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Wirklichkeit und Macht [Individuum und Allgemeinheit in Wissenschaft und Politik] [2/4] I. Teil Die Macht der Wirklichkeit [Fortsetzung] Wissenschaft und Sprache Die Struktur der Sprachen ist von Sprache zu Sprache verschieden. Alle Syntax ist willkürlich. Es gibt keinen wirklichen Grund, warum die eine Sprache so gebaut ist und eine andere anders. "Die Sprache ist ein von Natur aus chaotisches System." (21) Die Strukturverschiedenheit der Sprachen wird von Sprachforschern linguistisches Relativitätsprinzip genannt. So lassen sich bestimmte Denkstrukturen nicht von einer Sprache in die andere übertragen. In manchen Sprachen ist es unmöglich, sich in die Sonne zu setzen. Die Chinesen haben z. B. kein besonderes Wort für unser Hilfszeitwort sein und können deshalb auch nicht unsere Logik haben, in der ist eine so entscheidende Rolle spielt. Für den Araber ist die Sprache in erster Linie Ausdruck dessen, was der Sprecher sagen will, während sie für den Griechen Ausdruck dessen ist, was ist. So entspricht die Verschiedenheit der Sprachen der Verschiedenheit der Weltansichten. Es gibt soviele Logiken, wie es Sprachen mit verschiedenem Bau gibt. Unterschiede in der Grammatik führen zu Unterschieden in der Logik. Wörter sind Klassifikationen, die die gemeinsamen Merkmale der Dinge hervorheben, das spezifische jedoch vernachlässigen. Das geistige Wunschbild ist die Zählbarkeit. Erst Art und Gattung machen den Begriff. Das logische Prinzip heißt Verallgemeinerung. Erlebt werden keine Dingeigenschaften, sondern Ähnlichkeiten und Gegensätze. Im Atom erkennen wir den sprachlichen Ausdruck für die Grenze unserer Sinneswahrnehmung.
In den fundamentalen Strukturen des Atoms hat es keinen Sinn mehr Vorstellung und Ding zu trennen. Ein mögliches Ereignis kann nur noch in Bezug auf einen möglichen Beobachter hin definiert werden. Die Eigenschaften subatomarer Teilchen können nur in Bewegung verstanden werden. Die Unbestimmtheit als kernphysische Realität hat ihre erkenntnismäßige Entsprechung in der östlichen Weisheit, welche Realität in der Relation sucht und nicht in der Substanz. Im Westen aber ist, die mittelalterlichen Mystiker einmal ausgenommen, der Inbegriff des Wirkenden mit der Erscheinung verknüpft. Die Sprache kann immer nur vergleichen, was ähnlich ist und was nicht ähnlich ist, wird von ihr ähnlich gemacht. Das wirklich Individuelle ist Sprachlich und damit logisch gar nicht faßbar. Einzelideen sind logisch irrelevant. Der Sinn der Logik bewegt sich deshalb zwischen dem Einzelnen und dem Allgemeinen hin und her. Je individueller der Gegenstand der Betrachtung, desto bedeutungsloer ist die Logik. Erst im raum- und zeitlosen Abstraktum kann der logische Schluß seine unbestrittene Position behaupten. Der logischen Rationalität steht eine Welt des individuellen Interesses und der subjektiven Werte, als polarer Endpunkt des geistigen Prozesses gegenüber. Außerhalb der logischen Rationalität existiert nur eine Welt von subjektiven Werten. Wissenschaft wird mit Rationalität identifiziert. Auf wissenschaftlichem Gebiet herrscht die Logik des berechnenden Verstandes. Der Verstand kann nichts anderes, als Begriffe unterscheiden. Der Verstand denkt in Kategorien. Rationalisten glauben nun an die Wahrheit von Begriffs- und Satzinhalten und identifizieren das Wort mit der Sache. Die Identifizierung der wirklichen Dinge dieser Welt mit den wahrnehmbaren Objekten ist aber nichts, als naiver Realismus. "Es ist die verkehrte Methode von Wörtern auszugehen, um Sachen zu definieren", heißt es bei SAUSSURE. Rationales Denken ist der Vergleich von Identität und Nichtidentität. Unterschiede sind aber etwas Abstraktes und die Verknüpfung von Ursache und Wirkung ist kein Gegenstand der Wahrnehmung, sondern etwas Gedachtes. Die Ähnlichkeit liegt ja im Begriffsbereich und kann nicht sinnlich erfahren werden. Wörter bilden eine Einheit, die die Dinge in Wirklichkeit nicht haben. Die Wahrnehmung unterscheidet sich von der sinnlichen Empfindung dadurch, daß Allgemeinheit ihr Prinzip ist. Die Wahrnehmung ist sprachlich gedacht, die Empfindung nur empfunden. So unterscheidet sich der Begriff des Seins von dem der Wirklichkeit dadurch, daß das Sein grundsätzlich denkbar, aber nie unmittelbar erlebt werden kann. Die Anhänger des Materialismus setzen die Materie und damit Zeit und Raum als schlechthin bestehend und leugnen die unumgängliche Beziehung auf das Subjekt. Sie folgen damit bedingungslos den Gesetzen der Erscheinung und erheben diese zu ewigen Wahrheiten. Sie erklären die flüchtige Erscheinung zum eigentlichen Wesen der Welt. Die den Sinnen erscheinende Welt hat kein Sein, sondern unaufhörliches Werden, also Wirklichkeit. "Das Wahrnehmungsding ist die Schlacke, welche die Wirklichkeit nach stattgehabter Ablösung des Geschehens zurückläßt." (24) So gibt es in den Wahrheiten nicht, was wir nicht in sie hineingelegt haben.
Vom Grad des Interesses und der Subjektivität hängt es ab, inwieweit das abstrakte Denken zu einer Vereinheitlichung kommen kann. In der vergleichenden Beschreibung vereinfachen wir das Komplizierte, indem wir nähere Einzelheiten abstrahierend wegdenken. Aber auf diese Einzelheiten kommt es in der Praxis gerade an. Die Gefahren des rationalen Verstandes und der Logik bestehen nun darin, daß den logischen Abstrakta ohne den Bezung zum subjektiven Interesse keine Grenzen gesetzt sind, da es keinen Begriff gibt,, der sich durch Folgerung und Gleichsetzung nicht auf einen noch allgemeineren bringen ließe. Durch absolute Verallgemeinerung kommen wir notwendigerweise auf einen letzten Begriff, der uns dann entweder die Sinnlosigkeit der Logik oder der Absurdität der Sprache erkennen läßt. Die Verbindung von Individuellem und Generellem ist das logische Grundproblem aller systematischen Wissenschaften. Wissenschaftlich gewußt wird nur, was allgemeingültig ist. Rational ist nur die Form des Allgemeinen. Das Allgemeine wird gegenüber dem Besonderen, sowie allem Wandel als übergeordnet betrachtet. Aufgabe der Wissenschaften ist es, Gleichförmigkeiten zu finden. Diese Gleichförmigkeit finder der Wissenschaftler in der Sphäre des Begrifflichen und Abstrakten, in der Sphäre des logisch Gedachten. Wissenschaft arbeitet begrifflich und sucht nach Regelmäßigkeit in der unendlichen Verschiedenheit. Dabei wird überall, wo Identität geltend gemacht wird, Individualität ignoriert. Wissenschaft zieht zur Erklärung dder Welt nur greifbare, meßbare und objektvierbare Vorgänge und Einflüsse heran. Ihr Denken ist auf Zählbarkeit, Dinglichkeit, Gesetzlichkeit und Ursächlichkeit ausgerichtet. Von der Qualität geht man zur Quantität über, weil nur diese meßbar ist. Was der objektive Wissenschaftler für Erkenntnis hält, ist lediglich eine Gleichsetzung von Realität und Quantität. In diesem Sinn sind Qualitäten und Werte unwirklich und subjektiv, da sie sich nicht quantitativ messen lassen. Das Ideal der Natur- und Geisteswissenschaften scheint im Quantifizieren alles Qualitativen zu liegen. Diese Weltbetrachtung ist hauptsächlich darauf aus, Qualitäten durch Vorgänge und Vorgänge durch Bewegungen zu ersetzen. Vergegenständlichung und Mechanisierung sind ein und dasselbe, wie Gegenständlichkeit und Leblosigkeit ein und dasselbe sind.
Das herrschende Erkenntnisziel der Wissenschaften ist Gleichförmigkeit. Wenn Wissen übertragbar sein soll, dann muß der Gegenstand gewisse Gleichförmigkeiten und Gesetzmäßigkeiten aufweisen. Mit Hilfe von Schemata wird dann die individuelle Situation unter das Gewohnte und Gewöhnliche gebracht. Ein wissenschaftliches Gesetz ist jedoch nichts, was wir direkt wahrnehmen können, sondern was wir als logisch-abstraktes und begriffliches Gebilde erschließen müssen. Subjektiv geprägte, konkrete Erfahrung wird zugunsten eines allgemein wiederholbaren Effekts zurechtgestutzt. FEYERABEND spricht in diesem Zusammenhang vom Prinzip des Ignorierens lästiger Bedingungen. Die wissenschaftliche Versuchsanordnung braucht Bedingungen, die sich einer absoluten Kontrolle unterwerfen lassen. Die sich dann ergebende Objektivität wirkt umso rationaler, je mehr Momente der Wirklichkeit eliminiert werden, die sich nach diesem Verfahren nicht erfassen lassen. Unter einem Zwang von pragmatischer Nützlichkeit wird versucht, eine Welt der identischen Fälle zu schaffen, die berechenbar, vereinfacht und verständlich ist. Die Wissenschaft begreift die Wirklichkeit ihrer innersten Natur nach als rational und als einen nach Gesetzen zu erfassenden Gegenstand, was zur Folge hat, daß alles, was Subjektivität ausmacht, methodisch ausgeschaltet wird. Erst die Abstraktion, als gedankliche Isolierung der Vorgehensweise, bei der nur das allgemeine Schema des jeweiligen Verfahrens zur Diskussion steht, ermöglicht es, methodische Prinzipien systematisch zu erfassen. Es wird dem Glauben gehuldigt, daß man im Dienst der Objektivität aus dem Experiment alle Gefühle, Emotionen und subjektiven Reaktionen eliminieren muß. "Wo Leben erstarrt, türmt sich das Gesetz." (27)
Wissenschaftliche Objektivität ist eine Sache der wissenschaftlichen Methode. Mit einer Methode ist man nicht mehr gezwungen, einzelne Situationen jedesmal aufs Neue zu bewältigen. Die Methode wird als von der jeweilichen Anwendungssituation und dem agierenden Subjekt losgelöst betrachtet. Wissenschaftlichkeit entpuppt sich als der Irrtum, Personen in Dinge zu verwandeln, worin sie sich nicht im Mindesten von der Magie unterscheidet. Dem Bedürfnis nach Erklärung wird in der Verdinglichung des Persönlichen Genüge getan. Alle Denkprobleme werden auf Probleme der Klassifikation reduziert, weil der Verstand selbst das Nichtidentische als etwas begreifen muß.
Verallgemeinerungen sind quasi-statistisch, weil sie nur die gleichen Merkmale der Dinge, die, die am häufigsten vorkommen, enthalten. So wie der Wirklichkeit Begriffe zugeordnet werden, wird dem Material Gesetzmäßigkeit aufgezwungen.
Die Welt wird nicht begriffen, sondern erlebt und erlitten. Was auch immer untersucht wird ist eine Beziehung oder ein unendlicher Regreß von Beziehungen, niemals ein Ding ansich. Der Zusammenhang der Tatsachen ist es, also das strukturelle Element, das den Tatsachen ihre Bedeutung verleiht. Zusammenhänge sind lebendig, Beziehungen dagegen abstrakt. Wenn wir versuchen lebendige Erfahrung, die immer individuell und einzigartig ist, in den engen Rahmen wissenschaftlicher Beschreibung zu zwängen, geht bei dem Versucht, große Genauigkeit zu erreichen, viel an Reichtum und Komplexität verloren. Echte innere Erfahrung übersteigt immer das sprachliche Ausdrucksvermögen, weil die objektive Wirklichkeit prinzipiell viel reichter, vielfältiger und verwickelter ist, als es die bestentwickeltsten Begriffe unseres Verstandes sein können. Überhaupt gibt es in der Welt viel mehr Sachen und Tatsachen, als wir beobachten oder wahrnehmen können. Die wissenschaftliche Analyse zerlegt und tötet, indem sie homogene Tatbestände zu allgemeinen Beziehungen isoliert. In der Unbekümmertheit, die sie Objektivität nennt, liegt die Grausamkeit der Wissenschaft. Um dieser Objektivität willen wird die Leiche der Realität immer wieder aufs Neue verstümmelt und zerstückelt.
Jede Allgemeinvorstellung ist in Wirklichkeit eine Einzelvorstellung, weil sie nur im Individuum zu Bedeutung gelangen kann. Alle Bedeutung ist individueller Natur, auch wenn sie sehr allgemein und undifferenziert ist. Die ständige Verwechslung von Abstrakta und konkreter Bedeutung ist der offenkundigste Fehler unseres Denkens und der erste Grund für Mißverständnisse, Schein und Täuschung. Die einmalige Existenz kann niemals auf den Allgemeinbegriff reduziert werden. Wir bezeichnen die Dinge, um sie von anderen zu unterscheiden. Worte bezeichnen den Grad des Verhältnisses von Gleichheit und Ungleichheit, von Identität und Nichtidentität. Die Sprache konstituiert also schon die Allgemeinheit, nicht erst das Denken. LUDWIG KLAGES unterscheidet zwei Arten der Abstraktion: die ideologische und die mechanische.
Das Allgemeine und das Unmittelbare sind die beiden Pole, die das Denken begrenzen. Denken ist Auflösung des Allgemeinen ins Besondere und Abstraktion des Besonderen zum Allgemeinen. Denken vollzieht sich in der Differenz von Begriff und Begriffenem, also der Unterscheidung des Allgemeinen vom Besonderen. Erst, wenn das Allgemeine zu individueller Bedeutung gelangt, begreifen wir die für uns wichtigen Zusammenhänge. So bewegt sich die Psychologie vom Speziellen zum Allgemeine, die Logik dagegen vom Allgemeinen zum Besonderen. Inneres Erleben und äußeres Geschehen sind die beiden Pole der Wirklichkeit. Der erkennende Mensch beginnt, wie das Kind als naiver Realist, d. h. bei der Doktrin, daß die Dinge das sind, was sie scheinen. In begriffsrealistischer Manier wird das Wort für die Sache genommen. Ein solches Denken ist ausschließlich abstrakt, auch wenn sich der Denker dessen nicht bewußt ist. Wörter sind nur Abziehbilder der wirklichen Sache und ihrem Schatten vergleichbar. Das Wort ist ein Zeichen, das für etwas anderes an der Stelle der bezeichneten Sache steht. Wörter sind quasi Vorstellungen von Vorstellungen und wenn wir uns von den Bezeichnungen der Dinge nicht irreführen lassen wollen, müssen wir die Ideen in ihrer subjektiven Bedeutsamkeit von den Zeichen als solchen trennen. "Die Sprache wirkt wie eine Wand zwischen uns und der Wirklichkeit." (34) Alles Wissen ist nur Abbildung und verdoppelte Wirklichkeit. Das Denken ist ein nehmen-als in Abwesenheit der realen Situation. Je höher der Abstraktionsgrad der Wörter ist, desto geringer ist der Kontakt mit der konkreten Wirklichkeit. Mit zunehmender Allgemeinheit begrenzt sich der Erklärungswert eines Gedankens. Das abstrakteste Wort ist das vieldeutigste und damit nichtssagendste. Je allgemeiner ein Begriff ist, desto leerer ist er. Jeder Mensch versteht einen Begriff auf seine Art, hat eigene Ideen und eigene Assoziationen und damit seine eigene, innere Sprachform. Der Vorgang, durch den die Wörter unserer Sprache ihre Bedeutung erlangen, ist wesentlich privater Natur. Jede Definition ist subjektiv, weil es uns nicht gelingt, uns völlig von Bedeutungsgefühlen frei zu machen. So ist die Sprache jedes Menschen eine einmalige Art der Wahrnehmung von Wirklichkeit. Psychologisch gibt es so viele Welten, wie es Köpfe gibt. Die Menschen sind nicht nur verschieden, sondern sie leben auch in verschiedenen Welten. Es gibt nichts Fühlbares oder Sichtbares überhaupt, genausowenig, wie es ein Fühlen oder Sehen überhaupt gibt. Genausowenig, wie zwei Menschen dasselbe Leben leben, sprechen sie die gleiche Sprache. So gibt es z. B. in der Ewe-Sprache rund vierzig Ausdrücke für gehen. Die Azteken haben nur ein Wort für Regen, Schnee und Hagel, während die Eskimos rund sechshundert Ausdrücke für die verschiedenen Aggregatzustände des Wassers haben. Nur das Generelle ist auf klare Einheiten und das analytisch Bestimmbare begrenzbar. Das Lebensgeschichtliche ist erheblich mehr. Freude z. B. ist etwas Subjektives und unterwirft sich keiner Objektivierung. Was braun, oder was Glück ist, kann nicht durch Definition erfahren werden, sondern das muß man erleben. Wir können Gefühle nicht durch Analyse kennenlernen, sondern nur durch Gefühle. Handlungen, Erfahrungen und Zusammenhänge lassen sich niemals vollständig rationalisieren, weil jede echte individuelle Erfahrung irrational und logisch nicht legitimierbar ist. WILHELM DILTHEY nennt es die Anarchie der Eindrücke. Die Seele ist die erste Wirklichkeit des Menschen und ein schwer definierbares Chaos von Antrieben und Motivationen, die sich gegenseitig überlagern, aufheben und verstärken. Die Basis der Dinge in ihrer Existenz ist ein irrationaler Bereich und ein nie aufgehender Rest, der sich nicht erklären läßt und ungreifbar ist. Leben ist einmalig und damit irrational. Das Irrationale ist nichts Verschwommenes oder Unklares, sondern die, mit rationalen Mitteln aufweisbare Grenze der Grenze der Erkennbarkeit. Da die zu messende Wirklichkeit nie statisch ist, sondern fließt, ist alle Wirklichkeit unaufhörliche Tätigkeit und Wirkung. Ein Ding existiert nur insofern, als es wirkt. Materie ist überhaupt nichts anderes als Wirkung.
In der Unterschiedlichkeit liegt der Widerspruch, der von der Wissenschaft ignoriert und vermächtigt wird. Irrtum wie Wahrheit des logischen Denkens setzen voraus, daß es dauerhafte Dinge gibt.
Der Rationalismus ist an der Quantität orientiert. Das Quantifizieren herrscht als rechnerische Art der Erkenntnis. Ein Mensch, der die Welt berechenbar zu machen trachtet, kann und will nur soviel von ihr erkennen, als von ihr berechenbar zu machen ist. Es gibt aber mehr als genug Sachverhalte, die durch Wissenschaft nicht meßbar sind. Überhaupt läßt sich außerhalb der reinen Logik und der reinen Mathematik gar nichts beweisen. Der Mensch kann immer nur den Teil erfassen und nie das Ganze. Ganz läßt sich die Wirklichkeit höchstens begreifen, wenn der Verstand seinen Anspruch auf sie aufgibt. Dem Willenlosen leuchtet die Einsicht auf, wie die Mystiker sagen. Grundpfeiler der wissenschaftlichen Methode ist das Postulat von der Objektivität der Natur. Alle Gegenstände werden vom objektiven Stanpunkt aus betrachtet. Alles Subjektive und Individuelle wird als unvermeidliche Randbedingung belassen und in den nicht erkennbaren, irrationalen Bereich abgeschoben. So ist der Rationalismus der Auffassung, daß kein subjektives Interesse vorhanden sein dürfte, wenn die Wahrheit erkannt werden soll, was jedoch nicht möglich ist.
Wissenschaftliche Sätze befassen sich nicht mit Dingen, sondern mit Begriffen. Worte sind aber nur bequeme Verallgemeinerungen, die unsere Vorstellungen zu Spracheinheiten zusammenfassen. Sprachliche Argumente begründen nur sprachliche Feststellungen. In der Generalisierung schaffen wir Modelle von Erfahrungen, die nur mehr oder weniger tauglich sind. Aus einem Bereich der Ungewißheit und des Zufalls lassen sich keine Notwendigkeit und Allgemeinheit ableiten. Das Allgemeine und die Gesetzmäßigkeit machen die Form aus, während die Materie das Zufällige und Individuelle darstellt. Eine Form genügt, um z. B. viele Tische daraus zu machen, aber aus einem Stück Holz macht man nur einen Tisch. Die Form ist das Überindividuelle, welches den Gegenstand zum Repräsentanten einer Kategorie und zum Teil einer Menge ähnlicher Dinge mach. So ist die Materie selbst das Undefinierbare und das Prinzip der Vielheit. In der Materialität liegt die Individualität der Dinge begründet. Allgemeine Ideen ermöglichen quasi die gruppenweise Betrachtung der Dinge. Schlüsse sind daher keineswegs die einzige Quelle der Erkenntnis, sondern allenfalls ein Notbehelf. Die Grenze der wissenschaftlichen Erkenntnis ist die individualisierte Realität, die höchstens umschrieben, aber nie erkannt werden kann. Außer den Namen ist nichts allgemein auf der Welt. Ereignisse lassen sich nur sprachlich voneinander trennen, aber kein Eindrucksinhalt ist in Begriffen auszuschöpfen.
Wahrheiten, die nicht allgemein mitteilbar sind, gelten als nicht wissenschaftsfähig. Für die Wissenschaft sind Individualität und Falschheit identisch. Ihr gilt die individuelle Erfahrung eines Menschen nichts, solange sie allein und für sich steht. Psychologische Ereignisse sind letzte, unerklärbare Tatsachen. De singularibus non est scientia. (40) Das wissenschaftliche Verstehen hört auf vor der Wirklichkeit dessen, was die Dinge in ihrer individuellen Existenz sind. Der Mensch selbst als ganzheitliches Wesen kann kein Gegenstand der Erkenntnis sein. Ein System des Menschseins kann und darf es nicht geben. Isolierbare Fakten sind immer ein Zeichen von machtförmiger Erfahrung und von einer Bemächtigung der Wirklichkeit. Die Sprache kann nicht auf die Natur angewandt werden, ohne diese zu entstellen. Sobald ich etwas durch ein Wort ausgedrückt habe, findet schon eine Entfremdung statt. Die volle Empfindung ist bereits durch das Wort ersetzt. Jede Abstraktion und allgemeine Idee bedeutet eine Verneinung des wirklichen Lebens. Jeder Name ist eine Fessel und Grenze und jede Begrenzung oder Bestimmung ist zugleich eine Negation. "Omnis determinatio est negatio." (41)
Keine formale Logik kann die Existenz des Irrtums begreifen, denn der Irrtum kann immer nur ausgesagt werden in Bezug auf einen Zweck, der verfehlt wird. Was wir für Zufälle halten gibt es aber überhaupt nur in Bezug auf eine gedachte Gesetzmäßigkeit. Es ist ein Irrtum zu glauben, daß Tatsachen nur lineare und kausale Beziehungen haben und nicht in allen möglichen Richtungen zusammenhängen. "Wenn etwas so und nicht anders geschieht, so ist darin kein Prinzip, kein Gesetz, keine Ordnung." (44) Die Gegenstände der reinen Logik sind raum- und zeitlose Gebilde, wobei die Methode über die Sache triumphiert. Sobald wir also von der oberflächlichen Erscheinung zur konkreten Situation kommen, muß die Logik versagen. Es ist unmöglich, bis ans Ende logisch zu sein. Wäre alles logisch, dann wäre auch alles gerechtfertigt. In letzter Instanz ist man auf Entscheidungen angewiesen, die selbst nicht rational sind, da sich alle Rationalität auf sie stützt. Jede Argumentation hat einmal ein Ende in Form von Entscheidungen und Willensbekundungen. Der Endpunkt rationaler Diskussion wird durch Normen, Kriterien, Zwecke oder Ziele gesetzt. So liegt die Problematik des logischen Denkens weniger im Begriff, sondern im Urteil. Das Urteil ist lebendig, die Logik ist tot. Nicht die Logik entscheidet in letzter Instanz, ob etwas richtig oder falsch ist, sondern die Tat. Es gibt keine allgemeingültigen grundlegenden oder letzten Erklärungen. Man hört einfach irgendwann mit der Begründung auf. Als Ethik des Denkens sagt uns die Logik nur, wie wir denken sollen, nicht aber was wir denken sollen oder worauf wir bewußterweise unsere Aufmerksamkeit zu richten haben. Die Probleme eine Auswahl treffen zu müssen sind unausweichlich. Wissenschaft gerät an die Grenzen ihrer Regeln und muß urteilen, wägen und ergänzen und fällt damit an die Moral zurück. Zwecke und Normen sind letztlich nicht rational begründbar. Ein Volkswirtschaftler kann so objektiv sein wie er will, er wird nicht vermeiden können Stellung zu beziehen zwischen Kapitalismus und Sozialismus, als den beiden großen ökonomischen Entwürfen. Sachverhalte und Tatsachen ergeben sich aus Beziehungsdefinitionen und Beziehungsdefinitionen sind weder wahr noch falsch, sondern werden nur mehr oder weniger von den Teilnehmern des Geschehens geteilt. Der Glaube, Ziele und Zwecke seien eine Sache, Methoden und Taktiken eine andere, ist nichts anderes als die Meinung: Der Zweck heiligt die Mittel, als typische Methode der Macht. Wenn es aber ein autonomes Gewissen geben soll, dann muß moralisches Handeln unabhängig von den Gesetzen der Erscheinung sein. Letztlich gibt es keine Unterscheidung von wissenschaftlich und normativ. "Unser Weltbild ist immer zugleich ein Wertbild." (45) Das moralische Subjekt ist letztlich Bedingung und Voraussetzung dessen, was wir real nennen. Aus wissenschaftlichen Theorien erfolgt technisch verwertbares, aber kein normatives und handlungsorientiertes Wissen. "Wir fühlen, daß selbst, wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind." (46) Wissenschaft ist ohne Sinn, weil sie auf Fragen, was wir tun sollen und wie wir leben sollen keine Antwort geben kann. Der logisch-reine Verstand hat keine Ahnung, was Wert bedeutet. Kritik an der Wissenschaft muß deshalb hauptsächlich ein moralischer Einspruch sein. Wissenschaft erniedrigt und verfeinert die Verbrechen an der Menschheit, wo sie nicht humanisiert. Moral stellt die eigentliche Aufgabe der Menschheit im Allgemeinen dar. Wissenschaft entwickelt sich immer mehr vom Wissen zur Kontrolle hin, d. h. sie schafft ihr eigenes Wissen. Die Folge der Atomisierung und zunehmenden Spezialisierung der Wissenschaften ist ein überwältigendes Anwachsen sogenannter Fakten. Wissenschaft hat sich dermaßen kompliziert, daß kein einzelner Mensch mehr die Gesamtheit ihrer Anwendungen und Prinzipien überschauen kann. Es wird immer mehr über immer weniger gewußt und damit immer weniger. In der Praxis der Herrschaft ist jede individuelle Existenz und jede aktuelle Gegenwart ohne Regelmäßigkeit eine Nichtigkeit. Was zählt ist die abstrakte Vorstellung, von der allgemeine Anerkennung gefordert wird. Allgemeine Fakten sind wichtiger, als spezielle und das sich Wiederholende wichtiger, als das Einmalige. Man betrachtet das Allgemeine als höhere Wirklichkeit, als das Besondere. Die Idee steht quasi neben dem Herrscher. Die Verallgemeinerung ist eine Gewohnheit des Denkens. Im seelischen Leben dagegen ist der besondere Augenblick die einzig echte Realität. Im Unbewußten dauern alle Zeiträume nur den gleichen, kurzen Augenblick.
Wer sich im Besitz der Wahrheit wähnt, glaubt, die moralische Verpflichtung zu haben, das Übel in der Welt zu beseitigen. So hat unter dem Vorwand der Zivilisierung der Ratio-Faschismus ganze Kulturen vollständig zerstört und ganze Völkerschaften entwurzelt. "Die Wahrheit stiftet nicht so viel Gutes in der Welt, wie ihr Schein Böses." (48) Der Wissensdrang und das rein rationale Verständnis der Welt sind ein sublimierter Zweig des Besitzstrebens und seine logische Weiterführung ist der Imperialismus. "Die Methode der Naturwissenschaft tötet alles Lebendige, in ihr ist der Wille zur Macht in seiner mächtigsten Gestalt präsent." (49) Der praktischen Handlungsfähigkeit halber werden Individualität und Einzigartigkeit einer Situation vernachlässigt und abstrahiert, um kommunikabel zu sein. Das Wort vergewaltigt die unverwechselbare Individualität des Augenblicks zugunsten von Allgemeinheit als Kommunikationsprinzip. Die Sprache zwingt uns, unsere Gefühle zu objektivieren. Einzelnamen schleifen sich im sprachlichen Verkehr zu Gattungsnamen um. Die Sprache ist ihrem Wesen nach materiell, sie ist ein Bestand, während die Wirklichkeit ein Prozeß ist. Sprache berücksichtigt keine Wechselwirkungen der konkreten Situationen, keine Bewegungen der Wirklichkeit und nichts Aktuelles. In der Sprache ist eine Aktivität möglich, die in der faktischen Dingwelt nichts ändert. "Unsere Sprache fixiert unseren Glauben an eine Wirklichkeit dauernder Zustände." (50) Neue Wahrheiten würden die Sprache ändern, aber die Sprache will sich nicht ändern lassen. Begriffe sind ein Ersatz für Wirkliches. Der Begriff der Realität wird zu einem wissenschaftlichen Ersatz für das Erleben. Als fundamentaler Mechanismus des menschlichen Lebens verlängert der sprachliche Vorgang die konkrete Situation in den Bereich des künstlich Gedachten, des Logischen. In dem Augenblick aber, wo man individuell unverwechselbare Empfindung zu einer Verallgemeinerung transformiert, konserviert man lebendige Natur. Über die Sinneseindrücke hinaus wird die Wirklichkeit zum Ding-ansich. Der Verstand läßt sich dann von Jllusionen und Perspektiven leiten, wenn erst einmal die unmittelbare Handlung durch die Macht des Wortes ersetzt und ergänzt worden ist. Die abstrakten Begriffe sind der Stolz der Rationalisten. In der Art des Fetischglaubens nehmen sie das Wort für das Ding und nähren damit den Aberglauben, daß Modelle und Bilder schon die Wirklichkeit sind. Das Denken allein ist schon das Jllusionsinstrument des Menschen, wenn aber nur noch allgemeine Sätze über die Erfahrung hinaus gebraucht werden, erzeugt man bloß noch Schein und Täuschung. Allgemeinbegriffe dienen der logischen Ordnung und entstehen auf einer Ebene, wo das Verbundensein mit einer besonderen Gemeinschaft ausgetilgt ist. Wenn Wörter aber isoliert und losgelöst von den lebendigen Einheiten der Realität und den subjektiven Elementen, die jeder Begriff enthält, betrachtet werden, verfällt man leicht dem Irrtum, Worte wären logisch und nicht psychologisch, d. h. bewußtseinsabhängig. Wir sind gezwungen, bis zu den konkreten, sozialen Umständen zurückzugehen, wenn wir Wörter und Begriffe wirklich in ihrer Lebendigkeit verstehen wollen.
Die Sprache ist eine konservative Macht. Sie ist eine Gewohnheit und ein Brauch und deshalb eher gesellschaftlichen Strukturen unterworfen, als den Gesetzen der Logik. Sprache integriert Allgemeinheit und ist so der hauptsächliche Stabilisierungsfaktor innerhalb der Gesellschaft und eine soziale Institution. So, wie der Begriff die logische Form der Allgemeinheit ist, repräsentiert die Sprache den Massengeist und verkörpert die Gemeinheit der Weltanschauung. Der Gebrauch der Sprache ist der Gebrauch der Masse. Wer in der modernen Welt nicht die Sprache der Begrifflichkeit spricht, ist überhaupt nicht öffentlichkeitsfähig. Man muß deshalb die Sprache Konventionen ansehen. Die abstrakte Sprache ist die Form der Macht. Jedes einzelne Wort allein ist schon Ausdruck einer Ordnung und Gesetzlichkeit. Das Gesetz des Menschen ist das Gesetz der Sprache. Jedes Gesetz gründet auf Allgemeinheit, aber ein allgemeines Gesetz kann es nur geben, wenn es einen allgemeinen Menschen gibt, also den Massenmenschen. Die Politik hat als Vertretungsanspruch ihren Ursprung in der Möglichkeit der begrifflichen Repräsentation der Welt, die auf einer Verallgemeinerung individueller Interessen basiert. Staatsgesetze ähneln eher den grammatischen Gesetzen als den physikalischen. Deshalb sind auch Regierung und Gesetz bloße Formen sprachlicher Bezeichnung und keine gegenständlichen Dinge, weswegen sie einer Vielfalt unterschiedlicher Definitionen, Ausdeutungen und Anwendungen unterworfen sind. Macht, Herrschaft, Recht, Krieg, Autorität, Terror, Aggression, Verbrechen, Ungerechtigkeit, Unterdrückung, Ausbeutung und Zwang sind jeweils verschiedene Formen der Gewalt, die bloß unter anderen Termini laufen. Begriffe wie Welt und Natur ermöglichen eine einzige Hauptrealität und damit gleichzeitig die Herrschaft über die Welt durch die Herrschaft des Begriffs. So ist durch die Sprache eine ganz bestimmte Art des Zwangs möglich. Wenn wir Gesellschaft und Staat sinnvoll in Frage stellen wollen, müssen wir diese Art des Zwangs begreifen und die Grenzen von Sprache bedenken. Der Fluch der Sprache ist ihre grundsätzliche Gegensätzlichkeit. Jeder Satz hat seinen Gegensatz. Zu wirklich echter Befreiung muß man sich nicht nur von Gegensätzen, sondern den Sätzen überhaupt befreien. ![]()
21) Ferdinand de Sausure, Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, Berlin 1967, Seite 158. 22) Werner Heisenberg, Der Teil und das Ganze, München 1981, Seite 147. 23) Werner Heisenberg, Wandlungen in den Grundlagen der Naturwissenschaft, München 1977. 24) Klages, a. a. O., Seite 609. 25) Rapoport, a. a. O., Seite 431 26) Michail Bakunin, in "Autoritäres Lager und Anarchismus", hg. Wolfgang Dreßen, Berlin 1971, Seite 55. 27) Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, München 1964, Seite 63 28) Charles Sanders Peirce, in "Pragmatismus / Texte", Stuttgart 1976, Seite 149. 29) Immanuel Kant, "Prolegomena einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können", J. H. von Kirchmann (Hrsg), Heidelberg 1882, § 36 30) Mauthner, a. a. O., Bd. 3, Seite 129. 31) Bakunin, a. a. O., Seite 49. 32) im Gegensatz zum phenomenon 33) Klages, a. a. O., Seite 674 34) Rapoport, a. a. O., Seite 31 35) Klages, a. a. O., Seite 988. 36) Rapoport, a. a. O., Seite 136. 37) Rudolf Carnap, Der logische Aufbau der Welt, Berlin 1979, Seite 20. 38) George Berkeley, in Max Dessoir, Geschichte der Philosophie, Wiesbaden 1981. Seite 453. 39) Karl Mannheim, Konservatismus, Ffm 1984, Seite 80. 40) Singuläre Aussagen kann es in der Wissenschaft nicht geben. 41) "Bestimmung ist Begrenzung." (Baruch Spinoza, "Briefwechsel, Brief 50 vom 2. Juni 1674. 42) Bertrand Russell, Wege zur Freiheit, Ffm 1977, Seite 108. 43) Moritz Schlick, Allgemeine Erkenntnislehre, Ffm 1979, Seite 203. 44) Nietzsche, a. a. O., Seite 79. 45) Robert Reininger, Wertphilosophie und Ethik, Wien/Leipzig 1939, Seite 29. 46) Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, § 6.52, Ffm 1980, Seite 114. 47) Mauthner, a. a. O., Bd. 2, Seite 425. 48) La Rochefoucauld, Maximen und Reflexionen, Stuttgart 1977, Seite 12. 49) Wilhelm Dilthey, Die Philosophie des Lebens, Stuttgart 1961, Seite 226. 50) Rapoport, a. a. O., Seite 387 51) Karl Mannheim, a. a. O., Seite 221. |