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RICHARD HERRMANN
Zur Lehre von den Axiomen

"Denknotwendige Urteile bezeichnen wir als Axiome. In dieser Bestimmung liegt zugleich, daß Axiome unmittelbar gewisse, von anderen Urteilen nicht abgeleitete Sätze sind. Es sei auf Sätze wie den von der Ausdehnung der Zeit, der Unvernichtbarkeit der Materie, der Gleichförmigkeit des Naturlaufs, die Grundsätzes der Mathematik hingewiesen."

"Volkelt  hat gezeigt, daß eine gesetzmäßige Verknüpfung fast auf keinem Gebiet empirisch nachweisbar ist, unsere Wahrnehmungen in Wirklichkeit ohne jede Regel aufeinander folgen. Und auch  Shute  spricht es aus, daß unsere Erwartung, daß auf Ähnliches Gleiches folgen wird, tausendfach getäuscht wird. Trotzdem geben wir unser Axiom  in praxi  nicht auf."

Die "Kritik der reinen Vernunft" unterscheidet bekanntlich zwei Arten von allgemeinen Urteilen:
    1. Urteile "von nur angenommener und komparativer Allgemeinheit (durch Induktion), Urteile a posteriori, und

    2. solche von "wahrer Allgemeingültigkeit und strenger Notwendigkeit", Urteile a priori.
Die Allgemeinheit der Urteile der ersten Klasse ist "eine willkürliche Steigerung der Gültigkeit von der, welche in den meisten Fällen, zu der, die in allen gilt". Genauer müssen diese Urteile dahin formuliert werden: "Soviel wir bisher wahrgenommen haben, findet sich von dieser oder jener Regel keine Ausnahme." Die Allgemeinheit der Urteile der zweiten Klasse soll den Sinn haben, daß etwas gar nicht anders sein kann. Bestimmter charakterisiert WHEWELL diese Urteile als solche, "bei denen die Verneinung der Wahrheit nicht nur unwahr, sondern unmöglich ist, bei denen wir selbst nicht durch irgendeine gewaltsame Anstrengung der Einbildungskraft oder auch nur voraussetzungsweise uns das Gegenteil von dem vorstellen können, was ausgesagt wird." Zum eigentlichen Kriterium der Allgemeingültigkeit eines Urteils ist hier seine Denknotwendigkeit bzw. die Unbegreiflichkeit seiner Verneinung gemacht.

Die apriorischen Sätze teilt KANT ein in analytische und synthetische. Ohne zu untersuchen, ob diese Unterscheidung richtig ist, besonders, ob es analytische Urteile im Sinn KANTs überhaupt gibt, möchten wir doch hervorheben, daß die Denknotwendigkeit das Kriterium für die Allgemeingültigkeit sowohl der von KANT als synthetisch wie der als analytisch bezeichneten Urteile ist. Denn wenn die Allgemeinheit der analytischen Urteile auf das Identitätsprinzip bzw. das  principium contradictionis  zurückgeführt wird, so ist doch wohl zu beachten, daß die Gültigkeit dieser Prinzipien selber einzig und allein auf ihrer Denknotwendigkeit beruth.

Solche allgemeinen, im obigen Sinne denknotwendigen Urteile bezeichnen wir als Axiome. In dieser Bestimmung liegt zugleich, daß Axiome unmittelbar gewisse, von anderen Urteilen nicht abgeleitete Sätze sind. Es sei auf Sätze wie den von der Ausdehnung der Zeit, der Unvernichtbarkeit der Materie, der Gleichförmigkeit des Naturlaufs, die Grundsätzes der Mathematik hingewiesen. Als allgemeines Kriterium derselben wollen wir im Folgenden nicht ihre Denknotwendigkeit, sondern die Unbegreiflichkeit ihrer Verneinung festhalten.

Wir verstehen dabei unter Unbegreiflichkeit mit MILL die Unfähigkeit, eine "Vorstellung" (idea) zu bilden oder loszuwerden, nicht aber die Unfähigkeit, einen Glaubenssatz (belief) zu bilden oder loszuwerden". MILL beleuchtet den Unterschied weiter durch folgende Beispiele: "Die älteren Naturforscher hielten das Dasein von Antipoden für unglaublich, weil für unbegreiflich. Aber Antipoden waren nicht unbegreiflich im ursprünglichen Sinne des Wortes. Eine Vorstellung von denselben konnte ohne Schwierigkeit gebildet werden; sie ließen sich vor dem geistigen Auge wohl abmalen. Die Schwierigkeit und, wie es damals schien, das Unmögliche war, sie als glaubhaft aufzufassen. Die Vorstellung von Menschen, die mit ihren Füßen an der unteren Seite der Erde hingen, ließ sich ganz wohl zusammensetzen, aber der Glaube ließ sich nicht abweisen, daß sie herunterfallen müßten. Antipoden waren nicht unvorstellbar, aber unglaubbar."
    "Andererseits, wenn ich mich bemühe, mir ein Ende der Ausdehnung zu denken, so widersetzen sich die beiden Vorstellungen ihrer Vereinigung. Versuche ich mir vom letzten Punkt des Raumes einen Begriff zu machen, so kann ich nicht umhin, mir noch einen ungeheuren Raum jenseits dieses letzten Punktes vorzustellen. Die Kombinatioin ist, unter den Bedingungen unserer Erfahrung, nicht vorstellbar."
Es sei erlaubt, um jedem Mißverständnis vorzubeugen, auch noch SPENCER zu zitieren:
    "Ein unvorstellbares Urteil ist ein solches, dessen Glieder durch keinerlei Anstrengung vor unserem Bewußtsein in diejenige Beziehung gebracht werden können, welche das Urteil als zwischen ihnen stattfindend aussagt - ein Urteil ist also, dessen Subjekt und Prädikat ihrer Vereinigung im Denken einen unüberwindlichen Widerstand entgegensetzen."
Ein unglaubliches Urteil dagegen ist ein solches, "das sich im Denken wohl ausgestalten läßt, das aber aller Erfahrung zuwiderläuft".

Der Einwand von SCHUBERT-SOLDERN, daß die Notwendigkeit der Induktion in dieser Definition keine Berücksichtigung findet, wird unten zur Sprache kommen.

Daß wir nun solche Urteile, deren Verneinung unbegreiflich ist, tatsächlich in unserem Bewußtsein vorfinden, wird auch von den typischen Vertretern des modernen Skeptizismus, von HUME, MILL, SHUTE nicht bestritten. Bezüglich des Umfangs ihrer Gültigkeit aber, im Unterschied von den zugestandenermaßen durch Induktion gefundenen Sätzen, sind die Ansichten verschieden. KANT hielt ihre Gültigkeit, wie wir sahen, für eine uneingeschränkte, absolute. Doch schon FRIES und BENEKE machten dagegen geltend, daß diese Urteile selber  a posteriori,  durch innere Erfahrung erkannt werden. Daß uns gewisse Vorstellungsverbindungen als notwendig erscheinen und immer so erschienen sind, kann ich durch Analyse des Selbstbewußtseins feststellen. Der Schluß, daß mir auch fernerhin diese Vorstellungsverbindungen als notwendige erscheinen werden, der Schluß also, daß ich in alle Zukunft in gleicher Weise urteilen werde, unterscheidet sich in nichts von einem durch Induktion aus dem sinnlich Wahrgenommenen gewonnenen Satz. Beide sind Verallgemeinerungen einer Reihe von Erfahrungen; der Unterschied zwischen äußerer und innerer Erfahrung fällt also nicht ins Gewicht.
    "Wir sind also", folgert  F. A. Lange  "in der Aufführung und Prüfung der allgemeinen Sätze, ... lediglich auf die gewöhnlichen Mittel der Wissenschaft beschränkt; wir können darüber nur  wahrscheinliche  Sätze aufstellen, ob die Begriffe und Denkformen, welche wir jetzt ohne allen Beweis als wahr annehmen müssen, aus der bleibenden Natur des Menschen stammen oder nicht, ob sie mit anderen Worten die wahren Stammbegriffe aller menschlichen Erkenntnis sind, oder ob sie sich einmal als Irrtümer  a priori  herausstellen werden."
Nach SHUTE sind die Gesetze der Zahl, welche wir durch Erfahrung über unsere eigene geistige Tätigkeit gewinnen, in keinem anderen Sinn notwendig wie die Gesetze der Verdauung.
    "Die Gesetze der Zahl werden ohne Zweifel die nämlichen bleiben, solange der Mensch derselbe bleibt, aber das gilt auch von den Gesetzen der Verdauung."

    "Auch hat die Unbegreiflichkeit der Verneinung dieser (Zahl-)Gesetze gar keine Bedeutung für die Frage nach ihrer Begründung." (1)
Ihm pflichtet UPHUES in einem besonderen Abschnitt über die "Wandelbarkeit der Vernunft" bei.

Ist diese Ansicht richtig?

Sehr klar hat von HEYDEBRECK das vorliegende Problem herausgearbeitet in seinem Vortrag "Über die Gewißheit des Allgemeinen". Er sagt:
    "Wenn der Satz (2 x 2 = 4) seine Gewißheit nur haben soll als Ausdruck eines wirklich ausgeübten eigenartigen Denkaktes, wie kann ihm dann jener Charakter des Allgemeinen zukommen, den er mit seinen so unbedingt hingestellten  2 x 2 = 4  in Anspruch nimmt? Jeder bestimmte wirkliche Denkakt scheint doch zunächst immer etwas ganz individuell Bedingtes sein zu müssen, als einzelne besondere Tätigkeit dieses Subjekts, unter diesen besonderen Umständen, an diesem ganz eigenen, mit allen möglichen Zufälligkeiten versetzten, individuell gefärbten Vorstellungsmaterial, für dessen Ausdruck solche Allgemeinheiten wie  Zwei  und  Vier  ganz unzureichend erscheinen. Wohl mag man mit Sicherheit sagen können, ich, dieser bestimmte Mensch, habe jetzt, zu dieser Stunde, diese Taler, diese Nüsse, diese Punkte, auf diese bestimmte Manier zählend, sowohl als zwei Zweiheiten wie als vier Einheiten gezählt; wie will ich aber daraus das Recht hernehmen zu der Behauptung, ich müsse zu jener Zeit, was und wie ich auch zähle, und gar jedes andere überhaupt mögliche Subjekt immerdas ebenso zählen, wie ich eben gezählt habe."
Die Frage ist also: Was garantiert mir die Unwandelbarkeit meiner Vorstellungsgesetze; was bürgt mir dafür, daß es mir nie gelingen wird, das jetzt unvorstellbare Gegenteil einer denknotwendigen Vorstellungsverbindung vorzustellen?

Auf dem Boden der Immanenz, auf dem ja die Skepsis steht, ist alles Sein Denken eines Seins. Das Sein hat mithin seine Grenzen da, wo das Denken des Seins seine Grenzen hat. Der Begriff des Möglichen fällt also zusammen mit dem des Denkbaren und der Begriff des Unmöglichen mit dem des Undenkbaren. Was ist nun das Denkbare im weitesten Sinne?

Unser Bewußtseinsinhalt besteht nicht nur in unmittelbaren Perzeptionen und ihren Reproduktionen, sondern wir haben in dem, was wir gewöhnliche Einbildungskraft nennen, die Fähigkeit, weit über das unmittelbar Gegebene und das Reproduzierte hinauszugehen. Wir vermögen vieles, was uns als ein Zusammen gegeben war oder als solches reproduziert wird, zu trennen und Getrenntes zu vereinigen. Die Einbildungskraft ist also sozusagen das am weitesten reichende seelische Vermögen. Sie bestimmt zugleich die Grenzen unseres Bewußtseins. Wir berufen uns auf HUME.
    "Man richte", so führt er aus, "seine Aufmerksamkeit so intensiv wie möglich auf die Welt außerhalb seiner selbst, man dringe mit seiner Einbildungskraft bis zum Himmel, oder bis an die äußersten Grenzen des Weltalls; man gelangt doch niemals einen Schritt weit über sich selbst hinaus, nie vermag man mit seiner Vorstellung eine Art der Existenz zu erfassen, die hinausginge über das Dasein der Daten, welche in dieser engen Sphäre des eigenen Bewußtseins aufgetreten sind. Dies ist das  Universum der Einbildungskraft,  wir haben keine Vorstellung, die nicht darin ihr Dasein hätte."
Das Denkbare oder Mögliche im weitesten Sinne ist also das phantasiemäßig Vorstellbare.

Aber noch auf einen zweiten bedeutsamen Punkt weist HUME hin, auf die Tatsache, daß ich nie aus der Sphäre  meines  Bewußtseins hinauskomme, und zwar, hätte er hinzufügen können, aus der Sphäre meines eigenen  gegenwärtigen  Bewußtseinszustandes. Denn wenn das eine wahr ist, daß ich nie aus meinem Ich hinausgelange, so auch das das andere, daß ich nie der Gegenwart entfliehe.

Meine Einbildungskraft also ist es, welche die ganze Welt des Möglichen umspannt. Sie umfaßt auch die möglichen Beziehungen, welche zwischen den Vorstellungen anderer Subjekte existieren können, sowie die zwischen meinen eigenen zukünftigen Vorstellungen. Denn diese möglichen Beziehungen sind doch wieder nur mögliche Beziehungen innerhalb meines gegenwärtigen Bewußtseinszustandes. Ein Mögliches, welches über das, was meine Phantasie vorzustellen vermag, hinausliegt, gibt es nicht. Der Satz: Ich kann durch keine Anstrengung meiner Einbildungskraft Vorstellungen in diese oder jene Beziehung bringen, involviert also die Unvollziehbarkeit der betreffenden Vorstellungsverbindung bei jedem anderen Subjekt und für alle Zukunft. Könnte ich mir die Vorstellungsverbindung mit der eigentümlichen Bestimmtheit: "im Bewußtsein eines anderen Subjekts" wirklich vollzogen vorstellen, so wäre ja die Voraussetzung aufgehoben.

Es braucht wohl kaum erwähnt zu werden, daß das Mögliche im Sinne des phantasiemäßig Vollziehbaren in einem anderen Sinn des phantasiemäßig Vollziehbaren in einem anderen Sinn Unmögliches, d. h. wahrnehmungsmäßig nicht Gegebenes sein kann. Das phantasiemäßig Unvollziehbare dagegen bezeichnet das absolut Unmögliche.

Wenn RICKERT auf diese Ausführungen erwidern wollte, daß ein bestimmtes Andersdenken allerdings nicht möglich, das Denken der entgegengesetzten Beziehung dagegen möglich sei, im Sinne der Forderung, sie als existierend zu setzen, so ist natürlich zuzugeben, daß die Forderung eine gedachte, im Bewußtsein vorhandene ist. Nur ist damit noch nicht erwiesen, daß die Beziehung selber gedacht ist. Darauf aber käme es an. Von einer anderen Seite greift uns SHUTE an. Er gibt zu: "Es ist unendlich schwierig, wenn nicht durchaus unmöglich, irgendeine Änderung in den Gesetzen der Zahl nur als wirklich eingetreten vorzustellen." Er erhebt dann aber den Einwand:
    "Wir können morgen die Fähigkeit die Vorstellung eines in Teile geteilten Ganzen zu bilden verlieren, dann wären die Zahl und ihre Gesetze nicht mehr vorhanden."
Sehr richtigt, wenn die Zahl nicht mehr vorhanden ist, dann sind es auch ihre Gesetze nicht. Das aber ist nicht das Problem, ob jene Zahlgesetze sich in jedem Bewußtsein vorfinden, sondern, wie von HEYDEBRECK von seinem Beispiel  2 x 2 = 4  ausführt, nur dies, daß, wenn sein Inhalt gedacht wird, er nur so und nicht anders gedacht werden muß.
    "Ob also überhaupt gezählt werden muß, ob die Vorstellungen der Multiplikation, der Gleichheit, der Zwei, der Vier im Denken sich finden müssen, und wie ein Bewußtsein, das sie enthält, zu denselben gelangt - von all dem ist hier nicht die Rede, sondern nur davon, daß dieser Vorstellungsinhalt, wenn er sich findet, sich nur in der Form finden kann, die bezeichnet ist durch den Satz  2 x 2 = 4;  d. h. in der Beziehung der Gleichheit."
Vielleicht aber wird man sich unseren Ausführungen gegenüber, daß das für unsere Einbildungskraft Unvorstellbare das Unvorstellbare überhaupt ist, auf die Erfahrung berufen. Scheinen sich doch bei Geisteskranken in der Tat solche Vorstellungsverbindungen vorzufinden, die wir als unbegreifliche im charakterisierten Sinn bezeichnen müssen. Wenn wir auch solche Personen für geistesgestört erklären, so sei, führt man aus, doch durch das Vorhandensein solcher für uns unvollziehbaren Urteile in ihrem Bewußtsein die Möglichkeit derselben erwiesen.

Dagegen ist zu erwidern, daß wir nicht den Schluß ziehen, der Kranke habe ganz dieselben Vorstellungen wie wir, nur die Beziehung zwischen ihnen sei eine andere, uns ganz unbegreifliche. Wir schließen vielmehr, daß die andere Beziehung auch durch ganz andere Vorstellungen bedingt ist, der Kranke also mit seinen Worten ganz andere Vorstellungen verbindet als wir. Nicht im Anderssein der Beziehung, sondern im Anderssein der denselben Worten entsprechenden Bewußtseinsinhalte zeigt sich die geistige Umnachtung. Und wenn man darauf hinweisen wollte, daß es viele geistig Gesunde gibt, die das, was ich als notwendige Wahrheit aufstelle, nicht als solche anerkennen, sondern sich das Gegenteil klar vorzustellen behaupten können, so bleibt, wenn ich keinen Anlaß habe, in die behauptete Klarheit Zweifel zu setzen, nur der obige Schluß, daß die Betreffenden mit ihren Worten andere Vorstellungen verknüpfen als wir.

Der zweite Einwand rührt von MILL her. Er sagt, daß mancher Satz, der früheren Generationen als absolut wahr, d. h. dessen Negation ihnen als unbegreiflich erschienen war, sich hinterher als falsch erwiesen hat. Zum Beispiel die Sätze, daß es keine Antipoden und daß es keine Fernwirkung gibt. SIGWART fügt in seiner Logik noch die Sätze: "Non datur vacuum" [Es gibt keinen luftleeren Raum. - wp], Gleichartiges wirkt nur auf Gleichartiges, die Wirkung dauert nur fort, wenn auch die Ursache fortdauert, hinzu. In diesen Fällen habe sich also das Merkmal der Unvorstellbarkeit der Verneinung des Urteils als ein unzureichendes Kritierium der Allgemeingültigkeit erwiesen. Auch in Bezug auf das, was für unvorstellbar galt, habe sich die Mehrheit geirrt. Mithin sei der Analogieschluß berechtigt, daß auch das, was uns unbegreiflich erscheint, dereinst als Wahrheit gelten kann.

Was zunächst den Satz, daß es keine Antipoden geben kann, anbetrifft, so haben wir oben gesehen, daß MILL ihn an anderer Stelle selbst nicht als Beispiel der hier behandelten Unbegreiflichkeit ansieht. Auch mag SPENCER wohl Recht haben, daß die Urteile, welche irrtümlicherweise angenommen worden sind, weil sie dieses Merkmal (der Unvorstellbarkeit des kontradiktorischen Gegenteils) zu besitzen schienen, laut  zusammengesetzte  Urteile waren, auf welche sich diese Probe gar nicht anwenden läßt. Die rechtmäßige Anwendung dieses Merkmals sei nämlich beschränkt auf Urteile, die nicht weiter zerlegbar sind. Von unserem Standpunkt aus jedoch müssen wir, selbst wenn noch soviel einstige Axiome sich als falsch erwiesen haben, die Berechtigung des Analogieschlusses für unsere notwendigen Wahrheiten prinzipiell ablehnen. Wir betonen aufs Neue, daß auf dem Boden der Immanenz das Zugeständnis, daß auch die Verneinung eines Urteils möglich ist, nur dann gemacht werden darf, wenn ich die betreffende Negation mir tatsächlich vorzustellen vermag. Nur auf dem Boden des Bewußten, d. h. des Vorstellbaren hat der Analogieschluß seine Berechtigung.

Vielleicht könnte trotz alles Vorherigen noch einer einwerfen: Zugegeben, daß der Gedanke, daß ich einst anders denken könnte, ein unmöglicher ist, - woher weiß ich, daß "die vom Denken unabhängige Natur der Objekte", die Wahrnehmungswelt, sich stets unseren Vorstellungsgesetzen fügen wird?

Aber ist die Wahrnehmungswelt wirklich unabhängig von unseren Vorstellungsgesetzen bzw. von den Gesetzen der Einbildungskraft? Was mir wirklich als Wahrnehmungswelt gegeben ist, ist ein höchst beschränkter Kreis von Daten: mein Zimmer mit seinen Büchern und seiner Möblierung, ein Teil der Straße, ein Stück Himmel, das ist so ziemlich alles. Was ich als ehemalige Wahrnehmungen bezeichne oder als solche, die später einmal eintreten werden, die  perceptibilia  der Vergangenheit und Zukunft, sind jetzt Vorstellungen; Vorstellungen allerdings mit eigentümlichem Charakter, den wir in die Worte kleiden, "vergangene oder zukünftige Wahrnehmungen" - aber trotzdem Vorstellungen. Ich kann mich hier auf von SCHUBERT-SOLDERN berufen.

Die Möglichkeit zukünftiger Wahrnehmungen setzt also ihre Vorstellbarkeit voraus. Und wenn ich etwas als unvorstellbar bezeichne, so heißt dies, daß ich mir das Betreffende nicht vorstellen kann, auch nicht als zukünftige Wahrnehmung. Könnte ich dies, so wäre ja die Voraussetzung, daß sie absolut unvorstellbar sind, hinfällig. Die Gesetze unserer Einbildungskraft gelten also darum für alle Wahrnehmungen der Vergangenheit und Zukunft, weil diese Selbst nur Gebilde unserer Einbildungskraft sind. Das ist der Grund dafür, daß sich die Tatsachen unseren Vorstellungsgesetzen fügen.

Daß die Gesetze unseres Vorstellens unbedingte Gültigkeit für die Wahrnehmungswelt haben, hat schon HUME erkannt. Er erklärt,
    "daß, was bei einem Vergleich dieser Vorstellungen unmöglich und sich selbst widersprechend erscheint, ohne Ausreden und Ausflüchte wirklich unmöglich und ein Widerspruch in sich sein muß."

    "Auf dieser Tatsache, daß alle Beziehungen, Widersprüche und Übereinstimmungen in den Vorstellungen zugleich für die Gegenstände Geltung haben, beruth alles unbedingt gewisse menschliche Wissen."
Ebenso sagt von SCHUBERT-SOLDERN in seinen 1884 erschienenen "Grundlagen einer Erkenntnistheorie": "Was nicht vorstellbar ist, kann auch nicht als wahrnehmbar erwartet werden". Und er fügt begründend hinzu, "denn die erwartete Zukunft selbst besteht aus Vorstellungen". Aber er ist nicht ganz konsequenz, wenn er fortfährt:
    "Jede Evidenz kann sich als falsch erweisen, die Vorstellung einer Trennung jener Bestandteile kann einmal gelingen; wir schließen das daraus, daß Vieles uns evident erschienen ist, was sich später als falsch herausgestellt hat, also  per analogiam  aus der Vergangenheit."
Wir haben oben dargelegt, daß der Analogieschluß auf das Unvorstellbar einen  transcensus [Transzendenz - wp] bedeutet.

Das Resultat unserer Untersuchung also ist: Alle Urteile, deren Verneinung eine Denkunmöglichkeit ist, sind von absoluter, ausnahmsloser Gültigkeit. Eine Änderung derselben ist unmöglich, weil eben undenkbar. Es ist also falsch, wenn F. A. LANGE meint, es sei wohl zu unterscheiden zwischen einem notwendigen und dem Nachweis eines notwendigen Satzes. Die Denknotwendigkeit eines Satzes involviert diesen Nachweis.

Das Problem, ob es notwendige und allgemeingültige Urteile gibt, hat in fundamentalerer Weise, als es hier geschehen ist, SCHUPPE gelöst, indem er zeigte, daß der sich auf Gründe berufende Versuch, solche Urteile abzulegen, das  probandum  [Beweis - wp] voraussetzt. SCHUPPE hat damit die prinzipielle Skepsis lahmgelegt. Er hat bewiesen, daß auch der Skeptiker notwendige und allgemeingültige Urteile kennt, nämlich die, welche er zur Begründung seines Zweifels voraussetzt.

Der Zweck der vorliegenden Arbeit war nachzuweisen, daß auf dem  Boden der Immanenz  jedes Urteil, das den Charakter der Denknotwendigkeit an sich trägt, dessen Verneinung also unbegreiflich ist, durch diese seine Eigenart gegen jeden skeptischen Einwurf gesichert ist.

Damit haben wir uns den Weg für die Untersuchung des Kausalitätsprinzips freigemacht.

Wäre es allgemein zugestanden, daß der Satz von der Gleichförmigkeit des Naturlaufs ein  Gesetz unseres Vorstellens  wäre, so wäre durch das Vorhergehende seine unwandelbare Allgemeinheit und seine Gültigkeit für die Tatsachen der Erfahrung nachgewiesen. Aber gerade dies ist vielfach bestritten, so von HUME, der diesen Satz ausdrücklich von denen, welchen er eine  intuitive  Gewißheit beilegt, ausnimmt. Ihm pflichtet MILL bei und ebenso von SCHUBERT-SOLDERN in seinem bereits genannten Werk. Er sagt:
    "Diese Behauptung  John Stuart Mills,  die auch mit den Ansichten  Humes  vollständig übereinstimmt, ist gewiß unanfechtbar, insofern sie die allgemeine Ursächlichkeit als ursprünglichen Grundsatz im Gemüt des Menschen angreift. Es gab und gibt heute noch Menschen und darunter Philosophen, die eine solche allgemeine Ursächlichkeit leugnen und an ihre Stelle in bestimmten Fällen Willkür und Ursachlosigkeit treten lassen."
Wir müssen zunächst auf von SCHUBERT-SOLDERNs Auffassung der Notwendigkeit überhaupt eingehen.

Die Erklärung der Notwendigkeit als desjenigen, dessen Gegenteil undenkbar ist, lehnt SCHUBERT-SOLDERN ab.

Nach ihm ist die Notwendigkeit eine Erwartung.
    "Man kann nicht von einer Notwendigkeit sprechen ohne damit eine Erwartung auszudrücken. Wenn ich sage, die drei Seiten dieses Dreiecks schließen notwendig drei Winkel ein, die zwei Rechte betragen, so hat das  Notwendig  nur Sinn, wenn ich damit die Erwartung ausspreche, daß alle Dreiecke, d. h. Figuren bestimmter Beschaffenheit diese Eigenschaften zeigen werden."
Wie stimmt damit der Satz auf Seite 307:
    "Es ist unmöglich, daß etwa ein und dieselbe Rose zugleicher Zeit rot und weiß ist; denn ein und derselbe Raumteil ist nicht gleichzeitig in zwei Farben vorstellbar  und was nicht vorstellbar ist, kann auch nicht als wahrnehmbar erwartet werden." 
Hier ist die Erwartung durchaus auf die Unvorstellbarkeit des Gegenteils gegründet. Und so heißt es auch weiter:
    "Evidenz liegt also nur in einer Verknüpfung, deren Trennung unvorstellbar ist; und dies ist klar, denn die erwartete Zukunft selbst besteht aus Vorstellungen,  und was ich mir nicht vorstellen kann, vermag ich für die Zukunft auch nicht zu erwarten." 

    "Dieselbe Linie oder derselbe Stab kann nicht zugleich gerade und krumm sein, einfach deswegen,  weil das unvorstellbar ist; der einmalige Versuch  einen solchen Stab oder Linie vorzustellen,  beweist  es ein für alle mal. Ebenso unmöglich ist es, sich parallele gerade Linien geneigt vorzustellen.  Darauf  beruth die Evidenz, daß parallele gerade Linien noch so weit verlängert, sich nie schneiden können;  ich kann nicht erwarten,  daß sie sich je schneiden werden,  wenn  ich mir gleichzeitig parallele gerade Linien  nicht  geneigt  vorstellen kann." 
So ist es in der Tat. Die Erwartung des unfehlbaren Eintreffens eines Datums beruth auf der Denknotwendigkeit derselben; und der einmalige Versuch, sich das Gegenteil vorzustellen genügt, das Denknotwendige als solches zu erweisen. SCHUBERT-SOLDERN wird hinsichtlich der hier angeführten Beispiele die Erwartung als das Sekundäre vielleicht zugeben, nicht aber im Satz von der Gleichförmigkeit des Naturlaufs.

Ist denn dieser Satz nur wirklich eine Denknotwendigkeit in dem Sinne, daß sein Gegenteil unvorstellbar ist?

Wenn die Evidenz dieses Satzes in der Form: Unter gleichen Bedingungen geschieht Gleiches, nicht unmittelbar einleuchtend ist, so stelle man sich einmal vor, daß unter den scheinbar selben Bedingungen das zweite Mal etwas Anderes eintritt als das erste Mal. Werden wir uns dabei beruhigen zu sagen, hier sei die Gleichförmigkeit des Naturlaufs aufgehoben? Im Gegenteil, wir werden die Voraussetzung, daß dieselben Bedingungen vorgelegen haben, sofort fallen lassen, und  mit Notwendigkeit wird sich uns der Gedanke aufdrängen: die Bedingungen waren im zweiten Fall andere als im ersten.  Ich meine, das ist entscheidend. VOLKELT hat gezeigt, daß eine gesetzmäßige Verknüpfung fast auf keinem Gebiet empirisch nachweisbar ist, unsere Wahrnehmungen in Wirklichkeit ohne jede Regel aufeinander folgen. Und auch SHUTE spricht es im Abschnitt "über die künstlichen Ursachen" aus, daß unsere Erwartung, daß auf Ähnliches Gleiches folgen wird, tausendfach getäuscht wird. Trotzdem geben wir unser Axiom  in praxi  nicht auf. Wenn sich die Wahrnehmungen demselben nicht fügen, so vergewaltigen wir sie. Wir konstruieren uns phantasiemäßig hinter der unmittelbar wahrgenommenen Welt eine Welt der Atome, in der die Veränderungen gesetzmäßig verlaufen, dergestalt, daß ich da, wo die Wahrnehmungswelt Lücken hat, sie durch erdichtete Vorgänge in der Atomwelt ausfülle. Und so oft ich meine, daß eine diesem Zweck dienende Hypothese in Widerspruch gerät mit dem genannten Axiom, modifiziere ich sie dementsprechend. KAUFFMANN hat dies ausführlich im ersten Teil seiner "Immanenten Philosophie" dargelegt, besonders auch, wie jener Grundsatz es ist, auf dem die Konstruktion von Vergangenheit und Zukunft basiert. Das Bestreben, jede Gruppierung von Daten, welche unserem Axiom widerspricht, derartig phantasiemäßig zu ergänzen, daß der Widerspruch aufgehoben ist, erweist jenes Axiom aufs Neue als ein  Gesetz unseres Vorstellens.  Und als solches ist es, wie wir gezeigt haben, von absoluter Gültigkeit.

SHUTE wendet gegen das Gesetz ein, es sei zwar wahr, aber nichtssagend, weil genau dieselben Umstände nie wiederkehren; dasselbe sagt KAUFFMANN, aufgrund der Voraussetzung, daß als Ursache, bzw. als Wirkung nicht ein einzelner zeitlicher Tatbestand gelten darf, welcher mit anderen Tatbeständen ein und denselben zeitlichen Ort teilt, sondern alles in einem beliebigen Zeitort Befindliche dafür anzusehen sei. Aber nicht die Unterscheidung, sondern die Verallgemeinerung, das Für-Ähnlich-halten ist das Grundprinzip der menschlichen Seele. Mit Recht sagt von SCHUBERT-SOLDERN:
    "Ich glaube nicht, daß ein Kind erst so und so viel Mal erfahren haben muß, daß Feuer brennt, d. h. daß unter Umständen die Gesichtsempfindung des Feuers mit einer Schmerzempfindung verbunden ist, ehe es sich beim Anblick des Feuers fürchtet. Im Gegenteil, die Verallgemeinerung wird beim Kind anfangs zu weit gehen, es wird vielleicht alles stark Glänzende für Feuer, alles Weiße für Zucker halten, d. h. glauben, daß mit jedem Glanz eine Schmerzempfindung, mit jeder Weiße die Empfindung des Süßen verbunden ist."
Kraft dieses Prinzips übersehen wir, "die besonderen Umstände" und subsumieren unter unser Axiom anfangs im Übermaß. Weiter entwickelt sich die Konstatieung bestimmter Kausalzusammenhänge folgendermaßen: Es bleibt in einem mit anderen für identisch gehaltenen Vorgang die erwartete Wirkung aus. Wir suchen und finden in den Antezedentien [Vorhergegangenem - wp] Unterschiede und machen diese zu Ursachen der verschiedenen Wirkungen, das Identische, das erst die Aufmerksamkeit am meisten auf sich lenkte, wird ausgemerzt. So lernen wir aus der unendlichen Fülle des Ähnlichen bestimmte, unterschiedene Erscheinungen zu fixieren und ihre Zusammenhänge festzustellen. Korrigierend und präzisierend aber tritt das Axiom in der anderen Form, in der es uns zum Bewußtsein kommt, ein: "Gleiche Wirkungen haben gleiche Ursachen." Es ist schwer begreiflich, wie man die Wahrheit dieses Satzes, der doch die Grundlage jeder wissenschaftlichen Induktion bildet, hat bezweifeln können. Indem wir die gleiche Wirkung bei scheinbar verschiedenen Ursachen bemerken, suchen und erschließen wir schließlich ein bei den verschiedenen Antezedentien Identisches. Dieses, welches durch Aussonderung gewonnen, seiner Natur nach etwas Abstraktes ist, setzen wir als Ursache. Von den individuellen Besonderheiten lernen wir absehen.

Es ist dies die Lehre SCHUPPEs.

Er faßt seine Ausführungen zusammen in dem Satz:
    "Die Kausalitätsaussage ist also trotz aller entgegenstehenden Beispiele in ihrem Grund und Wesen  immer allgemein,  insofern sie sich nicht an das individuelle Ganze mit allen kleinsten Zügen seiner Individualität und seinem ganzen bestimmten Hier und Jetzt, sondern unter Abstraktion, entweder von diesem Hier und Jetzt, oder von den erfüllenden Qualitäten (wodurch das Hier und Jetzt natürlich sofort den Charakter des Allgemeinbegriffs erhält)  an ausgesonderte Erscheinungselemente oder begriffliche Momente bzw. Komplexe von solchen (wie sie in der Dingart und Gattung vorliegen) wendet." 
Auf diesem Komplex  abstrakter  Momente wenden wir dann unser Axiom an, indem wir sagen, wo immer sich jener findet, muß dieselbe Wirkung eintreten. So ergeben sich feste allgemeine, weil zwischen  abstrakten  Momenten bestehende Zusammenhänge. Das so gefundene Gesetz, welches bestimmte Momente miteinander verknüpft, bleibt allerdings immer hypothetisch. Es gilt solange, bis die erwartete Wirkung einmal ausbleibt. Dann suche ich in der Ursache, die ich als etwas Einfaches, Unzerlegbares angesehen habe, Unterschiede zu finden, die ich bis auf Weiteres als die notwendigen Bedingungen der verschiedenen Wirkung ansehe.

Das einzelne Naturgesetz, das geben wir SCHUBERT-SOLDERN zu, ist keine Denknotwendigkeit und folglich nicht im strengsten Sinne notwendig. Es gilt nur bedingungsweise. Der Satz von der Gleichförmigkeit des Naturverlaufs dagegen beansprucht absolute Gültigkeit.

LITERATUR Richard Herrmann, Zur Lehre von den Axiomen, Zeitschrift für immanente Philosophie, Bd. 2, Berlin 1897
    Anmerkungen
    1) Zitiert nach UPHUES, Grundlehre der Logik.