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ACHILLE LORIA
Die wirtschaftlichen Grundlagen
der herrschenden Gesellschaftsordnung


"Solange es freies Land gibt, das mit Hilfe von Arbeit allein in Kultur genommen werden kann, solange es daher jedem Menschen möglich ist, sich jederzeit und auch ohne Kapital auf eigene Rechnung auf nicht okkupiertem Boden ansässig zu machen, ist das kapitalistische Eigentum absolut ausgeschlossen. Denn kein Arbeiter wird gewillt sein, für einen Kapitalisten zu arbeiten, wenn er auf eigene Rechnung und auf Grund und Boden, der ihn gar nichts kostet, arbeiten kann."


Vorrede des Herausgebers

Als mir die Verlagsbuchhandlung den Antrag stellt, eine deutsche Ausgabe des vorliegenden Werkes zu besorgen, ging ich auf denselben sofort mit Freuden ein. Nicht, weil ich in allen Beziehungen die Anschauungen des Verfassers teilte. In nicht wenigen Punkten, und gerade im grundlegenden, kann ich denselben nicht zustimmen, da ich die einseitig materialistische Geschichtsauffassung, eben wegen ihrer Einseitigkeit für verfehlt halte. Die inneren Vorzüge des vorliegenden Werkes sind jedoch so zahlreich, es bietet so viel Neues und Anregendes, daß ich jedenfalls der Wissenschaft einen guten Dienst zu leisten glaube, wenn ich es einem weiteren deutschen Leserkreis zugänglich mache. Dies insbesondere mit Rücksicht auf seinen Hauptvorzug, der zugleich sein Hauptfehler ist: die streng einseitige und folgerichtige Durchführung des der materialistischen Geschichtsauffassung zugrunde liegenden Gedankengangs und dessen Anwendung auf die wichtigsten Gebiete und Erscheinungen des gesellschaftlichen und staatlichen Lebens. Denn nur auf dem Weg einer derartigen Darstellung wird es möglich, die Tragweite der materialistischen Geschichtsphilosophie vollkommen zu würdigen und wie ihre Vorzüge, und was an ihr richtig ist, einzusehen, so auch ihre Mängel zu bemerken und richtig zu stellen.

 Carl Grünberg. 



Vorrede des Verfassers
zur deutschen Ausgabe

Der Gedanke, welchen ich im vorliegenden Werk durchzuführen suchte, daß nämlich sämtliche Erscheinungen auf dem Gebiet der Moral, des Rechts und der Politik Wirkung und Überbau wirtschaftlicher Ursachen und Verhältnisse sind, ist in Deutschland gar wohl bekannt. Denn wenn diese Lehre von der "materialistischen Geschichtsauffassung" auch nicht auf deutschem Boden entstanden ist, so hat sie doch sicherlich in der Folge hier eine eigentliche Heimat gefunden, und deutsche Denker sind es, der sie ihre glänzendste und folgerichtigste Entwicklung und Vertretung verdankt. Sie liegt in der Geschichte des deutschen Volkes von NITZSCH zugrunde. THÜNEN ließ sich von ihr leiten, als er seinen "isolierten Staat" schrieb. MARX endlich erhobe sie in seinen Schriften zum Dogma, und den Spuren des Meisters sind in einer Reihe bemerkenswerter Arbeiten seine Schüler gefolgt. Wie aber jeder Kenner der einschlägigen deutschen Literatur weiß, ist die materialistische Geschichtsauffassung bisher auch seitens ihrer hervorragendsten Vertreter lediglich als ein wissenschaftliches Postulat und als ein nicht weiter diskutierbares Axiom hingestellt worden. Keiner hat auch nur den Versuch gemacht, ihre Richtigkeit überzeugend nachzuweisen. Dies gilt nicht nur von NITZSCH, dem man schließlich hieraus keinen Vorwurf machen kann, da er sich als Geschichtsschreiber auf derartige Beweisführungen weder einzulassen brauchte, noch in seinen Werken hierzu Gelegenheit hatte, sondern auch von sämtlichen theoretischen Vertretern der materialistischen Geschichtsphilosophie, den genialsten unter ihnen, MARX, nicht ausgenommen. Auch MARX begnügt sich damit, diese Lehre als eine persönliche Meinung hinzustellen, an deren Hand er in flüchtigen Umrissen und in dogmatischer Form einige interessante Kapitel aus der Geschichte Frankreichs und Englands erklärt. Seine Schüler freilich wiederholen das, was der Meister, bescheidener und vorsichtiger als sie, bloß als seine persönliche Meinung ausgesprochen hat, als unwiderlegliche Wahrheit und wenden es auf konkrete Fälle an, ohne auch nur daran zu denken, es wissenschaftlich zu begründen und zu rechtfertigen.

Diese aprioristische Methode hat zweierlei Wirkungen gehabt. Einerseits übte infolge derselben die materialistische Geschichtsphilosophie auf jugendliche und unerfahrene Geister einen geradezu faszinierenden Zauber aus. Andererseits aber weckte sie in den urteilsfähigeren und reiferen Vertretern der Wissenschaft, die nur jene Wahrheiten anerkennen mögen, deren Richtigkeit in logischer und induktiver Weise dargetan wird, Mißtrauen und Zweifelsuch. Eine breite und tiefe Phalanx jugendlicher Köpfe verteidigt die materialistische Geschichtsphilosophie als Dogma, das nicht weiter in eine Diskussion gezogen werden darf. Ein kleines Häuflein, zu dem sich aber gerade die bedeutendsten Vertreter der deutschen Wissenschaft zusammengeschart haben - so z. B. WAGNER, SCHMOLLER, von PHILIPPOVICH u. a. - dagegen, verhält sich ablehnend und skeptisch und verurteilt diese Theorie als fantastische und einseitige Konstruktion. Während ihr in der Vorhalle zum Tempel der Wissenschaft zahllose Gläubige zujubeln, haben ihr die berufenen Priester bisher das Innere des Tempels selbst den Eintritt verwehrt.

Dem soll das vorliegende Werk abhelfen. Fest überzeugt von der Wahrheit der materialistischen Geschichtsphilosophie, schwebte mir das Ziel vor, sie - im Wege strenger, durch statistische, geschichtliche und logische Argumente gestützter Beweisführung und unter Skizzierung ihrer wichtigsten Anwendungsfälle - aus dem Stadium aprioristischer und, wenn ich so sagen darf, abergläubischer Betrachtung, in dem sie sich bisher befunden haben, in eine wissenschaftliche und positive Phase hinüberzuführen.

Selbstverständlich liegt es mir durchaus fern, zu glauben, daß es mir gelungen ist, dieses Ziel vollständig zu erreichen. Vielmehr möchte ich, wie schon gelegentlich der italienischen und französischen Ausgabe dieses Werkes, auch jetzt wiederum ausdrücklich betonen, daß ich lediglich eine kurze und flüchtige Skizze der wichtigsten Ausblicke auf eine Aufgabe bieten wollte, zu deren Lösung es weitaus vertiefterer und ausgreifenderer Untersuchungen bedarf, Trotz aller seiner Lücken aber wird dieses Buch, wie ich glaube und hoffe, nicht ohne Nutzen blieben und nicht nur so manchen unter den Vertretern der Wissenschaft, der bisher materialistischen Geschichtsauffassung widerstrebte, mit derselben versöhnen, sondern ihr auch innerhalb des Kreises der sozialen Doktrinen einen ehrenvollen und dauernden Platz sichern. In dieser Zuversicht aber bestärken mich der Einfluß, den diese meine Arbeit bisher in Italien geübt und der Wandel, den sie in der allgemeinen wissenschaftlichen Überzeugung hervorgerufen hat; die große Beachtung - mochte sie sich nun in einem zustimmenden, ablehnenden oder kommentierenden Sinn kundgeben -, welche der französischen Ausgabe zuteil geworden ist; die Tatsache schließlich, daß sich das Bedürfnis nach einer deutschen Ausgabe eingestellt hat.

So sehe ich also mit heiterem Mut mein Buch den Weg auf deutschen Boden antreten, in der Hoffnung, daß es als Gabe eines Mitbürgers im Reich der Wissenschaft sich einer freundlichen Aufnahme erfreuen wird.



Einleitung

Die Wirtschaftsordnung

Bei genauer Beobachtung der gesellschaftlichen Entwicklung in den zivilisierten Ländern beider Hemisphären tritt uns überall die gleiche Erscheinung entgegen: die unüberbrückbare Spaltung der Gesellschaft in zwei Klassen, deren einer, trotz ihres Nichtstuns ungeheure und stets wachsende Einkommen zufließen, während die andere, weitaus zahlreichere, sich das ganze Leben hindurch um elenden Lohn abmüht. Die eine lebt, ohne zu arbeiten, die andere arbeitet, ohne zu leben, soweit zumindest dieses schneidenden und schmerzlichen Gegensatzes drängt sich jedem denkenden Geist die Frage auf: ob dieser Zustand in sich notwendig und im Wesen der menschlichen Natur begründet ist, oder ob wir in ihm nicht vielmehr eine Folge bestimmter geschichtlicher Ursachen zu erblicken haben, die im weiteren Verlauf der menschheitlichen Entwicklung verschwinden müssen.

Langjähriges Nachdenken und mühevolles Forschen auf dem Gebiet der Sozialökonomie haben mimch zu der Überzeugung gebracht, daß die zweite Lösung die richtige ist, und daß die kastenmäßige Scheidung der Menschen in Kapitalisten und Arbeiter, oder mit anderen Worten das  Kapitaleigentum  lediglich das Ergebnis mächtiger geschichtlicher Ursachen angesehen werden muß, deren Wirkung im Laufe der künftigen Entwicklung aufzuhören bestimmt ist.

Im Interesse eines besseren Verständnisses der verschiedenartigen und höchst verwickelten Tatsachen, die den Gegenstand dieser Arbeit bilden, scheint es mir nützlich, eine Skizze der Schlußfolgerungen, zu denen ich anhand derselben gelangt bin, vorauszuschicken.

Ich erkläre mit die Entstehung, das Wesen und die Tendenzen des Kapitaleigentums auf folgende Weise: Solange es freies Land gibt, das mit Hilfe von Arbeit allein in Kultur genommen werden kann, solange es daher jedem Menschen möglich ist, sich jederzeit und auch ohne Kapital auf eigene Rechnung auf nicht okkupiertem Boden ansässig zu machen, ist das kapitalistische Eigentum absolut ausgeschlossen. Denn kein Arbeiter wird gewillt sein, für einen Kapitalisten zu arbeiten, wenn er auf eigene Rechnung und auf Grund und Boden, der ihn gar nichts kostet, arbeiten kann. Unter solchen Umständen werden offenbar die Arbeiter freien Boden in Besitz nehmen und demselben zunächst ihre Arbeit widmen, in der Folge aber dieser auch das aufgehäufte Kapital hinzufügen. Wenn die Produktivität von Grund und Boden bedeutend ist, so werden diese  Kapitalerzeuger,  wie ich sie nennen möchte, zu einer Assoziation nicht geneigt sein - aus dem sehr einfachen Grund, weil sie kein Interesse daran haben, sich den Beschränkungen, die eine solche im Gefolge hat, zu unterwerfen, um einen ansich schon sehr reichhaltigen Ertrag zu vermehren. Die naturgemäße Wirtschaftsform in diesen Verhältnissen wird daher die isolierte Produktion sein, es sei denn, daß eine despotische Staatsgewalt die wirtschaftenden Individuen zur Assoziation zwingt. - Eine geringe Ertragsfähigkeit des Bodens dagegen, wird die Kapitalerzeuger zur Assoziation veranlassen, um durch diese die Produktivität ihrer Arbeit zu steigern. Und die naturgemäße Wirtschaftsform wird daher dann entweder die  selbständige,  d. h. die Assoziation von Kapitalerzeugern zu gemeinsamer Arbeit und gleicher Ertragsteilung sein, oder die  gemischte,  d. h. die freie Assoziation von Kapitalerzeugern mit einfachen Arbeitern und zwar ebenfalls zum Zweck gemeinsamer Arbeit und gleicher Teilung des Ertrages. In all diesen Fällen aber ist die Scheidung der Gesellschaft in nichtarbeitende Kapitalbesitzer und kapitallose Arbeiter - solange nicht okkupiertes Land vorhanden ist - unmöglich, weil jeder nicht auf Arbeit beruhende Kapitalgewinn durch die Natur der Dinge ausgeschlossen erscheint. Will daher das Kapital einen arbeitslosen Gewinn erzielen, so bleibt ihm dann nur ein Weg offen: die gewaltsame Aufhebung der Freiheit des Bodens, aus welcher der Arbeiter seine Kraft schöpft, und die seine Unabhängigkeit schützt. Solange die Bevölkerung gering und infolgedessen die tatsächliche Okkupation allen Grund und Bodens undurchführbar ist, wird jedoch die Beseitigung des freien Landes nur dadurch möglich sein, daß die Arbeiter selbst in die Unfreiheit herabgedrückt werden. Diese Herabdrückung vollzieht sich erst in der brutalen Form der Sklaverei, um später, wenn die sinkende Ertragsfähigkeit des Bodens eine Ausgleichung durch eine erhöhte Produktivität der Arbeiter erfordert, der milderen Form der Hörigkeit Platz zu machen. So sehen wir dann, daß die Grundlage, des kapitalistischen Eigentums und das Piedestal [Sockel - wp], auf dem es sich zuerst erhebt, das Eigentum am Menschen ist.

Ein Blick auf die Geschichte jener Länder, in denen, wie in den Kolonialländern, ein Überfluß an freiem Boden herrscht, beweist uns die Wahrheit des eben Gesagten. Unvergessen sind uns die wunderbaren Schilderungen aus der ersten Entwicklungsepoche der Vereinigten Staaten, welche uns dieses glückliche Kand von einer edlen Klasse unabhängiger Arbeiter bewohnt zeigen, denen sogar der Gedanke an die Möglichkeit kapitalistischen Eigentums fremd war. Erinnern wir uns an die Briefe WASHINGTONs, in welchen er von Farmern erzählt, die ein Einkommen aus ihren Ländereien nur dadurch erzielen konnten, daß sie dieselben gemeinsame mit ihren Arbeitern bestellten! Und wer denkt nicht an die Berichte eines PARKINSON, STRIKLAND und so vieler anderer Amerika-Reisender aus dem 18. Jahrhundert und an ihr Erstaunen darüber, daß in diesem merkwürdigen Land dem Geld die werbende Kraft fehlte? Halten wir uns das alles vor Augen, so begreifen wir nicht nur die geschichtliche Notwendigkeit der Sklaverei und Hörigkeit in den tropischen und subtropischen Kolonien, sowie im antiken und mittelalterlichen Europa, als des einzigen Mittels, um beim Vorhandensein von freiem Land einen Kapitalgewinn zu erzielen, sondern auch die Hartnäckigkeit, mit welcher die Kapitalisten eine so wenig produktive und für sie selbst so unbequeme Wirtschaftsverfassung verteidigten. Es wird uns dann auch ohne weiteres klar, weshalb sich im Mittelalter in unmittelbarem Anschluß an das Verschwinden der Hörigkeit aus dem Handwerksbetrieb, solange es noch unokkupierten fruchtbaren Boden gab, eine barbarische Form der gemischten Assoziation herausbildet: die Handwerkskorporation, die in einer Gleichteilung des Ertrages zwischen dem Kapitalerzeuger (Meister) und dem einfachen Arbeiter (Gesellen) und somit im Ausschluß eines jeden Kapitalgewinnes bestand. Als selbstverständlich erscheint es uns schließlich, wenn wir sehen, daß die Freiheit von Mensch und Land im Mittelalter einerseits zu einer gewaltsamen Niederhaltung der Arbeiter, ohne welche ein Gewinn auf Kosten der letzteren unmöglich ist, und andererseits zu Wuchergesetzen führt. Denn die Ohnmacht des Kapitals, in industriellen Unternehmungen mit Gewinn tätig zu werden, raubte dem Kapitalzins jeden Schein von Berechtigung und ließ denselben als Diebstahl ansehen.

Ist jedoch infolge der Bevölkerungszunahme aller freie Boden, der mit kapitalloser Arbeit allein in Kultur genommen werden kann, tatsächlich besetzt, so vollzieht sich mit einem Schlag eine Änderung der Wirtschaftsverfassung. Der Arbeiter hat nunmehr die Wahlfreiheit, die ihn gegen die Unterdrückung durch das Kapital schützte, verloren. Will er fortan sein Leben fristen, so bleibt ihm nichts anderes übrig, als seine Arbeit dem Kapitalisten zu verkaufen. Den Lohn kann dieser willkürlich bestimmen. Der Arbeiter wird so gezwungen, den größeren Teil eines Ertrages dem Kapitalisten zu überlassen. Auf diese Weise entsteht der Kapitalgewinn und mit ihm die wirtschaftliche Unfreiheit des Arbeiters - doch nicht mehr wie früher als Folge von Gewaltmaßregeln, sondern selbsttätig und Dank der fortschreitenden Besetzung von Grund und Boden.

Die vollständige Okkupation des mit Hilfe von Arbeit allein anbaufähigen Bodens sichert jedoch noch nicht den endgültigen Triumpf der kapitalistischen Wirtschaft. Denn es ist noch immer viel freies Land vorhanden, das allerdings nicht ohne Kapital in Kultur genommen werden kann, aber andererseits keinen allzugroßen Kapitalaufwand erfordert. In dem Augenblick als es den Arbeitern gelingt, diesen sich zu verschaffen, wäre ihnen mit der Möglichkeit des Abzugs auf freies Land auch ihre alte Wahlfreiheit wiedergegeben und so dem Kapitalgewinn der Todesstoß versetzt. Es wird daher für den Fortbestand der kapitalistischen Wirtschaft zur Lebensfrage, den Arbeitslohn so niedrig zu halten, daß die Arbeiter nichts ersparen können, d. h. die Kapitalisten müssen den Arbeitslohn auf das unbedingt zum Leben Notwendige einschränken.

Diesem Zweck dienen verschiedene Mittel: direkte Lohnherabsetzung ebensowohl wie Geldentwertung und die Verwendung von Maschinen, die kostspieliger sind, als die Menschen, welche sie außer Arbeit setzen; ferner unproduktive Kapitalanlagen in der Form von Bank- und Börsengeschäften, öffentlichen Schulden und Metallgeld, sowie die Unterhaltung einer übergroßen Anzahl unnützer Vermittler; schließlich die Verschärfung der Konkurrenz unter den Arbeitern selbst durch eine künstliche Steigerung der Bevölkerung. All das führt freilich auch zur Einschränkung der Produktion selbst und damit zugleich des Kapitalgewinns. Allein die besitzende Klasse kann, will sie nicht überhaupt die Grundlage des letzteren untergraben, auf die Anwendung dieser Mittel nicht verzichten.

Anders wird es erst, wenn die Bevölkerung sich so stark vermehrt hat, daß die tatsächliche Inbesitznahme  allen  Grund und und Bodens möglich geworden ist. Fortan hat es der Kapitalist nicht mehr nötig, auf kostspielige und unproduktive Weise den Arbeitslohn zu drücken, um sich dauernden Gewinn zu sichern. Das Kapitaleigentum wirkt nun selbsttätig, in dem Sinne, daß es zum Schutz seines Bestandes keines direkten Eingriffs des Kapitalisten in die Freiheit und Entlohnung des Arbeiters mehr bedarf. Und damit der Klasse, die nicht arbeitet, dauernd ein Einkommen auf Kosten der Arbeitenden zufließt, braucht es nur mehr die stete Festhaltung des Grundbesitzes durch das Kapital.

Die Grundlage des Kapitaleigentums bleibt daher stets dieselbe. Sie besteht in der Beseitigung des freien Landes und in der Ausschließung des Arbeiters von der Okkupation desselben - ein Ziel, das je nach Maßgabe der vollzogenen Besetzung und der Ertragsfähigkeit des Bodens auf verschiedene Weise angestrebt und erreicht wird: erst durch die Einführung der Sklaverei und Hörigkeit; hierauf durch eine derartige Herabsetzung des Lohnes des freigewordenen Arbeiters, daß dieser keine Ersparnisse machen kann; schließlich durch die ausschließliche Aneignung allen Grundbesitzes durch die Klasse der Kapitalisten. Der Übergang von einem dieser Systeme zum anderen vollzieht sich mittels einer wirtschaftlichen Umwälzung, welche zur Zersetzung der vorhandenen, fürderhin ungenügenden Gesellschaftsordnung und zur Entstehung einer neuen an deren Stelle führt. Aber die Aufhebung der Freiheit des Bodens beeinflußt nicht nur in ausschlaggebender Weise die gesellschaftliche Güterverteilung, sondern auch die Gütererzeugung und zwar nach zwei entgegengesetzten Richtungen. Dadurch nämlich, daß sie zu einer Zusammenfassung der Tätigkeit von Sklaven, Hörigen oder Lohnarbeitern zur Erreichung eines vom Kapitaleigentümer bestimmten wirtschaftlichen Zweckes führt, ruft sie die Assoziation der Arbeit ins Leben und steigert dadurch die Produktivität der letzteren. Da jedoch diese Assoziation eine zwangsweise ist, so hat dies andererseits eine sehr fühlbare Produktionsminderung zur Folge, wenn auch deren Umfang, Dank der fortschreitenden Abminderung der Formen, in denen die Aufhebung der Freiheit des Bodens stattfindet, stetig abnimmt. Die Beseitigung des freien Landes erhöht demnach die Produktivität der Arbeit im Vergleich mit einem Zustand, in welchem die letztere isoliert wäre; dagegen schwächt sie die Produktivität derselben, wenn man Verhältnisse zur Vergleichung heranzieht, in denen eine freie Arbeiterassoziation stattgefunden hätte. Die Beseitigung des freien Landes bedeutet daher, solange große Produktivität des letzteren zu einer isolierten Wirtschaft führt, einen technischen Fortschritt und wird so ein Element der Zivilisation. Dagegen hat sie umgekehrt einen technischen und allgemeinkulturellen Rückschritt zur Folge, wenn die Produktivität des Bodens gering ist, da dies eine freie Assoziation der Kapitalerzeuger mit sich brächte.

Unter dem Druck der Bevölkerungszunahme werden nach und nach auch weniger fruchtbare Grundstücke in Kultur genommen, bis schließlich jener Punkt erreicht ist, bei dem es, wenn der Boden frei wäre, zur freiwilligen Assoziation der Arbeit käme. Von da ab hört die Unfreiheit des Bodens auf, ein Faktor zur Steigerung der Produktion zu sein. Ja, sie erweist sich vielmehr als ein Hindernis der letzteren. Und da der Bedarf der Bevölkerung in demselben Maß wie diese selbst wächst, so wird diese Wirtschaftsordnung immer unerträglicher. Zugleich aber stellt sich als unvermeidliche Begleiterscheinung des Produktionsrückgangs auch ein Sinken des Kapitalgewinns ein, das in letzter Entwicklung das vollständige Verschwinden des letzteren zur Folge haben muß. Daraus ergibt sich die Unmöglichkeit der Weiterproduktion unter der Herrschaft des kapitalistischen Wirtschaftssystems und die Notwendigkeit seiner Auflösung. Die Gesellschaft wird daher, um die wachsenden Armut zu vermeiden, gezwungen sein, die Freiheit des Bodens wiederherzustellen und jedem Menschen die Okkupation von soviel Land zu gestatten, wie er mit seiner Arbeit bebauen kann. Auf der Unterlage der Freiheit von Grund und Boden würden sodann die freiwillige Arbeitsassoziation, die entsprechende Wirtschaftsordnung und das Gleichgewicht innerhalb der Gesellschaft erstehen. (1)

Fassen wir das bisher Gesagte zusammen, so ergibt sich, daß wir es mit zwei ansich vollkommen entgegengesetzten Entwicklungsformen der menschlichen Gesellschaft zu tun haben: auf der einen Seite mit der gemischten Assoziation, auf der anderen mit dem kapitalistischen Eigentum. Erstere beruth auf der Freiheit des Bodens, letzteres dagegen gründet sich in allen seinen Entwicklungsstadien auf deren Beseitigung und der Fernhaltung der breiten Volksschichten vom Grundbesitz. Jene führt ihrem Wesen nach zur Gleichteilung des Produktionsertrages zwischen Arbeiter-Kapitalisten und einfachen Arbeitern, dieses zur Teilung desselben in zwei ungleiche Hälften: Arbeitslohn und Kapitalgewinn. Und während die gemischte Assoziation alle Klassenunterschiede ausschließt, alle Privilegien beseitigt und jeder Usurpation den Boden entzieht, spaltet das Kapitaleigentum die Menschheit in Ausbeuter und Ausgebeutete. In der gemischten Assoziation haben wir die Grenzform (2) des menschlichen Wirtschaftslebens zu erblicken. Sie allein darf auf normale und absolute Bedeutung Anspruch erheben. Die verschiedenen Erscheinungsformen des Kapitaleigentums hingegen sind lediglich historische Kategorien. Sie sind vorübergehender Natur und bilden in ihrer Aufeinanderfolge Zwischenstadien eines langen und schmerzlichen Entwicklungsprozesses, der einst mit der Entstehung einer definitiven Wirtschaftsorganisation der Menschheit abschließen wird. Im bisherigen Verlauf der Menschheitsgeschichte ist die gemischte Assoziation nur sporadisch aufgetreten und nirgends zu vollständiger Ausbildung gelangt. Auch heute noch zeichnet sich ihr Bild nur erst in undeutlichen Umrissen am Horizont einer fernen Zukunft ab. Und doch ist ihre Analyse, sollte es wahr sein, daß jedes Problem unter dem Gesichtspunkt seiner Grenzbedingungen, d. h. unter Zugrundelegung seiner letzten Entwicklungsphase untersucht werden muß, die unumgängliche Voraussetzung für die Erkenntnis des Wesens der menschheitlichen Wirtschaftsentwicklung selbst, sowie für das Verständnis der wirtschaftlichen Verhältnisse in Vergangenheit und Gegenwart und ihres ursächlichen Zusammenhangs.

Wenn es nun einerseits auf der Hand liegt, daß die Grenzform des Wirtschaftslebens, die ja jede Usurpation und jeden Konflikt von vornherein festhält, aus eigener Kraft zu bestehen vermag und zu ihrem Schutz keiner besonderen Vorkehrungen bedarf, so ist es andererseits nicht minder klar, daß für das Kapitaleigentum, weil es auf Gewalt und Verbrechen beruth, gerade das Umgekehrt zutrifft. Tatsächlich ist auch das Kapitaleigentum zu seiner Erhaltung auf Sicherheitseinrichtungen zweifacher Art angewiesen. In erster Linie nämlich auf eine Reihe von wirtschaftlichen Maßregeln, die alle darauf hinauslaufen, die Unfreiheit des Bodens aufrechtzuerhalten. Das Studium derselben gehört ins Gebiet der politischen Ökonomie im engeren Sinne und bildet daher keinen Gegenstand dieser Arbeit. Ferner aber bedient sich das Kapitaleigentum einer Reihe von  Konnektiveinrichtungen,  deren Zweck es ist, die vom Grundbesitz ausgeschlossenen Massen in Ruhe zu erhalten und jede Reaktion oder Ausschreitung von ihrer Seite hintanzuhalten. Diese Konnektiveinrichtungen, oder doch die wichtigsten derselben sind:  Moral, Recht  und  politische Verfassung Diese großen sozialen Phänomene sind demnach ein organisches Ergebnis des Kapitaleigentums oder zumindest durch dieses wesentlichst in ihrer Gestaltung beeinflußt und sich zu dem Zweck angepa0t, um seine Existenz sicherzustellen.

Den Beweis hierfür hoffe ich im Verlauf der folgenden Darstellung zu erbringen.



Erstes Kapitel
Die wirtschaftlichen Grundlagen der Moral

§ 1. Die Moral in der Grenzwirtschaft

Wenn wir an die Untersuchung jener Gesellschaftsordnung herantreten, die sich auf der Freiheit des Bodens und deren natürlichem Seitenstück, der gemischten Assoziation aufbaut, so drängt sich uns sofort die Frage nach den obersten Grundsätzen auf, durch welche die Handlungen der Menschen innerhalb dieser Wirtschaftsordnung geregelt werden, und wie die Durchführung dieser Grundsätze gesichert ist. Oder mit anderen Worten: welche ist die Moral dieser Gesellschaftsordnung, und welcher Sanktion unterliegt sie?

Die Antwort auf diese Frage ergibt sich von selbst aus dem Wesen der Wirtschaftsordnung, um die es sich handelt.

Die Moral in der Grenzgesellschaft besteht in der Summe jener Handlungen und Unterlassungen, die den sozialen Zusammenhang und das allgemeine Wohl sichern. Zur Hervorrufung dieser Handlungen und Unterlassungen bedarf es jedoch keiner gesetzlichen Zwangsgewalt. Der Egoismus der Einzelnen reicht hierzu vollkommen aus. Jede Handlung, die das gesellschaftliche Band und das Allgemeinwohl schädigt, jede Anmaßung eines Menschen auf Kosten eines anderen kehrt sich gegen den Handelnden selbst und führt ihn zur Erkenntnis, daß sie seinem eigenen wohlverstandenen Interesse widerspricht. Das Vorhandensein der gemischten Assoziation allein beweist ja schon zur Genüge, daß die Menschheitsentwicklung an jenem Punkt angelangt ist, an dem die Beseitigung des freien Bodens dem Kapitalisten keinen dauernden Vorteil mehr zu gewähren vermag. Niemand wird daher versucht sein, die Freiheit des Bodens aufzuheben und die kapitalistische Wirtschaft einzuführen. Jene wirtschaftliche Usurpation, welche den Grund zu allen anderen legt, ist demnach unter so gearteten Umständen einfach unmöglich. Aber vorausgesetzt selbst, es würde jemand in Unkenntnis seines wahren Interesses eine Usurpation auf Kosten anderer versuchen, so würde dies doch sofort eine ihm höchst nachteilige Reaktion zur Folge haben. Aus diesem Grund wird offenbar immer und überall in einer Wirtschaftsorganisation von freien und gleichen Individuen jede Usurpation als unvernünftig und anti-egoistisch erscheinen; umso mehr jedoch wird dies in einer auf freier Assoziation beruhenden Wirtschaftsordnung der Fall sein. Denn der Kapitalerzeuger, der den Anteil des einfachen Arbeiters zu mindern trachtet, wird dadurch den letzteren lediglich zum Austritt aus der Gesellschaft drängen und somit den Erfolg seiner eigenen Arbeit schmälern. Das Gleiche wird umgekehrt für den einfachen Arbeiter gelten, der den Arbeiter-Kapitalisten zu vergewaltigen sucht. Ebenso wird jeder Willkürakt einer Klassen von Produzenten in der Absicht, den Einfluß einer anderen auf die Leitung der öffentlichen Angelegenheiten zurückzudrängen, bloß den Bruch der Assoziation durch die verletzte Gruppe herbeiführen und daher nur jene schädigen, die diesen Bruch veranlaßt haben. Die allgemein gültigen Anschauungen über Gerechtigkeit bilden sich demnach in einer so gearteten Gesellschaftsordnung von selbst als Ausfluß geklärter Selbstsucht aller einzelnen Gesellschaftsmitglieder - und zwar nicht nur nach der negativen Seite, die sich in dem Satz:  neminem laede  [Tu niemandem weh! - wp] zusammenfassen läßt, sondern auch nach der positiven und weit edleren Richtung, die sich durch Wohlwollen betätigt und in der Regel:  imo, omnes quantum potesiuva  [Hilf allen, soweit du kannst! - wp], zum Ausdruck gelangt. Und leicht begreiflicherweise haben wir auch darin nur die natürliche Folge des assoziativen Charakters der Grenzwirtschaft zu erblicken, Dank welcher jede einem Gesellschaftsmitglied erwiesene Wohltat dem Wohltäter selbst zugute kommt. Zeigt sich der Kapitalerzeuger dem einfachen Arbeiter gegenüber wohltätig, so spornt er dadurch dessen produktive Tätigkeit an und mehrt also zugleich auch seinen eigenen Anteil am Erfolg derselben. Das Gleiche gilt in Bezug auf wohltätige Handlungen von zu einer selbständigen Assoziation vereinigten Kapitalerzeugern, sowie von einfachen Arbeitern untereinander oder Arbeiter-Kapitalisten gegenüber. Schließlich liegt es auf der Hand, daß in einer Wirtschaftsordnung, in welcher die Produktionskosten den einzigen Wertmesser bilden und Monopole unmöglich sind, jede Wohltat, die ein Produzent einem anderen erweist, diesen in den Stand setzen, unter günstigeren Bedingungen zu produzieren als früher und auf diese Weise jenem in seiner Eigenschaft als Konsument nützen müssen. - Von welcher Seite man also auch immer die Dinge betrachten mag, man gelangt stets zu demselben Resultat: daß in der Grenzgesellschaft der individuelle Egoismus für sich allein ein System moralischer Handlungen ins Leben zu rufen vermag, die das Allgemeinwohl sicherstellen und dem denkbar höchsten Tugendideal entsprechen.

Ein Bedenken ist noch zu zerstreuen: Würde nicht das Moralsystem der Grenzgesellschaft durch die physische und geistige Ungleichheit der Produzenten gestört werden? Diese Frage muß unbedingt verneint werden. Ich sehe davon ab, daß die Ungleichheit der Menschen in physischer und intellektueller Beziehung zum großen Teil eine Folge des kapitalistischen Systems ist und daher, soweit dies zutrifft, mit demselben verschwinden würde. Wichtiger und ausschlaggebend aber ist, daß der assoziative Charakter der Grenzwirtschaft an und für sich in den Stärkeren jeden Gedanken, ihre Überlegenheit auf Kosten der Schwächeren geltend zu machen, von vornherein unterdrücken würde, da die letzteren sonst die Assoziation verlassen würde. Dies aber müßte, wie schon oft betont, eine Verminderung der Gesamtproduktion und daher auch des Anteils der Stärkeren am Ertrag derselben nach sich ziehen. Die von der Natur Bevorzugten werden also ihre Überlegenheit nur dazu benützen, mehr zu produzieren und dadurch ihren Ertragsanteil zu steigern, statt Privilegien anzustreben. Statt ihre Kräfte in einem selbstmörderischen Kampf gegen die weniger Starken zu zersplittern, werden sie dieselben ungeteilt der Vermehrung der Gesamtproduktion zuwenden. Und da in der Grenzwirtschaft jede Unterstützung der Schwachen durch die Stärkeren zum Vorteil dieser letzteren selbst ausschlagen muß, so werden dieselbe den von der Natur weniger begünstigten Produzenten ihre Hilfe nicht etwa aus Selbstlosigkeit, sondern gerade im eigenen wohlverstandenen Interesse angedeihen lassen (3).
LITERATUR Achille Loria, Die wirtschaftlichen Grundlagen der herrschenden Gesellschaftsordnung, Freiburg/Breisgau und Leipzig 1895
    Anmerkungen
    1) vgl. über die hier entwickelte Theorie: ACHILLE LORIA, Analisi della proprieta capitalista, Turin 1889.
    2) Ich erkläre ein für allemal, daß ich, indem ich mich des den Mathematikerns wohlbekannten Ausdrucks "Grenzform" bediene, darunter jene Form verstehe, die das letzte Entwicklungsstadium einer Erscheinung darstellt.
    3) Wie aus den Textausführungen hervorgeht, bedarf es, um zu beweisen, daß in der Grenzgesellschaft sich ganz von selbst ein Moralsystem der Liebe entwickeln würde, keineswegs mit BELLAMY und anderen Sozialisten der Voraussetzung, daß in der Grenzwirtschaftsordnung der Egoismus verschwinden und jeder glücklich sein würde, für seine Mitmenschen zu arbeiten. Denn dies wäre nur in dem - zumindest unwahrscheinlichen - Fall möglich, daß die Grenzgesellschaft die menschlichen Natur zu ändern vermag. Um den Nachweis für unsere These zu erbringen, genügen vielmehr vollkommen die im Text angeführten Gesichtspunkte. Mit Recht bemerkt daher auch LANGE (Geschichte des Materialismus, Bd. II, 1875, Seite 470-472), daß in einer auf dem Prinzip der Gleichheit aufgebauten Gesellschaftsordnung ein vollkommenes Moralsystem, das die Selbstsucht zur Unterlage hätte, ganz wohl möglich wäre. Es kann daher auch nicht weiter befremden, wenn wir sehen, daß die Moral jener Völker, denen die materielle Ungleichheit unbekannt ist, durch den Egoismus bestimmt wird, und daß z. B., wie LETOURNEAU (Èvolution de la morale, Paris 1887, Seite 172) aufzeigt, nach der Moral der Wilden in Australien, jede nützliche Handlung auch als gerecht gilt. Vollständig irrig ist daher HOBBES' Annahme, daß der Naturzustand der Menschen im Krieg aller gegen alle besteht. Denn in einer Wirtschaftsordnung, die auf dem Prinzip materieller Gleichheit beruth, wird im Gegenteil die gegenseitige Beschränkung der Selbstsucht notwendig zu ewigem Frieden führen.