cr-4Versuch über den menschlichen VerstandJohn Locke    
 
KARL FAHRION
Die Sprachphilosophie Lockes

"Lockes Sprachphilosophie ist nicht rein nominalistisch, wie sie vielfach aufgefaßt wird. Die allgemeinen Begriffe sind nicht bloße Namen; es entspricht ihnen ein Sein, nur ist uns dieses Sein verborgen. Seine Sprachphilosophie enthält deshalb auch dieselben Widersprüche wie seine Substanzlehre. Die Namen der einfachen Ideen sollen von einer realen Existenz entnommen sein und auf eine solche hinweisen; die Namen der Substanzen aber, die doch aus einfachen Ideen zusammengesetzt sind, sollen willkürlich gebildet und das ihnen entsprechende Sein soll uns vollständig unbekannt sein."

Wer in den Gedankengang des LOCKEschen Hauptwerkes einzudringen versucht, kommt immer wieder auf das dritte Buch zurück, über das er am Anfang weggelesen hat, weil es nach der Überschrift vom eigentlichen Thema abzuliegen scheint. Aus diesem Grund wird auch das "vielleicht wichtigste und geistvollste" unter den vier Büchern in den meisten Darstellungen der LOCKEschen Lehre als Digression [Abschweifung - wp] übergangen, was EDMUND PFLEIDERER schon vor längerer Zeit beklagt hat. (1) Auch seither ist darin keine Wandlung eingetreten. Im folgenden soll deshalb untersucht werden, welche besondere Bedeutung dem dritten Buch im Ganzen der LOCKEschen Lehre zukommt. Es wird gezeigt,  daß  LOCKEs Sprachphilosophie vor allem der Klarstellung des Substanzbegriffs dienen soll, daß die Sprachphilosophie selbst vom LOCKEschen Substanzbegriff beeinflußt ist, daß das dritte Buch im besonderen die psychologische Entstehung des doppelten Substanzbegriffes erklären will und insofern den Höhepunkt des LOCKEschen Denkens darstellt, endlich, daß aus diesem Grund die weitere Entwicklung der englischen Philosophie an das dritte Buch LOCKEs angeknüpft hat.

LOCKE selbst spricht davon, daß er nicht von Anfang an auf die Bedeutung der Wörter achten zu müssen geglaubt habe, sondern erst nachdem er über den Ursprung und die Zusammensetzung der Ideen hinausgekommen sei und den Umfang und die Sicherheit unseres Wissens zu prüfen begonnen habe. (2) LOCKE empfand also, daß zwischen dem, was er im 2. Buch abhandelte und dem, was er im 4. Buch untersuchte, eine Lücke ist, daß das 2. Buch nach einer Seite hin einer Ergänzung bedarf. Dieser nicht ganz geklärte Begriff kann kein anderer sein, als der Substanzbegriff, in dem bei LOCKE die Hauptfrage der neueren Philosophie, die Frage nach dem Verhältnis von Denken und Sein, zum Ausdruck kommt.

Sie macht dem Philosophen die größten Schwierigkeiten; denn sein Standpunkt ist durch gegensätzliche Motive bestimmt. Auf der einen Seite kann er ein von der Vorstellung verschiedenes Sein nicht entbehren. Seine Problemstellung geht von einem naiven Glauben an die Außenwelt aus. Er spricht überall von Objekten, die auf die Sinne einwirken; ja er läßt die Ideen von den Körpern durch einen Stoß hervorgebracht werden (II. 8, 11). Seine Unterscheidung einfacher und zusammengesetzter Ideen, primärer und sekundärer Qualitäten ist nicht möglich ohne die Annahme einer von den Iden verschiedenen Wirklichkeit. Auf der anderen Seite aber sind Sinneswahrnehmung und Selbstbeobachtung für ihn die einzigen Quellen unserer Ideen. Durch sie werden uns aber nur die einfachen Ideen geliefert, welche die sinnlichen Eigenschaften der Dinge, wie Ausdehnung, Gestalt und Farbe zum Inhalt haben. Unsere Ideen sind wohl zu unterscheiden von der Natur der existierenden Gegenstände; von diesen können wir, da unser Geist keinen anderen unmittelbaren Gegenstand hat als unsere Ideen, überhaupt nichts aussagen. Die einfachen Ideen bilden die Grenzen unseres Denkens, über die der Geist nicht um ein Jota hinauskommen kann; von der Idee der Substanz des Körpers snd wir gerade so weit entfernt, als wenn wir überhaupt nichts von ihm wüßten. (II. 23, 29 und 16).

LOCKE setzt also auf der einen Seite ein von der Idee verschiedenes Sein voraus, auf der anderen lehrt er, daß es von unseren Ideen nicht erfaßt wird. Daher ist seine Lehre von der Substanz zwiespältig und ist es immer geblieben. Er faßt den Begriff zuerst in der alten Weise; es ist das den wahrgenommenen Erscheinungen zugrundeliegende wahre und bleibende Sein, der Träger der sinnlichen Eigenschaften. Von der Substanz in diesem Sinn haben wir gar keine Erkenntnis; wer sein Denken prüft, findet, daß er keine andere Idee von ihr hat als nur die Voraussetzung von er weiß nicht welcher Stütze solcher Eigenschaften, die einfache Ideen in uns hervorzubringen vermögen, und die man gewöhnich Akzidentien nennt. (II. 23, 2).

Neben diesen alten Begriff stellt LOCKE einen neuen. Für den Philosopehen sind nach seiner Meinung die Substanzen nur eine Sammlung solcher einfacher Ideen, die als Repräsentanten von bestimmten einzelnen aus ihnen bestehenden Dingen gelten (II. 12, 6). Der erste Begriff bezieht sich, wie LOCKE sagt, auf die Substanz im allgemeinen, der andere betrifft die einzelnen Substanzen, also die Dinge. Es ist nun aber nicht so, daß LOCKE, wie später BERKELEY, den alten Substanzbegriff aufheben und den Dingbegriff allein übrig behalten würde, sondern die zwei Bestimmungen sind nach seiner Meinung beide notwendig und nicht voneinander zu trennen. Auch die Substanz im zweiten Sinn, als Summe einfacher Ideen, ist kein genauer Begriff. Die Eigenschaften und Kräfte der Substanzen sind so mannigfalti, daß keines Menschen Idee sie alle enthält (II. 31, 8). LOCKE gibt also den metaphysischen Begriff der Substanz nicht auf, deshalb hat sein Begriff, seinem doppelten Ausgangspunkt entsprechend, einen doppelten Inhalt. Die Substanzideen haben in unserem Geist eine doppelte Beziehung:
    1. Zuweilen beziehen sie sich auf ein vorausgesetztes wirkliches Wesen jeder Art von Dingen.

    2. Zuweilen sollen sie nur Abbildungen und Darstellungen existierender Dinge im Bewußtsein mit Hilfe von Ideen der in ihnen zu entdeckenden Eigenschaften sein.
Sowieso sind diese Kopien jener Originale und Urbilder unvollkommen und ungenau. (II. 31, 6) Unsere komplexen Ideen von Substanzen enthalten neben all den einfachen Ideen, woraus sie bestehen, immer noch die verworrene Idee von etwas, dem jene angehören und worin sie den Grund ihrer Existenz finden. Es ist immer noch die Voraussetzung dabei, daß die Substanz etwas außer der Ausdehnung, Gestalt, Solidität, Bewegung, dem Denken oder anderen wahrnehmbaren Ideen ist, obgleich wir nicht wissen, was das ist. (II. 23, 3)

Es ist zu verstehen, daß LOCKE das Bedürfnis empfand, diesen so merkwürdig verwickelten und verworrenen Begriff aufzuklären (3). Daß er zu diesem Zweck auch auf die Bedeutung der Wörter zurückging, mag äußerlich darin begründet sein, daß der Philosoph in seiner Jugend die mittelalterliche Philosophie und namentlich die Lehre des OCKHAM von den Universalien studiert hatte. Innerlich begründet ist sein Unternehmen in dem Umstand, daß der Substanzbegriff LOCKEs, wenigstens nach einer Seite hin, inhaltslos, also nichts weiter als ein Wort ist; wenn außerdem beiden Substanzbegriffe ungenau sind und das Wesen der Substanz nicht wiedergeben, so lag der Schluß nahe, ihre Bedeutung beruth auf dem Zweck der sprachlichen Mitteilung. Der Philosophe jedenfalls betrachtet sein Zurückgreifen auf die Bedeutung der Wörter wie eine neue, wichtige Entdeckung. Die Erzählung im 3. Buch (Kap. 9, § 16) steht in Parallele zu der aus der Einleitung bekannten. Wie ein Streit unter Bekannten ihn auf den schöpferischen Gedanken geführt hat, vor der Entscheidung über die Probleme müsse man prüfen, wie weit unsere eigenen Fähigkeiten gehen, so geht ihm bei einem zweiten Streit die Erkenntnis auf, vor jeder genaueren Untersuchung müsse man zuerst die Bedeutung der Wörter prüfen.

Die Ausführung seiner Absicht enthält das 3. Buch. Für unseren Zweck genügt es, einen kurzen Überblick über ihren allgemeinen Teil, also über die drei ersten Kapitel, zu geben. Manches ist dabei ausgelassen oder umgestellt, da LOCKEs Darstellung wegen ihrer ewigen Wiederholungen wenig übersichtlich ist; auch so tritt die eigentliche Meinung LOCKEs erst allmählich deutlich hervor.

Im 1. Kapitel ist die Rede von der Sprache im allgemeinen, von der Fähigkeit des Menschen, artikulierte Laute hervorzubringen, diese zu Zeichen seiner Ideen zu machen und allgemeine Zeichen zu bilden. Bald geht LOCKE über zur Einteilung des Stoffs; er will zeigen, erstens, worauf im Sprachgebrauch Namen unmittelbar Anwendung finden und zweitens, worin das Wesen der Gattunen und Arten bestehe; denn die meisten Namen sind nach seiner Meinung allgemein und drücken Arten und Klassen von Dingen aus. Weiter soll gezeigt werden, worin die natürlichen Vorzüge und Mängel der Sprache bestehen, wie der Mißbrauch der Wörter entsteht und wie ihm gesteuert werden kann.

Die erste Frage wird raschin im zweiten, kurzen Kapitel abgehandelt. Die Wörter sind für die Mitteilung unserer Gedanken notwendige sinnliche Zeichen. Sie sind zunächst nur die Zeichen der Ideen dessen, der sie gebraucht; sie drücken weder die Idee eines anderen noch die Eigenschaft eines Dings aus. Tatsächlich aber haben sie oft eine verborgene Beziehung auf die Ideen anderer. Sie setzen voraus, daß unsere Wörter auch den Ideen anderer entsprechen und ebenso werden sie auch auf die wirklichen Dinge bezogen, da die Menschen nicht in den Verdacht kommen wollen, von bloßen Einbildungen zu reden.

Im 3. Kapitel wendet sich LOCKE der zweiten Frage zu, wie es sich mit den Namen der Gattungen und Arten verhalte. Die meisten Wörter, führt er aus, sind allgemein; denn es ist unmöglich und unnötig, für jedes einzelne Ding einen Namen zu haben. Wörter werden dadurch allgemein, daß sie zu Zeichen allgemeiner Ideen gemacht werden, Ideen dadurch, daß sie von den örtlichen und zeitlichen Umständen und irgendwelchen anderen Ideen getrennt werden, die ihnen die Bestimmtheit dieser oder jener einzelnen Existenz geben. Man läßt von den Ideen der einzelnen Individuen das aus, was jeder von ihnen eigentümlich ist und behält nur das allen Gemeinsame zurück. Auf diesem Weg der Abstraktion erhalten die Ideen die Fähigkeit, mehrere Individuen als eines darzustellen. Die allgemeinen Wörter bezeichnen nicht bloß ein einzelnes Ding, auch nicht eine Mehrheit, sondern eine Art von Dingen. Sie sind Erfindungen und Schöpfungen des Verstandes und deshalb besteht das Wesen der Arten eben in der abstrakten Idee.

Freilich ist zuzugeben, daß die Natur bei der Hervorbringung der Dinge eine Anzahl derselben ähnlich gestaltet, wie wir es besonders deutlich sehen an den Tiergeschlechtern und an allen sich durch Samen fortpflanzenden Wesen. Aber das reale Wesen dieser Gattungen, d. h. die Ursache der Gleichförmigkeit, kennen wir nicht. Wir wissen nichts von einer gewissen Anzahl von Formen und Schablonen, worin alle existierenden Naturdinge gegossen wären, und woran sie gleichmäßig teil hätten. Mit der Vernunft läßt sich über das reale Wesen der Gattungen und Arten nichts ausmachen. Ein Beweis dafür ist die Tatsache, daß schon oft bei der Geburt eines Kindes ein Streit entstand, ob es ein Mensch sei oder nicht. Das ist nur deshalb möglich, weil wir das reale Wesen des Menschen nicht kennen und weil unsere Idee "Mensch" nur eine unsichere und wandelbare Sammlung einfacher Ideen ist, die der Verstand zusammengefügt hat. Wir bilden solche Sammlungen einfacher Ideen zum Zweck der leichteren Mitteilung des Wissens und legen ihnen einheitliche Namen bei, um so die Dinge gleichsam bündelweise betrachten und besprechen zu können.

Es sind demnach zwei Bedeutungen von Wesen auseinanderzuhalten, das nominale und das reale. Das reale ist die wirkliche, innere, wenn auch unbekannte Beschaffenheit der Dinge, das, wodurch sie sind, was sie sind. Unsere allgemeinen Ideen beziehen sich nun gewöhnich auch auf ein solches reales Wesen, aber zu unrecht, da uns dieses unbekannt ist und wir nach ihm niemals die Dinge in Gattungen und Arten einteilen könnten. Wir können die Dinge nur nach den vom Verstand gebildeten abstrakten Ideen sortieren. Das Wesen der Gattungen und Arten liegt also in der abstrakten Idee; sie stellen nur das nominale Wesen dar, d. h. die Summe der wahrnehmbaren Eigenschaften, nach denen wir die Dinge benennen.

Auf diese drei ersten Kapitel des dritten Buches folgen noch andere, in denen LOCKE zuerst seine allgemeine Sprachphilosophie auf die einzelnen Arten von Ideen anwendet und dann allgemeinere Bemerkungen über die Unvollkommenheit der Wörter und ihren Mißbrauch macht. Er stellt darin seine Auffassung der Wörter immer wieder von einer neuen Seite dar, in der Hauptsache aber gibt er eine praktische Anwendung und eine Wiederholung seiner Sprachphilosophie.

Es ist nicht schwer zu sehen, daß diese hauptsächlich oder fast allein auf den Substanzbegriffe berechnet ist. Denn nicht nur ist der Abschnitt über die Substanznamen (Kap. 6) der umfangreichste, die Unterscheidung von Nominal- und Realwesen, in der die allgemeinen Ausführungen LOCKEs gipfeln, findet gar keine Anwendung auf die anderen Wortarten. Bei den Namen der einfachen Ideen fällt, wie LOCKE im 4. Kapitel ausführt, Real- und Nominalwesen zusammen; sie sind vollständig dem Dasein der Dinge entnommen und ganz und gar nicht willkürlich. Ihnen entspricht also wirklich eine reale Existenz. Die Namen der gemischten Modi und Relationen aber sind willkürlich und ohne Rücksicht auf ein reales Dasein vom Geist geschaffen. Bei ihnen handelt es sich also gar nicht um ein reales Wesen; denn ihre Realität besteht allein und ganz in der Idee. Nur nebenbei soll erwähnt werden, daß auch die Art, wie die Namen der einfachen und gemischten Modi entstehen, nicht zu der im 3. Kapitel (§ 6 und 7) angegebenen paßt, d. h. daß sie nicht auf dem Weg der Abstraktion zustande kommen können. Was LOCKE dagegen über die Substanznamen sagt, ist nichts anderes als eine Wiederholung seiner allgemeinen Sprachphilosophie. Hier fallen nominales und reales Wesen auseinander. Die Natur macht die Ähnlichkeiten, aber die Menschen bestimmen die Arten. Jede Substanz hat wohl ihre eigentliche innere Beschaffenheit, worauf die sinnlichen Eigenschaften und Kräfte, die wir an ihnen wahrnehmen, beruhen; aber das Einordnen der Dinge in Arten geschieht den Ideen gemäß, die wir von ihnen haben (III. 6, 13). Die Substanzidee besteht nur aus einer Sammlung von sinnlichen Ideen, die wir an den Substanzen wahrnehmen (III. 6, 9) Bei ihrer Bildung verfahren die Menschen willkürlich; sie haben mehr die Bequemlichkeit der Sprache im Auge als die wahre und genaue Natur der Dinge; die Namen sind deshalb schwankend und unsicher und bei verschiedenen Menschen verschieden. Die Substanznamen haben also nach LOCKEs Meinung eine Beziehung sowohl auf das reale als das nominale Wesen; aber beide Beziehungen sind ungenau. Das reale Wesen ist uns unbekannt und die Sammlung einfacher Ideen, welche das nominale Wesen darstellen, ist unvollständig, weil es dem doch vorhandenen realen Wesen nicht entspricht.

Das zeigt, daß die Sprachphilosophie nicht bloß auf den Substanzbegriffe berechnet ist, sondern, daß sie von Anfang an die Eigentümlichkeiten des LOCKEschen Substanzbegriffs in sich enthält. LOCKE stellt nicht eine voraussetzungslose Untersuchung an über die alte Frage nach der Bedeutung der Universalia, sondern er nimmt sogleich, wie es seiner Erkenntnistheorie entspricht, an, daß die allgemeinen Ideen, auf welche die allgemeinen Wörter sich beziehen, zusammengesetzter Art sind; diese Ideen aber sind nach seiner Lehre vom menschlichen Geist geschaffen und sind keine Abbilder der Wirklichkeit. Daneben aber setzt er voraus, was allein für die Substanz zutrifft, daß die allgemeinen Ideen doch in der Ähnlichkeit der Dinge ihre Grundlage haben; sie enthalten also doch einen Hinweis auf das Sein. LOCKEs Auffassung der Wörter ist also von Anfang an durch seinen Substanzbegriff bestimmt; die Unterscheidung des realen und nominalen Wesens entspricht ganz seinem doppelten Substanzbegriff. LOCKEs Antwort ist deshalb beidemal nicht eindeutig. Seine Sprachphilosophie ist nicht rein nominalistisch, wie sie vielfach aufgefaßt wird (4). Die allgemeinen Begriffe sind nicht bloße Namen; es entspricht ihnen eine Sein, nur ist uns dieses Sein verborgen. Seine Sprachphilosophie enthält deshalb auch dieselben Widersprüche wie seine Substanzlehre. Die Namen der einfachen Ideen sollen von einer realen Existenz entnommen sein und auf eine solche hinweisen; die Namen der Substanzen aber, die doch aus einfachen Ideen zusammengesetzt sind, sollen willkürlich gebildet und das ihnen entsprechende Sein soll uns vollständig unbekannt sein. Weiter sollen auf der einen Seite unsere Substanznamen mit der wahren Natur der Dinge übereinstimmen, wir sollen, verlangt der Philosoph, die Natur und die Eigenschaften der Dinge selbst untersuchen, um dadurch unsere Artbegriffe zu vervollkommnen; auf der anderen Seite wird nach LOCKEs Lehre (III. 6, 48f) ein reales Wesen nur deshalb vorausgesetzt, um den Arten Festigkeit zu geben und dadurch die Wörter brauchbarer zu machen.

Durch die Sprachphilosophie ist also die Frage nach der Substanz in keiner Weise gelöst oder auch nur geklärt; im Gegenteil, das 3. Buch ist, wenn das genialste, dann gewiß auch das widersprüchlichste. Auf alle Widersprüche einzugehen, ist hier nicht der Ort; wenn aber die Sprachphilosophie so wenig zur Lösung beiträgt, so müssen wir fragen: Welchen Zweck hat sie dann und welchen Dienst leistet sie LOCKE? Sie soll seinen widerspruchsvollen Substanzbegriff stützen und rechtfertigen, indem sie eine psychologische Erklärung desselben gibt. Die Sprachphilosophie gibt an, was der Begriff, sofern er aus einer Sammlung einfacher Ideen besteht, zu bedeuten hat und welchen Zweck er erfüllt. Er ermöglicht es, die Dinge bündelweise zu betrachten und unser Wissen rasch und leicht mitzuteilen. Aber auch die Beziehung des Begriffs auf eine reale Existenz ist erklärt. Die eben erwähnten letzten Paragraphen des 6. Kapitels sind hier wohl zu beachten. Nur aus sprachlichen Gründen, sagt LOCKE, wird ein reales Wesen vorausgesetzt. Unsere Substanzideen als Sammelbegriffe sind unvollständig und deshalb schwankend. Müßten wir deshalb annehmen, unsere Nebenmenschen verstehen unter ihren Namen etwas anderes als wir, so wäre das ein großes Hindernis für den Gebrauch der Sprache. Man setzt daher voraus, daß zu jeder Art ein reales Wesen gehört und daß unser Name dieses reale Wesen in sich enthält und ausdrückt. Durch diese Erklärung ist der Dualismus LOCKEs sanktioniert. Freilich ist zugleich der Substanzbegriff noch mehr in den Hintergrund gedrängt. Es gibt wohl eine Substanz, aber unsere Erkenntnis erscheint doch ganz als subjektiver Besitz und zum Teil als subjektiven Ursprungs. Nun ist eine Vermittlung zwischen dem 2. und 4. Buch gefunden; LOCKE konnte getrost an die Aufgabe herantreten, Umfang und Sicherheit des Wissens zu untersuchen und konnte mit dem Satz beginnen, daß die Wahrheit in der Erkenntnis der Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung zweier Ideen besteht, ein Satz, an dem er freilich im späteren Verlauf wieder nicht konsequent festhielt.

Die Sprachphilosophie stellt also eine idealistische Weiterbildung der LOCKEschen Lehre dar; bei dem Versuch, seinen Realismus zu stützen, wird der Philosophe von selbst auf die idealistische Bahn gelenkt (5). Das kommt äußerlich darin zum Ausdruck, daß LOCKEs Nachfolger, BERKELEY, gerade an die Sprachphilosophie angeknüpft hat. Man brauchte nur diese Stütze des Substanzbegriffs wegzunehmen, so wurde der Begriff hinfällig. Nun war ein Angriff auf die Sprachphilosophie nicht schwer. LOCKE gründete das Recht des Substanzbegriffs auf seinen sprachlichen Zweck und diesen auf den Charakter des Begriffs als eines allgemeinen und abstrakten. Dadurch entstanden große Schwierigkeiten. Denn im 2. Buch hatte LOCKE eine Idee der Substanz im allgemeinen, dann die Ideen eigentümlicher Arten von Substanzen, endlich komplexe Sammelideen von Substanzen unterschieden. Wie kann man sich nun unter diesen Ideen zurechtfinden, wenn doch nach dem 3. Buch auch die Ideen der eigentümlichen Arten der Substanzen allgemeiner Natur sind? BERKELEY löste die Schwierigkeit, indem er in der Einleitung zu den Prinzipien die Existenz allgemeiner, abstrakter Ideen kurzerhand leugnete. Damit war der LOCKEsche Substanzbegriff zerstört. BERKELEY fand dabei Anknüpfungspunkte bei LOCKE selbst, so im 4. Buch (17. 8), wo dieser ausführt, daß das unmittelbare Objekt all unseres Wissens nur einzelne Dinge sind, daß unseren partikularen Ideen Allgemeinheit nur beiläufig zukommt und nur darin besteht, daß ihnen mehr als ein einzelnes Ding entsprechen kann. Und im 3. Buch (10, 15) bezeichnet LOCKE schon die Materie als bloßes Wort und leugnet, daß es ein solches vom Körper verschiedenes Ding wirklich in der Natur gibt.

So stellt die Sprachphilosophie den Höhepunkt des LOCKEschen Systems dar; es bezeichnet den Punkt, an dem die Lehre LOCKEs über sich selbst hinausführen mußte. Gewiß geht im 3. Buch das Denken des Philosophen am tiefsten, wenn auch seine Darstellung dieselben Mängel aufweist wie sonst auch. Allein vom Begründer eines neuen Problems kann man nicht verlangen, daß er sogleich eine klare und endgültige Lösung findet.
LITERATUR - Karl Fahrion, Die Sprachphilosophie Lockes, Archiv für Geschichte der Philosophie, Bd. 26, Berlin 1913
    Anmerkungen
    1) EDMUND PFLEIDERER, Empirismus und Skepsis in David Humes Philosophie, Berlin 1874, Seite 12 und 50.
    2) JOHN LOCKE, Über den menschlichen Verstand, Buch III, Kap. 9, § 21.
    3) ALOIS RIEHL, Der philosophische Kritizismus I, 1876, Seite 52: Der Begriff der Substanz bereitet der LOCKEschen Theorie augenscheinlich die größten Schwierigkeiten, daher die beständig wiederkehrende Bemühung, diesen Begriff aufzuklären.
    4) Zum Beispiel EDUARD FECHTNER, John Locke - ein Bild aus den geistigen Kämpfen Englands im 17. Jahrhundert, Stuttgart 1897. Seite 178.
    5) Dieser Seite der LOCKEschen Lehre steht ihr "recht massiver Realismus" gegenüber. ARTHUR SCHOPENHAUERs Werke, Bd. VIII, Seite 21.