ra-2 L. BrentanoH. SchmidkunzEhrenfelsW. StrichF. Somlo    
 
JOSEF CLEMENS KREIBIG
Psychologische Grundlegung
eines Systems der Werttheorie

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"Zur Zeit eines Adam Smith wurde der Wert von Dingen ohne weiteres für den Ausdruck ihrer chemischen und physikalischen Merkmale angesehen und erst nach den tieferen Einblicken, die sich im Anschluß an Smith eröffneten, gelangten die Theoretiker der Ökonomie zu der Überzeugung, daß im Wert eine subjektive Reaktion auf die Empfindung oder Vorstellung eines Dings und seiner Bestimmtheiten unter Beziehung auf die Bedürftigkeit des Subjekts gegeben sei. Das praktisch Ergebnis war: Je nach dem Grad, in dem ein Gut einem Menschen geeignet erscheint, ein Bedürfnis zu stillen, wird ihm eine höhere oder geringere psychische Bedeutung beigelegt, welche ökonomischer Wert heißt."

Vorwort

Die Hauptaufgabe der vorliegenden Untersuchung lag darin, die psychologischen Merkmale und die Relationen der Werterscheinung nachzuweisen und hierauf zu zeigen, in welcher Weise sich aus dieser deskriptiven Grundlage ein philosophisches System der Werttheorie ergibt. Die Methode, der sich der Verfaser ausschließlich bediente, war die induktive der Erfahrungswissenschaften und es geschah lediglich im Interesse der Klarheit und Übersichtlichkeit des Darstellens, wenn in manchen Abschnitten die Begriffsbestimmungen vor den induzierenden Instanzen zur Anführung kamen.

Das psychische Fundament allen Wertens fand der Verfasser im Gefühl, das Kriterium des positiven Wertes hingegen in bestimmten Beziehungen zur Förderung der geistigen und leiblichen Aktivität. Der Nachweis, daß die Ableitung der timologischen [werttheoretischen - wp] Reaktionen aus aktueller oder dispositioneller Lust und Unlust des Einzelsubjekts weder zum Hedonismus noch zum psychologischen Eudämonismus, am wenigsten aber zum Panegoismus führe, sondern notwendig eine energetische Lebensauffassung bedinge, stellt das eigentliche letzte Ziel der gesamten Arbeit dar. Die Untersuchungen des Verfassers führten denselben zur Überzeugung, daß jen nach der Art der Relation der Wertgefühle zu den bewerteten Inhalten drei Wertgebiete - das autopathische, das heteropathische und das ergopathische - zu unterscheiden sind, als deren wichtigste Teile die Hygienik, die Ethik und die Ästhetik zu gelten haben. Die grundlegenden Feststellungen für den ethischen und ästhetischen Bereich erheben natürlich nicht den Anspruch, für spezielle Darstellungen dieser Disziplinen genommen zu werden. Als bloße Exkurse sind der Bericht über die ökonomischen Werte und der kleine Abschnitt über das Timologische der Pädagogiik gedacht.

Für wichtige Anregungen hat der Verfasser einer Reihe von Forschern zu danken, vor allem von MEINONG und von EHRENFELS, deren Werke die psychologische Wertuntersuchung in meisterlicher Weise inauguriert haben. Im Bestreben, die entwicklungstheoretische Seite der Phänomene zur Geltung zu bringen, boten dem Verfasser FRIEDRICH JODLs Psychologie, sowie die Schriften SPENCERs reiche Förderung. Auch FECHNERs Ästhetik, PAULSENs Ethik, einzelne Arbeiten von LEHMANN, DÖRING, JONAS COHN, WUNDT und die nationalökonomischen Arbeiten der MENGERschen Schule fanden Verwertung. (1)



1. Teil

Einleitung und Vorblick
auf die Werterscheinungen

1.  Allgemeine Orientierung.  - Der wissenschaftlichen Forschung bieten sich als Inhalt aller möglichen Erfahrung die Phänomene dar. Während von den besonderen Wissenschaften jede eine (durch bestimmte Beziehungen zusammengeschlossene) Gruppe von Phänomenen zum Forschungsgegenstand hat, vereinigt die Philosophie die kritisch bearbeiteten allgemeinsten Ergebnisse aller besonderen Wissenschaften zu einem einheitlichen Weltbild. (2) Von der Philosophie in diesem strengsten Wortsinn unterscheiden wir die "philosophischen Disziplinen", nämlich jene besonderen Wissenschaften, welche vermöge ihres Stoffgebietes und ihrer charakteristischen Ziele in relativ innigster Beziehung zu jenem abschließenden Versuch der Weltmodellbildung stehen. Eine tiefgehende Analyse der charakteristischen Ziele der Stoffverarbeitung innerhalb der philosophischen Disziplinen deckt die Tatsache auf, daß die Phänomene im ganzen einerseits einer theoretischen (das Werten ausschließenden), andererseits einer praktischen (wertenden) Auffassung fähig und bedürftig sind, wonach jene Disziplinen in zwei große Hauptgruppen zerfallen, die wir (in nicht genauer Abkürzung) als "theoretische" und "praktische" Philosophie bezeichnen. (3)

2. Diese grundlegende Aufstellung bedarf zunächst einer rechtfertigenden Erläuterung an Erfahrungsbeispielen.

Wenn wir eine Orange, eine Viper, einen grausamen Menschen, eine mathematische Formel, das Gedicht "Anakreons Grab" ins Auge fassen, so kann die philosophische Betrachtung dieser dargebotenen Phänomene von zweierlei Art sein: Entweder machen wir den Inhalt und die rein inhaltlichen Beziehungen der Phänomene, also alles, was an ihnen das Empfinden und Denken betrifft, zum ausschließlichen Gegenstand unserer Betrachtung oder aber wir achten speziell auf das Gefühlskorrelat der Phänomene. (Vom Willenskorrelat sei zunächst der Vereinfachung halber abgesehen.) Die Orange, ebenso auch die Viper, können wir als naturgeschichtliche Objekte, den grausamen Menschen als individualpsychologische oder soziologische Erscheinung, die Formel w38 = L70 / L38 als algebraischen Ausdruck für die Wahrscheinlichkeit des Erlebens des 70. Lebensjahres durch einen Achtunddreißigjährign, das Gedicht "Anakreons Grab" als Produkt der Phantasiefunktion im philosophischen Zusammenhang betrachten - diese Betrachtungsweise ist die theoretische. Der Inhalt selbst und seine Beziehungen, ohne Rücksicht auf die in uns und anderen Subjekten sich einstellenden Gefühle (an welche sich notwendig Willensregungen knüpfen) bestimmt den Charakter des Betrachtens. Und diese theoretische Betrachtungsweise ist es, welche für die  theoretische Philosophie  bezeichnend ist.

Allein dieselben Objekte erlauben und fordern noch eine zweite Betrachtungsweise. Wir können die Orange (im Begriff sie zu verzehren) mit einem Lustton anblicken oder mit einer uneigennützigen Freude an den Vorzügen des Gebildes wahrnehmen; die Viper kann uns beim Erblicken Furcht einflößen und eine Schutzbewegung auslösen; der grausame Mensch mag unsere Entrüstung erwecken; die genannte Formel wird mit einem Unbehagen über die unbefriedigende Chance der Erreichung des siebzigsten Jahres zur Kenntnis genommen werden; das Gedicht endlich (etwa in seiner Vertonung durch WOLF) ruft eine eigenartige wehmütig-wollüstige Stimmung in uns wach - dieser Betrachtungsvorgan oder, anders gewendet, der speziell von dieser Seite des Erlebens jener Phänomene bestimmte Charakter der Betrachtung ist der praktische. Das Phänomen als  gefühlsbetontes  ist Betrachtungsobjekt, der Inhalt wird nicht als gleichgültiges Datum erfaßt, sondern wird  gewertet.  Wir werden in der Folge zu zeigen haben, daß der Wert eine bestimmte gefühlsmäßige Bedeutung ist, welche in einem Urteil, dem Werturteil, zum Ausdruck gebracht wird. Der wertende Betrachtungsstandpunkt begrenzt das Gebiet der  praktischen Philosophie. 

Die psychologische Grundlage der gesamten praktischen Philosophie liefert, wie sich aus unseren späteren Untersuchungen ergeben wird, die  Werttheorie oder Timologie,  welche die vollständige und geordnete Beschreibung und Erklärung der Werterscheinungen mit Einschluß der Entwicklung derselben zum Gegenstand hat.

3.  Vorläufige Charakteristik und Definition des Wertes im allgemeinen.  Die Beispiele der wertenden Betrachtung der Orange, der Viper, des grausamen Individuums, der Wahrscheinlichkeitsformel und des GOETHEschen Gedichts - welche vorläufig als typische Fälle der empirischen Mannigfaltigkeit gelten mögen - liefern die zureichenden Ausgangspunkte für folgende induktive Erkenntnisse:

Wert im allgemeinen ist eine gefühlsmäßige Bedeutung. 

Die fortgesetzte Analyse des menschlichen Seelenlebens führt zuletzt zu vier, nicht weiter auflösbaren Grundseiten alles Psychischen, welche wir als Empfinden, Denken, Fühlen und Wollen oder auch als Empfindungs-, Denk-, Gefühls- und Willenselement bezeichnen. Phänomenal sind uns komplexe Erlebnisse gegeben; an ihnen eine oder mehrere Grundseiten zu beachten und gesondert zu untersuchen, ist lediglich Ausfluß der wissenschaftlichen Differenzierungs- und Ökonomiebedürfnisse. (4)

Analysieren wir ein Erlebnis auf seine Wertbedeutung, so gelangen wir auf die  Gefühlswirkung  als das letzte und entscheidende Element. (5) Der Anblick der Viper vereinigt eine Sinnesempfindung, gewisse Reproduktions- und Urteilsakte, ein zugeordnetes Unlustgefühl und ein Wollen negativer Qualität. Das Gedicht über ANAKREON weckt Gedächtnis- und Phantasievorstellungen, Urteile, aktuelle und dispositionelle Lust und eine positive Willensregung. Daß dasjenige, was uns die Viper widerwärtig d. h. unwert, das Gedicht beglückend, d. h. wert macht, weder das Empfindungs-, noch das Denk-, noch das Willenselement, sondern ausschließlich der Gefühlsgehalt des Erlebnisses ist, dürfen wir unter Anrufung unserer inneren Wahrnehmung als evident bezeichnen. Die anderen Grundseiten stellen sich hingegen als Korrelativa (Anlaß, Mitbedingung, Ausfluß) dar. Die Berechtigung, dieser Erkenntnis den Charakter der empirischen Allgemeingültigkeit zuzusprechen, dürfte uns wohl (unter Rücksicht auf die später folgende Beschreibung der Gefühlsgesetze) niemand aberkennen.

Behufs vorläufiger Charakteristik unseres Wertfundamentes seien bereits hier folgende Gesichtspunkte kurz zur Sprache gebracht.

Wenn wir vom Gefühl als dem Wertfundament sprechen, so verstehen wir darunter nicht bloß den aktuellen Lust- oder Schmerzton eines Inhaltes, sondern auch die begleitende dispositionelle Gefühlsstimmung, deren Bestehen und Qualität in ihrem Einfluß auf das Wollen zutage tritt. Diesen beiden Formen des Gefühls korrespondieren offenbar auch zwei Klassen der Werterscheinungen,  aktuelle  und  dispositionelle Wertungen. 

Ferner bedarf die Tatsache der Feststellung, daß durch den Wertungsprozeß ein bestimmter  Gegensatz  zum Ausdruck gebracht wird, indem vom wertenden Subjekt gewisse Phänomene mit einem gefühlsmäßigen Vorzug, andere mit einer gefühlsmäßigen Nachsetzung ausgezeichnet werden. Dieses Vorziehen, bzw. Nachsetzen kann vom Wertobjekt direkt oder durch Vermittlung der Assoziatoin zur Auslösung gebracht werden. Zwischen beiden Gegensatzpolen besteht eine (je nach der Entwicklungsreife des Wertsubjekts) mehr oder minder fein abgestufte Skala höherer oder geringerer Wertschätzung und Unwertschätzung - eine  Wertskala.  In der Mitte zwischen dem Wert- und Unwertbereich scheint auf dem ersten Blick ein größeres indifferentes (wertentbehrendes) Gebiet von Erscheinungen zu liegen. Doch darf es aus bestimmten in der Folge zu liefernden Gründen als sehr wahrscheinlich gelten, daß jeder Empfindungs- und Denkinhalt, wenigstens beim erstmaligen Eintreten, von einem aktuellen Gefühl begleitet ist, welches allerdings später durch die Wirkung der Abstumpfung einerseits und durch Isolierung in assoziativer Hinsicht andererseits in den unbemerkten Dispositions-Untergrund eingehen kann. Soweit sich aber die Gefühlswelt erstreckt, so weit erstreckt sich jedenfalls auch die Wertwelt des betreffenden Subjekts. Wir dürfen daher allgemein sagen:  Dem qualitativen Grundgegensatz der Gefühlswelt Lust-Unlust entsprechend zerfällt das Wertgebiet im Ganzen in den Bereich des "Wertes im engeren Sinn" oder "positiven Wertes" und in den gegensätzlichen Bereich des "Unwertes" oder "negativen Wertes". 

Es wird sich zeigen, daß die Einzelerscheinungen der beiden Bereiche (an Zahl und Bedeutung) zureichende Ordnungsmerkmale und Gesetzmäßigkeiten aufweisen, um die Bildung eines  Wertsystem zu ermöglichen.

4. Wir unterscheiden ein Wertsubjekt und ein Wertobjekt.  Primäres Wertsubjekt  ist der Einzelne, welcher die Wertgefühle erlebt. Infolge des geselligen Zusammenlebens der Menschen bildeten sich jedoch neben dem einzelnen Subjekt notwendig Subjekte höherer Ordnung, die Familie, der Stamm, das Volk, die Kulturmenschheit. Diese Subjekte werden mit Hilfe von Tradition, Sitte und Recht gleichfalls Wertsubjekte, deren Wertungsweise auf den Einzelnen im Wege der Vererbungs-, Erziehungs- und Umgebungseinflüsse zurückwirkt. Im gesellig lebenden Menschen treffen daher die individuell-primären Wertungen mit den sekundären des Verbandes zusammen. (Die nähere Analyse dieses Verhältnisses ist einem besonderen Abschnitt vorbehalten.) Der Vereinfachung der Darstellung halber soll zunächst nur das primäre Wertsubjekt in Betracht gezogen werden.

Als  Wertobjekt  haben wir an früherer Stelle die Phänomene schlechthin bezeichnet. Da uns sämtliche Phänome der Außen- und Innenwelt jedenfalls entweder als Empfindungsinhalte oder als Denkinhalte gegeben sind, so werden wir im Interesse möglichster Indifferenz in erkenntnistheoretischer Hinsich diese  "Inhalte"  schlechthin als die primären Wertobjekte zu behandeln haben. Ausdrücklich sei daran erinnert, daß der bewertete Denkinhalt auch eine  Vorstellung  des  Nichtseins  eines lustwirkenden Gegenstandes sein kann (Vorstellung, die Eltern verloren zu haben), an welchen Inhalt sich Unlust knüpft. Ist der gegebene Inhalt eine Vorstellung des Nichtseins eines unlustwirkenden Gegenstandes, so tritt er lustbetont ins Bewußtsein (z. B. die Besinnung auf die Tatsache, eine Krankheit nunmehr überstanden zu haben). Ein triftiger Grund, die Inhalte nach der Vorstellung des Seins oder des Nichtseins einer Haupteinteilung zu unterwerfen, liegt nach unserer Meinung nicht vor.

Eine Untersuchung über die Merkmale und Arten der Wertobjekte im einzelnen wäre an dieser Stelle verfrüht. Es bedarf jedoch der grundlegenden Feststellung, daß  der Wert niemals eine adhärente Eigenschaft oder Beschaffenheit eines Gegenstandes der Außenwelt sondern lediglich subjektiver Natur ist. Wir vertreten damit den Standpunkt der  Subjektivität des Wertes  und leugnen das Bestehen "objektiver Werte". Die Aufdeckung der Subjektivität des Wertes, soweit er auf Gegenstände der Außenwelt bezogen wird, verdanken wir der modernen Nationalöknomie. Zur Zeit eines ADAM SMITH wurde der Wert von Dingen ohne weiteres für den Ausdruck ihrer chemischen und physikalischen Merkmale angesehen und erst nach den tieferen Einblicken, die sich im Anschluß an SMITH eröffneten, gelangten die Theoretiker der Ökonomie zu der Überzeugung, daß im Wert eine subjektive Reaktion auf die Empfindung oder Vorstellung eines Dings und seiner Bestimmtheiten unter Beziehung auf die Bedürftigkeit des Subjekts gegeben sei. Das praktisch Ergebnis war: Je nach dem Grad, in dem ein Gut einem Menschen geeignet erscheint, ein Bedürfnis zu stillen, wird ihm eine höhere oder geringere psychische Bedeutung beigelegt, welche ökonomischer Wert heißt. Das Maß des relativen Werthalten eines speziellen Gutes wird (nach KARL MENGER und seiner Schule) vom "Grenznutzen-Gesetze" näher bestimmt.

Daß unsere Behauptung der Subjektivität des Wertes grundsätzlich zutreffend ist, beweist die allgemeine Erfahrung: Ein Hungernder bewertet ein Nahrungsmittel hoch, welches ein Gesättigter nicht einmal beachtet. (Man denke an die Preise der Ratten zur Zeit der letzten Belagerung von Paris.) Ein Naturmensch wird eine Maschine, so nützlich sie ihm vielleicht sein könnte, für wertlos erachten, dagegen einem Spiegelscherben größte Bedeutung beimessen. Andererseits wird der Kulturmensch einem Amulett, an dessen Wirksamkeit er nicht glaubt, auch keinen Wert beimessen. In allen Fällen leuchtet uns die Tatsache entgegen, daß nicht die objektive Eignung eines Gutes zur Bedürfnisbefriedigung, nicht Gestalt, Gewicht, Härte, Farbe ..., sondern eine Schätzung des Subjekts im Hinblick auf irgendeinen vorgestellten Zweck das Wesen des Wertes konstituiert. - Von den Angriffen, welche diese streng subjektivistische Lehre in den letzten Jahrzehnten erfahren hat, sei nur der wichtigste betrachtet. Man machte geltend, es sei nicht richtig zu sagen, daß das Amulett für den Abergläubischen, der Taschenspiegel für den Neger wirklichen Wert besitzen. das seien eben  Scheinwerte.  In Wahrheit hätten diese Dinge keinen Wert. Dagegen besäßen essbare Dinge oder Heilmittel zu jeder Zeit und an jedem Ort einen Wert ansich, nämlich den  wahren  Wert. Der wahre Wert ist zugleich der objektive und erschöpfe sich in den objektiven Eigenschaften eines Dings; er sei einfach der Ausduck der tatsächlichen Eignung eines Gutes zu bestimmten Zwecken.

Wir behalten uns vor, die Natur der sogenannten falschen und wahren Werte bei der Besprechung des Werturteils zu erörtern und erwidern hier nur Folgendes: Die Gründe der Objektivisten beruhen nicht nur auf einer unzulässigen Gleichsetzung von wahr und objektiv, sondern vor allem auf einer groben Verwechslung von Wert und Nutzen, genauer von Wert und Nutzbarkeit. Was die Objektivisten beschreiben, ist lediglich die Nutzbarkeit jener Güter, deren objektiven Charakter niemand bestreitet. Wert und Nutzbarkeit sind nicht einmal Korrelative, wie die hohe Wertschätzung der Amulette von Seiten der Abergläubischen beweist. Alles Objektive am Amulett, seine Struktur, Dichte, Größe ..., sind bloße Anlässe für ein Werturteil, das den subjektiven Glauben an eine geheime Kraft des Gegenstandes ausspricht.

Die Lehre der österreichischen Nationalökonomen, daß Wert im ökonomischen Sinn jene Bedeutung sei, welche der Bedürftige einem Gut zumißt, hat zum erstenmal diesen Einsichten bündigen Ausdruck verliehen und zur Ausweitung und Vertiefung derselben vom philosophischen Standpunkt angeregt.

Auf die Frage, welche Bedeutung den Begriffen des objektiven, subjektiven, absoluten und relativen Wertes nach den Gesichtspunkten unserer eigenen Theorie zukommt, werden wir im nächstfolgenden Abschnitt einzugehen haben.

5.  Wert und Werturteil.  Noch eine Seite unserer Theorie des Wertes im allgemeinen bedarf der Voruntersuchung:  Das Verhältnis von Wert und Urteil.  Wenn Wert eine Gefühlsbedeutung ist, so ist das gefühlsmäßige Erleben des Wertphänomens als solches natürlich kein Urteil. Es ist aber dem psychischen Leben eigentümlich, nicht nur jedes Empfinden und Vorstellen, sondern auch jedes Fühlen und Wollen auf ein (intentional oder immanent genanntes) Objekt zu beziehen, d. h. auf etwas, das empfunden, gedacht, gefühlt, gewollt wird. Dieses Beziehen findet nicht selten in der Form eines voll ausgebildeten Urteils statt, besteht jedoch gewöhnlich bloß in einem solchen Verhalten zum gegebenen Inhalt, welches - explizit gedacht - ein Urteilen bedeuten würde. Beim Lustfühlen wird durch ein Urteil oder urteilsmäßiges Verhalten des Subjekts dem gegebenen Inhalt eine positive Bedeutung (ein Vorzug im Vergleich zum Fehlen des Inhalts oder zu unlustwirkenden Inhalten) beigelegt. Vom gelegentlichen Charakter als Zumessung negativer Bedeutung oder Nachsetzung ist das Urteil oder urteilsmäßige Verhalten beim Unlustfühlen. Anders ausgedrückt: wenn beim Erleben eines Inhalts (z. B. dem Geschmack einer Orange) ein Wertfühlen (Lust) eintritt, so entspricht demselben ein korrelatives Werturteilen (eine positive Wertschätzung) auf der Denkgrundseite des psychischen Phänomens. Diese Urteile und urteilsmäßigen Verhalten wollen wir kurz  primäre Werturteile  nennen. (6)

Als  sekundäre Werturteile  bezeichnen wir jene, welche sich nicht unmittelbar an das Fühlen des gegebenen Inhaltes anschließen, sondern erst aufgrund eines vermittelnden Urteils oder eines Assoziationsvorganges einstellen. Bei sekundären Werturteilen ist das Beziehen des Fühlens zum Inhalt oft durch eine Zeitvorstellung kompliziert.

Der Grausame hat (in der Vergangenheit) Schmerz bereitet und wird mit gegenwärtiger Unlust wahrgenommen, welche mit einer Unwertschätzung verknüpf ist. Die Viper wird (in Zukunft) Schmerz wirken und dementsprechend durch assoziative Vermittlung nun negativ gewertet. Der hochwichtigen Rolle der sekundären Werturteile in der Ethik und Ästhetik sei hier nur andeutungsweise gedacht.

Die Selbstwahrnehmung lehrt uns, daß nicht alle Werturteile mit gleicher Nachdrücklichkeit gefällt werden und daß diese Nachdrücklichkeit nichts anderes als die Kehrseite der Intensität des zugrundeliegenden Wertfühlens ist. Die Qualität des Wertens sowie auch der Grad der Entschiedenheit des positiven und negativen Werthaltens nicht an mehrere ziemlich verwickelte Gesetze gebunden, von welchen im II. Teil zu handeln sein wird.

Wie jedes Urteil, so unterliegt auch das Werturteil der Einordnung in die logischen Klassen "gewiß" und "ungewiß" ("wahrscheinlich in allen Abstufungen), sowie "wahr" und "falsch". Primäre Werturteile sind gewiß und wahr. Das sekundäre Urteil, daß mir der Wein gut schmeckt (während er tatsächlich gut riecht) oder daß eine kleine Schlange am Weg Schmerz zufügen werde, kann wahr oder falsch sein. Das Lustgefühl beim Weintrinken und das Unlustgefühl beim Erblicken der Schlange ist weder wahr noch falsch, es sind tatsächliche Erlebnisse. Wahr oder falsch können, wie seit ARISTOTELES so oft wiederholt und vergessen worden ist, nur Urteile sein.

Damit haben wir auch für die Frage nach dem wahren und falschen Wert den Standpunkt gewonnen, der volles Licht bringt. Das Wertphänomen hinsichtlich seiner Gefühlsseite unterliegt überhaupt nicht den Gegensätzen von wahr und falsch, ebensowenig wie ein Druckempfinden oder Wünschen wahr oder falsch sein kann. Dagegen ist das  Werturteil  entweder wahr oder falsch. Ist neben dem primären auch das sich einstellende sekundäre Werturteil wahr, so darf man von einem  wahren Wert  des gewerteten Inhalts sprechen. (7) Gesundheit hat  in diesem speziellen Sinn  einen wahren Wert, ein Amulett einen falschen oder Scheinwert, obwohl die mit beiden Inhalten verknüpften Gefühlsbedeutungen ohne Einschränkung einen "Wert" begründen.

Der soeben entwickelte Gedanke legt die Frage nahe, ob er nicht das Bestehen eines  objektiven  Wertes bedinge. Wir antworten: Definiert man den  objektiven  Wert als jenen, der einem wahren Werturteil entspricht, so gibt es offenbar einen objektiven Wert. Allein wir bestreiten, daß diese Begriffsbestimmung erlaubt ist. Subjektiver Wert ist doch gewiß nicht jener, der einem falschen Werturteil entspricht; es gibt gewiß auch subjektive Wertungen als wahre Urteile. Somit kann sich auch "objektiver" und "wahrer" Wert nicht begrifflich decken und die Definition  objektiv = wahr  dem ausschließenden Gegensatz von wahr und falsch nicht gerecht werden. Aber auch von anderer Seite stellt sich die Korrelation von Wahr und Objektiv als unzulässig heraus.

Objektiv kann und darf nichts anderes bedeuten, als an der Sache selbst seien - unabhängig vom Subjekt und unter Umständen im Gegensatz zu ihm.  Ohne  fühlende Wesen gibt es aber keinen Wert. Die Erscheinungen der Krankheit und der Kraftfülle, der edlen Tat und der Schurkerei, des harmonischen Dreiklangs und dissonierenden Kreischens stünden in einer Welt ohne fühlende Wesen gleichgültig nebeneinander und erst der Umstand, daß diese Erscheinungen auf ein Subjekt in verschiedener Weise wirken, bringt den Wertgegensatz in die Phänomene.

Unter Ablehnung der bisher kritisierten irrigen Anschauungen halten wir gleichwohl die Aufstellung eines Begriffs "objektiver Wert" als regulatives Verständigungs-Hilfsmittel für keineswegs überflüssig.

Was mit dem landläufigen Namen "objektiver Wert" psychologisch und logisch rechtmäßig zum Ausdruck kommen soll, ist der Wert eines Objektes nach dem als wahr supponierten Urteil einer Idealperson, welche bei vollendeter Kenntnis der Beschaffenheit jenes Objektes alle empirisch möglichen Gefühlsreaktionen vollzieht. 

Es obliegt uns an dieser Stelle noch eine kurze Auseinandersetzung mit den Begriffen des "absoluten" und des "relativen" Wertes. Die Gleichungen, welche hinsichtlich des leidig vieldeutigen Namens "absolut" für unseren Fall in Betracht kommen, scheinen uns zu sein: Absolut = ansich und durch sich seiend, absolut = beziehungslos zu anderem, absolut = objektiv. Für "relativ" hätten die kontradiktorisch formulierten Gleichungen zu gelten. Ansich und durch sich seiende Werte vermögen wir nicht anzuerkennen, da solche außerhalb der Grundbedingung allen Erkennens, der Unterscheidung von Subjekt und Objekt, stünden.

Da der Ausgangspunkt unserer Werttheorie die Erfahrung ist und diese im Wert eine Beziehung von Subjekt und Objekt aufzeigt, so kann auch die Gleichung absolut = beziehungslos zu anderem für uns keinerlei methodische oder heuristische Bedeutung haben. Gegenüber der Gleichsetzung absolut = objektiv verhalten wir uns ablehnend, da wir von einer Invasion des hier rechtmäßig metaphysisch zu nehmenden Begriffs des Absolutseins unter dem Schafspelz des Objektivseins sachliche Verwirrung befürchten.

Wenn wir aufgrund dieser Erklärungen zugeben, daß unsere Lehre vom Wert sich auf relative Werte bezieht, so verstehen wir dabei "relativ" im Sinne des metaphysischen Gegensatzes von absolut-relativ, wollen aber nicht dahin mißverstanden werden, daß wir die Wertungen als gesetzlos eintretenden, der indeterministischen Willkür jedes Einzelsubjekts preisgegebene Geschehnisse begreifen. Im Gegenteil liegt die Richtigstellung der populären  skeptischen  Behauptungen, "Wert sei etwas Relatives, durchaus Subjektives, eine (keiner Verallgemeinerung fähige) Privatsache des Einzelnen usw." inerhalb des eigentlichen Zweckes der vorliegenden Abhandlung.

Nicht wenige angesehene Philosophen bedienen sich des Begriffs  Wert ansich.  Versteht man unter dieser Bezeichnung den Wert als absoluten oder als objektiven, so gilt für dieselbe unsere soeben gelieferte Kritik. Werte ansich im Sinne von "Eigenwerten" erkennen wir selbstverständlich als bestehend an.
LITERATUR - Josef Clemens Kreibig, Psychologische Grundlegung eines Systems der Werttheorie, Wien 1902
    Anmerkungen
    1) Eine Arbeit von OSKAR KRAUS "Zur Theorie des Wertes", Halle 1902, kam dem Verfasser leider erst während der fortgeschrittenen Drucklegung zur Kenntnis und konnte nicht mehr berücksichtigt werden.
    2) Wenn nach dieser engen, wir möchten sagen, esoterischen Definition der Philosophie ihr Gebiet mit dem der vielgeschmähten und längst tot gesagten Metaphysik zusammenzufallen scheint, so finden wir darin noch keinen Grund, uns zu bekreuzigen. Eine letzte Zusammenfassnung der Wissensbestandteile zu einem Weltmodell, welches sich im Sinne der Entwicklungsgesetze den jeweiligen allgemeinsten Resultaten der Einzelwissenschaften umbildend anpaßt, braucht durchaus keine unfruchtbare spekulative-phantastische Konstruktion zu bedeuten, der im Zeitalter der Naturwissenschaft und Sozialpolitik kein positiv-wissenschaftlicher Wert zukäme. Wir denken uns den Charakter einer zeitgemäßen Philosophie "von unten" durch folgende Forderungen bestimmt:
      1. Forderung nach einem möglichst gesicherten und breiten Fundament von Ergebnissen der besonderen Wissenschaften in ihrem reifsten Stand;
      2. Forderung nach induktiver Verlängerung der Richtungslinien der Einzelforschung;
      3. Forderung nach größter "empirischer Nähe" der einzelnen Präpositionen;
      4. Forderung nach strengster Ökonomie im Einführen von Hilfsannahmen;
      5. Forderung nach gewissenhaftester Schätzung der logischen Tragkraft jeder verwendeten Wahrscheinlichkeits- und Analogie-Erwägung;
      6. Forderung nach einheitlicher Durchführung des gewonnenen Standpunktes der Zusammenfassung innerhalb der vereinten Mannigfaltigkeit.
    Wir hegen die Überzeugung, daß eine Philosophie, welche auf die Erfüllung dieser Forderungen in möglichster Annäherung angelegt ist, in unserem Zeitalter exklusiver Spezialisierung des Forschens nicht nur hohen Eigenwert - als schließliches Produkt des Ökonomieprinzips aller Wissenschaft überhaupt - besitzt, sondern auch auf die besonderen Wissenschaften kritisch und heuristisch anregend rückzuwirken berufen ist.
    3) Ich bemerke sofort, daß für meine Einteilung ein grundsätzlich anderer Gesichtspunkt maßgebend ist, als für die namensgleichen Gliederungen WOLFFs und HERBARTs.
    4) Ich verwende den Ökonomiebegriff im Sinne von ERNST MACH, der ihm in seiner Mechanik (Kap. IV, letzter Abschnitt) eine klassische Prägung gegeben hat.
    5) Vgl. FECHNER, Vorschule der Ästhetik, 2. Auflage, Leipzig 1897, Seite 24: "Wir messen den Dingen und Verhältnissen einen Wert bei, nach Maßgabe wie sie zum menschlichen Glück beitragen oder Unglück verhüten, tilgen."
    6) Vgl. die mehrfach abweichende Charakteristik der Werturteile bei MEINONG, Werttheorie, Seite 21
    7) Der Satz "De gustibus non est disputandum" [Über Geschmack ist nicht zu streiten. - wp] ist richtig, sofern er die Gefühlsseite des Geschmacks betrifft, aber unrichtig, wenn damit die Werturteile gemeint sind, über deren Wahr oder Falsch gestritten werden kann.