cr-3Mauthner - O. F. Gruppe    
 
OTTO FRIEDRICH GRUPPE
(1804-1876)
Allgemeinheit und Gesetz

Antäus
Begriff 'Abstraktum'
Gefahr der Sprachen
Kein System
Wendepunkt
"Wir fanden, daß aus den Definitionen so unendlich viel Unheil entsprungen ist, aber werden die Wissenschaften ihrer jemals entraten können?"   Relativität der Begriffe
Falsche Logik
Spekulativer Irrtum
Neue Methode
Empirischer Ausweg

Aber auch unter den Gegnern KANTs brachte es selbst HERDER nicht sehr viel weiter. Er, der soviel Aufmerksamkeit der Sprache zugewendet hatte, und auch in seiner Metakritik diesen Gesichtspunkt keineswegs außer acht ließ, versäumte dennoch die Beobachtung zu machen, welche hier allein aufklären kann; auch hielt er die Mängel der kantischen Spekulation, die ihm schon als ungeheure Verkehrtheiten erschienen, gar nicht mit gleichen Eigenschaften anderer Systeme zusammen. Mit der Allgemeinheit des Irrtums der Spekulation entging ihm nun auch der wahre Grund derselben, und hiermit wieder der Weg zur richtigen Methode. Die letztere hat HERDER nicht aufgestellt, noch auch irgend ein anderer nach ihm. Daß dies der Stand der Dinge ist, kann man wohl schon daraus abnehmen, daß nach wie vor die spekulativen Systeme fortdauern, denn wäre diese wahre Methode wirklich gefunden und klar und einleuchtend hingestellt, ja wäre auch nur das wahre Wesen jenes allgemeinen Irrtums hinlänglich beleuchtet worden, so hätten, zur Ehre des menschlichen Verstandes und wissenschaftlichen Sinnes gesagt, daneben so große Unsicherheiten und Irrtümer wohl nicht bestehen können.

In der Tat bin ich der Überzeugung, daß bisher die Metaphysiker noch nicht durchaus Ursache gehabt sich ihren Gegnern zu ergeben, so wie denn letztere noch immer weit davon entfernt blieben, eine Methode zu besitzen, welche wirklich das Bekämpfte ersetzen und der Philosophie einen sichern Weg des Fortschreitens anweisen könnte. Dies beweist sich dadurch am besten, daß solche Gegner der Metaphysik unversehens immer selbst wieder Metaphysiker werden und daß sie ihrerseits in einer anderen Weise gar nichts zu leisten im Stande sind. Alles was sie uns geben können, sind Unbestimmtheiten und Halbheiten, sie zeigen sich abhängig von mancherlei Irrtümern und Vorurteilen und sie haben noch nicht in aller Schärfe begriffen, worauf es eigentlich ankommt.

Vielleicht ist es gut, uns noch ganz kurz der Schwierigkeiten bewußt zu werden, welche aus unserer Darstellung hervorgehen. Es ist hauptsächlich folgende: der Gebrauch abstrakter Begriffe, und das sind alle Worte, führt immerfort auf Irrtum und Täuschung: und doch können wir in allem Denken keinen Augenblick der Begriffe und Worte entbehren. Ja wie es scheint, so haben wir es nicht bloß mehr mit den Schwierigkeiten zu tun, welche aus dem nachgewiesenen falschen Gebrauch der Begriffe entspringen, sondern unsere eigene Ansicht droht deren noch viel schlimmere zu enthalten. Denn wenn alle Begriffe relativ sind, was kann es da noch für Sicherheit in der Erkenntnis, was kann es da noch für Wissenschaft geben? Wir fanden, daß aus den Definitionen so unendlich viel Unheil entsprungen ist, aber werden die Wissenschaften ihrer jemals entraten können?

Alle abstrakten Begriffe und überhaupt alle Begriffe sind Hilfsbegriffe, welche nur so lange Sinn behalten und ohne Trug sind, als sie im Angesicht von Tatsachen und Anschauungen bleiben, auf welche sie sich beziehen. In diesem Falle nämlich, wo die Dinge, von denen man spricht und die man vergleicht, vor Augen liegen, werden die wahren Vergleichspunkte, welche bei abstraktem Ausdruck meist verschwiegen bleiben, leicht und richtig ergänzt und ganz ist man vollends geschützt gegen jene grobe Umkehrung, das Gedachte für das Angeschaute, den Hilfsbegriff für das Reale zu nehmen, was doch eben jene endlose Verwirrung in die Metaphysik brachte. Unter solchen Umständen werden denn auch sogar Definitionen nichts schaden, sondern können zur Deutlichkeit mit das ihrige beitragen. Sie sind nur gefährlich und unzulässig, wo man aus ihnen folgern will, d.h. wo man das Angeschaute und Erfahrene nach dem bloßen Hilfsbegriff modelt, und dies muß man freilich tun, sobald man Verdacht in die Erfahrung setzt, oder einer solchen Begriffsspekulation größere Allgemeinheit und Notwendigkeit zutraut.

Definitionen und Hilfsbegriffe werden in den empirischen Wissenschaften nicht schädlich, sondern sogar förderlich sein, falls man nur weiß, was man an ihnen hat; weiß man dies nicht, so folgt ihnen ihr Irrtum auch bis hierher. Zu diesem Wissen nun aber gehört hauptsächlich die Einsicht in die relative Natur der Begriffe, welche sich fortwährend ändern und zwar erweitern müssen, also daß man schon darum weder an Definitionen festhalten noch viel weniger daraus irgend etwas darf herleiten wollen. Auch hat man sich weder zu wundern noch zu grämen, daß die Wissenschaft in ihrem Fortschritt auf Punkte geführt wird, wo ihr gleichsam der sprachliche Ausdruck nicht mehr folgen kann. Worte sind ja Hilfsbegriffe, nur Mittel des vorläufigen Verständnisses, nur Abdrücke unserer schwachen Fassungskraft, welche der Natur, deren unendliche Einfachheit in so unendlicher Mannigfaltigkeit erscheint, so wenig gewachsen ist; Worte sind nicht die Sache, sondern nur das Mittel, wir wollen nicht Worte zum Resultat, sondern Verhältnisse, Gesetze, und um selbst diese Metapher zu vermeiden, wir wollen die Erscheinungen der Natur in ihrem wahren Zusammenhange, in ihrer wahren Abhängigkeit von einander kennen lernen.

Und bevor ich dazu übergehe, wäre vielleicht noch interessant, einige der vornehmsten Beispiele von mißverstandener unmittelbarer Anwendung der empirischen Methode auf psychische Gebiete zu durchmustern. Die Betrachtung der wesentlichen Dienste, welche die Mathematik den physischen Wissenschaften geleistet, ganz besonders aber, wie sie oft aus geringen gegebenen Daten bis zu den allgemeinsten Kombinationen fortführen kann, hat allerdings etwas blendendes - blendend genug, um sogar den großen Unterschied zwischen Physik und Psychologie vergessen zu machen. Schon NEWTON sprach unbestimmte Hoffnungen aus, als werde sich auf ähnlichem Wege als für die Astronomie auch dereinst ein Gravitationsgesetz für die Erscheinungen der moralischen Welt finden lassen, und es hat später nicht an solchen gefehlt, welche hier mancherlei versuchten: aber alles vergriffen und in sich nichtig!

Nicht das mindeste hat sich aufweisen lassen, was einem Gesetz oder auch nur Resultat ähnlich sieht: aber man bedachte auch nicht, daß das Verfahren gerade dadurch ein ganz anderes war als in den Naturwissenschaften, weil man bei dem großen Abstande dieser Erscheinungen glaubte ganz gleich verfahren zu können. Unter vielen verunglückten, ja abenteuerlichen Unternehmungen verdient die von HERBART vielleicht die meiste Aufmerksamkeit. Er, den wir in anderen Punkten metaphysischen Irrtümern so stark unterworfen fanden, will jetzt auf einmal durch unzeitige Anwendung der Mathematik die Unfruchtbarkeit seiner Metaphysik und Methode einbringen: er glaubt den mathematischen Kalkül auf Erscheinungen des Lebens nicht bloß anwenden zu können, sondern sogar zu müssen. Ich bemerke zunächst, daß sogar COMTE, der Schüler der polytechnischen Schule, der es doch gern gemocht hätte, schon vor der Anwendung der Mathematik auf vitale Kräfte warnte, eine Warnung die gewiß jedem unmittelbar einleuchtet.

Aber woher das? woher kann die Mathematik, die in der Physik so große Dinge tut, nur hier nichts ähnliches leisten? Weil man ihr erst sichere Beobachtungen und Fakta muß zum Grunde legen können, woran es gerade hier fehlt, und vollends weil sie von Maß und Zahl ausgehen muß, wovon doch im Psychischen durchaus nichts festes gegeben ist. Die Mathematik kann auch nur in den Teilen der Physik ihre Wunder tun, die dem Maß und der Zahl unmittelbar zugänglich sind, z.B. in der Optik und Mechanik, in allen anderen muß ihr der Versuch erst vorausgehen, um die Erscheinungen aufzudecken; ohne den Versuch würde die Mathematik hier nicht das geringste ausrichten: wieviel weniger denn in der Seelenlehre!

Es ist wahr, daß die Anwendung einer einfachen Arithmetik in statistischen Verhältnissen große Früchte getragen und Gesetze ergeben hat, allein hier kann man von Zahlenwerten ausgehen und die Resultate wieder an der Erfahrung prüfen. Auf dem Felde der Psychologie nun schien in der Aufmerksamkeit noch zunächst etwas Meßbares zu liegen, und diese faßt HERBART besonders auf. Er spricht von Einheiten der Vorstellung, bringt diese in Rechnung, will ausrechnen, in welchem Maß sich Vorstellungen hemmen und stören - aber soll dabei die unendlich verschiedene Qualität der Vorstellungen gar nicht mit in Betracht kommen? Man kann doch nur Gleichartiges zählen und messen! Und was ist denn die Einheit? Es gibt nichts mannigfaltigeres und vieldeutigeres als den Begriff der Vorstellung und es gibt nicht schwankenderes und unbestimmteres als den Begriff der Einheit.

Was die Kunst des Beobachtens betrifft, so wird man schon gemerkt haben, daß die Wahl fruchtbarer Vergleiche nicht bloß in den Naturwissenschaften, sondern auch überhaupt gelte, und zwar in den psychischen Disziplinen um so mehr, als hier die Beobachtung offenbar unzugänglicher ist. Der Vergleich ist ja im Allgemeinen so sehr Bedingung alles menschlichen Urteilens und Auffassens, daß darin die augenblicklichen Eingebungen eines spielenden Witzes mit den ernstesten Forschungen der Wissenschaft übereintreffen. Mehrmals im Verlauf unserer Untersuchungen sind wir darauf zurückgekommen, daß sogar der Irrtum diese Form noch mit der Wahrheit gemein behalte: wo ist nun die Grenze? Gewiß muß hier ein Unterschied sein, und zwar einer, auf den wir nicht genug Aufmerksamkeit wenden können.

Der Witz hat bei dem Aufsuchen von Ähnlichkeiten oder Unähnlichkeiten weiter nicht die Obliegenheit, immer Wesentliches und Innerliches zu treffen; ihm gilt das Oberflächliche, Äußerliche, Zufällige, womit er aber anderweitig größeres Gewicht zu verbinden weiß, ebenso sehr; oft begnügt er sich in seinem Interesse sogar mit dem bloß Scheinbaren, ja, je gelaunter er ist, mit bloßen Anklängen oder dem zufälligen Übereintreffen von Worten: Wortspiele darf und wird der Witz sich nie nehmen lassen. Sehr begreiflich gilt nun von alledem das Gegenteil bei jeder ernstgemeinten Betrachtung, und gewiß bei der Wissenschaft. Ähnlichkeiten, welche sich selbst bewußt sind, daß sie nur Zufälliges und Unerhebliches treffen und noch weniger aus verwandtem innerlichem Grund herfließen, können natürlich nicht in Betracht kommen, wo es gilt die Natur und deren Gesetze zu studieren; Vergleichungen, welche bloß auf subjektiver Willkür beruhen, haben kein Interesse mehr, wo es sich gerade um etwas Objektives handelt. Ob Ähnlichkeiten frappant und dem ersten Schein nach glänzend sind, dies ist hier nicht, wie dort, die erste Forderung, sondern vielmehr daß sie wirklich, und innerlich begründet seien, daß solche bemerkte Analogien uns in das Verständnis der Natur näher einführen. Hieraus folgt, daß gerade das Allmähliche des Fortschritts, der Vergleich unter Verwandten und seiner Natur nach nahe Liegendem allein zum Ziele führen kann, während dort so sehr das Gegenteil stattfindet, daß man gerade das Geistreiche nach der Entlegenheit der zusammengestellten Dinge zu messen pflegt.

Man will die natürlichen Ordnungen finden, man will hinter die eigentlichen Zusammenhänge kommen; nur das, dessen überwiegende Analogie mit früher gesonderten Gegenständen und Erscheinungen nicht mehr zu leugnen steht, wird mit ihnen unter demselben Namen begriffen, diesen Namen dadurch zu erweitern hat man nicht im Sinne, es ist nur eben unausbleiblich. So geht denn Denken und Sprache hier Hand in Hand, und die sprachliche Namensgebung hat mit der Wissenschaft durchaus nur ein dasselbe Interesse: für beide bilden sich so Gattungen und Merkmale. Die Erweiterungen und Übertragungen sind dabei nicht nur gelinde und allmählich, sondern sie sind auch unwillkürlich und unmerklich. Hierdurch entgeht man denn auch zunächst jener Gefahr, welche den Urteilen ihre Bedeutung zu nehmen drohte, daß nämlich durch zu schnelle Übertragungen auf ganz Entgegengesetztes jene  contradictio in adjecto  entstehe: freilich ein Umstand, welcher ganz vorzüglich mit Schuld sein mag, daß vielen die empirische Wissenschaft zu langweilig, zu trocken, zu geistlos erscheint. Bei diesem Urteil ist wenigstens soviel ganz richtig, daß schnelle Sprünge das eigentümliche Feld des Witzes sind, der auf seinem Standpunkt, wo es sich gar nicht um soliden Gedankengehalt handelt, selbst die  contradictio in adjecto  keineswegs zu scheuen hat. Eine gewisse geistreiche, besser gesagt pikante und modische Art sich auszudrücken hat sogar diese Weise ganz besonders in Beschlag genommen, aber wenn sie von da in die neuern Philosophien übergegangen ist, so ändert sich der Maßstab zu ihrer Beurteilung sogleich, und wird jetzt erst ganz erhellen, daß wir es hier eigentlich nur mit einer Art von Spiel zu tun haben.

Nur allzugeneigt ist die kurzsichtige Auffassung des Menschen bei ihrem natürlichen Wunsch nach Gesetzmäßigkeit, eine jede geahnte oder teilweise nachgewiesene gleich sowei als möglich weiter auszudehnen, als ihr eine prüfende Bestätigung nachfolgen kann. Vermögen wir Leidenschaften dieser Art nicht zu unterdrücken, dann freilich sind wir auch unmittelbar den Erscheinungen gegenüber nur dem Irrtum unterworfen, und leicht könnte man in solchem Sinn RAMONDs Spruch die Auslegung geben: Wir sehen nur, was wir wollen, wir sehen nur unsere Vorurteile. Leider ist dies oft geschehen, allein die Schuld fällt so sehr einer Geistesstimmung zur Last, welche mit der wissenschaftlichen Forschung nichts gemein hat, daß die Bekämpfung solcher Irrtümer eigentlich auch ganz außerhalb unseres gegenwärtigen Gesichtspunktes liegt.

Wer forscht, muß ein für allemal die Gesinnung haben, zu eigener Kontrolle alle erdenklichen Mittel anwenden zu wollen und tut er dies, so werden jene allgemeineren Versehen bei einigem Scharfsinn von selbst wegbleiben. Man hütet sich davor besonders durch den steten Gedanken, daß nicht alle Erscheinungen nach  einem  Gesetz zu erfolgen brauchen, und daß man, statt ihnen fremde Regeln aufzuzwingen, vielmehr nach den ihnen innewohnenden zu suchen habe. Und hier ergibt sich denn noch eine ganz besondere Anwendung jener NEWTONschen Richtschnur, welche gerade das Gegenteil der übereilten Ausdehnung von Gesetzen ist. Bekannte Gesetze müssen uns dienen, fernere noch unbekannte und unberücksichtigte zu finden, und weit entfernt, daß man sich begnügt, wenn ein Gesetz nur ungefähr paßt, müssen uns gerade die gefundenen Differenzen zu Entdeckung neuer Erscheinungen führen.

Darum eben ist hier Gewissenhaftigkeit und Genauigkeit alles wert: Es waren nur unbedeutende Differenzen in den Bewegungen der Jupitertrabanten beim Verschwinden und Hervortreten hinter ihrem Planeten, und doch hat RÖMERs sorgfältige Aufmerksamkeit uns die Geschwindigkeit ergeben, mit welcher das Licht sich bewegt wodurch denn das Licht in nahe Analogie mit dem Schall getreten und ein großer Schritt zur besseren Natureinsicht getan ist. Noch feinere Differenzen waren es, welche nur die Aberration (Abweichung) des Lichts lehren konnten. Wir haben hier ein Verhältnis, welches überall eintritt, und was auch über die Naturwissenschaften hinaus auf Disziplinen eine fruchtbare Anwendung leidet, welche bisher noch keine geregelte Behandlung genossen. Jede gefundene, in ihrem Wesen, in ihrem Grund und Gesetz erkannte Regelmäßigkeit von Erscheinungen muß gerade durch die Ausnahmen und Modifikationen, die sie erfährt, wieder Wege zur genaueren Forschung anderer Erscheinungen und ihrer Gesetze eröffnen, und die Kunst des Untersuchens besteht nun, gleich wie bei der Algebra, eben darin, durch Absonderung bekannter Faktoren die unbekannten immer klarer hinzustellen, bis zuletzt auch ihre Abhängigkeiten und Werte vor Augen liegen.

Ein solches Verfahren ist nun leicht begreiflich das reine Gegenteil von der Konstruktion, ja ich behaupte, daß gerade dieser Gegensatz erst uns das wahre Wesen jener falschen Methode in seiner Allgemeinheit eröffnen werde. Die Konstruktion dringt der Erscheinungen Regeln auf, die nicht in ihnen selbst liegen, sie will Gesetzmäßigkeiten weiter ausdehnen als ihr wahres Gebiet ist, und um dies zu können, muß sie alles ungenau nehmen und sich mit Halbheiten und ungefähren Anklängen begnügen. Sie hat den seltsamen Glauben, alles über einen Leisten schlagen, alles nach einem Gesetz erklären zu müssen, was denn seiner Natur nach nur eine Einseitigkeit sein kann. Indem sie nun dies tut, gebietet sie eigenmächtig und despotisch, aber sie forscht nicht. Die Forschung hat zwar auch in weiter unerreichter Ferne das Ziel, alles je mehr sie es erkennt, je mehr es nach einem und demselben einfachen Gesetz aufzufassen, allein sie weiß, daß dies Gesetz sich nicht völlig herbeiführen läßt, und sie hält sich stets den Spruch vor, daß nur die genaue Ergründung vorerst noch getrennter Gesetze und danach zu sondernder Erscheinungsgebiete nach und nach ein Zusammenfallen unter einen umfassenden Gesichtspunkt möglich mache.

Diese Möglichkeit verscherzt sich der, welcher hier mit kindischer Ungeduld berauscht und betört durch metaphysischen Irrtum, vorgreifen will: gerade dies aber tut die Konstruktion. Allein es tun es auch noch viele andere, welche nicht zugeben wollen, daß wir sie den konstruierenden Metaphysikern beirechnen, je welche sogar selbst vermeinen, als deren Gegner ihnen das Gleichgewicht halten zu können. Sie sind ihnen darin ganz gleich und konstruieren gar nicht minder, sofern sie glauben nach gewissen ganz einseitigen Formeln den gesetzmäßigen Gang aller Erscheinungen durchschauen und wohl gar danach die Zukunft weissagen zu können. Es ist dabei ganz gleich, woher diese bestimmenden Formeln entnommen sind, man konstruiert nach ihnen, sobald man ihnen auf Gebieten Geltung verschaffen will, deren Erscheinungen ganz nach anderen eigentümlichen Verhältnissen erfolgen; man konstruiert nach ihnen, sobald man nicht daneben noch vielen anderen Verhältnissen bestimmenden Einfluß einräumt, ja man tut es schon, sobald man nicht auf genaue Abwägung dieser Einflüsse ein besonderes Auge gerichtet hat, und man muß diesem Fehler notwendig anheim fallen, sobald man, nicht mit stetem Mißtrauen gegen sich selbst erfüllt, nach dem eben entwickelten Grundsatz die eigentümlichen Gesetze aufsucht und deren immer neue ausspaltet.

Man muß die Erscheinungen in ihrem eigenen Wesen, in ihren eigenen Verhältnissen studieren, statt sie oberflächlich und ungenau seinen vorschnellen Einbildungen anzupassen, man braucht sich Ausnahmen nicht zu verschweigen, denn diese stören und widerlegen ein Gesetz nicht, sondern enthalten nur die Äußerung anderer noch unbekannter Gesetze, welche zu finden eben die Aufgabe ist. Dergleichen Aufgaben zu lösen ist gewiß nicht leicht, und außer dem Wissen, wie man es im Allgemeinen anzufangen habe, wird es noch aller außerordentlichen Geistesgaben bedürfen, um unzugänglichen Erscheinungen beizukommen, um voraus zu ahnen, von welcher Seite sie sich mit Erfolg studieren lassen, dann besonders aber um das Gefundene stets zu kontrollieren und sich selbst gegen Irrtum und Täuschung zu bewahren.

Der Akt des Fortschreitens ist ein ganz anderer, man schreitet nicht an Worten und Begriffen fort, sondern durch Beobachtung und Verbindung der Erscheinungen und alles was noch zur Sicherheit des Wortgebrauch gesagt zu werden braucht, ist, daß man die Relativität der Begriffe richtig in Anschlag bringe, was sich freilich von selbst versteht, wenn man sich an Erscheinungen und nicht an Worte hält. Es ist kein logischer Irrtum mehr möglich, sobald man sich immer speziell besinnt, welche Erscheinungen denn unter einem Wort begriffen sind, mit dem Bewußtsein, daß das Wort an sich vieldeutig und nur ein Hilfsausdruck ist. Aber alle Aufmerksamkeit hat man jeden Augenblick auf den Unterschied dessen zu richten, was Gegebenes, und was bloß Mittel und Hilfsvorstellung, was Faktum und was Hypothese ist. Hypothesen können allerdings der Wissenschaft nutzen, nur nicht als solche, sondern sofern sie uns irgendeinen Plan zur Beobachtung entwerfen lassen, wobei sich den bald finden wird, ob sie Grund haben oder nicht.

In solcher Rücksicht leisten sogar falsche Theorien ganz das nämliche, und zwar leisten sie eben das was die sogenannte  Regula falsi,  oder jede Art von Rechnung wo man vorzugsweise einen bestimmten Wert annimmt, um zuzusehn ob die Folgerungen daraus mit den Erscheinungen stimmen, oder nach welcher Richtung hin sie eine Änderung erleiden müssen. Andererseits haben allerlei Abstraktionen und mathematische Hilfsvorstellungen in den physischen Wissenschaften gute Dienste getan, und umso mehr, als sie Verhältnisse vereinfachen oder irgendwie anschaulicher und faßlicher machen. Dahin gehört eigentlich die ganze Mathematik, dahin gehören selbst mancherlei räumliche Darstellungen, welche verwickelte Verhältnisse auf einen Blick anschaulich darstellen.

NEWTON hatte von dem Wesen solcher mathematischer Hypothesen sehr klare Begriffe. Gleiches kann man nicht immer von neueren Physikern, Chemikern oder Mineralogen rühmen, welche z.B. noch immer in den Streit über Atomismus und Dynamismus begriffen bleiben, da doch beide Begriffe bloß beliebige Hilfsvorstellungen sind, die sich in solcher Rücksich ganz gleich stehen. An sich sind sie gar nichts, man kann mit ihnen nach Gefallen und Bedürfnis wechseln, wie sie gerade jedesmal am bequemsten sind, und es hat gar keinen Sinn, ein besonderes Gewicht darauf zu legen, nur der Dynamismus, nicht aber der Atomismus könne gewisse Erscheinungen begreifen. Denn in diesem Augenblick will man die bloße Hilfsvorstellung in die Reihe physikalischer Fakta oder Gesetze erheben, woran doch alles fehlt. Auf solchem Wege gibt es keinen Fortschritt, sondern nur Irrtum, man hat die Physik verlassen und ist wieder in der Metaphysik.

Aber wie finden wir nun das Entsprechend für die abstrakten Ausdrücke der Sprache, denn gleich wie alle andern Mittel der Forschung müssen nun auch die abstrakten Begriffe, richtig gehandhabt, derselben ebenso dienen können und wer von ihnen bei aller Sicherheit den freiesten und vorteilhaftesten Gebrauch zu machen weiß, wird offenbar am weitesten kommen. Die Schwierigkeit löst sich von selbst, sobald wir uns ihrer nur klar bewußt werden. Um große Gedankenkombinationen zu machen, um die allgemeinsten Zusammenhänge aufzufinden und aussprechen zu können, brauchen wir allgemeine Ausdrücke; aber diese sind an sich vage, vieldeutig, leer. Was ist also zu tun? das Allgemeine bekommt nur Inhalt durch das Besondere, aber wir können uns nicht immer mit dem Besonderen schleppen, wir müssen es zusammenfassen unter Allgemeinerem: wir haben also nur eine solche Stellung der Dinge herbeizuführen, daß immer genau übersichtlich bleibt, welche besonderen Erscheinungen jedesmal das Allgemeine ausmachen: alsdann werden wir uns der abstrakten Ausdrücke mit Bequemlichkeit und Kürze bei den Kombinationen bedienen können, und werden doch immer genau wissen was wir an ihnen haben.

Aber noch mehr: es kommt ganz besonders auch darauf an, die Relativität dieser Abstrakta zu kontrollieren, sich genau ihrer Erweiterung bewußt zu werden, d.h. immer wieder gruppenweise die neuen besonderen Fälle und Erscheinungen anzuordnen, welche in Folge gemachter Kombinationen und befundener Ähnlichkeiten nun fernerhin als gleichartig und als einem und demselben Gesetz unterworfen zusammentreten. Auf diesem Wege werden die Definitionen sich zwar fortwährend ändern, man wird aber davon strengste Rechenschaft zu geben wissen, und weit entfernt, daß diese Änderung und Erweiterung der Wissenschaft schadete, wird sie vielmehr mit der Fortbildung derselben, d.h. mit dem Aufsteigen zu immer allgemeineren Gesetzen und Zusammenhängen wesentlich eins sein. Man wird bei solcher Stellung überall zugleich das Speziellste im Allgemeinen haben, eins durch das andere verständlich, das Allgemeine inhaltsvoll durch diese aufsteigenden Reihen des Besonderen, und das Besondere bedeutsam in seinem Zusammenhange, in seinem Gesetz in seiner Ordnung zum Ganzen; man wird sich hier überall mit Geschmeidigkeit und Sicherheit auf und ab bewegen.

So allein wird man, durch allmähliche immer inhaltsvolle Verallgemeinerung weiter und weiter aufwärts steigen und dabei immer im Angesicht der Erscheinungen bleiben, man wird mithin nie in dem Ausdruck auch leere Formeln, sondern wahre Gesetze besitzen: diese Gesetze sind aber nicht Vorschriften, welche wir der Natur aufgenötigt haben sondern sie sind weiter gar nichts als die Erscheinungen selbst in ihrem Wesen, d.h. in ihrem wahren Zusammenhange, in ihrer wahren Ordnung, in ihrer wahren Abhängigkeit, befreit von der Unordnung und Vereinzelung, mit der sie uns zunächst entgegentreten und entkleidet des Scheins und Trugs, den sie eben deshalb für unsere unmittelbare Anschauung haben müssen. Und nun wird denn auch erst begreiflich werden, in welchem Sinne ich eben jenes Abbrechen des Wortwerks von dem fertigen Kern meinte: die abstrakten Begriffe sind das Hilfsmittel, sie bleiben hier stets ein solches, sie sind bloßes Medium des Verständnisses, verbauen nicht die Erscheinungen, sondern lassen sie überall durchschauen und treten bescheiden zurück: der letzte Ertrag ist kein Wort, keine Formel, sondern der Zusammenhang der Erscheinungen, soweit es denn jedesmal gelingt denselben aufzufassen.

In jeder Rücksicht ist nun dieses Verfahren das deutlichste Gegenteil von dem metaphysischen, und zwar leuchtet zunächst ein, wie es das Gegenteil ist von dem Folgern aus Definitionen, es ist der reine Gegensatz der Konstruktion nach irgend einer Formel, welche den Schein ihrer Allgemeinheit nur ihrer abstrakten Natur, der Relativität, Vieldeutigkeit und Leerheit dankt, sei es nun, wie bei HEGEL, nach der Formel von der Einheit des Unterschiedes, oder, mit anderen, von der Polarität, oder von Kraft und Gegenkraft. Hier werden nicht so viel einzelne Hypothesen ersonnen, als es einzelne Schwierigkeiten zu geben scheint, sondern man strebt zur Erforschung allgemeiner Gesetze fort, die aber gerade in den scheinbaren Ausnahmen ihre tiefere Bestätigung finden. Die dargelegte Methode macht immerfort neue Erscheinungen zugänglich und fordert stets zu ihrem Studium auf, die metaphysische schreckt davon ab und meidet sie, oder verdreht sie gar; sie erkennt nichts, da sie auf einmal alles gleich unter einem Prinzip erkennen will.

Dagegen ist in dem bezeichneten Verfahren das baconische Axiom, daß man nicht zu letzten Gesetzen springen, sondern allmählich aufsteigen müsse, wesentlich und in seiner größten Allgemeinheit enthalten, es sind überhaupt alle Axiome, welche der empirischen Wissenschaft an ihren Eroberungen geholfen haben, hier beisammen in ihrer möglichsten Steigerung. Wie die falsche metaphysische Methode sich auf eine falsche Ansicht vom Erkenntnisakt gründet, so gründet sich diese auf die Einsicht in den wahren Akt des Urteilens, und wie die metaphysische Methode nutzlos und unergiebig ist, so muß die unsrige auch außer den Naturwissenschaften, in denen sie die beste Probe bestanden hat, fruchtbar und ergiebig sein. Ja ich behaupte, daß sie noch überall, wenn auch unbewußt, im Spiele gewesen ist, wo man wirklich irgend etwas von Naturgesetz erkannt hat, und daß sie es durch alle Zeiten sein wird, nach welcher allein der menschliche Geist von Erkenntnis zu Erkenntnis in gemessenem Schritt fortschreiten kann.

Ich hätte über die neue Methode noch viel näheres beibringen können, doch konnte es sich hier nur um das Allgemeine, nicht um das Spezielle handeln. Überdies ist ja unsere Methode von der eigenen Art, daß die bloße Wissenschaft dabei nicht hilft; sie auszuüben wird immer eine Kunst bleiben. Im Einzelnen ist die Subsumtion der Fälle und die Überwindung der immer anderen Schwierigkeiten noch so schwer, daß es hier stets von neuem des wissenschaftlichen Genies und seiner divinatorischen Kraftäußerungen bedürfen wird, dahingegen nur in metaphysischer Schulphilosophie auch die beschränktesten Köpfe das Nachsprechen leicht haben. In solcher Art also muß ich verzichten, mir jemals Anhänger zu erwerben, sonst aber ruft eben diese Methode eine Schar gleichgesinnter Mitarbeiter ins Feld, die eben durch ihre immer wiederholte und immer genauere Anwendung kontrollieren können, während den Anhängern der verschiedenen philosophischen Schulen nur übrig bleibt, mit gegenseitiger Geringschätzung und eigenem Hochmut auf einander herabzuschauen.
LITERATUR - O. F. Gruppe, "Antäus. Ein Briefwechsel über spekulative Philosophie in ihrem Conflict mit Wissenschaft und Sprache", Hrsg. Fritz Mauthner, München 1914