tb-1Der kritische IdealismusLeonard NelsonOtto Meyerhof    
 
ERNST CASSIRER
Zur Frage der
Methode der Erkenntniskritik

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"Wenn es also für Fries - der hierin Kant genau folgt - erst die Gesetze des Verstandes sind, die ein  Wahrnehmungsurteil  zum  Erfahrungsurteil  bestimmen und die es somit erst seiner objektiven "Wahrheit" versichern, so gilt für Nelson, dem ganzen Ansatz seiner Untersuchung nach, das Gegenteil."

"Was hilft aber - so muß hiergegen gefragt werden - alle subjektive  Evidenz  der Anschauung, wenn sie nicht den Charakter der  allgemeinen Mitteilbarkeit  erlangt, wenn sie nicht durch rein logische Kriterien zu objektiver Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit der  Erkenntnis  erhoben werden kann?"

"Die grundlegende geschichtliche Leistung Kants, die ihn von all seinen Vorgängern unterscheidet, besteht eben in dieser Einsicht: in der Erkenntnis, daß die Frage nach dem Wert und der Geltung des Wissens zu ihrer Entscheidung der Berufung auf irgendein psychisches oder physisches  Sein  nicht bedarf."

Die Herausforderung des Herausgebers dieser Zeitschrift, auf die vorstehenden Einwendungen OTTO MEYERHOFs zu erwidern, habe ich mich nicht entziehen wollen. Ich freue mich, nachdem die Abhandlungen der FRIESschen Schule bereits zwei ausführliche Gegenschriften von GERHARD HESSENBERG und KURT GRELLING gegen meinen Aufsatz gebracht haben, nunmehr einen Anhaänger der Schule in der "Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie" zu begegnen. Denn hier steht er auf einem Boden, der der objektiven Diskussion wesentlich günstiger ist, während die Polemik HESSENBERGs und GRELLINGs derart mit persönlichen Angriffen und Beschuldigungen gegen mich durchsetzt ist, daß es vergebliche Mühe wäre, aus ihr einen rein sachlichen Kern herausschälen zu wollen. Ich darf darauf verzichten, auf alle diese Angriffe im einzelnen zu erwidern, zumal über sie bereits das Urteil eines unparteiischen Kritikers vorliegt, der der Diskussion von Anfang an gefolgt ist. (1) Alle derartigen Mittel richten sich unmittelbar gegen den, der sie braucht: der Leser fühlt, daß sie sich nur dort einstellen, wo sachliche Gründe fehlen. Ich für meinen Teil will nicht die Mitschuld daran tragen, daß das Interesse an der  prinzipiellen  Grundfage, auf die es allein ankommt, zuletzt durch Streitigkeiten rein persönlicher Art ganz zurückgedrängt wird. Deshalb sind mir die Ausführungen MEYERHOFs willkommen, weil sie alles Wesentliche von dem, was GRELLING und HESSENBERG vorgebracht haben, in einer Form enthalten, die ein streng sachliches Eingehen ermöglicht.

1. Gegenüber der Darstellung MEYERHOFs muß ich nun vor allem darauf hinweisen, daß die Einwände, die ich in meinem Aufsatz erhoben habe, sich nicht schlechthin mit dem "Wesen der FRIESschen Deduktion" beschäftigten, sondern nur mit der Darstellung und Begründung, die NELSON von ihr gegeben hatte. Wird dies festgehalten, so kann mir nicht mit Grund vorgeworfen werden, daß ich die Bedeutung und Leistung, die hier der  Selbstbeobachtung  zugeschrieben wird, überschätzt habe. (siehe Seite 432) Denn NELSONs Schrift über die kritische Methode hebt den Vorrang, den die innere Beobachtung vor allen mittelbaren Verfahrensweisen des Denkens besitzt, überall aufs schärfste hervor und sieht gerade hierin das Merkmal, das die echte wissenschaftliche Philosophie von aller dogmatischen Spekulation aus bloßen Begriffen scheidet. NELSON beginnt seine Lehre von der Deduktion mit dem Satz, daß es möglich sein muß, sich  durch innere Erfahrung  eine Theorie der Vernunft zu verschaffen, die die Elemente zur Ableitung sämtlicher reiner Vernunfterkenntnisse enthält.
    "So wird es möglich sein, ohne mit den philosophischen Prinzipien selbst in abstracto zu operieren, sie auf empirischem Weg zu deduzieren. Ein Verfahren, dem gegenüber Skeptizismus gar nicht anzubringen ist, eben weil wir dabei ganz auf dem Boden der  Tatsachen  bleiben, die einem jeden zur Beobachtung offen liegen, ohne uns auf irgendwelche metaphysischen Erörterungen einzulassen." "So großen Schwierigkeiten nun auch gerade die Selbstbeobachtung ausgesetzt sein mag" - heißt es kurz darauf im gleichen Zusammenhang weiter - "so verbinden wir doch mit dieser  subjektiven Wendung aller Spekulation  einen doppelten Vorteil. Erstens nämlich bleiben wir ganz bei der Beobachtung, d. h. bei der Erkenntnis aus Sinnesanschauung, stehen. Wir entfernen uns also nicht in das Gebiet abstrakten Denkens und verlieren und überhaupt nicht in die Spitzfindigkeiten und Grübeleien mittelbarer Beweisverfahren, die der Gefahr des Irrtums umso mehr ausgesetzt sind, je mittelbarer sie sind, je weiter sie sich von der Anschauung entfernen. Je näher wir bei dieser, in unserem Falle der Selbstbeobachtung bleiben, desto weniger sind wir logischen Fehlern ausgesetzt und desto leichter lassen sich Fehler, wo sie dennoch vorkommen sollten, aufdecken und verbessern. Auch kommen wir nicht in Gefahr, uns auf bloße Wahrscheinlichkeiten einzulassen. Denn alle Wahrscheinlichkeit gehört, wie der Irrtum, nur der Reflexion und beruth auf unvollständigen Schlüssen. Die Anschauung dagegegen, von der wir uns nicht entfernen und auf die wir immer zurückgehen, ist überhaupt nicht der Ungewißheit unterworfen, also auch nicht den verschiedenen Graden der Wahrhscheinlichkeit." (Abhandl. I, 25 - 27)
Kann man aus diesen Sätzen einen anderen Schluß ziehen, als denjenigen, den ich gezogen habe: daß nämlich die Selbstbeobachtung für NELSON  unmittelbare Evidenz  besitzt und eben darum die allein sichere Basis für alle philosophischen Schlußfolgerungen abgibt? Sollte ich daher die NELSONsche Lehre nicht nur äußerlich in ihren Folgerungen bestreiten, sondern sie nach ihrem eigenen  Prinzip  beurteilen, so mußte ich meine Einwendungen notwendig auf diesen Punkt richten, den NELSON selbst für den sichersten seiner Position ansieht und an welchem er sich von vornherein gegen alle Skepsis gewappnet glaubt. MEYERHOF wendet mir ein, daß ich die "Theorie der Vernunft", die für NELSON durch die Selbstbeobachtung nur eingeleitet, nicht aber vollendet werde, in meiner Schrift außer acht gelassen hätte. (Seite 430 und 434) Aber ich sehe nicht, wie diese "Theorie" nach NELSONs Voraussetzungen jemals zu einer Gewißheit führen soll, die nicht bereits in dem einfachen Ausspruch der Selbstbeobachtung gegeben und beschlossen wäre. In der Tat: was bedeutet nach NELSON die Theorie der Vernunft? Sie ist, da sie nicht aus Anschauungen, sondern aus Urteilen besteht, "ganz und gar ein Werk der Reflexion" (Abhandlungen der Fries'schen Schule II, Seite 47). Die Reflexion aber - so wird unablässig betont - enthält selbst keine neue Wahrheit, sondern vermag nur anderweitig gegebene Erkenntnisse zu wiederholen und deutlich zu machen. Gerade das wird als der Hauptfehler KANTs angesehen, daß er diese "Leerheit und Unselbständigkeit" des bloß reflektierenden Verstandes übersah. (Vgl. MEYERHOF) Die Reflexion, wie NELSON sie denkt, vermag also im günstigsten Fall die Tatsachen der inneren Beobachtung zur deutlichen  Aussprache  zu bringen, nicht aber ihnen einen Erkenntniswert zu verleihen, den sie nicht berits aus sich selbst besitzen. Ja, sie wird im ungünstigsten Fall das Gegenteil bewirken; sie wird diese Tatsachen, statt sie rein herauszustellen, mit täuschenden Zusätzen versehen und sie dadurch verfälschen und für die kritische Deduktion unbrauchbar machen. Bezieht sich doch aller Streit und Irrtum und Wahrheit, aller Zweifel und alle Gewißheit eben auf die Urteile der Reflexion und hat innerhalb ihres Umkreises sein eigentliches, alleiniges Gebiet. (Abhandlungen I, Seite 18f) Man ersieht hieraus, daß die Einwendungen, die ich gegen das Kriterium der Selbstbeobachtung erhoben habe und die MEYERHOF im Prinzip anzuerkennen scheint (Seite 432) durch die Berufung auf die "Theorie der Vernunft" sich in keiner Weise erledigen lassen: denn die Sicherheit dieser Theorie, die ja eine empirische Theorie aus innerer Erfahrung sein soll (2), steht und fällt mit der Sicherheit der Selbstbeobachtung. Was immer gegen diese letztere eingewandt werden kann, gilt a fortiori [umso mehr] gegen eine Theorie, die nichts anderes als die reflektierende Wiederholung der Beobachtungsdaten sein will und die umso mehr dem Zweifel ausgesetzt ist, als sie sich vom ursprünglichen Grund und Boden der "Tatsachen" entfernt. Wo NELSON dieser Folgerung entgehen will, da bleibt ihm wiederum nichts übrig, als die bloße Berufung auf das "Selbstvertrauen der Vernunft", das doch nach MEYERHOF in das Verfahren der Deduktion der Grundsätze gar nicht hineinspielen sollte. (Seite 434) (3)

2. Mit alledem ist freilich, wie ich ausdrücklich hervorheben möchte, der Kernpunkt der FRIESschen Beweisführung noch nicht getroffen. Denn das Verhältnis zwischen "Reflexion" und "Selbstbeobachtung" ist bei FRIES selbst ein wesentlich anderes als es bei NELSON ist. NELSON kennt eine Selbstbeobachtung, die der Reflexion nicht bedarf und die daher von allen Mänglen, die dieser letzteren anhaften, frei bleibt, während FRIES vielmehr  die Reflexion selbst  als ein Verfahren der  "künstlichen  Selbstbeobachtung" schildert und dadurch deutlich zu erkennen gibt, daß auch dasjenige, was als wissenschaftliche "Tatsache" im Sinne der Psychologie zu gelten hat, uns nicht unmittelbar  gegeben  ist, sondern erst durch das Denken selber festzustellen ist. Diese Abweichung von FRIES hat NELSON neuerdings - auf die Einwände PAUL STERNs hin - ausdrücklich zugestanden, sie aber zugleich als eine bloße Abweichung im  Sprachgebrauch  zu erklären gesucht, - die übrigens, da es sich hier um die terminologische Fixierung der wichtigsten Grundbegriffe handelt, auch als solche der Hervorhebung wert gewesen wäre. Auch bei FRIES steht, wie NELSON gegen STERN behauptet, dem Vermögen der Reflexion der  "innere Sinn"  als ein Vermögen der unmittelbaren Selbstbeobachtung gegenüber (Abhandlungen II, Seite 36f). Aber besitzt wirklich der "innere Sinn" nach FRIES den gleichen unbedingten Erkenntniswert, den NELSON der Selbstbeobachtung zuschreibt? Der innere Sinn gibt uns nach FRIES nur von einzelnen momentanen und veränderlichen Zuständlichkeiten unseres Bewußtseins Kunde, so daß sein Ausspruch keinerlei allgemeine Gültigkeit beanspruchen kann.
    "So wie wir uns einer Erkenntnis nur durch den inneren Sinne als zu unserem momentanen Gemütszustand gehörig bewußt werden, nennen wir sie nur assertorisch [als gültig behauptet - wp], die  Reflexion  hingegen steigert durch problematische allgemeine Vorstellungen dieses assertorische [behauptende - wp] Bewußtsein zu einem apodiktischen [logisch zwingenden, demonstrierbaren - wp], welches für die Vernunft im ganzen Ablauf ihres Erkennens überhaupt gilt, indem die einzelnen inneren Wahrnehmungen über das Erkennen zu einem Ganzen der inneren Erfahrung erhoben werden."

    "Indem wir also durch Reflexion diesen Fortschritt vom Momentanen zum ganzen Leben unserer Vernunft machen, zeigt sich uns als neues in unserer Erkenntnis die Einheit und Verbindung und insofern rechtfertigt sich die gewöhnliche Erklärung, Verstand oder Vernunft sei das Vermögen der Einheit in unseren Vorstellungen" (FRIES, Neue Kritik der Vernunft II, 1. Auflage, Seite 24 und 26).
Wenn es also für FRIES - der hierin KANT genau folgt - erst die Gesetze des Verstandes sind, die ein "Wahrnehmungsurteil" zum "Erfahrungsurteil" bestimmen und die es somit erst seiner objektiven "Wahrheit" versichern, so gilt für NELSON, dem ganzen Ansatz seiner Untersuchung nach, das Gegenteil. Je mehr wir die innere Beobachtung von der Beimischung der abstrakten Verstandesprinzipien befreien, umso größer wird für uns ihr Wahrheitswert. Das ist der prinzipielle Vorzug, den die innere Erfahrung vor der äußeren hat, daß in ihr der "Zusatz" des Verstandes zur Wahrnehmung, der freilich auch hier nicht gänzlich ausgeschaltet werden kann, doch wenigstens auf ein  Minimum  reduziert ist. Immer von neuem wird das betont, immer wieder wird die Evidenz und Sicherheit der Selbstbeobachtung damit begründet, daß die Beimischung der Verstandesprinzipien hier soviel als nur möglich ferngehalten ist. (4) Was hilft aber - so muß hiergegen gefragt werden - alle subjektive "Evidenz" der Anschauung, wenn sie nicht den Charakter der  allgemeinen Mitteilbarkeit  erlangt, wenn sie nicht durch rein logische Kriterien zu objektiver Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit der  Erkenntnis  erhoben werden kann? (5)

Nach alledem wird man es begreifen, warum ich behauptet habe, daß NELSONs Lehre statt, wie sie es beabsichtigte, in den Bahnen von FRIES weiterzuschreiten, in Wahrheit in die Lehren der Philosophie des "common sense" zurückgefallen sei. Daß es bei NELSON nicht an Stellen fehlt, die sich im engsten Anschluß an FRIES halten, ja, daß bei ihm bisweilen ganze Satzfolgen - auch solche, die nicht als Zitate kenntlich gemacht sind - nahezu wörtlich aus FRIES' Schriften übernommen sind, ist mir natürlich nicht entgangen. Aber hier handelt es sich nicht um die Ergebnisse, sondern um den Geist und das Prinzip des Philosophierens. NELSON selbst spricht es aus, daß "aller wahrhaft fördernde Streit in der Philosophie der Streit um die rechte Methode zu philosophieren" sei und daß man daher "das Streiten um die Resultate so lange aussetzen müsse, bis man sich darüber geeinigt hat, aufgrund welcher Methode man zu den Resultaten gelangen will." (Abhandlungen der Fries'schen Schule II, Seite 240) Nun denn: nach dieser seiner eigenen Forderung bin ich ihm gegenüber verfahren. Die Einwände MEYERHOFs können gegen die Berechtigung meiner Kritik nichts beweisen, (6) weil sie sich fast ausschließlich auf ein Referat FRIES'scher Lehren stützen, dagegen alle die eben angeführten Stellen, in welchen NELSON von der Tendenz der FRIESschen Methode abweicht, vollständig außer acht lassen. -

3. Ich könnte mit diesen Bemerkungen schließen, wenn es mir lediglich darum zu tun wäre, die Vorwürfe zurückzuweisen, die MEYERHOF gegen meine Darstellung der NELSONschen Lehre erhebt. Aber ich fühle wohl, daß die rein negative Kritik, wie ich sie hier notgedrungen nochmals üben mußte, sachlich zuletzt unbefriedigend bleibt. Ich möchte daher versuchen, den prinzipiellen Gegensatz, der zwischen KANT und FRIES besteht und der in der Tat in der modernen Diskussion über die Methode der Erkenntniskritik noch ungeschlichtet fortwirkt, hier nochmals kurz zu bezeichnen und auf einen möglichst scharfen Ausdruck zu bringen. Hierbei werde ich aber, um jeden Streit über die Interpretation auszuschließen, nicht die Darstellung MEYERHOFs zugrunde legen, sondern überall auf FRIES' eigene Schriften zurückgehen. Daß die Vernunftkritik eine  anthropologische  Wissenschaft sein müse, dies wird von FRIES zuletzt damit begründet, daß alle Erkenntnis eine "innere Geistestätigkeit" ist, von der wir demnach nicht anders, als durch innere Erfahrung Kunde erhalten können. Dieses Argument bezeichnet zweifellos das endgültige und entscheidende Motiv, das der gesamten Forschung von FRIES die Richtung gibt.
    "Jedes Erkennen ist eine Tätigkeit unseres Geistes. Alle Erkenntnisse sind also Gegenstände der inneren Erfahrung, somit der psychischen Anthropologie. Ich kann also und muß, wenn ich vollständig sein will, alle Erkenntnisse aus einem anthropologischen Gesichtspunkt betrachten, sofern sie subjektiv zu den Tätigkeiten meines Geistes gehören. Ich kann hier ihre Veränderungen, Verschiedenheit und Gesetzmäßigkeit untersuchen, welche ihnen bloß für sich als Geistestätigkeiten zukommt. Ja, diese Betrachtung der Erkenntnisse ist die unmittelbarste, weil jeder Gegenstand für sich doch erst Gegenstand einer Erkenntnis werden muß. Unserem Geist gehören die Erkenntnisse. Gegenstände sind nur mittels der Erkenntnis im Verhältnis zu unserem Geist. Die erste Untersuchung der Erkenntnis muß diese nur als Tätigkeit meines Geistes betrachten und zusehen, wie ich zu derselben komme, aus welchen Vorstellungen sie entsprungen ist, zu welchem Geistesvermögen diese Vorstellungen gehören und dergleichen mehr. Mit unserer Nachweisung, daß beim Philosophieren nur die zergliedernde Methode förderlich sein könne, ist also zugleich entschieden, daß hier alles vom Glück einer solchen anthropologischen Untersuchung der philosophischen Erkenntnis abhänge." (7)
Der eigentliche Differenzpunkt zwischen erkenntniskritischer und psychologischer Methode tritt hier aufs deutlichste hervor. Der Unterschied wurzelt zuletzt in einem  Doppelsinn,  den der Begriff der Erkenntnis selbst in sich birgt. "Erkenntnis" bedeutet das eine Mal den Inbegriff der geistigen Akte, durch welche das empirische Subjekt eine irgendwie begründete, gültige Wahrheit ergreift und sich zueigen macht; aber es kann dadurch auf der anderen Seite auch lediglich der Inhalt dieser Wahrheit selbst, also ein logisch wahrer und feststehender  Satz  bezeichnet werden. In diesem letzteren Sinn bezeichnet etwa der Pythagoreische Lehrsatz eine "Erkenntnis", die sich zergliedern und auf andere  gültige Urteile  zurückführen läßt, bis man zuletzt bei den geometrischen Grundaxiomen und Definitionen anlangt. In dieser gesamten Zergliederung ist lediglich von einem notwendigen  Zusammenhang von Wahrheiten  die Rede, ohne daß auf irgendwelche realen Dinge oder Vorgänge, auf ein physisches Sein oder auf psychische Tätigkeiten Rücksicht genommen werden würde. Die  Geltung  dieses Zusammenhangs wird gesichert und begründet, ohne jedwede Berufung auf irgendeine empirische Existenz. Um die Stellung zu verstehen, die irgendein einzelnes mathematisches Urteil im System der Mathematik überhaupt einnimmt, um es in seiner notwendigen Verknüpfung mit anderen Sätzen zu erblicken, aus denen es hervorgeht und die aus ihm wiederum folgen, brauche ich auf die subjektiven  Erkenntnistätigkeiten,  durch welche ich mir den Inhalt diese Urteils zu Bewußtsein bringe, nicht zu reflektieren. Die Frage, wie ich zu diesem Urteil komme und aus welchen meiner Vorstellungen und Geistestätigkeiten es in mir entsprungen ist, bleibt hier außer Betracht. Das gleiche aber gilt von allen reinen logischen Erkenntnissen überhaupt. So zutreffend es ist, daß für ihre Behandlung "nur die zergliedernde Methode förderlich sein könne", so führt doch eben diese Zergliederung immer nur wiederum auf andere logisch gültige Sätze und zuletzt auf oberste  Prinzipien,  nicht aber auf irgendwelche Tatsachen der inneren oder äußeren  Wirklichkeit.  Die grundlegende geschichtliche Leistung KANTs, die ihn von all seinen Vorgängern unterscheidet, besteht eben in dieser Einsicht: in der Erkenntnis, daß die Frage nach dem Wert und der Geltung des Wissens zu ihrer Entscheidung der Berufung auf irgendein psychisches oder physisches  Sein  nicht bedarf. (8)

An diesem Punkt setzt der Gegensatz von FRIES ein. Er begründet die Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit der metaphysischen Grundsätze in der  Tatsache  einer dauernden, sich gleichbleibenden Tätigkeit unserer Vernunft, die in allen Subjekten als eine und dieselbe wirkt und die daher von aller individuellen Bedingtheit und Einschränkung frei zu denken ist.
    "Notwendigkeit war die Bestimmung des Gegenstandes für eine apodiktische [unumstößliche - wp] Erkenntnis. Apodiktische Erkenntnis war eine Erkenntnis, deren Gültigkeit nicht nur einem bestimmten Gemütszustand angehört, sondern die für die Vernunft überhaupt in der ganzen Geschichte ihres Erkennens gilt. Soll es also apodiktische Bestimmungen in unseren Erkenntnissen, soll es überhaupt nur den Begriff der Notwendigkeit in unseren Vorstellungen geben, so muß der Vernunft im Erkennen eine ursprüngliche dauernde Tätigkeit zukommen, wodurch alle ihre Erkenntnis als die Wirkung  einer  Kraft bestimmt wird, denn sonst ließe sich gar nicht erst von einem Ganzen der Geschichte ihres Erkennens sprechen." (Neue Kritik der Vernunft II, Seite 34)
So wird alle Wahrheit der Erkenntnis auf das tatsächliche Vorhandensein einer bestimmten psychischen Grundkraft in uns zurückgeführt. Aber man sieht leicht, daß hier ein täuschender Zirkel vorliegt. Wir wissen nicht durch innere Erfahrung von einer sich gleichbleibenden, konstanten Erkenntniskraft in uns, so daß wir durch sie, als letztes und höchstes Faktum, die Allgemeingültigkeit unserer wissenschaftlichen Grundurteile begründen könnten; sondern dieses vorgebliche Faktum selbst ist nur ein anderer  Ausdruck  für die behauptete Geltung eben dieser Urteile. Wir können einer Erkenntnis nicht dadurch den Charakter der Notwendigkeit verleihen, daß wir ihre Zugehörigkeit zum psychologischen Vermögen der "Vernunft" und ihren Ursprung in diesem Vermögen aufweisen: sondern umgekehrt bezeichnet die Vernunft nur das  gedachte psychologische Korrelat  für eine Gattung von Erkenntnissen, deren Allgemeingültigkeit wir uns aus reinen logischen Kriterien versichert haben müssen. Welche Gründe man auch aus der Metaphysik für dieses Korrelat anführen kann: die Erkenntniskritik kann auf seine Setzung völlig verzichten, ohne dadurch für die ihr eigentümliche Aufgabe etwas zu verlieren. Die Wahrheit ihrer Sätze wird durch die Frage nach dem Sein oder Nicht-Sein psychologischer Kräfte nicht berührt. Der objektive Zusammenhang der Gründe und Folgen, den sie darlegt, wird dadurch nicht fester und sicherer, daß man die gesamte Kette dieser Gründe und Folgen zuletzt an ein höchstes Dasein anknüpft. Die kritische Analyse des Wissens führt niemals unmittelbar auf letzte  Realgründe,  sondern auf oberste  Erkenntnisgründe;  sie führt, anders ausgedrückt, nicht auf das  Sein  von Dingen oder Kräften, sondern lediglich auf das  Wahr-Sein  von Urteilen. Daß hierin ein Mangel von ihr liegt, kann indessen nur derjenige behaupten, der es sich nicht deutlich gemacht hat, daß alles Sein, das die Erkenntnis zu erreichen vermag, ihr niemals anders, als durch das Urteil vermittelt werden kann und daß jede Behauptung inhaltsleer ist, die aus dieser Korrelation heraustritt.

Es ist somit ein Irrtum, wenn FRIES die  notwendige  und  apriorische  Gültigkeit der metaphysischen Grundsätze, die er anerkennt und hervorhebt, dadurch gegen jeden Zweifel sicher stellen zu können glaubt, daß er diese Sätze als einen faktischen Besitz unserer "Vernunft" aufweist. Der HUMEsche Zweifel ist auf diesem Weg nicht zu heben.
    "Die Grundsätze der Philosophie" - so heißt es bei FRIES - "liegen ohne alle Begründung in unseren Überzeugungen, kein Satz aber darf ohne Grund angenommen werden, wir müssen sie daher durch eine Deduktion schützen, in der wir zeigen, wie die in ihnen ausgesprochenen Sätze aus dem Wesen der Vernunft entspringen. Dieses ist aber ein bloßes Geschäft der Anthropologie und somit der inneren Erfahrung, die Philosophie beruft sich also zuletzt in Rücksicht der Wahrheit ihrer Sätze immer auf innere Erfahrung, aber nicht umd diese zu beweisen, denn dadurch würden sie selbst zu bloßen Erfahrungssätzen, sondern nur um sie als unerweisliche Grundsätze in der Vernunft aufzuweisen. Ich beweise nicht, daß jede Substanz beharrlich sei, sondern ich weise nur auf, daß dieser Grundsatz der Beharrlichkeit der Substanz in jeder endlichen Vernunft liege; ich beweise nicht, daß ein Gott sei, sondern ich weise nur auf, daß jede endliche Vernunft einen Gott glaubt." (Neue Kritik der Vernunft I, Seite 284)
Aber diese Nachweisung trifft ersichtlich gar nicht die Frage, die HUME gestellt hat. Hat denn HUME etwa bezweifelt, daß der Gedanke der Kausalität "in jeder endlichen Vernunft liege", daß wir, statt uns mit der bloßen Folge von Eindrücken zu begnügen, mit innerer Nötigung den folgenden, unter bestimmten Bedingungen, als die "Wirkung" des vorhergehenden ansehen? Keineswegs; vielmehr hat er diese Tatsache als Faktum völlig anerkannt und aus seiner psychologischen Theorie zu erklären gesucht. Nicht die Tatsächlichkeit, sondern die logische Notwendigkeit des Gedankens der Kausalität bildet den Gegenstand seiner Untersuchung. Hier hat daher KANT, auch in seinem geschichtlichen Urteil, in der Tat schärfer gesehen, als FRIES.
    "Der Begriff der Ursache, welcher die Notwendigkeit eines Erfolgs unter einer vorausgesetzten Bedingung aussagt" - so heißt es an einer Stelle, auf die ich bereits in der Schrift über den "kritischen Idealismus" verwiesen habe -, "würde falsch sein, wenn er nur auf einer beliebigen, uns eingepflanzten subjektiven Notwendigkeit, gewisse empirische Vorstellungen nach einer solchen Regel des Verhältnisses zu verbinden beruhte. Ich würde nicht sagen können: die Wirkung ist mit der Ursache im Objekt (d. i. notwendig) verbunden, sondern: ich bin nur so eingerichtet, daß ich diese Vorstellung nicht anders, als so verknüpft denken kann; welches gerade das ist, was der Skeptiker am meisten wünscht; denn alsdann ist alle unsere Einsicht durch vermeinte objektive Gültigkeit unserer Urteile nichts als lauter Schein und es würde auch an Leuten fehlen, die diese subjektive Notwendigkeit (die gefühlt werden muß) von sich nicht gestehen würden; zum wenigsten könnte man mit niemandem über dasjenige hadern, was bloß auf der Art beruth, wie sein Subjekt organisiert ist." (Kritik der reinen Vernunft, 2. Auflage, Seite 168)
Ich sehe nicht, daß FRIES oder einer seiner Anhänger auf dieses Bedenken jemals etwas Stichhaltiges erwidert hätte. Denn das NELSONsche Diktum, das auch MEYERHOF (Seite 426) wieder anführt: daß nämlich, wer seiner Vernunft nicht traut, sich an den Psychiater zu wenden, den Philosophen aber in Ruhe zu lassen habe, kann doch wohl unmöglich beanspruchen, in diesem Zusammenhang ernst genommen zu werden. In der Tat: wie läßt sich zunächst Sicherheit darüber erlangen, daß wirklich  jede  endliche Vernunft den Grundsatz der Kausalität als tatsächliches Besitztum in sich birgt? Auf eine bloße Induktion, auf die Abzählung der einzelnen empirischen Subjekt kann es hier nicht abgesehen sein, da diese, nach FRIES' eigenen Voraussetzungen, niemals zu einer wahrhaften Allgemeinheit führen könnte, wie sie den Sätzen der philosophischen Spekulation wesentlich ist. So bleibt nichts übrig, als die Apriorität des Kausalgesetzes aus dem allgemeinen "Wesen" der Vernunft zu erweisen: damit aber stünden wir wiederum vor demselben Zirkel, der uns zuvor entgegentrat. Die Berufung auf das Wesen der Vernunft würde uns nur die Frage zurückgeben: denn dieses Wesen läßt sich nicht als Tatsache der Beobachtung aufzeigen, sondern seine Setzung ist mit der  Behauptung  eben jener  rationalen Prinzipien  einerlei, nach deren Recht hier gefragt wird. Zudem würde die "anthropologische" Methode für sich allein und losgelöst von anderen Kriterien keinerlei Gewähr besitzen, daß dasjenige, was sie als allgemeine Züge unserer Natur bloßlegt, nicht allgemeine Gattungs irrtümer,  nicht "idola tribus" [Trugbild der Gattung - wp] sind, die wir ausmerzen müssen, um zur reinen Erkenntnis der Phänomene zu gelangen.
LITERATUR - Ernst Cassirer, Zur Frage der Methode der Erkenntniskritik - eine Entgegnung, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 31, Leipzig 1907
    Anmerkungen
    1) Siehe HUGO RENNERs Kritik der GRELLINGschen Schrift in "Philosophische Wochenschrift, Bd. VII, Seite 81 - 86, 129 - 131.
    2) Siehe "Abhandlungen der Fries'schen Schule I, Seite 25, II Seite 47.
    3) Vgl. NELSON (Abhandlungen I, Seite 29): "Obwohl also die Kritik die metaphysischen Prinzipien aus einer Theorie der Vernunft deduziert, welche selbst durch innere Erfahrung, mithin nur induktorisch gewonnen werden kann, so werden doch die metaphysischen Prinzipien ihrer Gültigkeit nach nicht auf Erfahrung oder Induktion gegründet. Denn sie werden aus der Theorie der Vernunft nicht bewiesen, sondern nur als solche aufgewiesen; wobei die Schlußkraft in der Beantwortung ihres quid juris [der Berechtigung - wp] nicht auf den zugrunde gelegten Induktionen der inneren Erfahrung, sondern auf dem Selbstverstrauen der Vernunft ruht. Dieses Selbstvertrauen der Vernunft ist das allgemeine Prinzip, das die psychologischen Ableitungen aus der Theorie der Vernunft zu kritischen Deduktionen macht, d. h. das es uns ermöglicht, in der inneren Erfahrung einen Leitfaden für die systematische Begründung der Philosophie zu finden."
    4) Man vergleiche Abhandlungen I, Seite 74f: "Eben dieser vermeintliche Mangel" (daß nämlich die innere Erfahrung der äußeren in bezug auf die Anwendbarkeit der logischen Erfahrungsgrundsätze bei weitem nachsteht) "ist einer der Hauptvorzüge, durch die sich die innere Erfahrung als einen Leitfaden der Spekulation empfiehlt. Denn wir umgehen dadurch den Streit um die philosophischen Prinzipien und setzen an seine Stelle den viel sichereren Weg der Beobachtung."
    5) Daß es sich bei dieser Art "Objektivität" nicht um einen von der Erkenntnis völlig verschiedenen  Gegenstand,  sondern um eine logische Charakteristik der Erkenntnis und des  Urteils selbst  handelt, brauch hier wohl nicht mehr besonders betont zu werden. (vgl. hierzu meinen Aufsatz "Der kritische Idealismus")
    6) Ich ergreife indessen gern die Gelegenheit, um ein Versehen zu berichtigen, das sich beim Druck meiner Schrift "Der kritische Idealismus" ergeben hat. Bei der Wiedergabe des von NELSON entworfenen graphischen Schemas, das eine Übersicht über die systematisch möglichen philosophischen "Standpunkte" geben soll, sind durch einen Irrtum des Setzers, den ich bei der Korrektur hätte bemerken und berichtigen sollen, zwei Verbindungslinien ausgefallen. Der Gang meiner  Beweisführung  wird indessen durch dieses Versehen nicht mitgetroffen; denn diese Beweisführung bezog sich natürlich nicht auf die bildliche Darstellung als solcher, sondern auf den Gedankengang, den sie zum Ausdruck bringen sollte und der von mir zuvor ausdrücklich wiedergegeben worden war.
    7) FRIES, System der Metaphysik, Heidelberg 1824, Seite 104f
    8)