tb-2 MeyersonEnriquesPlanckLuckaSternMach    
 
ERNST MACH
Theologische, animistische und
mystische Gesichtspunkte in der Mechanik


"Es ist selbstverständlich, daß auf einer Kulturstufe, auf welcher die Religion fast die einzige Bildung, also auch die einzige Weltanschauung ist, notwendig die Meinung besteht, daß alles theologisch zu betrachten sei, und daß diese Betrachtungsweise auch überall ausreichen müsse. Versetzen wir uns in die Zeit, da man mit der Faust die Orgel schlug, da man das Einmaleins schriftlich vor sich haben mußte, wenn man rechnen wollte, da man so manches mit der Faust verrichtete, was man heute mit dem Kopf tut, so werden wir von einer solchen Zeit nicht verlangen, daß sie gegen ihre eigenen Ansichten kritisch zu Werke geht."

"Die besonnene physikalische Forschung wird aber zur Analyse der Sinnesempfindungen führen. Wir werden dann erkennen, daß unser Hunger nicht so wesentlich verschieden ist vom Streben der Schwefelsäure nach Zink, und unser Wille nicht so sehr verschieden vom Druck des Steins auf die Unterlage, als es gegenwärtig den Anschein hat. Wir werden uns dann der Natur wieder näher fühlen, ohne daß wir nötig haben, uns selbst in eine uns nicht mehr verständliche Staubwolke von Molekülen, oder die Natur in ein System von Spukgestalten aufzulösen. Die Richtung, in welcher die Aufklärung durch eine lange und mühevolle Untersuchung zu erwarten ist, kann natürlich nur vermutet werden. Das Resultat antizipieren, oder es gar in die gegenwärtigen wissenschaftlichen Untersuchungen einmischen zu wollen, hieße Mythologie statt Wissenschaft treiben."

1. Wenn wir in eine Gesellschaft eintreten, in welcher eben von einem recht frommen Mann die Rede ist, dessen Namen wir nicht gehört haben, so werden wir an den Geheimrath  X  oder den Herrn von  Y  denken, wir werden aber schwerlich zuerst und zunächst einen tüchtigen Naturforscher vermuten. Dennoch wäre es ein Irrtum zu glauben, daß dieses etwas gespannte Verhältnis zwischen der naturwissenschaftlichen und theologischen Auffassung der Welt, welches sich zeitweilig zu einem erbitterten Kampf steigert, zu allen Zeiten und überall bestanden habe. Ein Blickaauf die Geschichte der Naturwissenschaft überzeugt uns vom Gegenteil.

Man liebt es, die Konflikte der Wissenschaft mit der Theologie, oder besser gesagt mit der Kirche, zu schildern. Und in der Tat ist das ein reichhaltiges und dankbares Thema. Einerseits ein stattliches Verzeichnis von Sünden der Kirche gegen den Fortschritt, andererseit eine ansehnliche Reihe von Märtyrern, unter welchen sich keine Geringeren als GIORDANO BRUNO und GALILEI befinden, und unter welche einzutreten selbst einem so frommen Mann wie DESCARTES nur durch die günstigsten Umstände knapp erspart wurde. Allein diese Konflikte sind genügend dargestellt worden, und wenn man allein diese Konflikte betont, stellt man die Sache einseitig dar, und wird ungerecht. Man kommt dann leicht zu der Ansicht, die Wissenschaft sei  nur  durch den Druck der Kirche niedergehalten worden, und hätte sich sofort zu ungeahnter Größe erhoben, wenn  nur  dieser Druck gewichen wäre. Allerdings war der Kampf der Forscher gegen die fremde äußere Gewalt kein unbedeutender. Der Kirche war auch in diesem Kampf kein Mittel zu schlecht, welches zum Sieg verhelfen konnte, und sie ist hierbei eigennütziger, rücksichtsloser und grausamer vorgegangen als irgendeine andere politische Partei. Einen nicht geringen Kampf hatten aber auch die Forscher mit ihren eigenen hergebrachten Ideen zu bestehen, namentlich mit dem Vorurteil, daß alles theologisch behandelt werden müsse. Nur allmählich und langsam wurde dieses Vorurteil überwunden.

2. Lassen wir die Tatsachen sprechen, und machen wir zunächst einige persönliche Bekanntschaften!

NAPIER, der Erfinder der Logarithmen, ein strenger Puritaner, welcher im 16. Jahrhundert lebte, war nebenbei ein eifriger Theologe. Er verlegte sich auf höchst sonderbare Spekulationen. Er schrieb eine Auslegung der Apokalypse mit Propositionen und mathematischen Beweisen. Proposition 26 behauptet z. B., daß der Papst der Antichrist sei, Proposition 36 lehrt, daß die Heuschrecken die Türken und Mohammedaner seien usw.

Wenn wir auch kein besonderes Gewicht darauf legen, daß BLAISE PASCAL (17. Jahrhundert), einer der genialsten Denker auf dem Gebiet der Mathematik und Physik höchst orthodox und asketisch war, daß er trotz seines milden Charakters zu Rouen einen Lehrer der Philosophie aus voller Überzeugung als Ketzer denunzierte, daß die Heilung seiner Schwester durch die Berührung einer Reliquie einen tiefen Eindruck auf ihn machte, und daß er dieselbe als ein Wunder ansah, wenn wir auch darauf kein Gewicht legen, weil seine ganz zu religiöser Schwärmerei neigende Familie in dieser Punkt sehr schwach war, so gibt es doch noch andere Beispiele dieser Art genug. Die tiefe Religiosität PASCALs zeigt sich in seinem Entschluß, die Wissenschaften gänzlich aufzugeben, und nur für das Christentum zu leben. Wenn er Trost suche, pflegte er zu sagen, so könne er denselben nur bei den Lehren des Christentums finden, und alle Weisheit der Welt könne ihm nichts nützen. Daß er es mit der Bekehrung der Ketzer aufrichtig meinte, zeigen seine "Lettres provinciales", in welchem er gegen die horrenden Spitzfindigkeiten eiferte, die von den Doktoren der Sorbonne eigens erfunden worden waren, um die Jansenisten zu verfolgen. Sehr merkwürdig ist PASCALs Briefwechsel mit verschiedenen Theologen, und wir staunen nicht wenig, wenn PASCAL in einem dieser Briefe ganz ernsthaft die Frage diskutiert, ob der Teufel auch Wunder wirken könne.

OTTO von GUERICKE, der Erfinder der Luftpumpe, beschäftigt sich gleich zu Anfang seines vor kaum 200 Jahren verfaßten Buches mit dem Wunder des Josua, welches er mit dem Kopernikanischen System in Einklang zu bringen versucht. Und vor den Untersuchungen über den leeren Raum und über die Natur der Luft finden wir Fragen über den Ort des Himmels, über den Ort der Hölle usw. Wenn GUERICKE auch alle diese Fragen möglichst vernünftig zu beantworten sucht, so sieht man doch, was sie ihm zu schaffen machen, dieselben Fragen, die heute ein gebildeter Theologe nicht einmal aufwerfen wird. Und in GUERICKE haben wir einen Mann nach der Reformation vor uns!

Auch NEWTON verschmähte es nicht, sich mit der Erklärung der Apokalypse zu beschäftigen. Es war in solchen Dingen schwer mit ihm zu sprechen. Als HALLEY sich einmal einen Scherz über theologische Diskussionen erlaubte, soll er ihn kurz mit der Bemerkung abgewiesen haben: "Ich habe diese Dinge studiert, Sie nicht!"

Bei LEIBNIZ, dem Erfinder der besten Welt und der prästablierten [vorgefertigten - wp] Harmonie, welche Erfindung in VOLTAIREs anscheinend komischem, in Wirklichkeit aber tief ernstem philosophischen Roman "Candide" ihre gebührende Abfertigung gefunden hat, brauchen wir nicht zu verweilen. Er war bekanntlich fast ebensosehr Theologe als Philosoph und Naturforscher.

Wenden wir uns an einen Mann des vorigen Jahrhunderts. EULER in seinen "Briefen an eine deutsche Prinzessin" behandelt mitten unter naturwissenschaftlichen Fragen auch theologisch-philosophische. Er bespricht die Schwierigkeit, bei der gänzlichen Verschiedenheit von Körper und Geist, die für ihn feststeht, die Wechselbeziehung beider zu begreifen. Zwar will ihm das von DESCARTES und seinen Nachfolgern entwickelte System des Okkasialismus nicht recht gefallen, wonach Gott zu jeder Absicht der Seele die entsprechende Bewegung des Körpers ausführt, weil die Seele selbst dazu nicht imstande ist. Er verspottet auch nicht ohne Witz die prästabilierte Harmonie, nach welcher von Ewigkeit her ein Einklang zwischen den Bewegungen des Körpters und den Absichten der Seele hergestellt ist, obgleich beide einander gar nichts angehen, gerade so wie zwischen zwei verschiedenen, aber genau gleichgehenden Uhren. Er bemerkt, daß nach dieser Ansicht sein eigener Leib ihm eigentlich so fremd sei, wie der eines Rhinozeros mitten in Afrika, welcher ebensowohl in prästabilierter Harmonie mit seiner Seele sein könnte. Hören wir ihn selbst. Man schrieb damals fast nur lateinisch. Wollte ein deutscher Gelehrter einmal besonders herablassen sein, und deutsch schreiben, so schrieb er französisch. [...] Fast möchte man glauben, EULER hätte die Lust angewandelt, einmal VOLTAIRE zu spielen. Und doch, so sehr er mit seiner Kritik den Nagel auf den Kopf trifft, ist ihm die Wechselwirkung von Leib und Seele ein Wunder. Und doch hilft er sich in höchst sophistischer Weise über die Freiheit des Willens hinweg. Um uns eine Vorstellung davon zu verschaffen, welche Fragen damals ein Naturforscher behandeln konnte, bemerken wir, daß EULER in seinen physikalischen "Briefen" über die Natur der Geister, über die Verbindung von Leib und Seele, über die Freiheit des Willens, über den Einfluß der Freiheit auf die Ereignisse der Welt, über das Gebet, über das physische und moralische Übel, über die Bekehrung der Sünder und ähnliche Stoffe Untersuchungen anstellt. Dies geschieht alles in derselben Schrift, welche so viele klare physikalische Gedanken und die schöne Darstellung der Logik mit Hilfe von Kreisen enthält.

3. Diese Beispiele mögen vorläufig genügen. Wir haben sie mit Absicht unter den  ersten  Naturforschern gewählt. Was wir bei diesen Männern an Theologie gefunden haben, gehört ganz ihrem innersten Privatleben an. Sie sagen uns öffentlich Dinge, zu welchen sie nicht gezwungen sind, von welchen sie auch schweigen können. Es sind nicht fremde ihnen aufgedrungene Ansichten, es sind ihre eigenen Meinungen, welche sie vorbringen. Sie fühlen sich durch die Theologie nicht gedrückt. In einer Stadt und an einem Hof, die LAMETTRIE und VOLTAIRE beherbergten, bestand für EULER kein Grund seine Überzeugungen zu verbergen.

Nach unserer heutigen Meinung hätten diese Männer mindestens bemerken sollen, daß die Fragen dort nicht hingehören, wo sie dieselben behandeln, daß es keine naturwissenschaftlichen Fragen sind. Mag dieser Widerspruch zwischen überkommenen theologischen und selbstgeschaffenen naturwissenschaftlichen Überzeugungen uns immer einen sonderbaren Eindruck machen, nichts berechtigt uns, diese Männer deshalb geringer zu achten. Denn das eben beweist ihre gewaltige Geisteskraft, daß sie trotz der beschränkten Anschauungen ihrer Zeit, von welchen sich ganz frei zu machen ihnen nicht vergönnt war, ihren Gesichtskreis doch so erweitern, und uns zu einem freieren Standpunkt verhelfen konnten.

Der Unbefangene wird nicht mehr darüber im Zweifel sein, daß das Zeitalter, in welches die Hauptentwicklung der Mechanik fiel,  theologisch gestimmt  war. Theologische Fragen wurden durch alles angeregt, und hatten auf alles Einfluß. Kein Wunder also, wenn auch die Mechanik von diesem Hauch berührt wurde. Das Durchschlagende der theologischen Stimmung wird noch deutlicher, wenn wir auf Einzelheiten eingehen.

4. [Die antiken Anregungen durch HERON und PAPPUS wurden schon im vorigen Kapitel besprochen.] GALILEI finden wir zu Anfang des 17. Jahrhunderts mit Fragen über die Festigkeit beschäftigt. Er zeigt, daß hohle Röhren eine größere Biegungsfestigkeit darbieten als massive Stäbe von gleicher Länge und gleichem Material, und wendet diese Erkenntnis sofort an, um die Formen der Tierknochen zu erläutern, welche gewöhnlich hohle Röhren darstellen. Man kann dieses Verhältnis ohne Schwierigkeit durch einen flach gefalteten und durch einen zusammengerollten Bogen Papier anschaulich machen. Ein einerseits befestigter und andererseits belasteter horizontaler Balken kann ohne Schaden für die Festigkeit und mit Materialgewinn am belasteten Ende dünner genommen werden. GALILEI bestimmt die Form des Balkens von in jedem Querschnitt gleichem Widerstand. Er bemerkt endlich noch, daß geometrisch ähnliche Tiere von sehr verschiedener Größe den Gesetzen der Festigkeit auch in sehr ungleichem Maß entsprechen würden.

Die bis in die feinsten Einzelheiten zweckmäßigen Formen der Knochen, Federn, Halme und anderer organischer Gebilde, die in der Tat geeignet sind, auf den gebildeten Beschauer einen tiefen Eindruck zu machen, sind bis auf den heutigen Tag unzähligemale zugunsten einer in der Natur waltenden Weisheit angeführt worden. Betrachten wir z. B. die Schwungfeder des Vogels. Der Kiel ist eine hohle Röhre, die gegen das freie Ende hin an Dicke abnimmt, also zugleich ein Körper von gleichem Widerstand. Jedes Blättchen der Federfahne wiederholt ähnliche Verhältnisse im Kleinen. Er würde bedeutende technische Kenntnisse erfordern, eine solche Feder in ihrer Zweckmäßigkeit auch nur nachzubilden, geschweige denn sie zu erfinden. Wir dürfen aber nicht vergessen, daß nicht die bloße Bewunderung, sondern die Erforschung die Aufgabe der Wissenschaft ist. Es ist bekannt, in welcher Weise DARWIN nach seiner Theorie der Anpassung diese Fragen zu lösen versucht. Daß die DARWINsche Auflösung eine vollständige sei, kann billig bezweifelt werden; DARWIN selbst bezweifelt es. Alle äußeren Umstände vermöchten nichts, wenn nicht etwas da wäre, was sich anpassen  will.  Darüber aber kann kein Zweifel sein, daß die DARWINsche Theorie der erste ernste Versuch ist, an die Stelle der bloßen Bewunderung der organischen Natur die Erforschung zu setzen.

Des PAPPUS Ideen über die Bienenzellen werden noch im 18. Jahrhundert lebhaft diskutiert. WOOD erzählt in seiner 1867 erschienenen Schrift "Über die Nester der Tiere", folgende Geschichte: "MARALDI war die große Regelmäßigkeit der Bienenzellen aufgefallen. Er maß die Winkel der rautenförmigen Grenzflächen und fand dieselben 109° 28' und 70° 32'. RÉAUMUR in der Überzeugung, daß diese Winkel mit der Ökonomie der Zelle zusammenhängen müßten, bat den Mathematiker KÖNIG, jene Form eines sechsseitigen durch drei Rauten geschlossenen Gefäßes zu berechnen, bei welcher der größte Inhalt mit der kleinsten Oberfläche zusammentrifft. RÉAUMUR erhielt die Antwort, daß die Winkel der Rauten 109° 26' und 70° 34' betragen müßten. Der Unterschied betrug also zwei Minuten. MACLAURIN, von dieser Übereinstimmung nicht befriedigt, wiederholte die Messung von MARALDI, fand sie richtig, und bemerkte bei der Wiederholung der Rechnung einen Fehler in der von KÖNIG verwendeten Logarithmentafel. Nicht die Bienen also, sondern der Mathematiker hatte gefehlt, und die Bienen hatten zur Aufdeckung des Fehlers verholfen! "Wenn es bekannt ist, wie man Kristalle mißt, und wer eine Bienenzelle gesehen hat, welche ziemlich rohe und nicht spiegelnde Flächen hat, der wird es bezweifeln, daß man beim Messen der Zellen eine Genauigkeit von zwei Minuten erreichen kann. Man muß also die Geschichte für ein frommes mathematisches Märchen halten, abgesehen davon, daß nichts daraus folgt, wenn sie wahr ist. Nebenbei sei bemerkt, daß die Aufgabe mathematisch zu unvollständig gestellt worden ist, um beurteilen zu können, wie weit die Bienen sie gelöst haben.

Die im vorigen Kapitel erwähnten Ideen von HERON und FERMAT über die Lichtbewegung erhielten durch LEIBNIZ sofort eine theologische Färbung und spielten, wie erwähnt, eine hervorragende Rolle bei der Entwicklung der Variationsrechnung. In LEIBNIZ' Briefwechsel mit JOHANN BERNOULLI werden unter mathemtischen wiederholt auch theologische Fragen berührt. Nicht selten wird auch in biblischen Bildern gesprochen. So sagt z. B. LEIBNIZ, das Problem der Brachystochrone [schnellste Verbindung zweier Punkte durch einen Bahn - wp] hätte ihn angezogen wie der Apfel die Eva.

MAUPERTUIS, der bekannte Präsident der Berliner Akademie und Günstling FRIEDRICHs des Großen, hat der theologisierenden Richtung der Physik einen neuen Anstoß gegeben durch die Aufstellung seines Prinzips der kleinsten Wirkung. In der Schrift, welche die Aufstellung dieses Prinzips enthält, und zwar in sehr unbestimmter Form, und in welcher MAUPERTUIS einen entschiedenen Mangel an mathematischer Schärfe zeigt, erklärt er sein Prinzip für dasjenige, welches der Weisheit des Schöpfers am besten entspräche. MAUPERTUIS war geistreich, aber kein starker Kopf, er war ein Projektemacher. Dies zeigen seine kühnen Vorschläge, eine Stadt zu gründen, in der bloß lateinisch gesprochen würde, ein großes, tiefes Loch in die Erde zu graben, um neue Stoffe zu finden, psychologische Untersuchungen mit Hilfe des Opiums und der Sektioin von Affen anzustellen, die Bildung des Embryo durch die Gravitation zu erklären usw. Er ist von VOLTAIRE scharf kritisiert worden in seiner "Histoire du docteur Akakia", welche bekanntlich den Bruch zwischen FRIEDRICH und VOLTAIRE herbeigeführt hat.

MAUPERTUIS' Prinzip wäre wohl bald wieder vom Schauplatz verschwunden, allein EULER benutzte die Anregung. Er ließ als wahrhaft bedeutender Mensch dem Prinzip den Namen, MAUPERTUIS den Ruhm der Erfindung, und machte ein neues wirklich brauchbares Prinzip daraus. Was MAUPERTUIS meinte, läßt sich schwer ganz klar machen. Was EULER meint, kann man an einfachen Beispielen leicht zeigen. Wenn ein Körper gezwungen ist, auf einer festen Fläche, z. B. der Erdoberfläche zu bleiben, so bewegt er sich auf einen Anstoß hin so, daß er zwischen seiner Anfangs- und Endlage den kürzesten Weg nimmt. Jeder andere Weg, den man ihm vorschriebe, würde länger sein und mehr Zeit erfordern. Das Prinzip findet Anwendung in der Theorie der Luft- und Wasserströmungen auf der Erdoberfläche. Den theologischen Standpunkt hat EULER beibehalten. Er spricht sich dahin aus, daß man nicht allein aus den physikalischen  Ursachen,  sondern auch aus dem  Zweck  die Erscheinungen erklären könne. "Da nämlich die Einrichtung der ganzen Welt die vorzüglichste ist, und da sie vom weisesten Schöpfer herstammt, wird nichts in der Welt angetroffen, woraus nicht irgendeine Maxime oder Minimumeigenschaft hervorleuchtete; deshalb kann kein Zweifel bestehen, daß alle Wirkungen in der Welt ebensowohl durch die Methode der Maxima und Minima aus den Zwecken wie aus den wirkenden Ursachen selbst abgeleitet werden können." [...]

5. Auch die Vorstellungen von der Unveränderlichkeit der Menge der Materie, von der Unveränderlichkeit der Summe der Bewegung, von der Unzerstörbarkeit der Arbeit oder Energie, welche die ganze heutige Naturwissenschaft beherrschen, sind unter dem Einfluß theologischer ideen herangewachsen. Sie sind angeregt durch einen schon erwähnten Ausspruch von DESCARTES in den Prinzipien der Philosophie, nach welchen die zu Anfang erschaffene Menge der Materie und Quantität der Bewegung unverändert bleibt, wie dies allein mit der Beständigkeit des Schöpfers der Welt verträglich sei. Die Vorstellung von der Art, wie die Summe der Bewegung zu rechnen sei, hat sich von DESCARTES auf LEIBNIZ und später bei den Nachfolgern sehr bedeutend modifiziert und es ist nach und nach das entstanden, was man heute das "Gesetz der Erhaltung der Energie" nennt. Der theologische Hintergrund hat sich aber nur sehr allmählich verloren. Ja, es läßt sich nicht leugnen, daß auch heute noch manche Naturforscher mit dem Gesetz der Erhaltung der Energie eine eigene Mystik treiben.

Durch das ganze 16. und 17. Jahrhundert bis gegen das Ende des 18. Jahrhunderts war man geneigt, überall in den physikalischen Gesetzen eine besondere Anordnung des Schöpfers zu sehen. Dem aufmerksamen Beobachter kann aber eine allmähliche Umbildung der Ansichten nicht entgehen. Während bei DESCARTES und LEIBNIZ Physik und Theologie noch vielfach vermengt sind, zeigt sich später ein deutliches Streben, zwar nicht das Theologische ganz zu beseitigen, aber dasselbe vom Physikalischen zu sondern. Es wird das Theologische an den Anfang oder das Ende einer physikalischen Untersuchung verlegt. Es wird das Theologische womöglich auf die Schöpfung konzentriert, um von da an für die Physik Raum zu gewinnen.

Gegen Ende des 18. Jahrhunderts trat nun eine Wendung ein, welche äußerlich auffällt, welche wie ein plötzlich getaner Schritt aussieht, die aber im Grunde nur eine notwendige Konsequenz des angedeuteten Entwicklungsganges ist. Nachdem LAGRANGE in einer Jugendarbeit versucht hatte, die ganze Mechanik auf das EULERsche Prinzip der kleinsten Wirkung zu gründen, erklärt er bei einer Neubearbeitung desselben Gegenstandes, er wolle von allen theologischen und metaphysischen Spekulationen als sehr  prekären,  und nicht in die Wissenschaft gehörigen, gänzlich absehen. Er führt einen Neubau der Mechanik auf anderen Grundlagen aus, und kein Sachverständiger kann dessen Vorzüge verkennen. Alles späteren bedeutenden Naturforscher haben sich der Auffassung von LAGRANGE angeschlossen, und damit war im Wesentlichen die heutige Stellung der Physik zur Theologie gegeben.

6. Fast drei Jahrhunderte waren also nötig, bis die Ansicht, daß Theologie und Naturwissenschaft zwei verschiedene Dinge seien, von ihrem ersten Aufkeimen bei KOPERNIKUS bis LAGRANGE sich zur vollen Klarheit entwickelt hat. Dabei ist nicht zu verkennen, daß den größten Geistern, wie NEWTON, diese Wahrheit immer klar war. Nie hat NEWTON trotz seiner tiefen Religiosität die Theologie in naturwissenschaftliche Fragen eingemengt. Zwar schließt auch er seine "Optik", während noch auf den letzten Seiten der helle klare Geist leuchtet, mit einem Ausdruck von Zerknirschung über die Nichtigkeit alles Irdischen. Allein seine optischen Untersuchungen  selbst  enthalten im Gegensatz zu jenen von LEIBNIZ nicht die Spur von Theologie. Ähnliches kann man von GALILEI und HUYGHENS sagen. Ihre Schriften entsprechen fast vollständig dem Standpunkt von LAGRANGE, und können in dieser Richtung als klassisch gelten: Die Anschauung und Stimmung einer Zeit darf aber nicht nach den Spitzen, sondern muß nach dem Mittel gemessen werden.

Um den geschilderten Vorgang einigermaßen zu begreifen, haben wir folgendes zu überlegen. Es ist selbstverständlich, daß auf einer Kulturstufe, auf welcher die Religion fast die einzige Bildung, also auch die einzige Weltanschauung ist, notwendig die Meinung besteht, daß alles theologisch zu betrachten sei, und daß diese Betrachtungsweise auch überall ausreichen müsse. Versetzen wir uns in die Zeit, da man mit der Faust die Orgel schlug, da man das Einmaleins schriftlich vor sich haben mußte, wenn man rechnen wollte, da man so manches mit der Faust verrichtete, was man heute mit dem Kopf tut, so werden wir von einer solchen Zeit nicht verlangen, daß sie gegen ihre eigenen Ansichten  kritisch  zu Werke geht. Mit der Erweiterung des Gesichtskreises durch die großen geographischen, technischen und naturwissenschaftlichen Entdeckungen und Erfindungen des 15. und 16. Jahrhunderts, mit der Auffindung von Gebieten, auf welchen mit dieser Anschauung nicht auszukommen war, weil sich dieselbe  vor  der Kenntnis dieser Gebiete gebildet hatte, weicht allmählich und langsam dieses Vorurteil. Schwerverständlich bleibt immer die große Freiheit des Denkens, die im frühen Mittelalter vereinzelt, zuerst bei Dichtern, dann bei Forschern auftritt. Die Aufklärung muß damals das Werk einzelner ganz ungewöhnlicher Menschen gewesen sein, und nur an ganz dünnen Fäden mit den Anschauungen des Volkes zusammengehangen haben, mehr geeignet, an diesen Anschauungen zu zerren, und sie zu beunruhigen, als dieselben umzugestalten. Erst in der Literatur des 18. Jahrunderts scheint die Aufklärung einen breiteren Boden zu gewinnen. Humanistische, philosophische, historische und Naturwissenschaften berühren sich da, und ermutigen sich gegenseitig zu einem freieren Denken. Jeder, der diesen Aufschwung und diese Befreiung auch nur zum Teil durch die Literatur miterlebt hat, wird lebenslänglich ein elegisches Heimweh empfinden nach dem 18. Jahrhundert.

7. Der alte Standpunkt ist also aufgegeben. Nur an der Form der Sätze der Mechanik erkennt man noch deren Geschichte. Diese Form bleibt auch so lange befremdlich, als man ihren Ursprung nicht berücksichtigt. Die theologische Auffassung wich nach und nach einer sehr nüchternen, welche aber mit einem bedeutenden Gewinn an Aufklärung verbunden war, wie wir dies in Kürze andeuten wollen.

Wenn wir sagen, das Licht bewege sich auf einem Weg kürzester Zeit, so können wir dadurch manches überschauen. Wir wissen aber noch nicht,  warum  das Licht die Wege kürzester Zeit vorzieht. Mit der Annahme der Weisheit des Schöpfers verzichten wir auf eine weitere Einsicht. Wir wissen heute, daß sich das Licht auf  allen  Wegen bewegt, daß sich die Lichtwellen aber nur auf den Wegen kürzester Zeit so verstärken, daß ein merkliches Resultat zustande kommt. Das Licht  scheint  sich also nur auf Wegen kürzester Zeit zu bewegen. Nach der Beseitiung des Vorurteils fand man alsbald Fälle, in welchen neben der vermeintlichen Sparsamkeit der Natur die auffallendste Verschwendung auftritt. Solche hat z. B. JACOBI in Bezug auf das EULERsche Prinzip der kleinsten Wirkung nachgewiesen. Manche Naturerscheinungen machen also bloß deshalb den Eindruck der Sparsamkeit, weil sie nur dann sichtbar hervortreten, wenn eben zufällig ein Zusammensparen der Effekte stattfindet. Dies ist derselbe Gedanke auf dem Gebiet des Unorganischen, welchen DARWIN auf dem Gebiet der unorganischen Natur ausgeführt hat. Wir erleichtern uns instinktiv die Auffassung der Natur, indem wir die uns geläufigen ökonomischen Vorstellungen auf dieselbe übertragen.

Zuweilen zeigen die Naturvorgänge darum eine Maximum- oder Minimumeigenschaft, weil in diesem Fall des Größten oder Kleinsten die Ursachen einer weiteren Veränderung wegfallen. Die Kettenlinie weist den tiefsten Schwerpunkt auf, weil nur beim tiefsten Schwerpunkt kein weiterer Fall der Kettenglieder mehr möglich ist. Die Flüssigkeiten unter dem Einfluß der Molekularkräfte bieten ein Minimum der Oberfläche dar, weil stabiles Gleichgewicht nur bestehen kann, wenn die Molekularkräfte die Oberfläche nicht weiter verkleinern können. Das Wesentliche liegt also nicht im Maximum oder Minimum, sondern im Wegfall der  Arbeit  von diesem Zustand aus, welche Arbeit eben das Bestimmende der Veränderung ist. Es klingt also viel weniger erhaben, ist aber dafür viel aufklärender, ist zugleich richtiger und allgemeiner, wenn man, statt vom Ersparungsbestreben der Natur zu sprechen, sagt: "Es geschiht immer nur so viel, als vermöge der Kräfte und Umstände geschehen kann."

Man kann nun mit Recht die Frage aufwerfen: Wenn der theologische Standpunkt, welcher zur Aufstellung der mechanischen Sätze geführt hat, ein verfehlter war, wie kommt es, daß gleichwohl dieses Sätze im Wesentlichen richtig sind? Darauf läßt sich leicht antworten. Erstens hat die theologische Anschauung nicht den  Inhalt  der Sätze geliefert, sondern nur die  Färbung  des Ausdrucks bestimmt, während der Inhalt sich durch Beobachtung ergeben hat. Ähnlich würde eine andere herrschende Anschauung, z. B. eine  merkantile  gewirkt haben, die mutmaßlich auch auf STEVINs Denkweise Einfluß ausgeübt hat. Zweitens verdankt die theologische Auffassung der Natur selbst ihren Ursprung dem Streben, einen  umfassenderen Blick  zu tun, also einem Streben, welches auch der Naturwissenschaft eigen ist, und welches sich ganz wohl mit den Zielen derselben verträgt. Ist also auch die theologische Naturphilosophie als eine verunglückte Unternehmung, als ein Rückfall auf eine niedere Kulturstufe zu bezeichnen, so brauchen wir doch die  gesunden Wurzel,  aus welcher sie entsprossen ist, welche von jener der wahren Naturforschung nicht verschieden ist, nicht zu verwerfen.

In der Tat kann die Naturwissenschaft durch die bloße Beobachtung des  Einzelnen  nichts erreichen, wenn sie nicht zeitweilig auch den Blick ins  Große  richtet. Die GALILEI'schen Fallgesetze, das HUYGHENS'sche Prinzip der lebendigen Kräfte, das Prinzip der virtuellen Verschiebungen, selbst der Massenbegriff, konnten, wie wir uns erinnern, nur gewonnen werden, indem abwechselnd das Einzelne und das Ganze der Naturvorgänge betrachtet wurde. Man kann bei der Nachbildung der mechanischen Naturvorgänge in Gedanken von den Eigenschaften der einzelnen Massen (von den Elementargesetzen) ausgehen, und das Bild des Vorgans zusammensetzen. Man kann sich aber auch an die Eigenschaften des ganzen Systems (an die Integralgesetze) halten. Da aber die Eigenschaften einer Masse immer mehr Beziehungen zu anderen Massen enthalten, z. B. in der Geschwindigkeit und Beschleunigung schon eine Beziehung auf die Zeit, also auf die ganze Welt liegt, so erkennt man, daß es  reine  Elementargesetze eigentlich gar nicht gibt. Es wäre also inkonsequent, wenn man den doch unentbehrliche Blick auf das Ganze, auf allgemeinere Eigenschaften, als weniger sicher ausschließen wollte. Wir werden nur, je allgemeiner ein neuer Satz, und je größer dessen Tragweite ist, mit Rücksicht auf die Möglichkeit eines Irrtums, desto  bessere Proben  für denselben verlangen.

Die Vorstellung vom Wirken eines Willens und einer Intelligenz in der Natur ist keineswegs durch den christlichen Monotheismus allein erzeugt. Dieselbe ist vielmehr dem Heidentum und dem Fetischismus vollkommen geläufig. Das Heidentum sucht den Willen und die Intelligenz nur im Einzelnen, während der Monotheismus den Ausdruck derselben im Ganzen vermutet. Einen reinen Monotheismus gibt es übrigens tatsächlich nicht. Der jüdische Monotheismus der Bibel ist vom Glauben an Dämonen, Zauberer und Hexen durchaus nicht frei, der christliche Monotheismus des Mittelalters ist an solchen heidnischen Vorstellungen noch viel reicher. Von dem bestialischen Sport, den Kirche und Staat mit dem Hexenfoltern und Hexenverbrennen getrieben haben, und der wohl größtenteils nicht durch Gewinnsucht, sondern eben durch die erwähnten Vorstellungen bedingt war, wollen wir schweigen. TYLOR hat in seiner lehrreichen Schrift "Über die Anfänge der Kultur" das Zauberwesen, den Aberglauben und Wunderglauben, der sich bei allen wilden Völkern findet, studiert, und mit den Meinungen des Mittelalters über Hexerei verglichen. Die Ähnlichkeit ist in der Tat auffallend. Und was im 16. und 17. Jahrhundert in Europa so häufig war, das Hexenverbrennen, das wird heute noch in Zentralafrika fleißig betrieben. Auch bei uns finden sich nocht, wie TYLOR nachweist, Spuren dieser Zustände in einer Unzahl von Gebräuchen, deren Verständnis uns mit dem veränderten Standpunkt verloren gegangen ist.

8. Die Naturwissenschaft ist diese Vorstellungen nur sehr langsam los geworden. Noch in dem berühmten Buch von PORTA ("Magia naturalis"), welches im 16. Jahrhundert erschien, und wichtige physikalische Entdeckungen enthält, finden sich Zaubereien und Teufeleien aller Art, welche jenen des indianischen "Medizinmannes" wenig nachgeben. Erst durch GILBERTs Schrift "De magnete" (1600) wurde diesem Spuk eine gewisse Grenze gesetzt. Wenn noch LUTHER persönliche Begegnungen mit dem Teufel gehabt haben soll, wenn KEPLER, dessen Muhme (Tante - wp] als Hexe verbrannt worden war, und dessen Mutter beinahe dasselbe Schicksal ereilt hätte, sagt, die Hexerei lasse sich nicht leugnen, und wenn er nicht wagt, sich frei über die Astrologie auszusprechen, so kann man sich die Denkweise der weniger Aufgeklärten lebhaft vorstellen.

Auch die heutige Naturwissenschaft weist in ihren "Kräften" noch Spuren des Fetischismus auf, wie TYLOR richtig bemerkt. Und daß die heidnischen Anschauungen von der gebildeten Gesellschaft  nicht  überwunden sind, können wir am albernen abgeschmackten Spiritistenspuk sehen, welcher jetzt die Welt erfüllt.

Es hat einen triftigen Grund, daß diese Vorstellungen sich so hartnäckig behaupten. Von den Trieben, welche den Menschen mit so dämonischer Gewalt beherrschen, die ihn nähren, erhalten und fortpflanzen, ohne sein Wissen und seine Einsicht. von diesen Trieben, deren gewaltige pathologische Ausschreitungen uns das Mittelalter vorführt, ist nur der kleinste Teil der wissenschaftlichen Analyse und der begrifflichen Erkenntnis zugänglich. Der Grundzug aller dieser Triebe ist das Gefühl der Zusammengehörigkeit und Gleichartigkeit mit der ganzen Natur, welches durch einseitige intellektuelle Beschäftigung zeitweilig übertäubt, aber nicht erstickt werden kann, welches gewiß auch einen  gesunden Kern  hat, zu welch monströsen religiösen Vorstellungen es auch Anlaß gegeben haben mag.

9. Wenn die französischen Enzyklopädisten des 18. Jahrhunderts dem Ziel nahe zu sein glaubten, die ganze Natur physikalisch-mechanisch zu erklären, wenn LAPLACE einen Geist fingiert, welcher den Lauf der Welt in alle Zukunft anzugeben vermöchte, wenn ihm nur einmal alle Massen mit ihren Lagen und Anfangsgeschwindigkeiten gegeben wären, so ist diese freudige Überschätzung der Tragweite der gewonnenen physikalisch-mechanischen Einsichten im 18. Jahrhundert verzeihlich, ja ein liebenswürdiges, edles, erhebendes Schauspiel, und wir können diese intellektuelle, einzig in der Geschichte dastehende Freude lebhaft mitempfinden.

Nach einem Jahrhundert aber, nachdem wir besonnener geworden sind, erscheint uns die projektierte Weltanschauung der Enzyklopädisten als eine  mechanische Mythologie  im Gegensatz zur  animistischen  der alten Religionen. Beide Anschauungen enthalten ungebührliche und phantastische Übertreibungen einer einseitigen Erkenntnis. Die besonnene physikalische Forschung wird aber zur Analyse der Sinnesempfindungen führen. Wir werden dann erkennen, daß unser Hunger nicht so wesentlich verschieden ist vom Streben der Schwefelsäure nach Zink, und unser Wille nicht so sehr verschieden vom Druck des Steins auf die Unterlage, als es gegenwärtig den Anschein hat. Wir werden uns dann der Natur wieder näher fühlen, ohne daß wir nötig haben, uns selbst in eine uns nicht mehr verständliche Staubwolke von Molekülen, oder die Natur in ein System von Spukgestalten aufzulösen. Die  Richtung,  in welcher die Aufklärung durch eine lange und mühevolle Untersuchung zu erwarten ist, kann natürlich nur vermutet werden. Das Resultat  antizipieren,  oder es gar in die gegenwärtigen wissenschaftlichen Untersuchungen einmischen zu wollen, hieße Mythologie statt Wissenschaft treiben.

Die Naturwissenschaft tritt nicht mit dem Anspruch auf, eine  fertige  Weltanschauung zu sein, wohl aber mit dem Bewußtsein, an einer  künftigen  Weltanschauung zu arbeiten. Die höchste Philosophie des Naturforschers besteht eben darin, eine unvollendete Weltanschauung zu  ertragen,  und einer scheinbar abgeschlossenen, aber unzureichenden vorzuziehen. Die religiösen Ansichten bleiben jedes Menschen eigenste  Privatsache,  solange er mit denselben nicht aufdringlich wird, und sie nicht auf Dinge überträgt, die vor ein anderes Forum gehören. Selbst die Naturforscher verhalten sich, je nach der Weite ihres Blicks und je nach ihrer Wertschätzung der Konsequenz, in dieser Richtung höchst verschieden.

Die Naturwissenschaft frägt gar nicht nach dem, was einer exakten Erforschung nicht zugänglich, oder noch nicht zugänglich ist. Sollten aber einmal Gebiete der exakten Forschung erreichbar werden, die es jetzt noch nicht sind, nun dann wird wohl kein wohlorganisierter Mensch, keiner, der es mit sich und andern ehrlich meint, Anstand nehmen, die  Meinung  über ein Ding mit dem  Wissen  von einem Ding zu vertauschen.

Wenn wir die heutige Gesellschaft oft schwanken sehen, wenn sie ihren Standpunkt auch in derselben Frage je nach der Stimmung und Lebenslage wechselt, wie die Register einer Orgel, wenn dies nicht ohne einen tiefen Gemütsschmerz abgehen kann, so ist dies eine natürliche notwendige Folge der Halbheit und des Übergangszustandes ihrer Ansichten. Eine zureichende Weltanschauung kann uns nicht  geschenkt  werden, wir müssen sie erwerben! Nur dann aber, wenn man dem Verstand und der Erfahrung freien Lauf läßt, wo sie  allein  zu entscheiden haben, werden wir uns hoffentlich zum Wohl der Menschheit langsam, allmählich aber sicher, jenem Ideal einer  einheitlichen  Weltanschauung nähern, welches allein verträglich ist mit der Ökonomie eines gesunden Gemüts.
LITERATUR: Ernst Mach, Die Mechanik in ihrer Entwicklung, Leipzig 1883