwachsens der Geschwindigkeiten mit der Zeit deshalb den Vorzug, weil sie, wie er selbst sagt, die einfachste ist, die man erdenken kann, und schon durch die ganz enge Verwandtschaft von Zeit und Bewegung nahegelegt wird. Oder kann man eine Art der Hinzufügung denken, noch einfacher als diese, bei welcher sich beständig und in gleicher Weise Element zu Element addiert?

Wir legen allen Nachdruck auf dieses Prinzip der Einfachheit als Forschungsmaxime, und können es an GALILEIs eigener Vorstellung erproben. Diese läßt sich nämlich noch weiter zerlegen und erweist sich zusammengesetzt aus der Annahme des Fortbestehens jeder einmal erlangten Geschwindigkeitsgröße (von störenden Ursachen abgesehen) oder dem Prinzip der Beharrung der Bewegung und der Vorstellung der gleichen und stetigen Einwirkung einer Kraft. Sie ist daher aus der Verbindung dieser beiden Annahmen abzuleiten. Daß GALILEI selbst sie auf diese Weise abgeleitet hat, dafür fehlt es an jeder Andeutung. EMIL STRAUSS ist sogar der Meinung, GALILEI habe das Prinzip der Beharrung noch nicht in seiner allgemeinen Form gekannt, was mir freilich durch die zum Beleg angeführten Stellen nicht erwiesen, durch die Formulierung des Prinzips in den "discorsi" (Eingang zum 4. Tag) widerlegt zu sein scheint.

Der Einführung der Hypothese, die man mit weit mehr Grund als Induktion bezeichnen könnte, als was herkömmlich diesen Namen führt, hat die Entwicklung der Hypothese in ihre Konsequenzen, ihre deduktive Bearbeitung zu folgen. Durch eine einfache geometrische Überlegung leitet GALILEI aus dem Gesetz des mit den Zeitteilen proportionalen Wachsens der Geschwindigkeiten das Verhältnis der Fallräume zu den Zeiten ab und bringt damit das Gesetz erst in die Form, die es für die experimentelle Prüfung geeignet macht. Nicht von dieser Prüfung selbst, den Fallversuchen auf schief geneigten, glatten Rinnen ist hier zu handeln, sondern von der Stellung und Bedeutung des Experiments im Zusammenhang von GALILEIs Methode.

Das aus den sinnlichen Erscheinungen gleichsam herausgelesene mathematische Gesetz gibt zunächst nur einen allgemeinen Ausdruck der Abhängigkeit oder Funktion der in Frage kommenden Größen und die Größen selbst in allgemeiner, algebraischer Form. Erst durch eine Einführung konkreter Einheiten läßt sich das Größenverhältnis auch numerisch ausdrücken und in dieser Ausdrucksform durch das Experiment prüfen.

Aber auch damit ist die Aufgabe des Experiments noch nicht erschöpft. Von bloßen Verhältniszahlen muß zu den absoluten und bemessenen, in der Natur vorhandenen Größen übergegangen werden, womit eine wirkliche Vermehrung auch des sachlichen Inhaltes unserer Erkenntnis erreicht ist. In unserem Beispiel galt es nicht nur, die quadratische Beziehung der Räume zu den Zeiten, wie sie die Theorie voraussetzte, durch das Experiment zu bestätigen, also das Verhältnis der in gleichen aufeinanderfolgenden ungeraden Zahlen gleich zu finden; es handelte sich überdies noch um die Bestimmung der Intensität der Schwere, also des Fallraums in der Zeiteinheit, in der ersten Sekunde.

So erhebt sich der Weg des Erkennens, den GALILEI bahnte, vom Boden der Erfahrung durch induktive Spekulation zum Gesetz der Erscheinungen, um durch das zur Prüfung des Gesetzes entworfene, also von der Spekulation geleitete Experiment zur Erfahrung zurückzuführen. Aber die Erfahrung, die wir schließlich wieder erreichen, ist nicht länger die unmittelbare und unzerlegte der Sinne, es ist die von der Erkenntnis durchdrungene, begriffene Erfahrung.

Die Betrachtung der Methode GALILEIs ist zugleich die Erörterung seines Begriffs der Wissenschaft. Noch unmittelbarer läßt sich dieser Begriff den Äußerungen über die Grenzen des Erkennens entnehmen.

Als den Gipfel der Vermessenheit erklärt GALILEI, sei ihm von jeher die Meinung derer erschienen, welche die menschliche Fassungskraft zum Maß all dessen machen wollen, was die Natur ins Werk zu setzen vermag, während es doch im Gegenteil keine einzige Wirkung in ihr gibt, die nicht - sie mag so unscheinbar sein, wie sie will - vollständig zu erkennen das Vermögen auch der erleuchtetsten Geister übersteigt. Jene so eitle Anmaßung, alles zu verstehen, kann aus nichts anderem entspringen, als daß man niemals irgendetwas verstanden hat. Denn hätte jemand auch nur einmal in Erfahrung gebracht, was es heißt: eine einzige Sache vollkommen zu begreifen, und hätte er wirklich empfunden, wie das Wissen beschaffen ist, so würde er einsehen, von wie unendlich vielen Dingen, die noch außerdem Gegenstand des Erkennens sind, er auch nicht eines versteht (Werke II, Seite 114). Das Wissen des Einzelnen ist beschränkt, aber auch überhaupt ist das Wissen begrenzt. Und diese Grenzen sucht GALILEI noch näher zu bestimmen. Wenn wir nicht nach dem Namen, sondern dem Wesen der Schwere fragen, so müssen wir gestehen, daß wir davon nicht das Geringste wissen. Wir kennen nicht das eigentliche Prinzip oder die Kraft, welche den Stein fallen macht, so wenig wie wir begreifen, was den Mond im Kreis herumführt. (Hier und auch sonst findet sich eine Ahnung der allgemeinen Gravitation bei GALILEI.) Ein und dasselbe innere Prinzip kann entgegengesetzte Erscheinungen zur Folge haben. So ist es die nämliche Kraft der Schwere, welche das Pendel nach unten zum tiefsten Punkt des Bogens bewegt, die es auch ohne einen Augenblick der Ruhe auf der entgegengesetzten Seite nach oben treibt. Umsonst, daß wir über das wahre Wesen und die innere Natur der Kräfte oder der Substanzen spekulieren; sie bleiben uns notwendig unbekannt, und unser Wissen ist auf die Kenntnis einiger ihrer Erscheinungen beschränkt. Gehen wir aber von diesen Erscheinungen aus, wie sie die uns nächsten Körper zeigen, so hindert uns nichts, das Verständnis der Wirkungen auch der entferntesten zu erreichen. (Werke III, Seite 462)

In der Erklärung der Erscheinungen statt aus ihren Ursachen, aus den Gesetzen ihrer Ursachen, anders ausgedrückt: in der Ersetzung einer im engeren Sinne des Wortes kausalen Erklärung durch die logisch-mathematische Begründung besteht eigentlich die Aufgabe, die GALILEI dem Erkennen stellt, darin der Fortschritt, den die theoretische Naturwissenschaft ihm verdankt. Ohne Rücksicht auf die unbekannte Ursache der beschleunigten Bewegung beim Fall der Körper untersucht GALILEI die Eigenschaften dieser Bewegung und leitet daraus ihre Gesetze ab. Gegenstand seiner Forschung ist (nach MACHs treffender Bemerkung) nicht länger die Frage: aus welcher Ursache fallen die Körper, sondern die anspruchslosere, dafür aber vollständig zu lösende:  wie  fallen sie? Von der Bedeutung dieser einzigen kleinen Änderung in der wissenschaftlichen Fragestellung kann man sich keinen zu hohen Begriff machen. Sie scheidet zwei Zeitalter der Wissenschaft. Sie hat der neueren Philosophie und Wissenschaft die Bahn gewiesen; das ganze exakte Wissen knüpft an sie an.

Um aber nicht der Meinung Raum zu geben, als werde damit das Wissen ungebührlich beschränkt oder irgendeine berechtigte Forderung des Naturerkennens preisgegeben; sei sogleich hinzugefügt, daß nach GALILEIs richtiger Überzeugung das Wissen innerhalb dieser Grenzen, das Wissen von den Gesetzen der äußeren Erscheinungen nicht relativ ist, sondern absolut, daß ihm wahre Allgemeinheit und Notwendigkeit zukommt. In diesem Sinne zeigt GALILEI (in seinem Sendschreiben an die Großherzogen von Toscana), welch gewaltiger Unterschied besteht zwischen bloß doktrinären Disziplinen, in denen es, wie beispielsweise der Jurisprudenz, streng genommen weder Wahrheit noch Irrtum gibt, und den exakten, völlig genauen Wissenschaften, deren Leitsätze einem Beweis zugänglich sind und worin man die Ansichten nicht nach Belieben oder auf Befehl ändern kann. "Denn es steht nicht in der Macht irgendeines menschlichen Wesens, zu bewirken, daß sie wahr oder falsch werden, oder anders als sie von Natur und de facto sind." So haben wir es auch zu verstehen, wenn GALILEI im Hinblick auf die höchste Aufgabe der "philosophischen" Astronomie, die wahre Verfassung des Weltganzen zu ergründen, in die Worte ausbricht: "Es gibt eine solche Verfassung, und es gibt sie auf eine einzige, wahre, wirkliche, ja auf eine solche Art, daß sie unmöglich anders sein kann." Man kann den Charakter der Wissenschaft als Wahrheitsforschung nicht eindrucksvoller aussprechen. Unabhängig von den Ansichten der Menschen besteht nach GALILEI "die Wissenschaft selbst" und zieht von jeder Erörterung der Meinungen Gewinn.

Die Notwendigkeit, welche GALILEI von der Erkenntnis naturwissenschaftlicher Gegenstände fordert, die, wie er sagt, selbst ewig und notwendig sind, bezieht sich nicht auf die unbekannten Kräfte, sondern auf die erkennbaren Formen ihres Wirkens. Das Mittel sie zu erreichen ist die mathematische und experimentelle Analyse; ihr Kennzeichen die Einfachheit der auf diesem Weg gefundenen Gesetze.

Überall, wo es uns nach dem Beispiel GALILEIs gelingt, die stets zusammengesetzten Vorgänge in der Natur hinlänglich weit zu zerlegen, treffen wir schließlich auf Verhältnisse so einfacher Art, daß sie unserem Denken, nachdem sie einmal entdeckt sind, eben vermöge dieser Einfachheit als notwendig erscheinen. Und diese Notwendigkeit, welche also keineswegs eine Sache bloßer Gewöhnung ist, läßt sich unmittelbar einsehen und zwingend erweisen. So ist das Prinzip der Beharrung der Bewegung, obschon unzweifelhaft ein empirisches Prinzip, doch zugleich notwendig, weil es die einfachste Vorstsellung ausdrückt, die überhaupt auf dem Gebiet der Bewegungserscheinungen möglich ist. Jede andere Annahme, z. B. die des Altertums vom allmählichen Aufhören der irdischen Bewegung schließt die Vorstellung der Beharrung mindestens für jeden unendlich kleinen Zeitteil in sich ein; ist also verglihen mit ihr weniger einfach. Dieser Doppelcharakter von Tatsächlichkeit und Notwendigkeit kennzeichnet jedes Grundgesetz in der Natur, und da wir verstehen, wie sich schließlich selbst die verwickeltsten Vorgänge durch die Verbindung solcher einfacher Gesetze auf begreifliche Weise ableiten lassen müssen, so enthält wirklich schon die Zurückführung der Erscheinungen auf ihre Gesetze, die Aufgabe, die GALILEI der Wissenschaft stellt, alles, was wir zu ihrer Erklärung bedürfen. Darüber hinaus gibt es auch an den Vorgängen der Außenwelt nichts mehr zu erklären, da im Raum nichts Weiteres enthalten sein kann als Masse und Bewegung.

Der Begriff der Wissenschaft, der GALILEI bei seinem Verfahren leitete und aus seinen Entdeckungen und seinen Aussprüchen zu erkennen ist, deckt sich der Sache nach völlig mit dem Begriff, den KIRCHHOFF an den Eingang seiner Mechanik stellte. KIRCHHOFF bestimmte es bekanntlich als die Aufgabe der Mechanik und somit der theoretischen Naturwissenschaft überhaupt: die in der Natur vor sich gehenden Bewegungen vollständig und auf die einfachste Weise zu beschreiben. Was in diesen, durch ihre Klarheit ausgezeichneten Worten gefordert wird, hatte GALILEI bereits den Fallerscheinungen gegenüber tatsächlich und aus vollem Bewußtsein geleistet. Er hat diese Erscheinungen vollständig und zugleich auf die einfachste Weise beschrieben. Nur unterscheidet er nicht, und zwar mit Recht, zwischen einer solchen, mit den Mitteln der Mathematik gegebenen Beschreibung und dem, was man sonst Erklärung nennt. Er erkennt der eindringenden Zerlegung und geistigen Nachbildung der Form des Naturwirkens all die Notwendigkeit zu, die der Verstand auf diesem Feld erreichen oder fordern kann.

Von der Wirklichkeit, wie sie Gegenstand der Wahrnehmung ist, sondert GALILEI alles aus, um es für sich zu betrachten, was allein Objekt eines vollkommenen, mathematischen Begreifens ist. Sein Begriff der Kraft stammt von Empfindungen des Tast- und Muskelsinns her; er denkt an den Andrang (impeto), womit ein bewegter Körper auf einen widerstehenden trifft, an den Antrieb oder die Bewegkraft (momento), womit ein fallender herabzusteigen beginnt. Bei seinen wissenschaftlichen Untersuchungen aber hält er sich ausschließlich an die objektive Seite des Begriffs, die Umstände, von denen das "Moment" der Körper abhängig ist, also außer der Schwere die Richtung und Geschwindigkeit der Bewegung, die Neigung der Räume, in denen sie sich vollzieht; er ersetzt die Empfindungsvorstellung durch den Größenbegriff der Kraft. Und so unterscheidet er überhaupt (mit DEMOKRIT) zwischen den ursprünglichen, objektiv wirklichen Eigenschaften und den abgeleiteten, die ihren Sitz ausschließlich im Bewußtsein des Empfindenden haben und widmet (worauf NATORP wieder aufmerksam machte) dieser Unterscheidung im "Saggiatore" eine höchst faßliche Betrachtung.

Aber, indem GALILEI die subjektiven Bewußtseinstatsachen aus dem Bereich des im engeren Sinne exakten Wissens ausschließt, glaubt er sie auch aus dem Bereich des Wissens überhaupt entfernt zu haben. Auf dem Gebiet dieser Tatsachen herrscht jedoch nur eine andere Auffassung, ein zweiter, den naturwissenschaftlichen ergänzender Begriff des Erkennens. Der inneren Antriebe unseres Wollens werden wir uns unmittelbar und nach ihrer Beschaffenheit bewußt und in der Beziehung von Motiv und Wille ist uns ein Zusammenhang erschlossen, ebenso vollkommen, wenn auch auf andere Art, begreiflich wie der Zusammenhang von Grund und Folge und die mathematische Verknüpfung der Vorstellungen. So tritt der mathematischen Analyse die psychologische zur Seite, die Motivierung der Begründung, woraus sich eine Gruppe von Geisteswissenschaften ergibt, die sich neben jene der Naturwissenschaften stellt. Jede dieser beiden Gruppen hat ihre eigentümlichen Vorzüge, die der anderen fehlen: die Naturwissenschaften den Vorzug der quantitativen Genauigkeit ihrer Ergebnisse, die Möglichkeit ihre Annahmen auf entscheidende Weise durch den messenden Versuch zu prüfen; wogegen die Geisteswissenschaften nicht nur die Unmittelbarkeit, sondern auch die tiefere Bedeutsamkeit ihrer Objekte voraus haben. Auch gibt es allein auf ihrem Gebiet innerhalb gewisser Grenzen eine Ursachenforschung neben der Ermittlung von Gesetzen.

Von diesem Mangel abgesehen, der im Grunde ein anderer Ausdruck des GALILEI eigensten Vorzugs, seines Sinns für die exakteste Ergründung der Phänomene ist, kann man sich über die philosophische Bedeutung seines Begriffes der Wissenschaft nicht täuschen.

Mathematische Analyse und experimentelle Untersuchung verhelfen uns zu einer Erkenntnis der Außenwelt, die mehr in diesen Mitteln, als in ihrem Ziel von der Spekulation des Altertums abweicht. Zeigt sie sich doch von einer Seite dem platonischen Begriff des Erkennens verwandt, nur ohne das Transzendente desselben. - Die Wissenschaft, wie GALILEI ihre Aufgabe erfaßte, handelt vom Zeitlosen in der Zeit, von den unveränderlichen Gesetzen des Veränderlichen. Ihre Wahrheiten sind freilich nicht eher erkannt, als sie entdeckt sind; aber sie werden nicht erst durch die Entdeckung wahrgemacht. Wir wissen, daß jedes gegenwärtig noch verborgene Naturgesetz schon heute gilt und alle Zeit gegolten hat. Wenn irgendwo, so berührt sich der menschliche Geist in der Wissenschaft mit dem Ewigen, dem "was ist und nicht nur wird oder werden wird". Hierin liegt auch die Quelle des nie versiegenden Reizes, der den Menschen zur Erforschung Wahrheit, die nur Eine ist, antreibt, der hohen Befriedigung, die er über jeden, noch so kleinen, aber reellen Fortschritt seines Erkennens empfindet.
LITERATUR stopper Alois Riehl, Über den Begriff der Wissenschaft bei Galilei, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 17, Leipzig 1893