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ADOLF MERKEL
(1836-1896)
Recht und Macht

"Fouillée findet, daß die ideale Seite des Rechts nur bei den Franzosen rein zur Geltung kommt, daß nur sie das Recht beharrlich unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit betrachten, während die Deutschen das Recht mit der Macht identifizieren, die Engländer den Begriff derselben im Begriff der Zweckmäßigkeit untergehen lassen."

"Das Recht der Eroberung und das Beuterecht, wie überhaupt das Recht des Siegers im Krieg die Besiegten zu Sklaven zu machen, umfaßt das Privateigentum der Besiegten ganz und gar. Wilhelm der Eroberer verteilte diesem Recht gemäß nach der Schlacht bei Hastings das gesamte Grundeigentum von England unter seine Genossen. Das ist die historische Grundlage des englischen Agrarrechts."

"Das Recht wird stets Elemente einer innerlich nicht begründeten Bevorzugung oder Benachteiligung bestimmter Interessen, d. h. Elemente der Parteilichkeit oder Ungerechtigkeit, enthalten. Und diese Parteilichkeit wird stets ein Ausdruck von Machtdifferenzen sein, jene Bevorzugung wird die zu einer gegebenen Zeit stärkere, diese Benachteiligung die schwächere Seite erkennen lassen."

Das Recht zeigt in allen seinen Teilen einen Kompromißcharakter. Wie jeder Kompromiß die Anerkennung der Legitimität des beiderseitigen Standpunkts zur Grundlage hat, so auch das Recht. Und wie jeder Kompromiß in dem Maße, in welchem die beiderseitigen Ansprüche darin eine Berücksichtigung oder Nichtberücksichtigung finden, auf die Machtverhältnisse zwischen den Parteien hinweist, so auch das Recht."


I.

Das Recht zeigt sich in seiner Entstehung, seinem Bestand und seinen Wandlungen, wie die Geschichte bezeugt, vielfach abhängig von der Macht, und Rechtsfragen finden ihre Erledigung nicht selten in der Form von Machtentscheidungen, welche mit dem Beweis der größeren  Stärke  die Wirkungen des Erweises besseren  Rechts  verbinden. Mit den herrschenden Vorstellungen über das Recht sind derartige Vorgänge schwer in Einklang zu bringen. Das Recht wird dabei bestimmt durch Faktoren, welche seinem Wesen fremd, ja widersprechend zu sein scheinen, da Rechtsfragen jenen Vorstellungen gemäß ja nicht Fragen sind nach den Machtverhältnissen streitender Parteien, sondern Fragen nach dem Wahrheitsgehalt ihrer Behauptungen und nach dem Wert ihrer Ansprüche einem höheren Forum gegenüber. Wie sollen wir uns mit unserem Urteil zu diesen Tatsachen verhalten? Sollen wir unsere Vorstellungen über das Recht korrigieren, um sie mit den Tatsachen in eine bessere Harmonie zu bringen, und demgemäß Rechtsfragen und Machtfragen identifizieren, oder sollen wir jenen Machtentscheidungen die Anerkennung einer rechtlichen Bedeutsamkeit, was uns betrifft, versagen?

Die Frage ist alt und hat die Gelehrten und Staatsmänner aller Kulturvölker in mannigfacher Weise beschäftigt. Jener immer aufs Neue hervortretende Widerspruch zwischen dem Verlauf des geschichtlichen Rechtslebens und dem idealen Maßstab, den wir bei der Beurteilung von Rechtsfragen anzulegen nicht umhin können, enthält den Anreiz zu immer erneuter Stellung derselben. Ihre Beantwortung erfolgte im Großen und Ganzen seitens der soeben bezeichneten Gruppen in einem entgegengesetzten Sinn. Die Staatsmänner haben zu allen Zeiten und bei allen Völkern die Neigung gezeigt, wenn auch selten unumwunden eingestanden, Rechtsfragen als Machtfragen zu behandeln, sie stehen im Allgemeinen auf dem Standpunkt der Athener des Altertums, welche THUKYDIDES in einem Disput mit dem Meliern sagen läßt:
    "Was die Götter betrifft, so glauben, und was die Menschen betrifft, so wissen wir, daß durch Naturnotwendigkeit jeder über den herrscht, über welchen er Gewalt hat. Wir geben dieses Gesetz nicht, noch bedienen wir uns des schon vorhandenen zuerst, sondern handhaben es, wie wir es empfangen haben und es auf ewige Zeiten unseren Nachkommen hinterlassen werden."
Die Doktrin dagegen hat in der Mehrzahl ihrer Vertreter die Selbständigkeit des Rechts und seine Wesensverschiedenheit von der Macht behauptet. Der Satz SPINOZAs, daß jedes Ding so viel Recht hat wie Naturkraft in ihm ist, hat in ihrem Bereich nur vereinzelte Bekenner gefunden.

Es ist hier nicht meine Absicht, eine Geschichte der in Betracht kommenden Theorien zu geben. Aber es verdient bemerkt zu werden, daß die Gelehrten der modernen Welt sich während des Zeitalters der Aufklärung in der Hauptsache dabei auf einer gemeinsamen Grundlage von wesentlich idealistischem Charakter bewegten, nämlich auf dem Grund der sogenannten natur-, bzw. vernunftrechtlichen Anschauungen, daß ihre Übereinstimmung aber seit dem Abschluß jenes Zeitalters mehr und mehr geschwunden ist, und daß ihre Ansichten über das Wesen des Rechts überhaupt und sein Verhältnis zur Macht insbesondere sich, im Zusammenhang mit der Gesamtbewegung des wissenschaftlichen Lebens in den verschiedenen Ländern und unter dem Einfluß der verschiedenen nationalenn Schicksale und Zustände in verschiedenen Richtungen fortgebildet haben, wenn überhaupt überall von einer Fortbildung gesprochen werden kann.

In einem geistreich geschriebenen Werkchen von FOUILLÉE, in welchem französische, englische und deutsche Rechtsphilosophie miteinander verglichen werden, kommt diese Verschiedenheit der Entwicklung zu einem scharfen und freilich einseitigen Ausdruck. FOULLIÉE findet, daß die ideale Seite des Rechts nur bei den Franzosen rein zur Geltung kommt, daß nur sie das Recht beharrlich unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit betrachteten, während die Deutschen das Recht mit der Macht identifizierten, die Engländer den Begriff derselben im Begriff der Zweckmäßigkeit untergehen ließen. Ich lasse hier, was von den Engländern behauptet wird, sowie den Gesichtspunkt der Zweckmäßigkeit beiseite und bemerke bezüglich der Stellung, welche uns und unseren Nachbarn gegeben ist, nur, daß es sich dabei keineswegs um eine völlig leere Behauptung handelt, daß in der Tat die Machtseite des Rechts bei einer Anzahl deutscher Gelehrten - ich nenne HEGEL, LASSALLE, JHERING, BLUNTSCHLI - zu weit höherer Geltung gelangt als bei den Zeitgenossen unter den Franzosen, daß aber die von mir angedeuteten Gründe dieser Erscheinung und ihr Zusammenhang mit dem Festhalten an ehemals gemeinsamen Auffassungen jenseits, mit dem Fortschreiten über die als unzulänglich erkannten diesseits der Grenze, von FOUILLÉE nicht erkannt sind.

Zwischen den Zeilen seines Werkchens, welche den erwähnten theoretischen Gegensatz in einer übertreibenden Weise erörtern, sieht sich der aufmerksame Leser unwillkürlich auf den nicht genannten aber durchschimmernden Gegensatz hingewiesen, in welchen sich die beiden Nationen auf praktischem Gebiet zueinander gestellt finden. In den Ausführungen FOUILLÉEs liegt, der gegen Frankreich gefallenen Machtentscheidung und den Rechtsänderungen gegenüber, welche sich im Anschluß an jene vollzogen haben, eine stillschweigende Berufung an die Gerechtigkeit, von welcher der aufrichtige Idealist keine Brücke zu finden weiß zum Ringen geschichtlicher Mächte und den Gestaltungen, die daraus hervorgehen. Der Mann der Tat weiß sich auch bei unseren Nachbarn anders zur Frage zu stellen. Jener Machtentscheidung gegenüber, die er nur als eine provisorische gelten läßt, provoziert er an die definitiven Entscheidungen der Zukunft im Vertrauen auf eine den geschichtlichen Machtentscheidungen innewohnende Gerechtigkeit, als deren vornehmstes Werkzeug er eine auf die höchste Stufe der Kriegstüchtigkeit gebrachte Armee verehrt.

So ist das ernste Problem des Verhältnisses von Macht und Recht von französischer Seite, und zwar von doktrinärer und von staatsmännischer Seite sozusagen zu einer Frage zwischen Frankreich und Deutschland, ich weiß nicht, ob erhoben oder herabgesetzt worden.

Uns soll dies nicht hindern, uns in dasselbe unbefangen zu versenken. Wir lassen die Anregungen gelten, welche von den geschichtlichen Ereignissen zu einer erneuten Prüfung alter Fragen ausgehen, ohne uns jedoch durch sie die Freiheit einer auf wissenschaftliche Ergebnisse gerichteten Untersuchung verkümmern zu lassen.


II.

Einige allgemeinere Bemerkungen über die Natur des Rechts und dessen begriffliches Verhältnis zur Macht sollen den Standpunkt fixieren, von dem aus wir uns über jene Abhängigkeit des Rechts von bloßen Kraftproben zu orientieren und zu einer Würdigung der befremdenden Erscheinungen zu gelangen suchen.

Allem Recht ist ein Element der Macht wesentlich, es ist selbst eine Art von Macht, welcher gewisse höhere Eigenschaften beigelegt werden. Dies gilt gleichmäßig vom Recht in einem objektiven Sinn, d. h. dem Inbgegriff der geltenden Rechtsvorschriften, wie von den Rechten im subjektiven Sinn oder den rechtlichen Befugnissen. Es sei gestattet, diese, beiden wesentliche, Machtqualität näher zu charakterisieren. Die subjektiven Rechte sollen in der Betrachtung vorangehen.

Der Begriff des "subjektiven Rechts" schließt ein praktisches Können, eine Macht in Bezug auf die Betätigung des Willens und bzw. die Verwirklichung der Interessen einer Person oder Personenmehrheit in sich, und zwar ein nicht von bloßen Zufälligkeiten abhängiges, in einem gegebenen Moment faktisch bestehendes, sondern ein über den Augenblick hinaus in gewisser Weise verbürgtes Können, dem ein ebensolches Müssen, eine irgendwie gewährleistete Gebundenheit bei Anderen gegenübersteht. In dreifacher Weise äußert sich im Allgemeinen diese Macht. Erstens in der Weise, daß sich der etwaigen Neigung bei Anderen, jenen Willen oder jene Interessen zu verletzen, Beweggründe von durchschnittlich höherer Kraft entgegensetzen, seien es Beweggründe moralischer oder nicht moralischer Art, seien es Motive der Achtung oder der Furcht, in der Regel Motive von beiderlei Natur. Ferner darin, daß hinsichtlich etwaiger Angriffe, welche trotz jener Beweggründe möglich bleiben, eine tätige Abwehr in Aussicht gestellt ist; schließlich in der Weise, daß etwa vollbrachte Verletzungen regelmäßig Gegenwirkungen hervorrufen, welche mehr oder weniger geeignet sind, diese Verletzungen, so weit die Natur der Dinge es zuläßt, unschädlich zu machen oder auszugleichen und die Kraft jener Beweggründe zu bestärken. Die Formen, in welchen sich diese Machtäußerungen in den bezeichneten Richtungen vollziehen, bestimmen sich auf verschiedenen Stufen der geschichtlichen Entwicklung verschieden. Es stellen sich den Formen der Selbsthilf die Formen der obrigkeitlichen Hilfe gegenüber und hinsichtlich beider lassen sich wieder wichtige Verschiedenheiten verkennen. Daß dieselben für unser Problem bedeutsam sind, ist leicht zu erkennen, mag aber einstweilen auf sich beruhen.

Diese Verschiedenheit der Formen, in welchen sich die Rechte als eine Macht bewähren, hängt mit der Verschiedenheit der Quellen dieser Macht zusammen. Vor allem kommt hierbei das Verhältnis in Betracht, in welchem zwei von diesen Quellen sich nebeneinander geltend machen. Die  eine  liegt in den Machtmitteln, die der Einzelne von sich aus im Kampf um das subjektive Recht einzusetzen vermag und entschlossen ist. Die  andere  liegt in einem sozialen Element (das Wort sozial im weitesten Sinne genommen): in Interessen, Gewohnheiten, Überzeugungen, welche innerhalb der Gesellschaft oder bestimmter Verbände oder gesellschaftlicher Gruppen mächtig und verbreitet sind, in Einrichtungen, welche jenen zur Stütze dienen und ihren Einfluß auf das Verhalten der Einzelnen verbürgen etc. In Bezug auf das Verhältnis dieser beiden Machtquellen zueinander macht sich in der Entwicklungsgeschichte des Rechtslebens eine für unsere Frage bedeutsame Tendenz in beharrlicher Weise geltend. Dieselbe geht auf die Minderung der Abhängigkeit des subjektiven Rechts von der erstgenannten, individuelen, der Steigerung dieser Abhängigkeit von der anderen, sozialen Machtquelle. Der Fortschritt in dieser Richtung wird uns in der Folge beschäftigen. Hier haben wir uns zunächst dem objektiven Recht zuzuwenden.

Dieses  objektive Recht  fällt innerhalb gewisser Grenzen mit dem sozialen Faktor zusammen, dessen Einfluß auf die Existenz der subjektiven Rechte soeben hervorgehoben worden ist. Dieser Faktor heißt, insofern er in gewissen, hier nicht näher interessierenden Formn zur Erscheinung kommt und sich betätigt (ich erinnere an das gerichtliche Verfahren), "Recht" im objektiven Sinn dieses Wortes. Auch dieses nun stellt sich in dem hervorgehobenen Zusammenhang als eine Macht von eigentümlicher Beschaffenheit und Wirkungsweise dar. Es ist motiviert, darauf Nachdruck zu legen, da diese Natur des Rechts in der Wissenschaft nicht immer zu voller Geltung kommt. Nicht selten wird vom Recht in einer Weise gehandelt, als gehöre dasselbe seinem Wesen nach überhaupt nicht dem realen Leben, sondern als ein logisches Prinzip der Welt des Denkens und der bloßen Vorstellungen an, oder als hätten wir es in ihm mit Regeln und Anwendungen von solchen zu tun, von welchem es bloß zufällig ist, wenn sie in der Praxis des Lebens hervortreten und auf dessen Verlauf und Gestaltung einen bestimmenden Einfluß äußern. Ich lasse dies hier beiseite, um mich einer wichtigen Eigenschaft zuzuwenden, welche wir dieser Macht des objektiven Rechts und ihrer Wirksamkeit zuschreiben. Wo diese Macht nämlich im Streit um subjektive Rechte angerufen wird, da besteht die Voraussetzung, daß die Wirksamkeit derselben von einem Standpunkt ausgeht, welcher außerhalb der kollidierenden Ansprüche und Interessen liegt, diesen gegenüber also ansich als ein  neutraler  erscheint, und daß dabei ein Maßstab angelegt wird, zu welchem die streitenden Parteien sich, von der einzelnen Streitsache abgesehen, gleichmäßig bekennen können, ohne sich selber damit aufzugeben. Diese Eigenschaft würde als eine uneingeschränkt bestehende und allseitig unter allen Umständen sich bewährende voraussetzen, daß sich das objektive Recht selbst unabhängig von allen konkurrierenden Mächten und deren Kraftverhältnissen bildet, fortbildet und seine Herrschaft behauptet, - eine Voraussetzung,welche, wie später noch näher auszuführen sein wird, nicht zutrifft und sich nicht verwirklichen kann. Aber eine auf die Verwirklichung jener Eigenschaft gerichtete Tendenz macht sich gleichwohl in der Geschichte des Rechtslebens beständig geltend. Ja, es würde ohne sie das Recht überhaupt nicht existieren. Wir haben es hier mit einem schöpferischen Prinzip von universeller Wirksamkeit, deren Geschichte diejenige der Entstehung des Rechts und der extensiven und intensiven Entwicklung seiner Herrschaft gänzlich in sich begreift, zu tun. Wo immer aus der Konkurrenz, in welche sich die Glieder der menschlichen Gesellschaft mit ihren Interessen auf allen Lebensgebieten zueinander gestellt finden, Konflikte hervorgehen und in Machtkämpfen eine Entscheidung suchen, da regen sich auch die Kräfte, in welchen jene Tendenz ihre Träger hat. Das Bedürfnis, jene Kämpfe und die daraus für die Streitenden selbst und für Dritte hervorgehenden Gefahren und Übel in irgendwelche Grenzen einzuschließen, drängt zur Ausbildung neutraler Instanzen, welche,  den Konflikten selbst fremd, den Streitenden aber befreundet,  von ihnen angerufen werden können, und welche ein Bereich des Friedens unter ihnen herzustellen und für die Befriedigung gemeinsamer Interessen Spielraum zu schaffen vermöchten. Sind die Verhältnisse, in welchen sich jene Konflikte ergeben, dauernder Art - Verhältnisse der Nachbarschaft, gemeinsamen Besitzes oder der Verbindung gemeinsamen Aufgaben gegenüber - so scheint die einzige Voraussetzung, an welche das Hervortreten einer solchen (sei es nun wirklich oder scheinbar) neutralen Instanz gebunden ist, in einer solchen Verteilung der Machtmittel zwischen den einandergegenüberstehenden Parteien zu liegen, welche die dauernde Unterjochung der einen durch die andere ausschließt. In mancherlei Formen aber führt diese Macht sich ein: in Gestalt gemeinsam anerkannter Autoritäten und deren Ansprüchen, etwa gemeinsam angerufener, gleichviel durch welche Organe sich äußernder Götter und deren Offenbarungen, in Gestalt gemeinsamer Überzeugungen und Gewohnheiten, in Gestalt von Bündnissen und Verträgen und in anderen Formen. Es ist jenes soziale Element, welches uns bereits beschäftigt hat, und auf welches wir, insofern es sich in gewissen Formen kund gibt, Begriff und Namen des objektiven Rechts angewendet haben. Das System der subjektiven Rechte aber ist ein Ausdruck für die Machtverhältnisse unter den konkurrierenden Subjekten, insofern die Gestaltung und der Bestand derselben unter dem Einfluß jener neutralen Macht des objektiven Rechts stehen.

Hinsichtlich dieses letztern schwebt uns ein Ideal vor, dessen Elemente bereits bei Gelegenheit der Erwähnung zweier geschichtlicher Tendenzen bezeichnet worden sind. Dieselben betreffen  die Ausdehnung seines Herrschaftsgebietes  und  die reine Verwirklichung des ihm eigentümlichen Prinzips.  Wir würden dieses Ideal verwirklicht finden in einem Recht von allumfassender Wirksamkeit, welchem jeder huldigen könnte, weil es dem Widerstreit der Sonderinteressen gegenüber das den Streitenden Gemeinsame unter Anwendung des gleichen Maßes für alle zum Ausdruck und so das "suum cuique" [Jedem das Seine. - wp] zu gleichmäßiger Verwirklichung, und weil es dem Widerstreit der Meinungen und Urteile gegenüber die Wahrheit in menschlichen Dingen rein und widerspruchslos zur Geltung brächte. Hierbei haben wir es nicht mit einem willkürlichen Gebilde der Phantasie zu tun, vielmehr mit einem Reflex der lebendigen Wirksamkeit jener schöpferischen Kräfte in ihrem Spiegel. Es ist der Geist des Rechtes selbst, dessen Bild uns in diesem Spiegel, isoliert und harmonisch ausgestaltet, entgegentritt. Die Geschichte des Rechts, insofern sie sich in aufsteigender Linie bewegt, hat das Mächtigwerden dieses Geistes zum Inhalt.

Es soll nun meine Aufgabe sein, diese Geschichte unter dem bezeichneten Gesichtspunkt näher zu beleuchten. Sie stellt uns eine  fortschreitende Verfeinerung und Veredlung der Beziehungen zwischen Recht und Macht  dar. Der hier verbleibende, durch keinen Fortschritt zu bewältigende Rest, dessen bereits gedacht worden ist, wird uns zum Schluß noch etwas spezieller beschäftigen.


III.

Ich bezeichne zunächst gewisse Ausgangspunkte der Entwicklung des Rechts, welche bezüglich mehrerer Teile desselben und für eine größere Zahl von Völkern beglaubigt sind.

Ein solcher liegt, worauf schon hingewiesen wurde, in der ausgedehnten Herrschaft der  Selbsthilfe  und also der Abhängigkeit der Rechte hinsichtlich ihrer  Geltendmachung  von den Machtmitteln, welche der Berechtigte von sich aus dafür einzusetzen vermag. Der Streit um dieselben zeigt im Allgemeinen die Tendenz, seine Entscheidung im physischen Kampf zwischen den Streitenden, also aufgrund der Anwendung jener individuellen Machtmittel zu suchen. Manche Einrichtungen eines schon entwickelteren Gemeinlebens wie das Gottesurteil des gerichtlichen Zweikampfs und das Institut der Eideshelfer bei den Deutschen sowie gewisse älteste Prozeßformen bei den Römern weisen auf diesen Stand der Dinge zurück. Der Einfluß des neutralen Faktors, der hier vornehmlich in der Form der Sitte und gewisser religiöser Vorstellungen erscheint, schränkt zwar das Gebiet des Streites unter den Gemeinde- und Stammesgenossen ein, verpönt aber innerhalb desselben die Selbsthilfe nicht, sondern sanktioniert sie. Speziell gilt das von derjenigen Form der Selbsthilfe, welche sich am zähesten behauptet, von der Rache. Von ihr wird weiterhin in eingehenderer Weise zu handeln sein. Insoweit nun das Prinzip der Selbsthilfe Geltung hat, ist der Triump des subjektiven Rechts gegebenfalls  von einer Machtprobe zwischen dem Berechtigten und seinen Gegnern abhängig,  und demgemäß individuelles Recht und individuelle Macht durch ein enges Band verbunden.

Die Abhängigkeit von der letzteren besteht wie für die Geltendmachung so auch für den  Erwerb  der Rechte. Die Betätigung individueller Macht als solcher bildet wol den ursprünglichsten aller Erwerbstitel. Unter den wohlerworbenen Gütern ist auf dieser Stufe das Beutestück, wie bei den Indianern der Skalp des erschlagenen Feindes, das besterworbene. Ursprünglicher Auffassung entspricht ohne Zweifel die Ansicht des Kindes, das bei GOETHE über die Herkunft seiner Spielsachen Auskunft gibt. "Woher mein Kind hast Du die schönen Sachen? Vom Papa. Und der? vom Großpapa. Woher hat sie der Großpapa bekommen? Der hat sie genommen."

Der Raub gelangt nur langsam zu der Stellung, welche er in der modernen ethischen Rechtsanschauung einnimmt. In ursprünglicheren Zuständen begründet speziell das in ihm enthaltene Moment der Gewalt ansich keinen Vorwurf, außerhalb des Kreises der Genossen ausgeführt einen Anspruch auf Achtung. Noch für Perioden eines im Übrigen schon höher entwickelten Volkslebens gilt das Wort:
    "Reiten und Rauben ist keine Schande,
    Das tun die Besten im Lande."
Über sie hinaus behauptet der Strandraub die Bedeutung eines legitimen Erwerbstitels. Bedeutsamer ist, daß auf dieser Stufe das Recht der Eroberung und das Beuterecht, wie überhaupt das Recht des Siegers im Krieg weit über ihre heutigen Grenzen hinausgehen. Vom Recht, die Besiegten zu Sklaven zu machen, abgesehen, umfassen sie u. a. das Privateigentum der Besiegten ganz und gar. WILHELM der Eroberer verteilte diesem Recht gemäß nach der Schlacht bei Hastings das gesamte Grundeigentum von England unter seine Genossen. Das ist die historische Grundlage des englischen Agrarrechts. Ähnliches ist anderswo, in älterer Zeit normalerweise, geschehen. Im besonderen Bereich des Seeverkehrs hat sich der Raub zur Zeit des Kriegs noch bis in unser Jahrhundert herein als eine legitime Erwerbsart von Privateigentum behauptet. In den vorausgehenden Jahrhunderten hat er eine der vornehmsten Quellen des Reichtums für die zur See mächtigste Nation gebildet.

Weit größere Bedeutung noch hat das Analogon dieser Begründungsweise für die Geschichte des öffentlichen Rechts. Die Grundlagen des europäischen Staatensystems sind, wie nicht ausgeführt zu werden braucht, durch eine Summe von reinen Machtentscheidungen geschaffen worden.

Innerhalb der einzelnen Staaten haben Machtverschiedenheiten, was auch immer ihre Quelle gewesen sein mochte, insofern sie Bestand hatten, regelmäßig ihre Ausdruck in einer verschiedenen Rechtsstellung gefunden. So erscheint von Haus aus der Mann im Besitz höherer Rechte als die Frau, der Krieger dort, wo eine Scheidung von Ständen stattgefunden hat, im Besitz höherer Rechte als der Handwerker, der Priester, dem die Macht der Götter zur Verfügung steht, im Besitz höherer Rechte als der Laie. Trug die Entwicklung der wirtschaftlichen Verhältnisse eine Gesellschaftsklasse empor, so pflegte sie überall erfolgreich bemüht zu sein, wie ihre Paläste mit Bildwerken, so ihr Recht mit Privilegien zu auszuschmücken. Der glänzende Besitz zeigte bei allen Völkern eine natürliche Anziehungskraft für das ehrende Vorrecht, und die wirtschaftliche Schwäche und Abhängigkeit eine natürliche Neigung, sich in einer rechtlichen Abhängigkeit auszuprägen. So sank die freie deutsche Bauernschaft dereinst in breiten Massen auf die Stufe der Leibeigenschaft herab. Privilegien aller Art haben, vermöge der Macht, welche sie verleihen, eine der letzteren entsprechende Anlage zum Wachstum, sowie dort, wo sie zuerst an bestimmte Leistungen gebunden waren, die Fähigkeit, sich nach dem Wegfall dieser Leistungen ungemindert zu behaupten, erwiesen. Eine Gleichheit der Rechtsstellung erschien, wenn wir von den höchsten Stufen der Entwicklung des Rechtsstaates, die bisher erreicht worden sind, absehen, nur dort als gesichert, wo hinsichtlich der Bedingungen wirtschaftlicher Macht kein allzugroßer Gegensatz zwischen den verschiedenen Volksklassen bestand. Die ursprüngliche Voraussetzung für die  Entstehung  von Rechtsverhältnissen zwischen vorher selbständigen Gruppen, deren früher gedacht worden ist, nämlich eine solche Verteilung der Machtmittel, welche die definitive Unterjochung der Einen durch die Anderen ausschließt, hat sich im Großen als eine Voraussetzung auch für den dauernden  Bestand  der Rechtsverhältnisse herausgestellt. Wo sie wegfiel, da ging zunächst die Rechtsgleichheit, wenn sie etwa bestanden hatte, unter, weiterhin das Recht der Schwächeren überhaupt. Dem Rechtsverhältnis zwischen ihnen und der stärkeren Partei substituierte sich gegebenenfalls das einfache Machtverhältnis in der Gestalt des Verhältnisses zwischen Herrn und rechtlosen Knechten.

Im weitesten Umfang erhielt sich bis zur Gegenwart der ursprüngliche Zusammenhang zwischen subjektiven Rechten und subjektiver Macht, sowohl in Bezug auf den Erwerb wie in Bezug auf die Geltendmachung der ersteren auf dem Gebiet des internationalen öffentlichen Rechts. In diesem Bereich behauptet die Konkurrenz um die günstigeren Bedingungen des Lebens infolge der Schwäche und geringen Entwicklung des neutralen Faktors zum Teil noch ihre primitiven Formen. Zwar kommt die Exisenz desselben auch hier in manngfacher Weise, worauf noch zurückzukommen sein wird, zum Ausdruck, unter anderem in der gegenseitigen Anerkennung von Rechten, wie sie unter den Kulturvölkern stattfindet. Aber diese Anerkennung knüpft vielfach an einfache, in jenen ursprünglichsten Formen erfolgte, Machtentscheidungen an, und verhindert nicht, daß der Streit um diese Rechte seine Erledigung in den wichtigsten Fällen ebenfalls in der Form, bz. aufgrund elementarer Machtentscheidungen findet. Gewalterwerb gestaltet sich hier zum Rechtserwerb, insofern er sich behauptet, ohne daß zwischen demjenigen, der "genommen" hat und demjenigen, der den Besitz als rechtmäßigen geltend macht, eine Ahnenreihe zu liegen braucht. Demgemäß hat der Herrscher  de facto  in diesem Bereich die nämliche Rechtsstellung wie der legitime Herrscher, der neugebildete Staat, der sich auf der Grundlage des bisherigen Rechts erhob, keine andere als derjenige, der durch die gewaltsame Zerstörung des letzteren emporkam. Der Krieg erweist sich hier fortwährend als eine reichlich fließende Quelle neuen Rechts, wobei der Maßstab für dessen Bildung nicht in irgendeinem höheren Prinzip zu suchen ist, sondern im Ergebnis der Machtprobe, welche der Krieg den kämpfenden Parteien auferlegt. Die Gegenwirkungen gegen Verletzungen dieser Rechte bleiben ferner für die Regel dem Berechtigten selbst überlassen und vollziehen sich normalerweise in den Formen der Selbsthilfe. Die Bereitschaft zu letzterer erscheint als die wichtigste Bedingung für den gesicherten Bestand der Rechte selbst. Rechte, welche sich nicht neben jener neutralen Macht auf die Waffen des Berechtigten stützen können, lassen sich, um an ein Wort FRIEDRICH des Großen zu erinnern, einer Musik vergleichen, welche zwar auf Noten gesetzt ist, für deren Ausführung aber keine Instrumente existieren.

Überall, wo die Verhältnisse den bezeichneten Charakter hatten oder haben, zeigt sich  die Rechtsqualität eines Besitzes  im Wesentlichen  unabhängig von der Art wie derselbe erlangt worden ist.  Die Anerkennung dieser Qualität schließt daher nicht allgemein eine ethische Billigung der auf den Erwerb gerichteten Handlungen ein, auch ist ein näheres Verhältnis zwischen ihnen und den gemeinsamen Interessen, auf welche im übrigen das objektive Recht hinweist, nicht vorausgesetzt. Die Macht dieser Interessen erstreckt sich hier nur in einem geringen Maße auf die Regelung der dem Erwerb zugrunde liegenden Vorgänge. Die Anerkennung der erworbenen Rechte wendet sich daher wesentlich der  Zukunft  zu. Sie ist in dieser Richtung Ausdruck einer Voraussetzung und eines Wunsches: der Voraussetzung, daß die Macht, welcher die Rechtsqualität beigemessen wird, Bestand haben wird und bei den Berechnungen des friedlichen und feindlichen Verkehrs als eine gegebene Größe in Betracht gezogen werden kann; des Wunsches, daß die Voraussetzung sich bewähren und daß der gegebene Zustand die Grundlage einer Friedensordnung abgeben möge, daß demgemäß Gewalt und Willkür, welche Rolle sie auch bei der Begründung gespielt haben sollten, über das fernere Schicksal der Rechte nicht entscheidend sein möchten. Mit diesem Wunsch aber, der hier noch eine beschränkte Verwirklichung findet, weist sie auf eine Überschreitung dieser Entwicklungsstufe hin.


IV.

Der Fortschritt über den soeben bezeichneten Stand der Dinge hinaus ist bedingt durch eine höhere Konzentration von Machtmitteln an der Stelle, von wo die neutralen Entscheidungen und Anordnungen ausgehen sollen, und ist charakterisiert durch das Eintreten der neutralen Macht in eine aktivere, die Begründung und die Aufrechterhaltung der subjektiven Rechte gleichmäßig umfassende Rolle.

Aus dem Grund der gemeinsamen Überzeugungen, Gewohnheiten und Bedürfnisse erhebt sich jene Macht in immer bestimmteren und ausgebildeteren Formen, und es befestigen, gliedern und vervielfältigen sich die Einrichtungen, mittels deren sie ihre Herrschaft behauptet und zugleich deren Grenzen auszudehnen und sie intensiver zu gestalten strebt.

Die Folge ist, daß im Streit und der Entscheidung über das subjektive Recht die Macht der Streitenden in steigendem Maß abgelöst wird durch jene übergeordnete Macht, womit eine doppelte Reihe von Änderungen verbunden ist. Die eine betrifft die  Formen,  inwelchen die den Erwerb und die Geltendmachung der Rechte betreffenden Streitigkeiten ihre Erledigung finden, die anderen den  Maßstab,  der dabei zur Anwendung gelangt. Jene Erledigung findet nun nicht mehr aufgrund einer Machtprobe zwischen den Streitenden, sondern aufgrund eines Beweisverfahrens vor den Organen jener übergeordneten Macht über bestimmte Tatsachen statt, und bei der Würdigung dieser Tatsachen macht sich mit wachsender Selbständigkeit und Energie der eigentümliche Standpunkt jener Macht geltend. Die Rechtsfrae gestaltet sich hier zu einer Frage nach der besseren Sache, der besseren Sache im Licht der Interessen und Überzeugungen, welche die Macht des objektiven Rechts erhoben haben. Die Anerkennung eines Anspruchs hat nun gleich eine wesentliche Beziehung auf Vergangenheit und Zukunft. Sie schließt fortan ein ethisches Werturteil über die der Vergangenheit angehörigen, dem Anspruch zugrunde liegenden Vorgänge in sich. Im Zusammenhang mit diesen Änderungen verringert sich die Bedeutung des Gegensatzes zwischen Starken und Schwachen im Bereich des Rechtslebens. Ja, das objektive Recht tritt sogar auf dem Gebiet seiner so erweiterten und befestigten Herrschaft in einem gewissen Gegensatz zur Macht, indem es dort in seiner eigentümlichen Bedeutung als eine unparteiische höhere Gewalt am Entschiedensten hervortritt, wo es seinen Schild über den Schwachen hält. Auf diese Tatsache weist ein Wort NAPOLEONs I. hin, das hier angeführt zu werden verdient. Danach sind Recht und Sitte zugunsten der Schwachen, als eine Fessel für den Starken erfunden. Die relative Wahrheit dieser Behauptung liegt zutage. Übersehen ist dabei aber, daß keiner schlechthin der Stärkere ist, daß jedenfalls keiner die Gewähr dafür hat, daß er stets als solcher erscheinen wird. Im Bewußtsein hiervon hat das Recht, wie schon früher angedeutet worden ist, die allgemeinste Quelle seiner Kraft, womit es zusammenhängt, daß diejenigen, welchen dieses Bewußtsein fehlt, entweder das Recht, wie NAPOLEON I. als für sich unverbindlich betrachten, oder sich der Entwicklung desselben und der Ausbreitung seiner Herrschaft, etwa wie England in Bezug auf das internationale Seerecht, zu widersetzen pflegen.

Die Organisation, welche den charakterisierten Fortschritt innerhalb der einzelnen Ländert vermittelt, bildet den Kern der staatlichen Organisation. Der Ausbildung dieser letzteren geht die Ausbreitung der Herrschaft des Rechts zur Seite.

Diese Ausbreitung fällt nich in allen ihren Einzelheiten und verschiedenen Stadien gleichmäßig ins Licht der Geschichte. Am meisten ist dies der Fall bezüglich der Entwicklung des Strafrechts. Deshalb hier zunächst ein kurzer Hinweis auf diese. Er wird jenen Fortschritt in seinen bedeutsamsten Momenten vor Augen stellen.

Gehen wir auf die Vorstufen der staatlichen  Strafjustiz  zurück, so gelangen wir zur Herrschaft der Selbsthilfe in Form von Rache. Dieselbe steht unter dem Einfluß der Sitte und der religiösen Vorstellungen, hinter welchen sich das gemeinsame Interesse am Bestand des öffentlichen Friedens geltend macht. Aber die Kräfte, welche diese neutrale Macht für sich in Bewegung setzt, nämlich die Interessen, Leidenschaften und Machtmittel er am Streit selbst Beteiligten, dienen ihr in unvollkommener Weise. Der Triumph des subjektiven Rechts bleibt im Einzelfall abhängig von der Zufälligkeit eines Übergewichts der Macht auf der Seite des Berechtigten und ist insofern von ihr unabhängig, und selbst in dem Fall, wo das subjektive Recht triumphiert, ist der allgemeinen Sache des öffentlichen Friedens nur ein beschränkter Gewinn geboten. Denn jener Triumpf ist nicht geeignet, den schwebenden Streit zum Abschluß zu bringen, da er als Triumph einer Partei erscheint und als solcher gefeiert und ausgebeutet wird. Er enthält daher ein Motiv für die Gegenpartei zu erneuten Anstrengungen, um die eigene Niederlage durch eine Niederlage des Gegners wettzumachen. Der Fortschritt über diese Stufe hinaus ist davon abhängig, daß jene neutrale Macht neutrale Werkzeuge findet und mittels derselben einen maßgebenden Einfluß auf die Erledigung des Streites ausübt. Es geschieht dies unter dem Druck der Übel, welche aus dem endlosen Streit nicht bloß für die unmittelbar Beteiligten, sondern auch für die anderen, für die Gemeinde, für den Stamm hervorgehen und in der Bekämpfung derselben eine Allen gemeinsame Aufgabe erkennen lassen. Und es geschieht in mannigfacher Weise. Unter anderem durch die Begünstigung der Flucht des Verbrechers seitens der Gemeindegenossen und die Begünstigung eines nachfolgenden friedlichen Ausgleichs zwischen den Parteien. Gar trefflich, heißt es bei EURIPIDES,
    "Gar trefflich ward dies von den Vätern eingesetzt,
    Daß aus der Leute Augen wich und nicht im Volk
    Sich zeigen durfte, wer die Hand mit Blut befleckt,
    Nicht wieder sterben sollt' er, sondern durch die Flucht
    Entsühnung suchen; denn des Blutes wäre sonst
    Ein Ende nie gewesen; und der letzte Mord
    Hätt' immer frische Rach' und neuen Mord gezeugt."
Man stellt ferner die Bußsätze fest, welche von der einen Seite genommen, von der anderen gegeben werden können, unbeschadet der beiderseitigen Ehre, man zwingt den Verbrecher zur Zahlung der Buße, sofern es vom Berechtigten gefordert wird. Den vermittelnden Nachbarn und Freunden substituiert sich im Fortgang der Entwicklung die Gemeinde, der Fürst, der Staat, und die bloß vermittelnde Rolle des neutralen Faktors wird durch die eines allseitig bestimmenden, die Sache in immer weitergehendem Umfang in die eigene Hand nehmenden Herrn abgelöst. Die Selbsthilfe wird verpönt, die Klage des Verletzten wird durch die öffentliche Klage, die Verfolgung im Namen jenes durch die Verfolgung im Namen der neutralen Macht selbst verdrängt. Das Sühnegeld wird fortan der letzteren, nicht mehr der Partei bezahlt. Da man, wie ein Rechtssprichwort lautet, "sein eigenes Blut nicht trinken kann", so empfängt jene höhere Gewalt die Buße anstelle der Sippe des Erschlagenen. Zugleich ändert sich der Charakter dieser Buße dem Standpunkt dieser übergeordneten Gewalt gemäß. So entwickeln sich die Normen des öffentlichen Strafrechts. Das Bestreben, deren unparteiliche Anwendung zu sichern und zu verhüten, daß nicht die Justiz selbst zum Schauplatz der Parteikämpfe wird - nun nicht mehr zwischen einzelnen Individuen oder Familien, sondern zwischen sozialen oder politischen Parteien - und zu verhüten, daß der Angeklagte unter dem Einfluß von Sonderinteressen und Affekten auf die Organe der Justiz selbst leidet, ist bestimmend für eine andere Reihe von Einrichtungen und Maßregeln. Hierher gehört das Asylrecht, welches in der Geschichte zahlreicher Völker eine Rolle gespielt hat und im Bereich der internationalen Gemeinschaft sich noch in gewissen Grenzen behauptet. Dasselbe eröffnet dem Angeklagten, den von Parteien und deren Affekten abhängigen Organen der öffentlichen Gewalt gegenüber Zufluchtsstätten, ähnlich wie jene von EURIPIDES gefeierte Sitte ehedem der Sippe des Verletzten gegenüber, damit den Freunden und der Zeit eine vermittelnde Einwirkung ermöglicht wird. Unter günstigeren Verhältnissen ist die Reform darauf gerichtet, die hauptsächlichsten Organe des Rechts, die Gerichte, über das Niveau aller Parteikämpfe emporzuheben und ihre Stellung in einer Höhe zu befestigen, an welche auch die Leidenschaften und Sonderinteressen der Mächtigsten mit ihrem Einfluß nicht heranreichen können. Es gehört dahin die durchgreifende Scheidung der Rechts anwendung  von der Rechts setzung,  die Trennung der Justiz von der Verwaltung, das ausschließliche Binden der richterlichen Wirksamkeit an das Gesetz, die Vereinigung bürokratischer und volkstümlicher Elemente in den gemischten Gerichten usw.

Dieser formalen Entwicklung gehen, wie schon angedeutet wurde, Änderungen hinsichtlich des sachlichen Maßtstabes, der bei der Behandlung der Verbrechen angelegt wird, zur Seite. Dieselben betreffen, insofern in ihnen ein inneren Zusammenhang und ein Fortschritt erkennbar sind, die allseitigeres und gleichmäßigere Abwägung und Berücksichtigung der direkt und indirekt - auch auf der Seite des Verbrechers - beteiligten Interessen im Sinne unseres neutralen Prinzips.

Jene zuerst berührte formale Entwicklung hat in ihren, die Gerichte betreffenden Momente keine ausschließliche Beziehung auf das Strafrecht. Ihre Bedeutung ist eine universelle. Speziell gilt das hierüber Beigebrachte in der Hauptsache auch für die  Zivilrechtspflege.  Auch im Bereich ihrer Geschichte lassen sich ferner jene beiden Arten von Reformen, welche unter den hier festgehaltenen Gesichtspunkt fallen, konstatieren. Den die Form der Erledigung von Rechtssachen betreffenden, stellen sich auch hier solche zur Seite, welche auf den sachlichen Maßstab Bezug haben, der dabei zur Anwendung kommt. Eine der bedeutsamsten Seiten der Gesamtgeschichte des Rechts liegt in der allmählich sich vollziehenden Neutralisierung politischer, nationaler, konfessioneller und gesellschaftlicher Gegensätze und mit ihnen zusammenhängender Machtungleichheiten in Bezug auf die Fähigkeit zur Erwerb von Privatrechten und die allgemeinen Bedingungen des Erwerbs, sowie in Bezug auf die erfolgreiche Geltendmachung von solchen. Der Fortschritt hat hier dahin geführt, daß jene Fähigkeit mit der menschlichen Persönlichkeit als solcher verknüpft wird, daß im Werben um jene Rechte der individuelle Wille dem individuellen Willen grundsätzlich gleich gesetzt und die rechtliche Wirksamkeit dieses Willens überall nach dem gleichen Maß beurteilt wird. Wenn der moderne Kulturstaat einem jeden, der ein menschliches Antlitz trägt, jene Rechtsfähigkeit zuerkennt und einem jeden, welcher Nation, Konfession und Gesellschaftsschicht er auch angehören mag, den gleichen Schutz für seine wohlerworbenen Rechte durch seine unparteiischen Gerichte in Aussicht stellt, so liegt darin ein Triumph der nämlichen Kräfte, auf welche die Entstehung des Rechts selbst und die Entwicklung all seiner Teile zurückzuführen sind. - Erwähnt sei noch, daß unter unseren Gesichtspunkt alle Änderungen des Sachenrechts, in welchen eine umfassendere Würdigung der begründeten Tatsachen zum Ausdruck kommt (man vergleiche z. B. das altdeutsche Recht der  Gewere  mit dem römischen Eigentums- und Besitzrecht), ferner alle Vorgänge und Bestrebungen fallen, welche dem Faktor der Arbeit eine steigende Bedeutung verleihen im Gegensatz zur bloßen Machtäußerung (Okkupation), sowie das Hervortreten der rationellen Gründe des Eigentums in den die Umbildung des Rechts beeinflussenden Anschauungen.

Auch in den anderen Rechtsgebieten sehen wir jene Kräfte am Werk, obgleich die Bedingungen für die Begründung und Ausbreitung der Herrschaft des neutralen Faktors überall sonst weniger günstig liegen. Letzteres ist z. B. im  Staatsrecht,  wie leicht zu erkennen ist, der Fall. Jener Faktor sieht sich hier im Ringen um die Herrschaft im Staat und um deren Ausbreitung oder Beschränkung gewaltigeren Kräften gegenüber, während die Quellen seiner eigenen Macht hier spärlicher fließen, und der Ausbildung seiner Organe sich weitaus größere Hindernisse entgegenstellen als in den zuvor ins Auge gefaßten Gebieten. Es handelt sich hier darum, die Träger der herrschenden Gewalt, welche das Recht selbst mit überlegenen Waffen ausrüstet, mit Schranken zu umgehen und am Mißbrauch jener Waffen zu verhindern. Vielen schien dies eine widerspruchsvolle und deshalb einfach fallen zu lassende Aufgabe zu sein. Gelehrte früherer und jüngster Zeit haben gemeint beweisen zu können, daß die oberste Gewalt im Staat nicht mit wirksamen Kontrollen und Schranken umgeben werden kann, weil innerhalb der nämlichen Sphäre nur  eine  höchste Gewalt bestehen kann. Sie übersahen, daß denkbarerweise die in gemeinsamen tiefwurzelnden Überzeugungen und Gewohnheiten wurzelnde Kraft des neutralen Faktors selbst, etwa in Gestalt eines überlieferten, vom Rechtsgefühl und lebhaft empfundenen Bedürfnissen aller Klassen getragenen Verfassungsrechts, die höchste Kraft innerhalb eines Gemeinwesens sein kann. Sie übersahen ferner, daß die Macht des Königs, welche sich in einem gegebenen Moment als die höchste darstellt, keine unabänderliche Größe ist, daß dieselbe vielmehr jederzeit einem Prozeß entweder des Wachstums oder des Absterbens unterliegt, daß sie an zahlreiche, den mannigfachsten Einflüssen unterliegende Bedingungen gebunden ist, und daß zu diesen Einflüssen auch derjenige des neutralen Faktors gehört. Der Gang einer fortschreitenden Entwicklung aber führt zu einer Steigerung dieses letzteren Einflusses und zur Ausbildung dieses Faktors selbst auch in dieser Sphäre. Es ist das Kennzeichen des "Rechtsstaats", daß jener hier eine wirkliche Macht repräsentiert. Von dem in Deutschland, England usw. gegenwärtig geltenden öffentlichen Recht können dies unbedenklich behaupten, da dasselbe alle öffentlichen Gewalten mit Schranken umgibt, welche nicht leicht übersprungen werden dürften, und den Rechten der Regierenden und Regierten grundsätzlich und nicht erfolglos die gleiche Unverletzlichkeit zusichert. Auch gehört seit längerer Zeit bei uns hervortretende Bemühung um eine vollständigere Ausbildung der Rechtspflege des öffentlichen Rechts und damit der wichtigsten Organe unseres Faktors für dieses Gebiet hierher.

Der geschichtliche Fortschritt enthält demgemäß auch hier die schon öfter unterschiedenen Momente, eine Zurückdrängung von Eigenmacht und Selbsthilfe durch eine unparteiische gerichtliche Wirksamkeit und die Minderung des Einflusses zufälliger Machtverhältnisse und bloßer Parteiinteressen auf die Begründung, Verteilung und Abrgrenzung der subjektiven Rechte. Letzteres im Zusammenhang mit der Ausbildung theoretischer Systeme (die Geschichte der Rechtsphilosophie gehört in der Hauptsache hierher), in welchen der dem neutralen Rechtsstandpunkt entsprechende Maßstab für diese Begründung, Verteilung und Abgrenzung, im Sinne der Empfindungsweise bestimmter Zeitalter oder auch bestimmter gesellschaftlicher Gruppen, immer aufs Neue aufgestellt worden ist und aufgestellt wird. Ein Fortschritt der fraglichen Art liegt unter anderem in der Hervorkehrung der Pflichtseite bezüglich der Ausübung öffentlicher Rechte. Im Allgemeinen wird heut, was nicht immer der Fall gewesen ist, hinsichtlich der Verwalung der gemeinsamen Angelegenheiten durch die öffentlichen Funktionäre die Pflicht als das Primäre, das Recht aus das Sekundäre, welches sich nach jener bemißt und von der Fähigkeit und dem Willen zur Erfüllung derselben abhängig bleibt, betrachtet. Wo im Gegensatz hierzu eine Herrschaft über Andere oder irgendein Entscheidungsrecht in öffentlichen Dingen "kraft eigenen Rechts" ausgeübt wird, da haben wir es in Wahrheit mit dem Prinzip der Macht zu tun. Denn der wesentliche Sinn jener Formel ist nicht verleugnet, wenn wir ihr die andere substituieren: "kraft eigener Macht". Und freilich, das Regieren kraft eigenen Rechts ist nirgends vollständig verdrängt. Vielmehr behauptet es sich überall, zumindest an der obersten Stelle im Staat, in Republiken ebenso wie in Monarchien. Das "souveräne Volk" herrscht ebenso kraft eigenen Rechts wie der Monarch, und der Wille des ersteren ist wie der des letzteren nur kraft einer Fiktion identisch mit dem alles Menschliche gleichmäßig umfassenden neutralen Prinzip des Rechts.

Auch auf  internationalem Gebiet  zeigen sich jene Kräfte, wenn auch bisher, wie schon bemerkt wurde, mit dem geringsten Erfolg, geschäftig. Auch hier geschieht es, daß gemeinsame Überzeugungen und Gewohnheit und ein Bewußtsein gemeinsamer Interessen sich herausbilden, und daß in ihnen ein neutrales Maß,bedeutsam für die Vermeidung und die Schlichtung von Konflikten, gewonnen wird; daß unter ihrem Einfluß das Gebiet der Selbsthilfe eine Einschränkung erfährt und das Verfahren in Rechtsstreitigkeiten eine gewisse, wenn auch beschränkte, Unabhängigkeit gewinnt von den Machtmitteln, welche die Streitenden in einem gegebenen Moment für sich in Bewegung zu setzen vermögen. Für ein solches Verfahren fehlt es nicht völlig an äußeren Organen. Es gehören dahin die von Fall zu Fall durch streitende Parteien berufenen Schiedsgerichte, die Kongresse, insofern sie es unternehmen, an die Stelle kriegerischer Entscheidungen friedliche Kompromisse zu setzen. Wir haben es hier freilich in der Hauptsache mit Improvisationen zu tun, deren Wert sich mit dem der organischen Einrichtungen des internen Rechtslebens nicht vergleichen läßt, welche aber letztlich doch in verwandten Verhältnissen und Bedürfnissen wurzeln und die gleiche Tendenz zum Ausdruck bringen. Nur ist, was im internen Rechtsleben primitiven Zuständen entspricht, dort, wie früher schon bemerkt worden ist, zum Teil beharrender Natur. Ein Fortschritt über die momentane Entwicklungsstufe hinaus ist freilich nicht schlechthin ausgeschlossen, vielmehr im Hinblick auf die fortschreitende Verflechtung der Interessen auf internationalem Gebiet in bestimmten Richtungen mit Sicherheit zu erwarten. Die Beweisgründe, welche man gegen die Möglichkeit eines solchen Fortschrittes zu verschiedener Zeit und neuerdings mit besonderem Nachdruck geltend gemacht hat, sind schon deshalb ohne Bedeutung, weil sie niemals den Tatsachen entnommen wurden, welchen sie vielmehr widerstreiten, sondern stats aus willkürlich zurechtgemachten Begriffen von Recht und Staat herausgesponnen worden sind. Aber freilich, die Organisation des Völkerrechts wird eine fragmentarische und seine beherrschende Kraft eine beschränkte bleiben. Der Grund ist einfach. Würde diese Organisation sich vollenden, so würde damit das Gerüst eines neuen Staatswesens aufgerichtet sein und das Völkerrecht würde sich in ein internes staatliches Recht verwandeln. Die Frage nach der Entwicklung des Völkerrechts gestaltet sich daher, sobald das Überschreiten gewisser Stufen dabei ins Auge gefaßt wird, zu der Frage, ob diese Entwicklung den Weg staatlicher Neubildungen einschlagen wird, ob etwa anzunehmen ist, daß zunächst die Formen des Staatenbundes jenem Recht zu einer greifbareren Existenz und zu einer gesicherteren Wirksamkeit verhelfen würden, und daß dann zu irgendeiner Zeit ein Übergang zu den geschlossenen Formen des Bundesstaates stattfinden würde. Diese Frage aber soll hier unerörtert bleiben. Gegenwärtig sind wir jedenfalls in jener Entwicklung noch weit von dem Punkt entfernt, wo sie praktisch werden könnte. Und solange dies der Fall ist, werden wir die Konsequenzen davon gelten lassen müssen. Wo die Herrschaft des objektiven Rechts nicht entwickelt und durch ein System stabiler Einrichtungen verbürgt ist, da besteht die Herrschaft der Selbsthilfe, welche ihre eigenen Bedingungen hat und sich in ihren Formen und in ihrer Wirksamkeit nicht messen läßt nach einem Maßstab, der dem entgegengesetzten System angehört. So würde es töricht sein, angesichts jener Herrschaft der Selbsthilfe und, solange keine Möglichkeit besteht, dieselbe durch eine von neutralen Instanzen gewährte zuverlässige Rechtshilfe zu ersetzen, den Krieg, die äußerste Form der Selbsthilfe, zu verwerfen, oder gegen das Recht des Siegers zu protestieren, seine Existenzbedingunen in den dem System der Selbsthilfe entsprechenden Formen sicherzustellen. So ist es ein bloßer Widerspruch, wenn im Namen eines angebilch "neuen Rechts" zwar der Krieg als eine Notwendigkeit anerkannt, das Recht der Eroberung aber verworfen wird.

In diesem Tatbestand im Bereich des politischen Lebens findet das Verhalten der Staatsmänner seine Rechtfertigung. Gegensätzen gegenüber, welche keine neutrale Macht auszugleichen oder abzustumpfen imstande ist, in Kämpe verwickelt, für deren Abschluß die gemeinsamen Interessen der Gegner keinen Maßstab darbieten oder zur Geltung zu bringen vermögen, bedienen sie sich er Waffen, von deren Führung hier die Entscheidungen abhängen, und derjenigen Werte, welche in diesem Bereich Kurs haben. Sie setzen der Gewalt die Gewalt entgegen und, um mit FRIEDRICH dem Großen u reden, "betrügen die Betrüger". Sie wissen das "Räuber raube, Wolf friß!" (MASSIMO d'AZEGLIO) der italienischen Patrioten, welche ein eigensüchtiges Kleinfürstentum mit Hilfe des tatkräftigsten seiner Mitglieder zu vernichten strebten, zu würdigen und machen sich keine Skrupel, wenn sie einem Recht, das sich einer naturgemäßen Entwicklung entgegensetzt, die Macht voranstellen.

Genug, von der Verwirklichung des früher bezeichneten Ideals sind wir hier überall weit entfernt, und weder Staatsmänner noch Philosophen werden den Fortschritt in der Ausbildung der Herrschaft neutraler Mächte wesentlich zu beschleunigen vermögen. Auch auf denjenigen Gebieten, in welchen diese Entwicklung am Wenigstens fortgeschritten ist, sind wir weit davon entfernt, letzte Ziele erreicht zu haben. Es besteht hier, um die Grenzen des Errungenen und Erreichbaren auf diesen Gebieten in allgemeinerer Weise zu bestimmen, ein Unterschied zwischen  dem Recht in hypothesi  und  dem Recht in thesi.  Was nämlich das erstere, also die Feststellung konkreter Rechte aufgrund der geltenden Rechtsregeln betrifft, so sind wir hier, im Zusammenhang mit der oben erwähnten formalen Entwicklung, unserem Ideal in der Tat nahe gerückt. Denn diese Feststellung erfolgt durch eine, nach menschlichem Maß beurteilt, wirklich neutrale Instanz, das unabhängige nur an die Rechtsregel gebundene Gericht, ohne Rücksicht auf die Machtverhältnisse der Beteiligten, und die Regel selbst ist aufgestellt worden ohne Berücksichtigung und Kenntnis der konkreten Streitsache, erscheint daher ihr gegenüber insofern ebenfalls als neutral. Die konkrete Rechtsfrage hat sich also von der konkreten Machtfrage faktisch gelöst. Aber hinsichtlich des Rechts  in thesi  und seiner Feststellung gilt nicht das Gleiche. Wohl zeigen sich bei der Fortbildung desselben gewisse Prinzipien einflußreich, in welchen uns jener früher gekennzeichnete Geist des Rechts unmittelbar anspricht. Es ist auf solche Prinzipien bei der Durchschreitung der verschiedenen Rechtsgebiete hingedeutet worden. Soweit das Recht sich von ihnen beherrscht zeigt, hat es den Charakter wahrhafter Unparteilichkeit. Es scheint hier als eine Allen übergeordnete und, weil Repräsentantin des in menschlichen Dingen allgemein Gültigen und Wesentlichen, zugleich Allen nahestehende Macht sich vom Boden gesellschaftlicher Gegensätze und Konflikte völlig loszulösen, der Göttin vergleichbar, welche, unberührt von menschlicher Parteiung, die "gleichschwebende Waage" der Gerechtigkeit in festen Händen hält.

Aber jene Loslösung kann für das Recht doch überall nur in einem eingeschränkten Sinn erfolgen. Dasselbe hat keine Stützpunkte, welche, für jede Partei schlechthin unerreichbar, ganz außerhalb jener Sphäre lägen. So wenig der Wunsch des ARCHIMEDES, einen Standpunkt außerhalb der Welt zu erlangen, von welchem aus er diese nach seinem Willen in Bewegung zu setzen vermöchte, erfüllbar war, so wenig ist es für das Recht möglich, einen Standpunkt außerhalb der Welt einander widerstreitender Interessen und Kräfte, der es selbst angehört, und aus welcher es seine Kraft hat, zu gewinnen. Daher wird sich das Problem der Erlörung des Rechs aus seiner Abhängigkeit von der Macht auf dem Weg einer voranschreitenden Entwicklung stets von Neuem als ein trotz aller Fortschritte endgültig nicht gelöstes darstellen. Es weicht in höhere Regionen zurück, ohne zu verschwinden.


V.

Wäre es möglich, ein Prinzip zu entdecken, in dessen unbedingter und aufrichtiger Anerkennung alle Parteistandpunkte der Welt zusammenträfen, und welches zugleich einen Maßstab für die Entscheidung aller denkbaren Streitfragen darböte, so wäre damit freilich jener gesuchte Standpunkt gefunden. Allein ein solches Prinzip existiert nicht. Die menschlichen Interessen sind nicht in der hierbei vorausgesetzten Weise harmonisch. Auch die legitimen Interessen nicht, von welchem man dies annehmen zu können gemeint hat. Die tieferen Gegensätze haben ihren Grund nicht im Verhältnis von gut und böse, sondern in der Kompliziertheit der menschlichen Natur und der Bedingungen menschlicher Existenz und Entwicklung, und sind gleich ihr nicht zu bewältigen.

Wohl gibt es Quellen des Streites, welche eine fortschreitende Entwicklung schließen kann. Hierher gehören Irrtum und Unwissenheit, welche Interessen als einander entgegengesetzt erscheinen lassen, die vielmehr miteinander harmonieren. Die wachsende Aufklärung kann hier helfen. Hierher gehört ferner das Übergewicht niederer Kräfte im Bereich des gesellschaftlichen Lebens. Der rohe Mensch empfindet das Fremde als feindlich und die Interessen der Anderen im Allgemeinen als ihm fremd, während das höher organisierte Individuum die Interessen der Anderen in gewissem Umfang als seine eigenen empfindet. Die steigende Kultur kann dahin führen, daß die edlere Empfindungsweise zu der am meisten verbreiteten wird. Schließlich ist der natürliche Gang der Dinge, wie die Erfahrung zeigt, darauf gerichtet, die Interessen immer weiterer Kreise in ein gegenseitiges Abhängigkeitsverhältnis voneinander und in eine gemeinsame Abhängigkeit von identischen Bedingungen zu bringen. So durch eine Vermittlung der Arbeitsteilung und des Austauschs von Gütern und Ideen. Wenn etwa unter Nachbarn der Raub durch den Handelsvertreter abgelöst wird, so tritt die Prosperität [Wachstum - wp] auf der eien Seite in eine gewisse Abhängigkeit von derjenigen auf der Gegenseite, und der Friede wird die gemeinsame Bedingung für diese und jene. All das läßt jedoch die Gegensätze überhaupt keineswegs verschwinden. Dieselben wechseln nur gleichsam den Ort, wo sie sich geltend machen, und die Formen, in welchen dies geschieht. So kann es der Fall sein, daß Gegensätze zwischen selbständigen Völkern abgelöst werden durch Gegensätze zwischen verschiedenen Volksklassen innerhalb eines erweiterten Gemeinwesens, in welchen jene sich zu  einem  Volk verbunden haben, und diese letzteren Gegensätze durch solche zwischen prinzipiellen Parteien. Und was diese Parteien angeht, so bringt zwar der Fortschritt der Kultur eine Verfeinerung der Formen mit sich, in welchen sie sich bekämpfen, aber weder ein definitiver Ausgleich, noch selbst eine Abschwächung des prinzipiellen Gehalts ihrer Gegensätze. Vielmehr findet es sich, daß die ältere Kultur tiefere und mannigfaltigere Gegensätze in sich schließt als die jüngere. Vergleichen wir das Stammesleben auf niederer Entwicklungsstufe mit dem Leben der modernen Kulturvölker, so tritt uns dort eine unvergleichlich höhere Einheit der Empfindungs- und Denkweise entgegen als hier. Die Entwicklung, welche zu höheren Formen des geistigen Lebens geführt hat, ließ zugleich Verschiedenheiten und Gegensätze zum Vorschein kommen, welche sich unter mancherlei Formwandlungen und allen tausendfach erneuten Vermittlungsversuchen zum Trotz behauptet und in bestimmten Richtungen erweitert und vervielfältigt haben.

Dieser Tatbestand schließt die Annahme aus, daß das Recht jeemals gleichzeitig allen legitimen Interessen und in ihnen wurzelnden Empfindungs- und Denkweisen und Ansprüchen gerecht werden könnte. Ebensowenig würde es möglich sein, alle kollidierenden Interessen und dgl. gleichmäßig zu verkürzen, da es hierfür an jedem Maßstab fehlt. Das Recht wird daher stets Elemente einer innerlich nicht begründeten Bevorzugung oder Benachteiligung bestimmter Interessen, d. h. Elemente der Parteilichkeit oder Ungerechtigkeit, enthalten. Und diese Parteilichkeit wird stets ein Ausdruck von Machtdifferenzen sein, jene Bevorzugung wird die zu einer gegebenen Zeit stärkere, diese Benachteiligung die schwächere Seite erkennen lassen.

Das Recht zeigt den hervorgehobenen Tatsachen gemäß in allen seinen Teilen einen  Kompromißcharakter.  Wie jeder Kompromiß die Anerkennung der Legitimität des beiderseitigen Standpunkts zur Grundlage hat, so auch das Recht. Und wie jeder Kompromiß in dem Maße, in welchem die beiderseitigen Ansprüche darin eine Berücksichtigung oder Nichtberücksichtigung finden, auf die Machtverhältnisse zwischen den Parteien hinweist, so auch das Recht. Der Fortschritt im Bereich der öffentlichen Zustände berührt diesen Charakter des Rechts nicht. Kein anderer Fortschritt könnte hier mit mehr Grund in Betracht gezogen werden, als derjenige, der an die Stelle gewaltsamer Änderungen des bestehenden Rechts überall die friedliche Reform setzt. Aber jenen Zusammenhang mit den gegebenen Machtverhältnissen hebt derselbe nicht auf. Denn er ist an die Voraussetzung gebunden, daß es den gesellschaftlichen Mächten überall möglich sein soll, ihre Gewichte zugunsten oder zu ungunsten bestimmter Reformen in die Waagschale zu werfen. An die Stelle des Krieges tritt hier der Kampf der Parteien, in welchem die Entscheidung nicht minder wie in jenem zugunsten der stärkeren Seite fällt. Hinter den Parteikämpfen aber lauert der Bürgerkrieg. Ein Versuch, mächtige Parteien dauernd jenes Einflusses zu berauben, würde eine Provokation, ja den Beginn desselben enthalten. Im konstitutionellen Staat sind die politischen Wahlen und Abstimmungen gleichsam die entscheidenden Waffengänge, in welchen die Parteien ihre Kräfte messen. Der Gesetzgeber aber, welcher die Ergebnisse der letzteren zur bindenden Norm erhebt und als solche verkündet, ist in dieser Rolle mit dem Unparteiischen bei den militärischen Manövern zu vergleichen. Das Urteil des letzteren stellt fest, welche unter den Parteien im Ernstfall gesiegt haben würde, und entscheidet damit über die Richtung, in welcher sich die Streitenden zunächst zu bewegen haben, und in welcher sich die ferneren Kämpfe entwickeln müssen. Ähnliches gilt von jener Funktion des Gesetzgebers. Derselbe erschient hier dann freilich in der Rolle des "Unparteiischen". Aber im Urteil desselben, so weit es den angegebenen Sinn hat, bilden Recht und Macht keinen Gegensatz, sondern fallen zusammen. Allerdings läßt der Vergleich nicht die  ganze  Wahrheit hervortreten. Denn im wohlgeordneten Staat ist dafür gesorgt, daß der Gang der Dinge nicht ausschließlich und in absoluter Weise von den jeweils sich gegenüberstehenden Parteien und bzw. der jeweils stärkeren abhängig ist, daß vielmehr neutrale Faktoren (was im Krieg bloß zufällig ist) ihr Gewicht daneben, von einem außerhalb der jeweiligen Parteikämpfe liegenden Gebiete aus, auch geltend machen können. Als ein solcher Faktor ist in der konstitutionellen Monarchie das über den Parteien stehende Königtum gedacht. Aber von einer völligen Paralysierung der Parteigewichte kann hier nie die Rede sein, und auf die Dauer wird die Reform sich stets in der Richtung der mächtigeren Parteiströmungen bewegen.

Wir sind damit zu unserem Ausgang zurückgekehrt, und es erneut sich die Frage, wie wir uns mit unserem Urteil zu diesem nun genauer bestimmten und begrenzten Tatbestand verhalten sollen. Wenn das Recht jene Abhängigkeit nicht brechen kann, verdient es die Achtung, mit welcher wir seinen Anforderungen entsprechen? Wie kommt es zu diesem Bund mit der Moral, in welchem wir es zu erblicken gewöhnt sind?


VI.

Die Frage weist auf Probleme von großer Tiefe hin, an deren erschöpfende Lösung hier nicht gedacht werden kann. Doch sollen einige Gesichtspunkte bezeichnet werden, von welchen aus sie meines Erachtens in Angriff zu nehmen sind. Dabei handelt es sich zum Teil nur um die nochmalige Hervorhebung im Bisherigen schon enthaltener Momente.

Das Recht gehört einer Sphäre der Gegensätze und Konflikte an und entwickelt sich aus diesen. Seine nächste Bestimmung ist, sich als eine Macht über alle anderen Mächte zu erheben, und das Gesetz  eines  übergeordneten Willens an die Stelle eines Chaos sich gegenseitig verneinender Willen zu setzen. Das aber vermag es nur im Bund mit gegebenen Machtfaktoren, speziell mit dem Stärksten innerhalb seines Kreises. Indem es hierbei in eine Abhängigkeit tritt von Elementen, die seinem Wesen ansich fremd sind, zieht es diese zugleich in seinen Dienst. Wo es sich einmal erhoben hat, da ist es ungestraft nicht mehr zu ignorieren. Wie mächtig Einer sein mag, er kann seine Macht auf die Dauer nur behaupten, wenn er sie in jenen Dienst des Rechts stellt, und sie in diesem Dienst für die Aufrichtung und Wahrung einer Friedensordnung in der Gemeinschaft arbeiten läßt. So huldigen wir dann einem Herrscher in letzter Linie nicht mit Rücksicht auf den Ursprung seiner Gewalt, sondern mit Rücksicht auf die Funktionen, in welchen sie sich betätigt, weil sich an ihm bezüglich seines Verhältnisses zum Recht das Wort des Dichters erfüllt: "Wo Du herrschest, bist Du auch der Knecht".

Wenn sich aber jene Friedensordnung zunächst als ein Ausdruck für gegebene Machtverhältnisse darstellt, welche von ihr nur einem wüsten Kampf entzogen und der Notwendigkeit, sich täglich erneuerten, zwecklosen Machtproben zu unterwerfen, enthoben werden, so ist ihr Wert deswegen nicht verneint, sie hat ihn, wenn auch keinen absoluten Wert, als Friedensordnung, gleichviel wie jene Machtverhältnisse liegen mögen. Die Aufgabe des Rechts ist mit ihrer Herstellung freilich nicht erschöpft. Dieselbe erweitert sich vielmehr in der geschilderten Weise und in den von mir bezeichneten Richtungen, und zwar in dem Maße, wie die Grundlagen seiner Macht sich verbreitern und wahrhaft allgemeine Interessen und zugleich Interessen geistiger Art darin hervortreten. In diesem Maße vermag es die Fortbildung der gegebenen Zustände im Sinne jenes neutralen Prinzips, unter Bevorzugung der Macht qualitäten  gegen von bloßen  Quantitäten  zu beeinflussen, vermag es die schwächere, aber bessere Sache - besser im Sinne der genannten Interessen und jenes dem Recht wesentlichen Geistes, den ich zu charakterisieren versucht habe - von sich aus zu stärken und ihr künstliches Übergewicht zu verleihen.

In diesen Richtung sind indessen, wie gezeigt worden ist, unüberschreitbare Schranken gezogen. Das Recht bleibt daher, an den ihm selbst innewohnenden Tendenzen gemessen, unvollkommen. Und dieses sein Fernbleiben von einem nicht willkürlich aufgestellten Ziel, mit dessen Erreichen erst Recht und Gerechtigkeit zusammenfallen würden, bildet eine Quelle beständiger Unruhe, immer erneuter Anklagen und Agitationen in der Sphäre des Rechts, ein treibendes Element in seiner Geschichte, welches keinen Abschluß zuläßt, zu immer erneuten Reformen drängt, welche nur als künftige im Glanz vollkommener Lösungen alter Probleme strahlen, als vollzogene mehr und mehr dieses Glanzes verlustig gehen. Die Heiligkeit des Rechts ist und bleibt daher eine bloß relative und kommt überdies den verschiedenen Teilen desselben in einem ungleichen Maß zu. Aber die Gesamtbewegung der bisherigen Geschichte war einer Steigerung seines Wertes günstig, und wir dürfen das Gleiche vom Fortgang derselben erwarten. Die Richtung, in welcher die Entwicklung bisher voranschritt, läßt sich derjenigen vergleichen, in welcher sich die alte Götterwelt, die ideale Vertretung des Rechts in der Phantasie der alten Völker, entwickelte. Die Götter der Vorzeit sind parteiisch, sie schützen nur ihre Lieblinge, nur diesen gegenüber ist ihr Gericht gerecht, auch hier aber wird die rohe Kraft vor allem gewogen. Sie kämpfen im Bund mit ihren Völkern, und ihr Schicksal ist, gleich dem der letzteren, an die Waffenentscheidung gebunden. Sie bekämpfen und verneinen sich gegenseitig und die übergeordnete Stellung des Gebieters unter ihnen ist auf überlegene physische Kraft gegründet. Aber sie entwickeln sich zugleich mit ihren Völkern. Der Zeus des AESCHYLUS steht höher als der des HOMER, der ZEUS PLATOs höher als derjenige des AESCHYLUS. Aus dem Gewaltigen ist ein Heiliger Gott geworden. Und im Zusammenhang mit solcher Erhöhung versinkt die Welt der bloß nationalen Götter. Sie wird abgelöst durch ein alle gleichmäßig umfassendes, alles Menschliche mit dem gleichen gerechten Maß messendes Regiment. Die Entwicklung des menschlichen Rechts kann hier nicht folgen, wohl bewegt sie sich in der gleichen Richtung, aber sie kann das gleiche Ziel nicht berühren. Das Alle und alles Menschliche gleichmäßig umfassende Recht wird ein Ideal bleiben, das aus der Ferne glänzt, gleich einem unerreichbaren Gestirn.

Wenn übrigens das Verhalten des Rechts an jenem kritischen Punkt für den ethischen Standpunkt unbefriedigend bleibt, so fehlt es doch nicht völlig an Brücken, die vom letzteren auch hier zum Standpunkt des Rechts hinüberführen. Jene Bevorzugung des Stärkeren erscheint auch für diesen ethischen Standpunkt nicht schlechthin unbegreiflich und nicht bloß durch den dargelegten Zusammenhang entschuldigt.

Mit Recht hat HERBART in seiner Ethik auf die Achtungsgefühle hingewiese, welche die Betätigung einer überlegenen Kraft unwillkürlich in uns hervorruft. Diese Gefühle sind nicht, wie andere gemeint haben, der Freude am schönen Kunstwerk, sondern den moralischen Achtungsgefühlen zunächst verwandt. Es dürfte nicht allzu gewagt sein, dieselben mit der Bedeutung der Kraft im Kampf um unsere Existenz und deren befriedigende Gestaltung, sowie für eine aufsteigende Entwicklung des individuellen und des sozialen Lebens in Beziehung zu bringen. Dem Starken kommt das Bedürfnis der Menge, in jenem Kampf geführt und beherrscht zu werden, überall willig entgegen, und höher als den Tugendhelden hebt sie den Mann von heroischer Kraft, der eine weithinreichende Wirksamkeit, sei es auch unter dem Einfluß selbstsüchtiger Absichten, geübt hat. Ihm fällt das Beiwort "der Große" zu; und diese "Großen" sind es, welche sich im Andenken der Völker zu Halbgöttern erheben, zu welchen sie mit einer nicht bloß ästhetischen Verehrung aufblicken.

Was aber den Kampf der Völker und der Parteien betrifft, so erscheint es überdies nicht als ein bloßer Zufall, wenn die stärkere Seite sich zugleich im Sinne der Moral als die bessere ausweist. Vielmehr sind gewisse Umstände vorhanden, welche eine Bevorzugung dieser Seite zwar nicht schlechthin, aber im Zweifel auch vom Standpunkt einer absoluten Gerechtigkeit aus als begründet erscheinen lassen. Einmal weist die größere Macht bald auf fundamentalere Interessen, für welche sich die größere Energie zu entwickeln pflegt, bald auf die Interessen einer größeren Zahl hin, Momente, welche unter dem Gesichtspunkt der verteilenden Gerechtigkeit nicht ohne Bedeutung sind. Wo ferner eine Vielheit von Personen eine imponierende Kraft in nachhaltiger und erfolgreicher Weise an den Tag legt, da ist im Allgemeinen der Schluß auf eine lebendige Wirksamkeit auch spezifisch moralischer Kräfte in ihrer Mitte zulässig. Nie hat ein Volk große Taten vollbracht, ohne daß in seinen Bürgern der Geist der Hingebung, der freiwilligen Selbstbeschränkugn und Unterordnung lebte, ohne daß Begeisterung für die gemeinsame Sache, Treue und moralischer Mut unter ihnen verbreitet waren. Und was für ein Volk, das gilt in gewissen Grenzen auch für die Teile eines solchen. Daher dann das, was in der Geschichte der Völker "Größe" genannt zu werden pflegt, obgleich es zunächst mit dem Umfang und der Nachhaltigkeit der von einem Punkt ausgehenden Wirksamkeit zusammenhängt, doch, um mit ARISTOTELES zu reden, etwas von der Tugend in sich hat, d. h. also ein Moment enthält, das jene Wirksamkeit, das speziell den im Kampf errungenen, im Kampf behaupteten Erfolg, auch einem ethischen Forum gegenüber adelt.

Noch auf ein anderes, der allgemeinen Erfahrung gleich nahe liegendes MOment soll zum Schluß hingedeutet werden. Wie der Überschuß an moralischer Kraft in den hier in Frage stehenden Kämpfen eine Chance des Erfolgs bildet, so sind diese Kämpfe selbst und die Abhängigkeit des Rechts von ihrem Ausgang von Bedeutung für die Entwicklung dieser Kraft. Eine Gerechtigkeit und ein Recht, welche dem früher bezeicneten Ideal gemäß sich in ihren Entscheidungen schlechthin unabhängig machten von den Entscheidungen der Macht, würden auf die Entwicklung der moralischen Energien im Bereich der menschlichen Gesellschaft im Großen einen verderblichen Einfluß üben. Denn diese Entwicklung schreitet nur voran unter dem Einfluß einer solchen Gestaltung der Dinge, welche die Anpassung aller, also auch der moralischen Kräfte gebietet, und welche den letzteren nicht bloß qualitativ vorzügliche, sondern auch umfassende, quantitativ ins Gewicht fallende Leistungen abfordert. So führt dann das hier der Betrachtung unterzogene, ansich unbefriedigende Verhalten des Rechts: seine Abhängigkeit von der erfolgreichen Macht an jenen höchstgelegenen Punkten dem allgemeinen Ergebnis nach nicht auf ein Preisgeben der besten Sache, d. h. der Sache der edleren Kräfte, ihrer Entwicklung und lebendigen Betätigung, sondern auf eine Stärkung derselben hinaus.

Nach allem sind wir nicht in der Lage, die Berufung auf eine den geschichtlichen Machtentscheidungen innewohnende Gerechtigkeit, deren am Anfang gedacht worden ist, als des Sinnes entbehrend im Namen der Wissenschaft zurückzuweisen. Wohl aber sehen wir uns beständig gemahnt, im Hinblick auf eine Zukunft, die uns bisher nicht das Antlitz des Friedensgottes zeigte, zu prüfen, wie es bei uns um die Bedingungen bestellt ist, von welchen vor jenem Forum das Recht abhängt. Wenig geziemend und der Lage der Dinge in unserem neuen Gemeinwesen nicht entsprechend wäre es, an die ernste Frage eine ruhmredige Wendung anzuknüpfen. Aber es ist einem jeden gestattet, den Glauben an die Fülle und Unzerstörbarkeit der moralischen Kräfte des eigenen Volkes zu bekennen, und den Kämpfen gegenüber, die desselben harren, es tröstlich zu finden, daß dem Tapferen - das Wort in seinem antiken Sinn genommen - nicht bloß, wie das Sprichwort sagt, Fortuna gewogen ist, sondern auch die ernstere Göttin der Gerechtigkeit.
LITERATUR Adolf Merkel, Recht und Macht, Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft, Bd. 5, Leipzig 1881