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WILHELM SCHUPPE
Das menschliche Denken
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"Haben wir begriffen, daß alles, was den Inhalt unseres Lebens ausmacht, das Höchste und Wichtigste, was erstrebt wird und unsere Handlungen leitet, zunächst nichts anderes, als in uns entstandene Begriffe sind, daß die Wirklichkeit, die ihnen entsprechen mag, doch nicht direkt ihre Abbilder in unser Inneres hineinzeichnet, und gelingt es uns zu erkennen, aus welchen Anfängen und auf welche Art und Weise diese Begriffe in uns entstanden sind und sich weiter bilden, so ist der dadurch gewonnene Standpunkt für die Beurteilung aller Verhältnisse von entscheidender Wichtigkeit. Diese Kenntnis allein vermag uns davor zu bewahren, überkommene Namen kritiklos hinzunehmen und mit ihnen zu operieren, als wären sie ein unmittelbar gegebenes Seiendes selbst. Noch wichtiger aber ist ihr Einfluß gegenüber der Anmaßung und Befangenheit vermeintlicher Logik, in allen Fragen von der Erforschung des Was auszugehen, also jedes Urteil auf Definition zu gründen, bei einer gewissen Fertigkeit schulmäßige Definitionen aufzustellen, keine Ahnung hat vom Unzureichenden derselben, nicht bedenkt, wie oft die definientia selbst dringendst der Erklärung bedürftig ist und doch jeden Augenblick bereit ist, im Namen ihrer voreilig fixierten Definitionen Gewalt zu üben."


I. Einleitung

Indem ich durch den Titel, "Das menschliche Denken", den Gegenstand der folgenden Untersuchungen auf das einfachste und schlichteste zu bezeichnen suchte, beabsichtigte ich alle Vorstellungen, welche nach alter Schultradition mit dem Wort  Logik  und gar  System der Logik  verknüpft sind, fern zu halten. Ich kann nicht sagen, ob ich formale oder spekulative Logik treibe, ohne die Resultate der ganzen Untersuchung vorauszunehmen und bin noch weniger in der Lage eine Darlegung des Zusammenhangs der Logik mit der Metaphysik zum Ausgangspunkt und zur Grundlage meiner Ausführungen zu machen. Vielmehr hoffe ich gerade dadurch, daß ich die gegebenen Tatsachen möglichst vorurteilslos und unbefangen zu betrachten versuche, einen Beitrag zur Lösung jener Probleme zu liefern. Wohl reizt die Höhe; wohl läßt der Blick vom Gipfel aus Gestalten und Verhältnisse und Zusammenhänge erkennen, die wir von unten aufstrebend nicht ahnen können. Aber die Philosophie ruht auf den Einzelwissenschaften; die Erkenntnis des tatsächlich Gegebenen ist ihre Grundlage. Wohl wird die Erkenntnis von letzterem erst durch jene vollkommen, aber ebenso ist die Vervollkommnung jener, deren sie zweifellos noch bedarf, von einer möglichst genaue und unbefangenen Auffassung des Gegebenen abhängig und ebenso wird diese durch einschränkungslose Anwendung einer - der Vervollkommnung noch bedürftigen - metaphysischen Grundanschauung beeinträchtigt. Deshalb ist es wohl eine dankenswerte Tat, wenn ein bevorzugter Geist sich zu jener Höhe aufzuschwingen sucht und Kunde gibt von dem, was er erblickt hat, aber nicht minder billigenswert der Versuch unter völligem Absehen von jenem Standpunkt, völlig voraussetzungslos und unbefangen, die Grundlagen selbst erneut zu prüfen und zu vervollkommnen.

Mir ist das menschliche Denken eine Erscheinung, ein gegebenes Objekt, der Betrachtung wert und eben der Betrachtung fähig, wie die Zustände und Tätigkeiten unseres Leibes, wie der Sternenhimmel über uns und das Steingeröll zu unseren Flüssen. Diese Aufgabgenstellung schließt von vornherein den Anspruch aus denen zu lehren, d. h. die Kunst des Denkens oder die Regeln, an die man sich um des Zweckes willen halten muß zu überliefern.

Jede Überlieferung der Regeln einer Kunst z. B. des Reitens, Schießens, Singens, hat zur Voraussetzung die Bekanntschaft mit einem bestimmten Material, das zu einem bestimmten, außerhalb desselben liegenden und aus sich selbst verständlichen Zweck gebraucht werden soll. Die gegebenen Regeln beruhen sämtlich auf der eigentümlichen Natur des zu Erwirkenden und des zu Bearbeitenden. Soviel also ist klar, daß die Erkenntnis des Gegenstandes den Vorschriften über seine Behandlung oder Benützung vorausgehen muß. Ob nun jemand nach erreichter Einsicht in das Wesen des Denkvorganges noch Lust haben wird Regeln darüber, wie man denken muß, zu suchen, müssen wir abwarten. Wie der Naturforscher an die Betrachtung einer nue entdeckten Tier- oder Pflanzenspezies oder eines bisher unenträtselten wunderbaren Phänomens geht, so wollen wir die vielen unter dem Namen "Denken" zusammengefaßten Erscheinungen betrachten. Im Laufe der Untersuchung wird sich zeigen, worin sie verschieden sind, von welchen Bedingungen eine jede von ihnen abhängt und was an ihnen es ist, um dessen willen wir die einen als Irrtum, andere als Wahrheit bezeichnen. Zugleich wird sich zeigen, daß und warum die Erreichung des Zwecks des Denkens nicht von logischen Erkenntnissen bedingt ist. Nur das ist anzuerkennen, daß die Beschäftigung mit diesen Fragen jedenfalls unsere Kraft übt und daß die Einsicht in die verschiedenen Möglichkeiten des Irrens uns vorsichtiger macht und unser Denken gründlicher zu überwachen nötigt.

Wir lernen durch die Physiologie weder hören noch sehen und durch die Erkenntnis der Gesetze, auf denen die Bewegungen unserer Glieder beruhen, weder gehen noch die Arme strecken, aber manche Täuschung lernen wir durch sie als solche erkennen und mancher Krankheit der Organe entgegentreten. Wenn wir unsere Denkoperationen richtig erkannt haben werden, und namentlich das den leiblichen Sinneswerkzeugen Entsprechende, das wodurch jeder neue Gedanke hervorgebracht wird, wird sich eine ähnliche Verwertung dieser Erkenntnis finden. Haben wir begriffen, daß alles, was den Inhalt unseres Lebens ausmacht, das Höchste und Wichtigste, was erstrebt wird und unsere Handlungen leitet, zunächst nichts anderes, als in uns entstandene Begriffe sind, daß die Wirklichkeit, die ihnen entsprechen mag, doch nicht direkt ihre Abbilder in unser Inneres hineinzeichnet, und gelingt es uns zu erkennen, aus welchen Anfängen und auf welche Art und Weise diese Begriffe in uns entstanden sind und sich weiter bilden, so ist der dadurch gewonnene Standpunkt für die Beurteilung aller Verhältnisse von entscheidender Wichtigkeit. Diese Kenntnis allein vermag uns davor zu bewahren, überkommene Namen kritiklos hinzunehmen und mit ihnen zu operieren, als wären sie ein unmittelbar gegebenes Seiendes selbst. Noch wichtiger aber ist ihr Einfluß gegenüber der Anmaßung und Befangenheit vermeintlicher Logik, welche der guten Vorschrift eingedenk, in allen Fragen von der Erforschung des  Was  auszugehen, also jedes Urteil auf Definition zu gründen, bei einer gewissen Fertigkeit schulmäßige Definitionen aufzustellen, keine Ahnung hat vom Unzureichenden derselben, nicht bedenkt, wie oft die  definientia  selbst dringendst der Erklärung bedürftig ist und doch jeden Augenblick bereit ist, im Namen ihrer voreilig fixierten Definitionen Gewalt zu üben. Haben wir erst im Allgemeinen den Ursprung und die Entwicklung unserer Begriffe erkannt, dann werden wir diese in jedem Fall zunächst in ihre subjektiven Elemente aufzulösen suchen, um bald zu erkenen, wie manch schöner hochtönender Name, der ein selbständiges Sein zu enthalten schien, hinschmilzt, und, sich bis auf einen Rest dunklen Gefühls in einfachste und bekannteste Eigenschafts- bzw. Bewegungsbegriffe auflöst, wie groß bei anderen die Schwierigkeiten einer genauen Definition sind, wie groß demnach unsere Sorge sein muß, uns vor einer voreiligen Fixierung zu hüten, und wie andere endlich überhaupt undefinierbar, indem die Unklarheit der zugrunde liegenen Vorstellung von Haus aus anhaftet.

Solchen Nutzen verhoffe ich mir von der erstrebten Erkenntnis. Mir ist die Logik kein beliebig verwendbares Organon, vielmehr sollen die Tatsachen des menschlichen Denkens um ihrer selbst willen erforscht werden und diese Erkenntnis zur Grundlage für höhere Erkenntnisse dienen.


II. Was ist Denken?

Vielleicht sieht man es nicht als ein überliefertes Schulvorurteil an, wenn ich alle Erkenntnis spezieller als Erkenntnis des  Was  und des  Warum  oder  Woher  ansehe. Es ist keine Theorie; die gemeinste Erfahrung des täglichen Lebens lehrt es. Was auch immer gelehrt, bzw. erklärt wird: es sind die und die Stoffe, so und so vereint, gestaltet, bewegt und zweitens die und die Stoffe, in dem und dem Zustand, der und der Vereinigung und Bewegung, welche jenes erste hervorbrachten.

Wir fragen daher nach dem  Was  und nach dem  Warum  oder  Woher  jener Erscheinung des Denkens, die wir täglich an uns selbst und an allen anderen wahrnehmen. Wir können zur Feststellung des Objektes nur an das Bewußtsein appellieren; höchstens könnten wir den Hinweis durch eine namentliche Ausschließung all der Erscheinungen am Menschen, welche wir nicht meinen, unterstützen. Alle Ausdrücke, welche sonst noch zur Erklärung des Denkens verwendet werden könnten und häufig verwendet worden sind, können höchstens dazu dienen im Leser den Gedanken an das gemeinte Objekt lebendiger zu machen. An und für sich sind alle ebensosehr und ebensowenig erklärungsbedürftig. Denken ist Erkennen. Man wird entgegnen, Denken sein das Mittel, Erkennen der erreichte Zweck. Aber nur der Sprachgebrauch täuscht. Wenn wir "denken um zu erkennen", so verstehen wir unter "Erkennen" nichts anderes, als was wir sonst Gedanken nennen, denken aber beim "Denken" mehr an die unsagbare innere Geistesanstrengung, welche unser Denken auf einen bestimmten Gegenstand konzentriert und die Tätigkeit selbst erhöht und energischer macht. Daß jede Erkenntnis ein Gedanke ist, wird niemand bezweifeln; aber auch jeder Gedanke ist eine Erkenntnis. Wollten wir den Namen  Erkenntnis  nur denjenigen Gedanken zugestehen, welche wahr sind, so dürfte die Auswahl doch auf erhebliche Schwierigkeiten stoßen, ja Angesichts der Widerlegungen, welche die vermeintlich sichersten Erkenntnisse schon erfahren haben, unmöglich sein. Wir müssen also auch die vermeintliche Erkenntnis als Erkenntnis gelten lassen. Wird ein Gedanke als Irrtum erkannt, so wird er eben - es sei denn als Gegenstand der Erkenntnis - nicht mehr gedacht. Die Lüge freilich ist ein Gedanke und doch keine Erkenntnis, aber sie ist auch nicht wesentlich Gedanke, sondern die Absicht eine vermeintliche Erkenntnis in einem andern hervorzubringen, mit der eigenen Erkenntnis, daß jene unwahr ist. Auch die Erzeugnisse der dichterischen Phantasie sind wohl Gedanken aber keine Erkenntnisse. Hier ist es der Wille, welcher die Denktätigkeit in den Dienst eines anderen Vermögens, der Phantasie stellt. Nur die Ursache der Denkverbindungen ist eine andere, das Denken selbst, sozusagen der Stoff und die Natur desselben ganz dieselbe. Auch Wunsch, Bitte und Befehlt sind wohl Gedanke aber nicht Erkenntnis von einem Sein, sofern man das Objekt des Bittens, Wünschens, Befehlen allein ausspricht. Insofern sind solche Sätze ebensowenig vollständige Gedanken, wie Erkenntnisse. Aber es ist doch zweifellos, daß der Zusatz des regierenden Verbums, das gewöhnlich durch den Modus oder durch andere Mittel der Darstellung ersetzt wird, sowohl Bitte und Wunsch und Befehl zu einem Gedanken, wie auch zu einer Erkenntnis ausmacht "Ich bitte, ich wünsche, ich will, befehle daß etc." Daß wir diese Erkenntnis nicht in einem theoretischen Interesse, nicht zur Vervollkommnung unserer Selbsterkenntnis produzieren, ist etwas anderes. Der Zweck der Äußerung kann den Charakter des Erkennens und Urteilens nicht aufheben. Man muß überhaupt von den subjektiven Beweggründen des Aussprechens eines Gedankens absehen. "Es ist kalt" und "es ist heiß" und "scheußliches Wetter" sind Gedanken, die allerdings nicht als Erkenntnisse ausgesprochen werden. Die Angeredete weiß es allein und bedarf nicht der Belehrung. Das angenehme oder unangenehme Gefühl, das durch jene Tatsachen in uns hervorgebracht wird, reizt uns zur Aussprache. Aber ist das Ausgesprochene selbst darum weniger eine Erkenntnis? Nur eine Willkür des Sprachgebrauchs ist es, welche von einer Reihe ineinander greifender Gedanken, bzw. Erkenntnisse nur die letzte, weil sie beabsichtigte war, als "die Erkenntnis" bezeichnet. Wollen wir on der eben gewonnenen Erkenntnis zu weiteren Erkenntnissen fortschreiten, so tritt abermals dasselbe Verhältnis ein. Sehen wir also von den unwesentlichen Einschränkungen des Sprachgebrauchs ab, so ist das durch ein Denken und das durch ein Erkennen Bezeichnete ganz ein und dasselbe, und keiner, der nicht weiß, was Denken ist, kann eine Ahnung davon haben, was erkennen ist. Ebenso setzen "Urteilen" und "Begriffe aufeinander beziehen" die Kenntnis von dem, was denken ist voraus, können also nicht zur Erklärung dieses Wortes benützt werden. "Begriffe aufeinander beziehen" ist eine nichtssagende Umschreibung für Urteilen, weniger verständlich als dieses. Urteilen aber ist völlig identisch mit Denken. Einen bloßen Begriff denkt niemand. Auch wenn wir uns keines wohl formulierten Urteils bewußt werden, sondern nur in eine Vorstellung versunken sind, immer findet doch in der Seele ein allmähliches Zusammensetzen, ein Hinzudenken, ein Hervorheben von Einzelanschauungen statt, das keinen anderen Sinn hat, als den, daß das alles einem Subjekt zukommt. Wir dürfen auch nicht vergessen, daß es ein Denken gibt, dessen wir uns zuweilen gar nicht bewußt werden. Die bloße Tätigkeit der Phantasie ist allerdings von der des Denkens verschieden, aber sie beruth auf letzterer. Denn die Bilder, die wir halb träumend vor unsere Seele zaubern, sind auch noch verstandene, als Menschen und Tiere, die so und so beschaffen sind; sonst wäre dieses ganze Vermögen eine Undenkbarkeit. Die Willkür, oder irgendein Trieb, hat die Ergebnisse der Denktätigkeit in seinen Dienst genommen. So müssen wir es dann aufgeben, einen Ausdruck zu finden, der im eigentlichsten Sinn als Erklärung des Begriffs  Denken  oder  Erkennen  gelten könnte. Auch ÜBERWEGs Versuch "Das Erkennen ist die Tätigkeit des Geistes, vermöge deren er mit Bewußtsein die Wirklichkeit in sich reproduziert" (System der Logik, § 1) ist als mißglückt zu betrachten. Denn die "bewußte Reproduktion der Wirklichkeit" kann absolut nicht verstanden werden, wenn man nicht schon vorher weiß, was Denken und Erkennen ist. Doch, wenn auch die Erklärung nicht als solche gelten kann, so ist sie doch nicht leer. Es liegt eine Behauptung darin, welche für die ganze Auffassung der Logik von entscheidender Wichtigkeit ist und diese kann bei der großen Verbreitung, welche ÜBERWEGs Buch um seiner vielen Vorzüge willen namentlich unter den Studierenden gefunden hat, hier nicht unerörtert bleiben. Ich sehe ab von etwas Nichtssagenden und der Unklarheit des Wortes "reproduzieren"; das Wichtigste ist der alte Irrtum, der neben unsere Erkenntnis eine vermeintliche Wirklichkeit, als das Urbild jener setzt. Hilft es dann also gar nichts darauf hinzuweisen, daß die fingierte Zweiheit des Reproduzierten und des Urbildes oder ursprünglich Vorhandenen tatsächlich nirgend ergriffen, nirgend nachgewiesen werden kann, daß wir nur von  einem  wissen und nur  eines  haben, entweder die Wirklichkeit selbst, oder unsere Vorstellungen? Wenn es aber die unleugbarste Erfahrungstatsache ist, daß wir die durch einen inneren Sinn und die äußeren Sinne empfangenen Eindrücke nach den Gesetzen der Identität und Kausalität verarbeiten und nichts anderes haben und wissen, als diese Produkte aus den empfangenen Eindrücken und unserer Geistestätigkeit, wo und was ist dann noch die Wirklichkeit, die wir reproduzieren sollen? Was belehrt uns darüber, daß wir in der Tat reproduziert haben? Man entgegnet: der Irrtum, den wir einsehen und korrigieren, und noch mehr die Bestätigung unserer Auffassungen durch die wiederholte Erfahrung, durch das Experiment, und gar alle Handlungen, die wir täglich vornehmen, beweisen sowohl die Wirklichkeit der Örter außerhalb von uns und der Zeit und des Kausalzusammenhangs, den wir entdeckt haben und durch den wir uns die Natur dienstbar machen. Wohl, sie beweisen die Wirklichkeit im Gegensatz zum Schein, zum bloßen Hirngespinst. Aber beweisen sie, daß die Erscheinung etwas von unseren Sinneseindrücken Unabhängiges, ansich Bestehendes ist, daß diese Welt der Erscheinungen ganz so sein würde, wenn kein menschlicher Sinn und Verstand sie betrachten würde, daß die Ströme fließen und die Winde tosen und die Stoffe in einem rastlosen Wechsel kreisen und eines das andere verursachen würde, ungesehen, ungehört, unbeobachtet? Das beweisen sie offenbar nicht. Was es it Irrtum und Wahrheit auf sich hat, kann erst weiter unten gelehrt werden. Das aber sei schon hier bemerkt: die Verursachung als solche gehört nicht in das Reich der Erscheinungen. Wir sehen nur den Wechsel und beobachten die ausnahmslose Regelmäßigkeit. Die Ursache setzen wir hinzu, richtiger, das Postulat der Ursache, nicht aus eine voreiligen Schluß heraus, nicht aus Gewohnheit, sondern weil wir müssen, und diese Ursache, die wir nicht sehen und nicht hören und nicht fühlen, diese gehört nicht zur Welt der Erscheinungen, obwohl die beobachtete Regelmäßigkeit, mit der wir so sicher rechnen können, dazu gehört. Bleiben wir aber bei den Erscheinungen stehen, so ist eine Wirklichkeit außer und neben den zu Vorstellungen verarbeiteten Sinneseindrücken nicht vorhanden, sondern eitel Doppelseherei. Gewiß, wir erkennen die Wirklichkeit. Wie kämen wir dazu, diese handgreifliche Welt mit ihren festen unwandelbaren Gesetzen für einen Schein, für unwirklich zu halten? Sie ist das Wirklichste, was es gibt. Aber was ist sie anderes, als die in unserem Geist, nach seinen Gesetzen verarbeiteten Eindrücke? Nennen wir diese Wirklichkeit; kein Vernünftiger kann etwas dagegen einwenden. Aber was ist dann die Wirklichkeit, welche man der Tätigkeit unseres Geistes und seinen Produkten entgegenstellt?

Unser Geist hat als den Grundzug seines Wesens den Gedanken der Ursache. Alles was uns berührt, müssen wir so naturnotwendig, wie der aufwärts geworfene Stein wieder zur Erde fällt, einer Ursache zuschreiben. Wenn man unter Zufall die Negation der Ursächlichkeit versteht, dann gibt es keinen Zufall. Der Begriff  Zufall  hat sein Wesen in der Beziehung. Nur mit Rücksicht auf irgendetwas nennen wir ein Ereignis zufällig, insofern seine Ursache mit jenem in keinem Zusammenhang steht, nicht beabsichtigt, nicht gewußt war. So herrscht das Gesetz der Verursachung unbedingt. Wir sind aber in doppelter Beziehung eine Ursache zu setzen gezwungen. Für jedes So oder So, das unsere Sinne erfassen, erblicken wir die Ursache in einem anderen Zustand, einem anderen Stoff, einer anderen vorhergehenden Bewegung. Das sind die Erscheinungs- oder Bewegungsursachen. Diese aber sehen wir nie; wir erschließen sie aus den vorhandenen Umständen nach einem rein negativen Kriterium; von einem eigentlichen Begreifen der Verursachung kann gar keine Rede sein; wir ahnen nicht, wie diese Erscheinung dazu kommt jene hervorzubringen, ja wie ein solches Hervorbringen überhaupt geschieht und geschehen kann. Woher kommt also, müssen wir uns gleichfalls fragen, die Erscheinung überhaupt mit all ihren Gesetzen, woher die einfachsten Stoffe und die erste Bewegung? Und dafür sind wir gleichfalls gezwungen eine Ursache anzunehmen. Diese Ursache nun, wenn überhaupt irgendetwas, kann einzig gemeint sein, wenn man den aus den Sinneseindrücken und den Gesetzen unseres Denkens produzierten Vorstellungen noch eine Wirklichkeit gegenüberstellt. Auch die Wirklichkeit, welche klar durch die Festigkeit der Abfolge der Erscheinungen, also durch die entdeckten Naturgesetze bewiesen ist, auch diese ist nichts anderes, als jene eben besprochene Ursache der Erscheinungen. Diese Ursache, das ist wohl zu merken, setzen wir als die Ursache der Erscheinungen überhaupt; sie muß sein, weil es Erscheinungen gibt. Wenn nun Ursache und Wirkung nicht identisch sein sollen, so muß jene Ursache etwas sein, was nichts Erscheinungsmäßiges ist, aus dem einfachen Grund, weil wir sonst dafür eine neue Ursache ansetzen müßten. Diese also, die erste oder die Seinsursache oder die metaphysische Ursache kann keine Erscheinung sein, weil das ihrem Begriff widerspricht. In der Erscheinungswelt freilich finden wir häufig eine Mitteilung von Zuständen und sehen somit den früheren als die Ursache des gleichen folgenden Zustandes an. Aber wenn wir den Begriff einer Wirkung scharf fassen und uns nicht durch den Sprachgebrauch täuschen lassen, so zeigt sich auch hier der Gegensatz zwischen dem Erwirkten und dem Erwirkenden. Die Ursache eines Kindes ist freilich ein Mensch, der auch einst ein Kind war, die Ursache einer Tötung kann freilich ein Mensch sein, der gleichfalls getötet ist, aber die nächste eigentliche Ursache dieser Wirkung ist immer etwas, was sie nicht selbst ist; die Ursache der Getötetheit eines Menschen ist nicht auch eine Getötetheit, sondern eine Tätigkeit; die Ursache des Geborenwerdens ist nicht auch ein Geborenwerden, sondern die Tätigkeit eines anderen. So kann, wenn ich bloß deshalb, weil etwas erscheint, ganz abgesehen von seinem so oder so, eine Ursache der Erscheinung voraussetze, diese, die Ursache der Erscheinung überhaupt, nicht wieder eine Erscheinung sein. Frage ich nach der Ursache der besonderen Bestimmtheit einer Erscheinung, dann freilich werde ich diese in anderen Erscheinungen finden. Ich werde aber diese nie in derselben, ich meine individuell derselben Erscheinung suchen, sondern in einer anderen. Wenn nun die Erscheinung als solche eben nur um dieser ihrer Natur willen, daß sie Erscheinung ist, eine Ursache fordert, so kann diese nicht dasselbe sein, nicht wiederum Erscheinung. Ich sehe von den Farben und Tonempfindungen ab, die wohl niemand als die richtige Erkenntnis, als bewußte Reproduktion dieser Wirklichkeit ansehen wird; aber ist diese letzte Ursache welche als solche der Erscheinung überhaupt entgegengesetzt ist, auch hier und da und rund und viereckig und groß und lang und hüpft und springt und stößt und schlägt oder läßt sich schlagen? Und wenn nicht, was erkennen wir wohl von ihr? Vielleicht, daß sie ist, was sie ist, und daß sie die ewige Ursache ist und was noch mehr? Ich wüßte nicht, daß es schon jemand gesagt hätte und habe auch in ÜBERWEGs Logik nichts davon gefunden. Kann uns jemals diese Ursache über die Erscheinungen, d. h. diese Welt, mit der wir uns abzufinden, die wir zu erkennen haben, belehren? Ist nicht immer die einzige Erkenntnis derselben die, daß sie diese Erscheinungen hervorbringt? Können wir etwa gar fragen, wenn wir den alten Baum vor unserem Haus oder unseren Freund oder das Gerät in unserem Zimmer erblicken, ob hinter diesen Erscheinungen wohl noch dieselbe Seinsursache steckt? Oder - wenn jemand solche für die Arten und Gattungen annehmen wollte - ob hinter oder in zwei Hunden, die wir erblicken dieselbe Ursache liegt, oder etwa sich ein Wunder ereignet hat und die Seinsursache, welche sonst andere Wirkungen hervorzubringen pflegt, etwa als Ziege zu erscheinen, diesmal als Hund erschienen ist? Wohl, doch "die Antwort scheint nur Spott über den Frager zu sein." Ich sehe nicht ein, wie durch die vorgetragene Ansicht (wie ÜBERWEG in der dritten Auflage seines Systems der Logik, Anmerkung zu § 37, gegen mich behauptet) die Möglichkeit der kausalen Beziehung eines individuellen Bewußtseins zu einem anderen aufgehoben werden soll. In der Tat, so wenig, wie die kausale Beziehung eines Körpers auf einen andern.

Und ebenso unfaßbar ist es mir, wie der Widerspruch, den ich darin finde, dem  noumenon  etwas beizulegen, was in das Reich der  phainomena  gehört - und was können wir denn sonst aussagen? - schon mit dem bloßen Gedanken der Ursache der Erscheinungswelt, dem bloßen Gedanken des Dings-ansich gegeben sein soll. Ich bin weit davon entfernt zu glauben, daß nicht ein anderer den Gedanken von dieser Wirklichkeit in fruchtbarerer Weise als ich verfolgen könnte. Doch wird niemand leugnen, daß unsere Erkenntnis der Welt und auch die Erkenntnis, zu welcher ÜBERWEG in seinem System der Logik eine treffliche Anleitung gibt, nichts mit jener Wirklichkeit zu tun hat. Oder meinte jemand sagen zu können, wie das, was in der genannten Weise als Ursache hinter den Erscheinungen eines Adlers, einer Ameise, des Kohlenstoffes, des Stickstoffes steckt, beschaffen ist, und wenn es ein Mehreres ist, wie diese sich unterscheiden? Und wenn es eine bare Narrheit wäre, den gekrümmten Schnabel und das scharfspähende Auge des ersten auch jener Ursache beizulegen usw., dann bliebe doch nichts übrig, als die elende Ausflucht, sie unterschieden sich dadurch, daß jenes jene und dieses diese Erscheinungen hervorbringt, bzw. hervorzubringen befähigt wäre. Gewiß ist also, daß die menschliche Erkenntnis, deren normative Gesetze ÜBERWEG aufstellt, oder die ich beschreiben will, nicht die Wirklichkeit trifft, sofern man darunter jene Ursache versteht, daß sie aber im anderen Fall noch weniger als ein Reproduzieren der Wirklichkeit bezeichnet werden kann, vielmehr ein Produzieren genannt werden muß. Nur die Abstraktion vermag ihm 2 Faktoren, die Sinneseindrücke und die bearbeitende Tätigkeit des Geistes zu unterscheiden. Tatsächlich sind sie beide stets vereint; wir kennen das eine nicht ohne das andere. Diese Produktion hat die Wissenschaft zu betrachten. Jeder Schritt über diese hinaus führt direkt zur Ursache. Die zwischen diese und jene mitten hineingestellte objektive wirkliche von Menschensinn und Verstand unabhängige Erscheinung ist eine Ausnahme, die ebenso willkürlich ist, wie unfruchtbar. Daß ÜBERWEG die Tätigkeit des Denkens bzw. Erkennens nicht zu definieren vermag, wundert mich nicht. Niemand kann es. Sie ist so sehr primär, so sehr Urerfahrung, wie alle einfachsten unmittelbaren Empfindungen oder wie der Begriff des Seins selbst. Nur das können wir behaupten, daß das Denken eine Tätigkeit des Menschen ist und zwar eine Tätigkeit, welche vorzugsweise an das Gehirn als  conditio sine qua non [Grundvoraussetzung - wp] geknüpft ist, und daß es eine Tätigkeit ist, welche jeder Mensch täglich unberechenbar oft (zum Teil unbewußt) vornimmt, und daß diese Akte nicht nur zeitlich und der Zahl nach unterschieden werden können, sondern auch in anderer Beziehung verschieden sind, doch aber um einer offenbaren Gleichheit willen unter ein und demselben Namen zusammengefaßt werden.

Müssen wir uns demnach auch darin einfinden, das Undefinierbare undefiniert zu lassen, so ist es des Erklärbaren doch noch so viel unerklärt, daß wir uns über einen Mangen an Arbeitsstoff nicht beklagen können. Nicht darauf kommt es an, kein letztes unerklärtes Element übrig zu lassen, sondern darauf, diese letzten naturnotwendig unerklärbare Elemente richtig zu finden und scharf auszusondern, um alles andere unter der Voraussetzung dieser desto gründlicherer und erfolgreicherer Prüfung zu unterwerfen. Fahren wir also in der begonnenen Begriffsbestimmung weiter fort, um das zu finden, was Gegenstand einer Wissenschaft vom Denken werden kann.

Denken ist eine Tätigkeit; wie aber läßt sich die Art dieser Tätigkeit bestimmen? Sehen wir von den fraglichen gewöhnlich dem Geist zugeschriebenen Tätigkeiten ab, so ist jede Tätigkeit klar eine Bewegung. Die Sprache hat aber noch mehr in dieses Wort hineingelegt, nämlich eine Andeutung über die Ursache der Bewegung. Tätigkeit nennen wir nur die Bewegung, deren Ursache wir uns in einem bewegten, bzw. sich bewegenden Ding selbst denken. So nennen wir den vom Wind bewegten Baum nicht tätig, könnten aber wohl sein Wachstum als Tätigkeit bezeichnen. Somit wären wir um die möglichen Arten einer Tätigkeit zu finden, auf den Begriff  Bewegung  hingewiesen.

Was ist nun Bewegung? ARISTOTELES hat eine Definition versucht, die jedoch in keiner Weise befriedigen kann; denn sie löst die Bewegung eigentlich nur in ihre Dynamis und ihre Energie auf. TRENDELENBURG, der die Bewegung, als würde er an  Fausts  "Im Anfang war die Tat" denken, zum Fundament seines Systems macht, erklärt diesen Begriff für undefnierbar. In der Tat ist es noch niemandem gelungen, ihn auf einfachere Bestandteile zurückzuführen. Alle Versuche mißlangen, denn die angeblichen Bestandteile hatten schon den Bewegungsbegriff als ihren Bestandteil in sich. Die Naturforscher erklären die Bewegung als Ortsveränderung. Eine Definition ist dies nun freilich nicht, denn das Wort "Veränderung"  schließt den Begriff der Bewegung oder des Werdens ein. Aber doch ist es nicht wertlos, daß als Erklärung das eigentliche Gebiet der Bewegung angegeben wird, der Raum. Die Bewegung ist das Anderswerden des Ortes, an dem sich ein Ding befindet. Eine andere Bewegung gibt es nicht; jeder andere Gebrauch dieses Wortes ist eine Übertragung. Es kann den Anschein haben, als hätte ich mit dem Wort Anderswerden selbst eine Auflösung in die Elemente Anders und Werden versucht. Das ist nicht der Fall. Auch das Werden in dem man gewöhnlich keine Ortsveränderung sieht, das Entstehen und Vergehen, ist nichts anderes, als wieder eine Ortsveränderung, als Bewegung. Jenes Wort ist nicht allgemeiner, nicht ansich klarer, als dieses. Am wichtigsten aber ist die Erkenntnis, daß die eigentliche Tat des Werdens und der Bewegung überhaupt nirgendwo ergriffen wird, vielmehr auch die schärftste Beobachtung nur eine stetige Verändertheit. Anderssein des Ortes wahrnehmen läßt. An einer anderen Stelle wird mehr darüber gesagt werden. Das Bemerkte genügt, um erkennen zu lassen, daß es keine Arten der Bewegung (und somit der Tätigkeit) als solcher geben kann. Wenigstens wenn wir an das Eigentümliche des Verhältnisses zwischen höheren und niederen Arten bei organischen Wesen denken, können wir die willkürliche Aufnahme dieser oder jener objektiven Bestimmungen in den nackten Bewegungsbegriff nicht als Bildung von Arten ansehen. Die Bewegung als solche bleibt absolut dieselbe, ob sie nach oben oder unten, rechts oder links, in geraden oder gebrochenen Linien, mit regelmäßiger oder unregelmäßiger Veränderung der Richtung, mit so oder so großer Geschwindigkeit geschieht; die Bewegung bleibt absolut dieselbe, ob der bewegte Gegenstand ein geschleuderter Stein, oder ausgehauchte Luft, oder ein in unseren Magen beförderter Bissen oder ein geschwungener Flügel ist; sie bleibt dieselbe ob nur ein Teil eines Dings sich bewegt, oder ob infolge dieser Bewegung das Ganze fortbewegt wird, ob der durchmessene Raum so oder so beschaffen ist, ob die Ursache der Bewegung im Bewegten selbst oder außerhalb gedacht wird, ob die Bewegung sichtbare Folgen hat oder nicht, ob der bewegte Gegenstand am Ende des durchmessenen Raums seine frühere Stellung behält und frei stehen bleibt oder ob er zu Boden fällt, ob er einen anderen Gegenstand trifft und diesem die Bewegung mitteilt und ob er ganz oder teilweise, für immer oder zeitweise, in den getroffenen Gegenstand eindringt, und ob dies unseren oder des Getroffenen Absichten und Wünschen entspricht oder nicht. Diese und andere Umstände sind es allein, welche die Unterschiede unserer Bewegungs- und Tätigkeitsbegriffe ausmachen. Was ist Essen und Trinken anderes, als die Bewegung bestimmter Substanzen durch bestimmte Bewegungswerkzeuge an einen bestimmten Ort? Daß diese Substanzen näherende sind, kann keine Art der Tätigkeit begründen. Was heißt Ernähren, wenn nicht die Bewegung der Teilchen gewisser Substanzen anstelle der eben entwichenen Stoffe in unseren Organen? Was heißt Schicken? Es ist eine Bewegung unserer Lippen oder Gesichtsmuskeln, auch wohl der Hand, welche die beabsichtigte Wirkung hat, daß ein Wesen, das daraus unseren Willen erkennt, diesem zufolge sich an einen bestimmten Ort hinbewegt. Was ist Sprechen anderes, als die bestimmte Bewegung der einzelnen Teile des Sprachapparates, durch welche die Luft in eine Bewegung versetzt wird, welche menschlichen Gehörsnerven als ein bestimmter Laut erscheint? Der gesprochene und verstandene Gedanke verlangt freilich eine andere Erklärung. Daß wir das Beste daran nicht sagen können, ist schon ausgemacht worden. Daß das Denken eine Tätigkeit, eine Bewegung ist, wurde nur ins Auge gefaßt, um mittels dieses Begriffs zu erkennen, was nun am Denken noch Gegenstand der Untersuchung werden kann. Es ist offenbar das Bewegte, bzw. die Bewegten, das Woher und Wohin der Bewegung und Ursache und Folge der Bewegung. Betrachten wir also nur die Erscheinung des Denkens, so haben wir innerhalb der Erscheinungen die Ursache für jede einzelne in ihrem Unterschied von den andern zu suchen. Die Ursache davon, daß überhaupt gedacht wird, und was nun eigentlich das denkende Subjekt ist, ob eine geistige Substanz, die wir vorzugsweise den Menschen nennen oder das Gehirn oder was sonst, gehört nicht zum Gegenstand dieser Untersuchung.
LITERATUR: Wilhelm Schuppe, Das menschliche Denken, Berlin 1870