tb-4Auf den Spuren der AbstraktionFormen der Wirklichkeit    
 
LAURENT VERYCKEN
Wirklichkeit und Macht
[Individuum und Allgemeinheit in Wissenschaft und Politik]
[1/4]

Vorwort
Die Bestrebungen dieses Buches wenden sich gegen rechnerisches Denken, welches alles Gegebene aus wenigen logischen Elementen und Prinzipien abzuleiten versucht. Mathematisches Denken setzt Sprache und Wirklichkeit gleich und gilt im common sense als logisch oder objektiv. Daß die Sätze dieser Art von Logik aber nichts anderes als Tautologien sind, die überhaupt nichts aussagen, sondern bloße Regeln der Umformung von Aussagen sind, soll hier klar gemacht werden. Logische Sätze geben überhaupt keine Erkenntnis wider und drücken keine Sachverhalte aus und lehren auch nichts darüber, was in der Welt vorhanden ist.

Die Sprache enthält hauptsächlich Wörter, die nur Bejahung oder Verneinung ausdrücken. Der Verstand neigt deshalb dazu, alles fließende Geschehen in Substanzen umzudichten. Er verwandelt dabei die Wirklichkeit in lauter kleine Konstanten, die logisch greifbar sind. Wirklichkeit ist aber letztlich eine unendliche Mannigfaltigkeit, die alle differenzierten Schattierungen enthält. Der menschliche Verstand kann diese Vielfalt nicht adäquat sprachlich ausdrücken und auch nicht adäquat qualitativ beschreiben. Das Viele und die Vielfalt widerspricht der Einfachheit als dem Prinzip des Verstandes und der Logik.

Die logische Denkweise hängt am System und versucht dieses konsequent durchzusetzen, wobei es ihr immer auf Einstimmigkeit ankommt. Bei einem solchen Verfahren kommt man aber nicht darum herum, Probleme zu vergewaltigen und Lösungen zu erzwingen. So hofft die objektivistische Betrachtungsweise der Wissenschaft sämtliche Qualitäten restlos in Quantitäten ausdrücken zu können.

Kraft und Arbeit des Verstandes bestehen in der Tätigkeit des Scheidens. Hier soll nun gezeigt werden, daß die Unterscheidungen des Verstandes nicht in der Sache, sondern nur in den Worten liegen und daß die Ansicht der herkömmlichen Logik grundfalsch ist, weil sie besondere Merkmale zahlenmäßig betrachtet und losgelöst behandelt. Die Verbindungsweisen der Wörter und Gedanken werden für berechenbar gehalten, so daß man glaubt, einen Denkfehler mit derselben Klarheit und Zweifellosigkeit aufzeigen zu können, wie einen Rechenfehler. Einheit, Unterschied und Beziehung sind jedoch Kategorien und Abstraktionen unseres Verstandes und nicht den Dingen eigen. Wörter sind Abbildungen der Dinge, quasi ihr Schein und nur scheinbar und in der Erscheinung gibt es diese Unterschiede, die in Wirklichkeit keine sind. Unterschiede existieren nur in der Sprache und im Denken und werden nur dadurch aufgehoben, indem wieder neue Unterschiede gemacht werden.

Durch die Sprache trägt der Mensch die Welt in sich. Sprache ist vorgeformte Weltanschauung. Der Sprache, wie allem Logischen, gilt das Allgemeine dem Individuellen gegenüber als etwas Höheres. Das Allgemeine gilt ansich und als etwas Positives, das Fürsichseiende aber als etwas Negatives. Das Wesen der Ordnung ist das vollendet Logische und absolut Allgemeine. Logik und Allgemeinheit sind jedoch Synonyme für abstrakte Macht, die den Menschen über sein Denken beherrscht. Umso ein einheitlicher alles ist, desto mehr muß das "Andere" ausgegrenzt und womöglich zerstört werden. Wo Ganzheit ist, da ist Ausgliederungsordnung.

In der Allgemeinheit verliert der Mensch seine Individualität und wird dadurch immer mehr zum willenlosen Werkzeug der Macht als Allgemeinem. Dabei ist zu bemerken, daß das Individuelle nicht allein dadurch schon in Erscheinung tritt, daß wir es denken. Als rein Gedachtes bleibt es ein Abstraktum und Allgemeines, das sich selbst entfremdet ist. Individualität ist Sache des persönlichen Bewußtseins und muß als solche empfunden werden und ist nicht nur Sache des Verstandes.

Wer sich also von der Sprache denken läßt und damit die Herrschaft über seinen Verstand verloren hat, ohne es jemals bewußt wird und wer dem Aberglauben huldigt, indem Ideen zu Tatsachen umgedeutet werden, dem sei dieses Buch als Lektüre empfohlen.



I. Teil
Die Macht der Wirklichkeit

"Jahrtausendelange Züchtung der Geister im Dienst des zweckgeleiteten Tatsachenglaubens hat uns daran gewöhnt, das Sinneserlebnis für eine Zeichen-
sprache der Dinge zu halten."
      - Ludwig Klages


Realität ist eine Bezeichnung für etwas, das sich als Ganzes unserer Erkenntnis entzieht. Was wir erkennen können sind immer nur Teilbereiche, die ihre Bedeutung im Zusammenhang ändern und ihren Sinn erst im Kontext erhalten.

Die Welt, das Ganze, die Natur oder der Staat sind Abstraktionen unseres Verstandes und nichts, was wir unmittelbar erleben können. Erleben ist ein einheitlicher und komplexer Zustand, bei dem Geist, Körper und Seele als verschiedene Tendenzen zusammenspielen. Worte sind Abstraktionen und keine Sachen und wenn wir Worte mit Dingen gleichsetzen, verwechseln wir die Wirklichkeit mit der bloßen Erscheinung und vertauschen das Erlebnis mit dem bloß Gedachten.

Echte Erkenntnis ist, wenn überhaupt, nur durch die individuelle Erscheinung zu gewinnen. Erkenntnis ist zunächst immer subjektiv, also seelisch und psychologisch. Da innere Erlebniszustände, wie Empfinden und Befinden niemals wirklich kommunizierbar sind, mangelt es ihnen an Objektivität. Was wir mitteilen können sind nur Ungefährheiten, die wir aber für den Alltagsgebrauch für ausreichend halten. Die Alltagssprache hat nur Unterhaltungswert und ist für Erkenntniszwecke ungeeignet.


Die Funktion des Ich

Erst durch sein Ich wird der Mensch als Person greifbar. Dieses Ich ist aber keine statische und permanente Einheit, sondern ein Bündel einander widerstrebender Tendenzen und etwas, das wir wieder und wieder herstellen müssen.

In jeder Minute denken wir oder sagen wir Ich, aber jedesmal ist dieses Ich verschieden. Jeder Mensch setzt sich aus einer kleiner oder größeren Vielfalt kleiner Ichs zusammen und befindet sich in einem dauernden Zustand der Identifizierung. Das Ich ist keine Substanz, sondern eine Funktion, besser die Einheit einer Funktion.

Zur Natur des menschlichen Verstandes gehört es, Zweiheit und Zerrissenheit hervorzubringen. Der Verstand muß sich mit Widersprüchen herumschlagen. So steht das Ich im Schnittpunkt zahlreicher Bezüge und beinhaltet Bewußtes und Unbewußtes. Durch Konzentration und Gedankenzucht verhindern wir, daß sich einzelne Tendenzen ein allzu großes Übergewicht verschaffen.

Das Ich ist nur ein Notbehelft und eher eine grammatikalische Hilfskonstruktion, die uns das Sprechen erleichtert. Wir glauben an uns, weil wir Ich sagen können und doch gerät dieser Glaube immer wieder ins Wanken, da es eine vollständige und dauernde Identität bei kaum jemanden gibt. Das Ich ist eine denkökonomische Einheit. Mit dem Wort Ich reden wir eigentlich zu uns selbst.

Je mehr Ich-Bewußtsein besteht, desto weniger sind wir in der Lage etwas zu erleben. Echte Gefühle und Sinnesempfindungen lösen die Schranken des Ich. Deshalb tut sich ein völlig neuer Erfahrungsbereich auf, wenn wir uns von unseren Ich-Funktionen entfernen oder gar trennen. In der ichlosen Erfahrung werden Zeit, Raum und Person jenseits jeder allgemeinen Vorstellung erlebt. In der ichlosen mystischen Erfahrung erkennt der Mensch seine Beziehung zu Zeit, Raum und Person lediglich als eine Beziehung zur Sprache, besser zur grammatischen Form der Sprache.


Die mystische Erfahrung

Die ichlose Erfahrung ist sprachlos. Zeit und Raum sind Kategorien, die nicht den Dingen eigen sind, sondern dem menschlichen Verstand entspringen. Ohne die Orientierungsmöglichkeit in Zeit und Raum un ohne die versichernde Bestätigung eines aktiven Außenweltbezugs, entstrukturiert sich die Innenwelt. Raum und Zeit sind die Gewebe der Wirklichkeit und die Prinzipien der Individuation. Ohne Raum und Zeit wäre alles allgemein.

In der Überwindung seiner Grenzen wird das Ich transzendiert. In einer solchen Situation ist es äußerst problematisch den Wahnsinn vom religiösen Erlebnis zu unterscheiden. "Die religiöse Mystik ist nur eine Hälfte der Mystik. Die andere Hälfte hat keine gesammelten Traditionen, außer denen, welche die Textbücher des Wahnsinns bereitstellen." (1)

Wenn wir unser Ich hinter uns lassen, begegnen wir entweder dem Teufel oder Gott. Begegnen wir dem Teufel, so ist es die Hölle oder der Wahnsinn. Begegnen wir Gott kann das als Offenbarung bezeichnet werden. Ob das eine oder das andere erscheint, hängt von unserem egoistischen Willen ab. Was die Mystiker wollen, ist, so paradox es klingen mag, den Willen abzutöten, da er wirklichkeitsfremd ist und nur die ungeheuerlichsten Jllusionen erzeugt. So verpflichtet die mystische Erfahrung dazu, in sich selbst zu sterben. Solange das Ich aber nicht völlig aufgegeben und hingegeben ist, hat der Teufel seine Hände im Spiel.

Für den Mystiker ist Gott namenlos, von dem niemand etwas sagen, noch verstehen kann. Wenn wir in diesem Zusammenhang von Gott und Teufel sprechen, dürfen wir nicht vergessen, daß es nur Worte sind, mit denen wir dürftig versuchen, bestimmte Zustände zu charakterisieren, die sich eigentlich der sprachlichen Formulierung entziehen. "Zeit, Leib und Vielfalt sind die eigentlichen Pfeiler der Sprachwelt. Wenn wir sie hinter uns lassen, erreichen wir Gott." (2)

In der mystischen Erfahrung wird die Spaltung der Dinge und ihre Differenzierung aufgehoben. Im Ursprung sind die Dinge einerlei. Auf dem tiefsten Grund seines Wesens erkennt der mensch die Einheit aller Dinge. Die Wahrheit wird nicht relativ, sondern intuitiv und ganzheitlich, unter Aufhebung der Subjekt-Objekt-Spaltung erlebt. Im transzendenten Bewußtsein fällt die Unterscheidung von Individuellem und Allgemeinem weg. Unser Allerindividuellstes wird zum Allerallgemeinsten. Im transzendenten Bereich des Überunendlichen ist der Teil dem Ganzen gleich und umgekehrt. Die psychische Struktur entspricht der Struktur der Psyche aller Menschen. So muß der Kern des Wesens aller Menschen als gleich begriffen werden.

Auch im Buddhismus ist die Idee eines selbständigen Individuums eine Jllusion. Der wahre Wert des Menschen liegt im Grad seiner Befreiung vom Ich. Der Tod des Selbst gilt als einzig wirkliche Freiheit. Für den Buddhisten ist das Ich als Träger des Willens einer Person eine Täuschung, hinter der sich die Einheit aller Existenz verbirgt. So hat es ür ihn auch keinen Sinn, sich gegen die Wirklichkeit aufzulehnen. Die Welt erscheint als etwas Undurchdringbares, das nicht zu ändern ist. Der Buddhist verliert die Last der Freiheit, wenn er sein individuelles Selbst los wird. Er glaubt, daß man die Welt nicht richtig beurteilen kann, wenn man sich selbst für das Wichtigste hält.

Da Menschen sich nur allzu leicht mit einer Idee identifizieren, die sie von sich haben, sind sie zwischen der Vorstellung und dem Wirklichen gespalten, also zwischen dem, was sie zu sein meinen und dem, was sie sind. Die Kluft zwischen der Welt wie sie ist und der Welt, wie sie sein sollte, wird zur Ursache allen Leidens und Streites. "Gutes und Böses, beides sind Fesseln", sagt der Buddha. Das Tao ist ohne moralische Qualitäten.

In der mittelalterliche Mystik finden wir eine Parallele dieses Denkens. Jeder geistige Akt ist ein Willensakt und jedes Denken eine Funktion des Ich, wie überhaupt jede Tätigkeit immer Ichtätigkeit ist. Der Wille ist ohne ein Ich überhaupt nicht denkbar und umgekehrt. Ohne das Ich gäbe es kein mein, aber auch keine Welt. Man kann das Ich ohne die Welt gar nicht denken.
    "Ein einig Ding weiß nichts mehr als eines; und ob es gleich in sich gut ist, so kennets doch weder Böses, noch Gutes, denn es hat nichts in sich, das es empfindlich mache." (3)
Das in der mystischen Erfahrung erlebte Versagen der gewöhnlichen Ichfunktion ist eine Art Schock, bei dem man mit der Tatsache konfrontiert wird, daß die Welt, an die zu glauben wir erzogen worden sind, gar nicht existiert und daß unsere bisherige Wirklichkeit nur aus Bildern und Erscheinungen bestanden hat, die bei Berührung platzen.

In der westlichen Industriewelt ist das Ego wie nie zuvor ein Instrument zur Anpassung im Leben. Im heutigen Konkurrenzkampf ist das Ich unentbehrlich für das Überleben. Das Ich ist beherrscht vom Machtwillen. Wer kämpft, schafft zwangsweise Ego und je mehr man kämpft, desto stärker wird das Ego. Der neurotische oder mystische Prozeß ist dann der allmähliche Zusammenbruch des Machtwillens.
    "Alle Liebe dieser Welt ist auf Eigenliebe gebaut. Hättest du die gelassen, so hättest du die Welt gelassen." (4)

Die Subjektivität der Erkenntnis

Die Außenwelt kann keine vom individuellen Bewußtsein unabhängige Objektivität haben. Welt kann für jedes Individuum nur den Teil davon bedeuten, mit dem es in Berührung kommt. Ohne erlebendes Subjekt ist die Wirklichkeit nicht denkbar. Welt ist das, was uns als Welt zu Bewußtsein kommt.

Es gibt kein Geschehen ohne jemanden, dem es geschieht. Freude und Schmerz sind so groß, wie sie gefühlt werden, d. h. so groß, wie sie uns erscheinen. Aus diesem Grund ist auch eine Weltkonstitution, die für mehr als einen Menschen gelten soll, problematisch. Objektive Realität und Privatheit schließen sich in ihrer reinen Existenz aus, können aber nicht ohne einander existieren und existieren in ständiger Wechselwirkung aufeinander. Für die innere und äußere Welterkenntnis müßten wir praktisch zwei verschiedene Sprachen haben. Eine Sprache der subjektiven Empfindung und eine logische Sprache des Allgemeinen würde uns auf dem Weg der Erkenntnis einen gewaltigen Schritt weiter bringen. Genaugenommen ist das Wahrheitsproblem ein Sprachproblem. Aber davon später.

Wirklichkeit ist ein Prozeß fortwährender Verwandlung. Was ist, ist immer in Bewegung und niemals statisch. Wir können aber Bewegung nicht anders als im Hinblick auf einen Bezugspunkt feststellen. Tatsachen sind so immer Relationen und relativ, da sie dadurch entstehen, daß etwas zueinander in Beziehung gebracht wird.

Die gewöhnliche Realität ist im Grunde nichts anderes, als ein allgemeiner Konsens, der sich auf einer Vereinbarung über die Gültigkeit von Tatsachen gründet. Realität ist aber stets etwas Gefolgertes. Was als objektiver Zusammenhang ausgegeben wird, ist niemals mehr, als ein denkstilmäßiger Zusammenhang. Die Dinge sind erst wirklich, wenn wir uns über ihre Existenz geeinigt haben. Objektive Tatsachen sprechen zu lassen, ist nichts, als eine raffinierte Art, jemanden zu beeinflussen.


Logik und Subjektivität

Wenn wir uns Realität vorstellen wollen, müssen wir eine Stufung vornehmen und eine logisch-abstrakte Hierarchie aufbauen. Realität spielt sich auf mehreren verschiedenen Ebenen ab, etwa der physikalischen, mechanischen, ökonomischen, sozialen oder auch semantischen Ebene. Die Welt ist ein Stufenreich, in der jede Stufe des Seienden ihre besonderen Formen, Gesetze und Prinzipien hat. Jedes Wirklichkeitsprinzip hat seine eigene Erkenntnisform.

Jedes Objekt setzt ein Subjekt voraus. Nichts, was erkannt und wirklich erkannt werden kann, ist vom Willen des Erkennenden unabhängig. Schon was wir wahrnehmen ist von unserem Interesse abhängig. Alle Gedanken und Handlungen haben das Interesse zum gemeinsamen Fundament. "Unsere Bedürfnisse sind es, die die Welt auslegen." (5) Wille und Sicht sind so eng miteinander verflochten, daß man nur Schein und Täuschung produziert, wenn man subjektive Grundsätze als objektive unterschiebt.

Das logische Denken beginnt mit dem Begriff. Dieser trennt die Welt in Subjekt und Objekt. Bisher sind Erkenntnisse weitgehend so betrachtet worden, als beleuchteten sie eine in den Dingen längst vorgeformte Logik. Wenn wir jedoch glauben, die Existenz des Menschen oder der Natur ließe sich im Denken oder in Begriffen auflösen, begehen wir einen folgenschweren Fehler. Was logisch ist, braucht noch lange nicht Wirklichkeit zu werden, da uns die Sprache kein Wissen von der Wirklichkeit vermittelt, sondern höchstens von den begrifflichen Beziehungen.

Die Wirklichkeit ist nicht rational, sondern nur der menschliche Verstand. Kein logisches Gesetz hat es mit den Tatsachen des Seelenlebens zu tun. Hinter der sichtbaren Welt des Oberflächlichen verbirgt sich eine Welt der unsichtbaren Kräfte, die niemals Objekt logischen Folgerns oder demonstrierbaren Wissens sein kann. Allgemeingültige Wirklichkeit ist kein Gegenstand der menschlichen Erkenntnis.
    "Der Mensch erfährt durch seine Sinne von der Wirklichkeit genausoviel, wie eine Spinne vom Palast, in dessen Ecke sie ihr Netz gesponnen hat." (6)
Alles Denken ist bereits durch die Wörter unserer Sprache vorgeprägt und so sind alle Tatsachen, die in unser Bewußtsein eingehen, bereits auf eine bestimmte Weise gesehen und enthalten ideologische Bestandteile und ältere Anschauungen. In der Natur gibt es nur potentielle Tatsachen, die für den einzelnen Menschen erst durch Wahl und Urteil zu wirklichen Tatsachen werden. Überall, wo nicht rein empfunden, sondern noch gedacht wird, wird auch geurteilt und diese Urteile sind immer subjektiv und werden von keinem anderen Menschen in der gleichen Weise gefällt.

Tatsachen sind deshalb immer interpretationsbedürftig. Wahrnehmung und Deutung von Fakten erfolgt stets aufgrund eines Vorauswissens und einer ganzen Struktur von Vorurteilen. Neue Erfahrungen werden vom Verstand sofort zu den vorhandenen Ideen im Gedächtnis in Beziehung gesetzt.

Schon die Identifikation einzelner Ereignisse verlangt Kategorien, die allgemeine Gesetzesannahmen beinhalten. Es ist unmöglich, eine genaue Vorstellung von dder Welt zu haben, ohne das Prinzip der Realität selbst festzulegen. Definitionen stehen und fallen mit der Theorie. Tatsachen, in die nicht eine bestimmte Idee gelegt wird, sind gar keiner Darstellung fähig. Alle Tatsachen hängen von theoretischen Annahmen ab und sind nach DUHEM theoretische Tatsachen.

So enthält bereits jede formulierte Problemstellung die Hälfte ihrer Lösung. Durch die Art der Fragestellung wird bereits der Bereich der möglichen Lösungen auf ein bestimmtes Umfeld begrenzt, außerhalb dessen nun keine Lösung mehr möglich ist. Auf unkomplizierte Problemstellungen gibt es dann einfache Lösungen und auf komplizierte Fragestellungen gibt es nur schwierige Lösungen oder gar keine.

Die Realität selbst ist, was sie ist, unabhängig von unseren Vorstellungen und Begriffen. Die Wirklichkeit entzieht sich der menschlichen Erfahrung, weil schon unsere einfachsten Beobachtungen denkstilbedingt sind. Auch der Mystiker erfährt nur annähernd, was wirklich ist, selbst wenn er selbst anderer Meinung ist. Er mag sich vielleicht als Teil dieser Welt empfinden oder besser die Einheit von sich und der Welt spüren, über seine Sinnesorgane hinaus jedoch erfährt er nichts.


Erkenntnis und Interesse

Da der Bereich der Tatsachen so unendlich vielgestaltig ist, müssen wir, unseren Interessen entsprechend, eine Auswahl treffen. Wir bedienen uns der Abstraktionen und denken Einzelnes in Allgemeines um, um uns nicht in einer Unmenge von einzelnen Urteilen zu verlieren. Letztlich aber wird diese Auswahl von Wertvorstellungen bestimmt.

Die Wirklichkeit setzt sich aus einer Anzahl von Bedeutungswerten zusammen, die vom Verstand nach Kategorien geordnet und in Beziehung gesetzt werden, um Schlüsse zu ermöglichen. Aber schon bei der Begriffsbildung wird die Beobachtung vom subjektiven Willen geleitet. Der Forscher kann sich nicht vom System, das beobachtet wird lösen, weil er immer irgendwie daran beteiligt ist. Deshalb ist auch keine Objektivität möglich.

Wirklichkeit bezieht sich höchstens auf Meinungen und auf den Sinn oder Wert, der Tatsachen zugeschrieben wird. Es gibt darum keine neutrale und wertfreie Einstellung. Wenn wir alles bis auf den Grund logisch-rational beweisen wollten, würde das zu einem unendlichen Regreß führen. Die Kette der logischen Begründungen muß irgendwo aufhören.

Ein neutrales System der Sprache oder der Begriffe kann es nicht geben. Alles Wirkende ist seelisch und subjektiv. "Es ist im Menschen ein Trachten, die Welt in das zu verwandeln, als was er sich fühlt." (7) So spiegelt sich in jedem Denken das Interesse wider. Das Interesse leitet schon die einfachste Kenntnisnahme.

Wissenschaftliche Erkenntnis und die Bindung an Werte kann nicht getrennt werden. Nur das Interesse gibt der Erkenntnis Bedeutung. Aber wissenschaftliche Begriffsbildung geht mit den Gegenständen so um, als hätten sie nichts mit den Gefühlen des Forschers zu tun. Theoretisch denken heißt immer noch gefühlfrei denken, aber gefühlfreies Denken ist sinnlos. Indem der Wissenschaftler seine Gefühle abspaltet, kann er der Wirklichkeit schon gleich gar nicht gerecht werden. Der Grad seiner Wahrheit ist vom Interesse des Forschers an seinem Gegenstand gefärbt, von seinem Standpunkt und von den Grenzen seiner Aufmerksamkeit. "Rationalität ist theoretisch begrenzt, weil sie auf einer irrationalen Entscheidung beruth, durch die wir ein Engagement für die Vernunft eingehen." (8) Alle Begründungen sind letztlich Entscheidungen.

Es gibt keine Trennung zwischen Wissenschaft und Ideologie. Alle Weltanschauung ist nicht mehr, als ein System von Werten, die als Fakten verpackt sind. "Hinter jeder Theorie stehen willens-, macht- und interessengebundene Kollektivkräfte." (9) Die Wissenschaft mag zwar rational sein, ihre Anwendung wird jedoch von undurchsichtigen Interessen bestimmt. Bei sozial oder politisch brisanten Themen ist nur deshalb schon keine Objektivität möglich, weil viele Experten ihre Stellung verlören, wenn sie die Wahrheit sagen würden. Wenn aber alles Ideologie ist undes keine Erkenntnis der objektiven Welt gibt, dann ist die Wissenschaft parteileich und für den Mißbrauch geradezu prädestiniert.


Analogie und Sprache

Erkennen heißt identifizieren. Wir versuchen die Dinge zu erkennen, indem wir sie mit dem uns Bekannten vergleichen und möglicherweise identifizieren. Unsere ganze Erkenntnis ist vergleichende Klassifikation. Alles Erkennen ist Gleichsetzen, weil wir gar nicht anders als in der Metapher denken oder verstehen können. Wir können über Tatsachen nicht anders als in einer Art Analogie urteilen.

Bewußtsein ist immer vergleichendes Bewußtsein. Sobald wir denken, fühlen wir uns genötigt, von einem Gegenstand auf den ihm ähnlichen überzuspringen. Wir versuchen das Gleiche im Verschiedenen aufzufinden.

Jedes menschliche Symbolbildung überhaupt muß metaphorisch, eine Abstraktion und ein als-ob sein, da ein Symbol oder Zeichen nur repräsentiert und nicht die bezeichnete Sache selbst ist. Wodurch wir etwas mitteilen ist das Wort. Das Wort ist aber nicht das Ding. "Sprache ist von Grund auf metaphorisch und daher interpretationsbedürftig im Sinne eines das soll heißen." (10)

Das Symbol stellt die Verbindung her zwischen der sichtbaren und der unsichtbaren Welt, also der Welt der Dinge und der Welt der Worte und Gedanken. Dabei werden durch die sprachliche Formulierung und ihrer logischen Weiterverarbeitung zahlreiche Zwischentöne übergangen, die in der Wirklichkeit noch vorhanden sind. Die Operationen des Verstandes spalten die Welt polar auf, was in den sprachlichen Gegensätzen von war und kalt, Tag und Nacht, Leben und Tod etc. zum Ausdruck kommt. Die ganze Logik funktioniert so nach dem Prinzip des Gegensatzes. Mischungen, die in der Realität noch vorhanden sind, werden in der Sprache nicht mehr einbezogen.

Der Mensch braucht zum Denken das Zeichen. Wenn es keine Bezeichnung gibt, ist das Denken ausgeschaltet. Unser bewußtes Denken trennt seiner Natur nach die Zusammenhänge, aus denen sich die Wirklichkeit zusammensetzt. Was wir aber erleben, sind keine für sich gültigen, absoluten Eigenschaften, sondern nur Ähnlichkeiten und Gegensätze. Was wir mit unseren Sinnen erfahren, bewegt sich im Bezug und Vergleich zwischen gegensätzlichen Empfindungen. Etwas Heißes erscheint uns nach der Empfindung von etwas Kaltem wärmer, als nach der Empfindung von etwas Warmen.

Die Logik beruth auf dem Widerspruchsprinzip, aber Widersprüche sind nur im Denken möglich. Der Satz vom Widerspruch ist ein Denkgesetz. In der Logik braucht es identische Fälle und so heißt das Zauberwort der Logik ist. Da in der uns erscheinenden Welt identische Fälle aber nicht vorkommen können muß mit dem Begriff der logischen Identität auch der Begriff der Tatsache verschwinden.

Wenn es eine Wahrheit oder Objektivität geben soll, dann muß sie mit ihrem Gegenstand identisch sein, aber das kann sie nicht, solange sie mit Worten ausgedrückt werden muß. Die Sprache ist nur ein Bild der Wirklichkeit und nicht die Wirklichkeit selbst. Eine Wahrheit muß die Trennung von Subjekt und Objekt überwinden, aber das ist in der Sprache nicht möglich. Streng genommen ist die Logik gar keine Wissenschaft, da die Begriffe nur ein Ideal sind. "Wahrheit ist unteilbar. Wer die Wahrheit erkennen will, muß die Wahrheit sein." (11)


Sprache und Logik

Unsere Sprache ist eine Isolierungssprache und ihre Bezeichnungen und Definitionen sind Abgrenzungen. Worte trennen ständig und fangen etwas ein, das viel komplexer ist. "Es würde keine Dinge geben, ohne die Tat des Geistes, die den Eindruck spaltet." (12) Die Sprache verwischt in unserem Denken den Unterschied von Wirklichkeit und Vorstellung. Der Verstand denkt das Allgemeine, während die Sinnlichkeit das Individuelle erfährt.

Allgemeine Begriffe kommen dadurch zustande, daß wir individuelle Dinge weitgehend unbestimmt denken und immer mehr Merkmale unbeachtet lassen. Bewußtseinsvorgänge sind immer an einzelne Individuen gebunden, logische Gehalte dagegen nicht. Ein Satz zeigt nur die logische Form der Wirklichkeit. Die *Sprache besteht aus allgemeinen Namen, aber Allgemeinheit bedeutet immer gleich Undeutlichkeit. Die Allgemeinheit der Sprache, von den Eigennamen einmal abgesehen, bezieht sich lediglich auf die gleichen, bzw. ähnlichen Merkmale der Gegenstände. Im Begriff wird das Allgemeine zusammengefaßt.
    "Die erste Ablaufschranke im Erleben der Wirklichkeit, gestiftet vom ersten Geistesakt, ist das Ich, obschon noch nicht Bewußtsein des Ich, sondern zuvörderst Bewußtsein des Spiegelscheins seiner, d. h. der sinnlich zur Sache geronnenen Wirklichkeit. Allein damit wurde tatsächlich vollzogen, was die Philosophie fälschlicherweise als Wirklichkeitsmerkmal zu fassen pflegt: die Spaltung der Welt in Subjekt und Objekt; und die nun zieht unaufhaltsam unzählige andere Spaltungen mit sich, alle gewissermaßen vom gleichen Kaliber, und läßt sie Schritt für Schritt ins Bewußtsein treten, indem sie den darauf sich Besinnenden zu trennen veranlaßt: Ding von Ding, Ding von Zeit und Raum, Zeit von Raum, Ding von Eigenschaft, von Zustand des Dings, Subjekt von Objekt, Subjekt von Eigenschaft und Zustand des Subjekts, Subjekteigenschaften von Sacheigenschaften und so fort." (13)
Dem Erleben werden also Zeichen zugeordnet und mit diesen Zeichen wird dann logisch weitergerechnet. Die Bezeichnung der Zahlen durch Ziffern und der Laute durch Buchstaben ist aber reine Konvention, ein willkürlicher Brauch. Sinnesdaten sind deshalb weder wahr noch falsch, wir irren uns allenfalls in ihrer Interpretation.

Die Sprache kann nie mehr, als ein oberflächliches Muster tieferer Bewußtseinsprozesse sein. Die unmittelbare, singuläre Empfindung ist sprachlogisch ungreifbar. In unserem Seelenleben gibt es viele affektive Empfindungen, für die die Sprache kein Wort hat.
    "Da zeigt sich dann bald die Inkongruenz des Begriffs zur Realität, zeigt sich, wie jener nie auf das Einzelne herabgeht und wie seine Allgemeinheit un starre Bestimmtheit nie genau zu den feinen Nuancen und mannigfaltigen Modifikationen der Wirklichkeit passen kann." (14)
Die seelischen Dinge verhalten sich nicht wie Dinge oder Substanzen, sondern sind Vorgänge und Geschehnisse und werden am ehesten mit Verben und nicht mit Hauptwörtern umschrieben.

Wir können nur das denken, was uns die Sprache erlaubt. Um feinste Gebilde unseres Seelenlebens auszudrücken ist die Sprache zu arm. "Die Welt paßt nicht in die Mauselöcher, die unsere Sprache für sie bereit hält." (15) Die Charakterisierung eines Seelenvorgang durch ein Wort oder einen Begriff, muß an der Armut unserer scheitern, weil es unmöglich ist unaufhörlich Strömendes wie das seelische Erleben als feste Form und Einheit zu benützen.

Kein Eindruck ist in Begriffen auszuschöpfen. Das lebendige Gefühl tritt immer hinter das abstrakte Auffassen zurück. Das Allgemeine nehmen wir nicht wahr, sondern denken es allenfalls. Allgemein sind nur sprachliche Zeichen und Begriffe, das wirklich Existierende ist durch und durch individuell. Für die Seele gibt es Inhalte, für den Verstand nur Gegenstände und Inhalte sind immer komplexer, als bloße Gegenstände. In der Sprache denken wir nur in Gegenständen. Das Beste zerrinnt, wenn wir es zu Sprache machen. "Sobald du deinen Mund öffnest, ist die Wahrheit fort", berichten die Mystiker.

Jeder Begriff hat einen unbewältigten, irrationalen Rest. Was immer man von der Welt sagt, sind nur Worte und keine Wahrheit. Die unverkürzte Wirklichkeit tritt höchstens in das sprachlose Erleben ein. Die Mystik hat keine Grammatik. Die wesentlichen Merkmale der Lebensphänomene sind Instabilität und Unregelmäßigkeit und sie werden verfälscht, wenn man sie mit Gewalt in den starren Rahmen quantitativer Beziehungen preßt. Der Logik ist es nicht möglich in das Geheimnis der Wirklichkeit einzudringen. Das Wesentliche ist unaussagbar. Damit hat die Logik keine Vorrangstellung. "Denn die es fassen, reden es nicht und die es reden, fassen es nicht." (16)
    "Kein Begriff drückt mich aus, nichts, was man als mein Wesen angibt erschöpft mich; es sind nur Namen. Namen nennen es nicht, es ist das Einzige." (17)

Wahrnehmung und Relativität

Wahrheit und Wirklichkeit gehören zusammen, sind ständig im Fluß und entziehen sich jeder Erklärung. Was wir an der Wirklichkeit erkennen, ist ihre Veränderung. Es sind die Diskrepanzen, die das Gedächtnis interessieren, nicht die Fakten. Wir nehmen Unterschiede gar nicht wahr, bevor sie nicht für unsere Sinne eine gewisse Größe überschritten haben. Wofür wir keine Sinne haben, haben wir auch keine Wahrnehmung.

Bewegung selbst ist etwas relatives und kann nur in Relation auf einen Bezugspunkt wahrgenommen werden.
    "Denken wir uns, daß unser Zeitmaß sich gleichbliebe, dagegen unsere Fähigkeit, keine Raumunterschiede wahrzunehmen, hundertfach oder tausendfach sich vergrößerte . . . so würde vieles, was uns jetzt ruhig erscheint und keine Spur einer Veränderung zeigt, in deutliche Bewegung geraten; wir würden das Gras wachsen, die Blätter eines Baumes sich entwickeln, die Zeiger einer Uhr in raschen Fortschreiten ihre Bahn durchlaufen sehen; die Veränderungen, die wir jetzt nur erschließen, würden unserer unmittelbaren Wahrnehmung gegenwärtig sein. So hängt unsere Schätzung der Zeitgrößen und damit alle Vorstellung der Geschwindigkeit der Bewegungen und Veränderungen in der Welt von der Geschwindigkeit ab, mit welcher unser Bewußtsein von einem Moment zum anderen übergeht." (18)
Was uns an der Wirklichkeit vertraut erscheint ist nicht die Wirklichkeit, sondern ihr vertrauter Anblick. Die Schätzung der Dauer eines Vorgangs in der Umwelt setzt die Konstanz der inneren Bedingungen des Zeitnehmers als Meßgrundlage voraus.

Die Unterscheidung und der Unterschied ist es, was letztlich für das Erleben der äußeren Realität gilt. Mit den Worten der Sprache differenzieren wir ein bestimmtes Ding von den übrigen. Wir unterscheiden zuerst in Zeit und Raum, also zu welchem Zeitpunkt und an welchem Ort ein Ereignis stattfindet und dann nach Ursache und Wirkung, also nach der Kausalität. Mannigfaltigkeit und Vielheit der Erscheinungen gibt es überhaupt erst, weil wir die Kategorien Zeit, Raum und Kausalität unterscheiden.

Gegenstände der reinen Logik sind nur zeitlos-ideale und allgemeine Wesenszusammenhänge, nicht aber individuelle und zeitliche Vorgänge. Wir können sagen, daß alles Reale zeitlich ist, während begriffliche Relationen unräumlich und unzeitlich sind. Zwischen den allgemeinen Zeichen und der individuellen Wirklichkeit liegt ein unüberbrückbarer Gegensatz. Es gibt nur Tatsachen der Gegenwart, alle Tatsachen der Vergangenheit und was die Zukunft betrifft, ist nur erschließbar. Alles Wirkliche ist zeit- und ortsabhängig, Begriffe aber sind zeitlos. Das Reale, Individuelle, Einmalige und Zeitliche ist dem Werdeprozeß unterworfen, das Allgemeine und Zeitlose dagegen ist ewig und ideal und wird von keiner Veränderung berührt. Jedes wirkliche Ding gibt es nur an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit. Das Sein ist der Begriff der logischen Wirklichkeit, der unveränderlich ist. In der reinen Logik findet deshalb keine Veränderung der Wirklichkeit statt. Dem Verstand ist der stete und kontinuierliche Verlauf der Wirklichkeit zuwider. Er hängt an der einmal festgelegten Definition seiner Begriffe. Das Wissen des Verstandes ist seine Macht und Normalität und Gewohnheit sind das Ergebnis der Unterwerfung unter diese Macht.

Es gibt keine höhere Art der Realität, als die unmittelbare Erlebniswirklichkeit. Die intuitive Erkenntnismethode nähert sich dem Gegenstand in seiner ihm eigenen aktuellen Existenz, während die abstrakt-logische gegenüber Existenz und Nichtexistenz indifferent ist. Logik ist bemüht die einzelnen Phänomene auf einen gemeinsamen Nenner zurückzuführen und Einheit und Ähnlichkeit zu behaupten, während die Intuition an den gemeinsamen Zügen der Dinge interessiert ist, obwohl sie solche, quasi als Nebenprodukt zutage fördert. Das logische Prinzip der Gattung, Klassifikation und Systematisierung postuliert Identität, während die Intuition die Dinge in ihrer existenziellen Verschiedenheit erlebt.

Der Mensch lebt in einer überwiegend visuellen Welt, während z. B. der Delphin vorwiegend akustisch wahrnimmt. Wären wir etwa gasförmige Wesen, dann hätten wir kaum eine Vorstellung von Raum und Größe. So beruth unsere ganze Sprache darauf, daß wir feste Körper wahrnehmen. Jedes Lebewesen hat seine artspezifische Umwelt und nichts und niemand kann, selbst bei ausgebildetster Aufmerksamkeit, etwas wahrnehmen, wofür keine Erkenntniswerkzeuge, sprich Sinnesorgane vorhanden sind. Jedes Ding hat seine eigene Wahrheit, die wir nicht unbedingt erkennen können müssen. Wir dürfen die Existenz eines Dings nicht mit seiner Erkennbarkeit verwechseln. Im Begriff der Wahrheit ist ihre Erkennbarkeit nicht mitdefiniert, gerade deshalb kann es unbekannte Wahrheiten geben.


Logik und Wirklichkeit

Von primärprozeßhaften, nichtsprachlichen, funktionalistischen, technisch-praktischen Prozessen des menschlichen Geistes, wie sie vor allem bei Kindern und naiven Denkern vorkommen, einmal abgesehen, wollen wir Denken als den logischen Gebrauch von Wörtern verstehen. Die Logik soll dabei die Widerspruchsfreiheit der Sprache garantieren. Die Logik ist Gesetz und Prinzip der Sprache. Solange man es allein mit Wörtern zu tun hat, ist die Logik unanfechtbar. Die Logik läßt sich zwar auf die Wirklichkeit anwenden, enthält aber keine Information über sie. Wo es keine Sprache gibt, kann es weder Richtigkeit noch Falschheit geben, wohl aber Irrtum.

Begriffe sind nicht logisch aus der sinnlichen Empfindung ableitbar. Eine Empfindung gibt es nur so lange, wie sie empfunden wird. Empfunden wird nur Gegenwärtiges. In der Wahrnehmung wird die Empfindung bewußt und durch das hinzukommende Denken verhärtet, während die Wirklichkeit weiterfließt. Die Tatsachen sind beweglich, aber unsere Sprache und damit unser Denken, ist träge.

Wortrealisten und Rationalisten wollen in die Masse der Information, die sich dem Verstand aufdrängen, Ordnung und Regelmäßigkeit bringen, indem sie das Hauptgewicht ihrer Geistestätigkeit nicht auf die Beschreibung der Phänomene, sondern auf die logische Schlußfolgerung legen. Sie glauben, es mit Phänomenen zu tun zu haben, während sie nur Worte und Gedanken untersuchen. Bei einer solchen Vorgehensweise beschränkt sich jede Wahrheitsproblematik auf das Denken.

Begriffe enthalten immer ein willkürliches, subjektives Element, mit denen wir ihnen Bedeutung beimessen. Die Bedeutung ist mit der unmittelbaren sinnlichen Empfindung verwoben. In der Wahrnehmung werden schon Begriffe gedacht. Das, was wir erleben, kann nur ungefähr und indirekt kommuniziert werden. Allgemein begriffen kann erst der wahrgenommene Sachverhalt werden.
    "Denn das Seiende kannst du vom Seienden nimmermehr trennen. Immer hängt es zusammen, so daß es sich nie aus der Ordnung löst, um sich zu zerstreuen und wieder sich dann zu vereinen. Lückenlos steht mir das Seiende da." (19)
Die schlichte Wahrnehmung schließt bereits ein Begreifen in sich. Dabei bestimmt der Zufall der kleinen, persönlichen Erfahrung, was sich der Einzelne bei den Wörtern denkt und vorstellt.
    "Die Möglichkeit des Urteils vor meinem Fenster steht ein Baum hängt an einer schier unübersehlichen Vorgeschichte des Denkens, derzufolge wir z. B. Bäume von Pflanzen, Pflanzen im Allgemeinen von Tieren, das Fenster von der Wand, das Eigenich vom Fremdich, das Stehen vom Liegen unterscheiden und vermöge einer sehr merkwürdigen Verallgemeinerung auf das bloße Dasein des Baumes die Tätigkeit des Stehens anwenden lernten, gar nicht davon zu reden, daß wir dabei eine unbestimmte Zahl von Anschauungsbildern auf den Baum als auf ein zeitbeständiges Etwas bezogen und im Sinn einer Wirkung dieses Etwas ausgelegt haben. Gingen wir den Ermöglichungsgründen dieses Urteils weiter und weiter nach, so kommen wir unfehlbar zu dem Ergebnis, daß kein einziger der Begriffe, auf die wir uns dabei stützen, notwendig ist und daß diese so simple Beschreibung oder richtiger Mitteilung, die, wenn auch zulässige Deutung eines Sachverhalts darstellt, der auf hundert andere Weisen ebenso richtig gedeutet werden könnte." (20)

    LITERATUR - Laurent Verycken, Wirklichkeit und Macht, Penzberg, 1988
    Anmerkungen
    1) Thomas Szas, Die Fabrikation des Wahnsinns, Ffm 1976, Seite 47.
    2) Maurice Merlau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966, Seite 469.
    3) Johann Eckhart, Meister Eckharts mystische Schriften, Wetzlar 1978, Seite 83
    4) ebd. Seite 129
    5) Friedrich Nietzsche, Werke, Bd. III, hg. Karl Schlechta, München 1960, Seite 903.
    6) Fritz Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache, Bd. 3, Berlin 1982, Seite 641.
    7) Ludwig Klages, Der Geist als Widersacher der Seele, Bonn 1981, Seite 136.
    8) Karl Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, München 1980, Seite 284.
    9) Karl Mannheim, Strukturen des Denkens, Ffm 1980, Seite 221.
    10) Mauthner, a. a. O., Bd. 3, Seite 263
    11) Franz Kafka, in Rationalität und Mystik, hg. von H. D. Zimmermann, Ffm 1981, Seite 136
    12) Klages, a. a. O., Seite 646.
    13) Klages, a. a. O., Seite 912.
    14) Arthur Schopenhauer, "Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. 1, Zürich 1970, Seite 98.
    15) Anatol Rapoport, Bedeutungslehre, Darmstadt 1972, Seite 391.
    16) taoistische Weisheit
    17) Max Stirner, Der Einzige und sein Eigentum, Stuttgart 1972, Seite 179.
    18) Christoph Sigwart, "Kleine Schriften", Bd. 2, Leipzig 1884, Seite 110.
    19) Parmenides, in "Die Vorsokratiker", hg. von Wilhelm Capelle, Stuttgart 1968, Seite 161.
    20) Klages, a. a. O., Seite 688.