cr-4Kritik und PoesieDialektik    
 
FRIEDRICH ERNST DANIEL
SCHLEIERMACHER

(1768-1834)
Die Sprache als
allgemeines Bezeichnungssystem


"In der Sprache zeigt sich schon die Relativität des Wissens.

Zum Wissen gehört ferner, daß es ein in allen auf dieselbe Art konstruiertes Denken sei. Wieweit wird nun die allgemeine Identität der Konstruktion im Denken anzutreffen sein? Der ganze Prozeß ist bedingt durch die Organisation, und diese haftet an der einzelnen Person, und jeder bezieht sich auf die Einheit des einzelnen Lebens.

Wir können also nicht wissen, ob der andere ebenso hört oder sieht, wie wir. Worin liegt nun die Gleichheit der Konstruktion? Unbewußt darin, daß wir mit Recht voraussetzen, die Organisation folge in allen Menschen denselben Gesetzen. Allein das Denken ist nur Wissen, wenn es Bewußtsein hat. Dieses Bewußtsein von der Gleichheit der Konstruktion muß im Überzeugungsgefühl mit enthalten sein. Wie kommen wir nun dazu, diese Voraussetzung zu verifizieren?

Von der Organisation aus nicht. Machen wir aber den Menschen selbst zum Gegenstand unserer Betrachtung, so wird uns der Induktionsprozess auf die Identität der Organe und Gesetze führen. Aber bis zum vollständigen Resultat können wir das nicht verfolgen, denn immer entzieht sich uns etwas der Betrachtung. Wie das nach außen gewandte Bild im Innern des Organs zum Vorschein kommt, können wir nicht beobachten; von hier aus ist also keine Verifikation möglich. So sind wir auf die Einwirkung der intellektuellen Funktion auf die Sinne angewiesen.

Die Gleichheit der Konstruktion können wir hier nur durch den Austausch des Bewußtseins ans Licht bringen. Dieser setzt ein Mittelglied voraus, ein allgemeines und gemeinsames Bezeichnungssystem, das nun die Sprache oder etwas ihr Substituiertes sein mag. - Denn schon der Schematisierungsprozeß bringt das allgemeine Bezeichnungssystem hervor. Will man dies bis in seinen innersten Grund verfolgen, so wird man sich dies nur so erklären können: das allgemeine Bild, das wir uns entwerfen, ist in seiner Allgemeinheit wesentlich ein Unbestimmtes; denn nur das Einzelne ist vollkommen bestimmt.

Es ist aber nicht außerhalb des Einzelnen gesetzt, sondern darin enthalten; und die ganze Vorstellung ist eine Oszillation zwischen der Bestimmtheit des Einzelnen und der Unbestimmtheit des allgemeinen Bildes.

In dieser Oszillation ist die Identität von Einzelnem und Gattung gesetzt. Die Aktion, verschiedene Momente zusammenstellen zu können, bringt schon ein Bezeichnungssystem hervor. Denn wir können das allgemeine Bild in seiner Differenz vom einzelnen nur durch ein Zeichen fixieren, sei nun das Zeichen ein Wort, oder wieder ein Bild.

Wenn ich z.B. den Umriss eines Gegenstandes male und ihn durch Linien fixiere, so kann ich dabei so viel wie möglich von der Bestimmtheit des Gegenstandes abstrahieren; und dieses sichtbare Zeichen stellt das allgemeine Bild dar. Aber ebenso kann das Wort ein Zeichen sein, womit ich das allgemeine Bild fixiere.

Wodurch nun die überwiegende Richtung entsteht, das Bezeichnungssystem in der Rede zu fixieren, können wir hier nicht untersuchen. Denn die Sprache ist unsere konstante Voraussetzung, indem wir von der Kunst ein Gespräch zu führen, handeln. Und ohne sie hätten wir selbst auf dem Gebiete der Schematisierung nicht so weit kommen können. Das Wort dient also dazu, das allgemeine Bild zu fixieren, um es wieder vergegenwärtigen zu können. Und dies ist die Identität der Konstruktion der Vorstellungen eines und desselben Menschen.

Wenn wir die Sprache betrachten, so müssen wir uns wohl gestehen, daß die eigentlichen Appellativa der erste Kern der Sprache und nichts anderes als die Fixierung der allgemeinen Bilder sind. Man hat freilich oft gemeint. die Einzelnamen seien der Kern. Ist dies richtig, so können wir es leicht mit dem früher Gesagten auf das erste reduzieren. Denn auch die Einzelnamen suchen, wie die Appellativa, eine Identität zu fixieren, aber nur, inwiefern ein Gegenstand gesetzt ist und inwiefern er sich in verschiedenen Momenten verändert. Uns so wäre der Unterschied nicht bedeutend. Geschichtlich gesehen ist es nur ein bestimmtes enges Gebiet, wo die Einzelnamen die Priorität haben.

Das Entstehen der Sprache hängt an diesem Schematisierungsprozeß und ist in ihm hinlänglich begründet. Jeder sucht das allgemeine Bild für sich und andere zu fixieren. Ebenso groß ist die innere Notwendigkeit, daß das Bewußtsein aus der persönlichen Verschiedenheit herausgehe, um sich zum Vergleich mit dem, was in uns und anderen geschieht, in dei Mitte beider zu stellen. Das Heraustreten der allgemeinen Bilder in der Sprache für alle ist das erste Mittel, streitige Vorstellungen abzuwenden.

Daß nun die Sprache uns eine hinlängliche Gewähr ist für die Identität des Prozesses, d.h. daß ich gewiß bin, es müsse, wer mit mir dasselbe Wort ausspricht, auch dabei dasselbe innere Bild konstruieren und dadurch dieselben einzelnen Affektionen bilden, erscheint freilich nur als Voraussetzung, die sich beständig bewähren muß und, indem sie sich bewährt, für wahr erklärt wird.

Dies muß beständig erprobt werden und geschieht auch in vielen identischen Momenten. In dem gleichen Maße wächst die Überzeugung, von der Identität des Prozesses, und hierbei wird dann suppliert, was uns von Seiten der organischen Funktion immer dunkel bleibt.

Man hat hier die Skepsis bis ins Unendliche getrieben und zum Beispiel gefragt, ob bei einer Farbe gleichen Namens der eine vielleicht ein anderes Bild hat als der andere. Dies läßt sich nie ausmitteln, ist aber auch gleichgültig, wenn nur der Gegenstand derselbe ist, den ich habe, und der andere dieselben Aktionen vom Gegenstand beschreibt, die ich beschreibe. Die Ungewißheit geht eigentlich ganz auf die Empfindung zurück. Wir sind beständig in der Probe begriffen, und so auch in der Wahrnehmung der Identität der Konstruktion.

Alle Mitteilung über äußere Gegenstände ist beständiges Fortsetzen der Probe, ob alle Menschen ihre Vorstellungen identisch konstruieren. (Norm sei hier der Regenbogen, der doch nichts Objektives ist, sondern nur dem Auge jedes Einzelnen erscheint und von allen auf gleiche Weise bezeichnet und beschrieben wird.) Allein diese Identität, sowohl an sich, als insofern sie zu bestimmtem Bewußtsein gebracht werden kann, hat ihre Grenzen, welche die Relativität des Wissens ausmachen. Wie kann aus dieser Relativität der Irrtum entstehen? Und liegen diese Grenzen auch schon auf unserem Gebiete?

Das Verständnis der Sprache beruht auf der Identität des menschlichen Bewußtseins. Die in der Sprache niedergelegte identische Konstruktion des Denkens ist keine vollständige Gewähr für die Richtigkeit desselben. Vieles muß hier verbessert werden. Doch beruht der Irrtum auf einem zum frühen Abschließen der Beziehungen des einzelnen Bildes zum allgemeinen.

Allein auch im Ganzen gibt es in der Sprache Veränderungen des Gebrauchs derselben. So finden wir in allen Bearbeitungen menschlicher Zweige Veränderungen der Sprache, die auf eine verschiedene Konstruktion des Wissens ausgehen (z.B. die Klassifikation in der Naturgeschichte). Auch hier ist der Irrtum allemal an der Wahrheit und latitiert im Deduktionsverfahren 1). Also auch in der Sprache gibt es Irrtum und Wahrheit; auch ein unrichtiges Denken kann gemeinsam werden, so daß das Denken nicht mit dem Gedachten übereinstimmt.

Wie ist das im Zusammenhang mit unserer ganzen Untersuchung anzusehen: Die Abschätzung und der Gebrauch des wissenschaftlichen Gehaltes aller Formeln, die in der Sprache niedergelegt und entwickelt sind, beruht auf Urteilen, wobei ein zu frühes Abschließen, also Irrtum, möglich ist.

Wir müssen die Sache noch von einer anderen Seite ansehen. Die Gleichheit in der Konstruktion des Denkens als das eine Element des Wissens hat nur ihre Manifestation in der Sprache. Nun aber gibt es keine allgemeine Sprache, also auch keine allgemeine Gleichheit der Konstruktion. Also ist dieses Merkmal gar nicht realisiert und wird auch nicht realisiert werden. Alle Bestrebungen, zu einer allgemeinen Sprache zu gelangen, sind mißlungen; denn die Verständigung über die allgemeine Sprache selbst ist den einzelnen Sprachen unterworfen.

Wir haben schon früher auf die Begrenzung durch die Sprache aufmerksam gemacht, so daß wir sagen, die Identität der Konstruktion des Denkens ist nichts Allgemeines, sondern in Grenzen eingeschlossen. In der Sprache zeigt sich schon die Relativität des Wissens; die Grenzen sind verschieden nach der Verschiedenheit oder Verwandtschaft der einzelnen Sprachen. Manche Sprache läßt sich leichter in eine andere Sprache auflösen, weil sie ihr verwandter ist; hier kann also eine gleichmäßige Konstruktion des Wissens eher zustande kommen.

Wird also die Sprache schon hervorgelockt durch den Prozeß des Schematisierens, so muß sie in diesem selbst schon eine Differenz und die Relativität des Wissens liegen, welche sich in der Differenz der Sprachen ausdrückt. Die allgemeinen Bilder sind allerdings etwas durch die intellektuelle Funktion im Sinn (der inneren Seite der organischen Funktion) Entstandenes, aber doch durch die organische Funktion Bedingtes. Und nur durch das Zusammenschlagen der beiden Funktionen, der äußeren und der inneren, nur durch die Verbindung beider entsteht das Bewußtsein.

Wenn wir von der Differenz der Sprache reden, unterscheiden wir die äußere Differenz des Klanges und die innere des Gehalts. Es ließe sich denken, daß nur der Klang verschieden sei, der Gehalt derselbe. Aber kein Wort, das eine logische Einheit in sich trägt, korrenspondiert mit einem Wert einer anderen Sprache. So ist das menschliche Vermögen in Ansehung der Empfänglichkeit für die Tätigkeit der intellektuellen Funktion in den Menschen verschieden. Wo aber diese Differenz der allgemeinen Bilder liegt, ist uns nicht klar.

Sie könnte von einer Differenz in der intellektuellen Funktion selbst oder von der Beschaffenheit der äußeren Rezeptivität der organischen Funktion herrühren. Gibt es noch ein Drittes, worin der Grund der Differenz der Sprache liegen könnte? Das ist unmöglich anzunehmen, wenn wir nicht die Annahme zerstören wollen, daß an sich in der Beziehung eines einzelnen Bildes auf ein allgemeines kein Irrtum sein kann. Denn diese Beziehung selbst ist die Wahrheit.

Der erste Fall, daß die Differenz gegründet ist in einer Differenz der intellektuellen Funktion an und für sich, ist auch ausgeschlossen. Denn wäre diese nicht identisch in allen Menschen, so gäbe es überhaupt keine Wahrheit. Ist die Vernunft dieselbe, so ist auch das System der angeborenen Begriffe dasselbe, dessen Sitz sie ist. So bleibt nichts anderes übrig, als daß diese Relativität des Wissens gegründet sei in einer ursprünglichen Differenz der organischen Eindrücke. Dadurch ist die Abweichung im Schematisierungsprozeß der verschiedenen Völker, woraus die Verschiedenheit der Sprachen entsteht, begründet. -

Nur die Grenzen des Denkens sind vom Einfluß des Individuellen ausgeschlossen. Dies bestätigt die Geschichte, denn wir finden bei allen Völkern dieselben Vorstellungen darüber. Übrigens ist in allen Zweigen des realen Wissens diese Verschiedenheit sichtbar. Das liegt schon in der Sprache. Es geht dies so weit, daß, ungeachtet wir sagen mußten, daß, je mehr die Identität heraustreten müsse, auch hier die individuelle Verschiedenheit dennoch nicht fehlt. Grenze auf der Seite der bloßen Möglichkeit ist die Mathematik, wo immer verschiedene Methoden stattgefunden haben; auf der andern Seite, wo alles liegt, was der Vorstellung des absoluten Subjektes am meisten verwandt ist, das eigentlich Metaphysische.

Auch hier finden wir Differenzen in den Grundvorstellungen, und in der Form, die den wissenschaftlichen Charakter ausmacht, zeigt sich überall die individuelle Verschiedenheit. Aus alle dem entsteht ein neuer Kanon für die Begriffsbildung: Es ist überall soviel Annäherung an das wirklich gewußte Wissen, als das Verfahren des Induktionsprozesses 2) begleitet ist von einem kritischen Verfahren, welches das Individuelle aufsucht und es in seinem Positiven und in seinen Grenzen zu verstehen sucht.

Es soll hier etwas gesondert werden, was nicht getrennt ist. Das Verfahren ist also nur eine Abstraktion. Die Sonderung kann daher nie in einem bestimmten Produkte hingestellt werden, sonst wäre sie auch tingiert mit dem Individuellen des Sondernden. Sie kann nur im Prozeß selbst sein. Ist der Kanon richtig, so können wir hieraus sehen, wie es eigentlich mit der Forderung der Allgemeingültigkeit in der Wissenschaft steht. Absolute des Wissens kann nur entstehen, wenn der individuelle Faktor ganz eliminiert wäre. Das aber ist nur unter der Voraussetzung einer absolut allgemeinen Sprache möglich.

Nun gibt es aber kein Mittel, eine solche Sprache zustande zu bringen, wenngleich sie auch ein Produkt der intellektuellen Funktion ist. Denn die Sprache steht nicht überall unter der Botmäßigkeit der Konstruktion und hält am Naturgebiete fest. Überall, wo die Wissenschaft aufwachte, kam diese Sache zur Sprache, zuletzt durch LEIBNIZ. Allein dieses Problem entspricht der Quadratur des Zirkels.

Alle Elemente des Bezeichnungssystems, die den Kanon der Sprache bilden, hängen an dem Teil des Begriffsbildungsprozesses, den wir betrachtet haben: Nenn- und Zeitwörter = Subjekts- und Prädikatbegriffen. Da die Sprache sich gleich an dem schematischen Prozess entwickelt, so sind die Stammwörter mehr auf die Seite des Induktionsprozesses zu setzen, der sich auf die Wahrnehmung bezieht; alles Abstrakte wir mehr vom Deduktionsprozeß abhängen.

Dies ist der Sinn des Ausdruckes, die "Sprache sei in ihrem Anfang sinnlich". Alle unmittelbare Veränderung bezeichnenden Ausdrücke haben zum Gegenstand die allgemeinen Bilder; aber dem Deduktionsprozeß muß ebensoviel in der Sprache entsprechen, wie dem Induktionsprozeß.

Die Aufgabe des kritischen Verfahrens, sich des individuellen Faktors zu bemächtigen, ist die, die verschiedenen Charaktere der Sprachen nach ihrem allgemeinen Bilderschematismus aufzufassen. Die Gesichtspunkte hierfür liegen im Bisherigen. Die eine Sprache wird sich mehr auf die Seite des bedingten Denkens, die andere mehr auf die Seite des reinen Denkens hinlenken. Die eine gibt dem Subjekts-, die andere dem Prädikatsbegriff die Priorität; die eine wird die Aktion dem Dinge, die andere das Fixieren der Gegenstände den Aktionen unterordnen.

Allein es ist offenbar, daß auch dies nur unter der Form eines allgemeinen Bildes zur Anschauung gebracht werden kann, wie überhaupt alles Individuelle sich nicht auf einen allgemeinen Begriff zurückführen läßt, sondern nur auf einen allgemeinen Ort, wo mehreres Besondere zusammenliegt. Dieselbe Aufgabe wird sich auch auf den Deduktionsprozeß erstrecken. Dann bemüht man sich, die Sprache in Ansehung zu klassifizieren; so bildet man Gegensätze und bezeichnet Ähnlichkeiten und Verwandtschaften.

Das Dominierende aber bleibt doch immer das Bild; und zwar so, daß es in der Sprache nicht völlig wiedergegeben werden kann. Wir können nie ein Individuelles durch die Sprache ausdrücken, außer inwiefern es als Bild oder in einer Reihe von Bildern dasteht. Eine Persönlichkeit kann nie durch eine Definition wiedergegeben werden, sondern wie im Roman oder Drama nur durch das Bild, das um so besser ist, je mehr Teile darin zusammenhängen.

Ebenso ist es mit der Sprache und ihrem individuellen Charakter. Nur einzelne Züge lassen sich als Formeln auffassen, jedoch nur insofern sie andern entgegengestellt werden. Das aber ist kein eigentliches Zusammenfassen, sondern jeder hat es in sich als Bild. Die letzte Ergänzung der Unvollkommenheit des Wissens liegt hier auf der Seite des Bildes, und der gesamte Zyklus individueller Bilder muß die Unvollkommenheit des allgemeinen Wissens ergänzen; das aber ist nur in beständige Annäherung möglich.

Dies angewandt auf die Aufgabe der allgemeinen Wissenschaft will sagen: Es gibt auf keinem Gebiet ein vollkommenes Wissen als zugleich mit der lebendig aufgefaßten Geschichte desselben zu allen Zeiten und an allen Orten, welche durch dieses kritische Verfahren in seinem ganzen Umfange zusammengenommen ist. Und es gibt keine Geschichte desselben ohne seine lebendige Konstruktion.


finito

LITERATUR - Friedrich Schleiermacher, Dialektik, (Hrsg. Rodebrecht), Leipzig 1942
    Anmerkungen

    1) Deduktion = Weg des Denkens vom Allgemeinen zum Besonderen
    2) Induktion = Weg des Denkens vom Besonderen zum Allgemeinen