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WILHELM DILTHEY
Die Typen der Weltanschauung
und ihre Ausbildung in den metaphysischen Systemen
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"Die Weltanschauungen sind nicht Erzeugnisse des Denkens. Sie entstehen nicht aus dem bloßen Willen des Erkennens. Die Auffassung der Wirklichkeit ist ein wichtiges Moment in ihrer Gestaltung, aber doch nur eines. Weltanschauungen gehen aus dem Lebensverhalten, der Lebenserfahrung, der Struktur unserer psychischen Totalität hervor. Die Erhebung des Lebens zum Bewußtsein in Wirklichkeitserkenntnis, Lebenswürdigung und Willensleistung ist die langsame und schwere Arbeit, welche die Menschheit in der Entwicklung der Lebensanschauungen geleistet hat."


Einleitung
Über den Widerstreit der Systeme

1.Unter den Gründen, welche dem Skeptizismus immer von Neuem Nahrung geben, ist einer der wirksamsten die Anarchie der philosophischen Systeme. Zwischen dem geschichtlichen Bewußtsein von der grenzenlosen Mannigfaltigkeit derselben und dem Anspruch eines jeden von ihnen auf Allgemeingültigkeit besteht ein Widerspruch, welcher viel stärker als jede systematische Beweisführung den skeptischen Geist unterstützt. Grenzenlos, chaotisch liegt die Mannigfaltigkeit der philosophischen Systeme hinter uns und breitet sich um uns aus. In jeder Zeit, seitdem sie sind, haben sie einander ausgeschlossen und bekämpft. Und keine Hoffnung zeigt sich, daß eine Entscheidung unter ihnen herbeigeführt werden könnte.

Die Geschichte der Philosophie bestätigt diese Wirkung des Widerstreits philosophischer Systeme, religiöser Anschauungen und sittlicher Prinzipien auf die Steigerung der Skepsis. Der Kampf der älteren griechischen Welterklärungen förderte die Philosophie des Zweifels im griechischen Aufklärungszeitalter. Als die Feldzüge ALEXANDERs und die Verbindung verschiedener Völker zu größeren Reichen die Verschiedenheiten der Sitten, der Religionen, der Lebens- und Weltansichten vor die Augen der Griechen brachten, bildeten sich die skeptischen Schulen, und sie erstreckten ihre zersetzenden Operationen auch auf die Probleme der Theologie - das Übel und die Theodicee [Rechtfertigung Gottes - wp], den Konflikt zwischen der Persönlichkeit der Gottheit und ihrer Unendlichkeit und Vollkommenheit - und auf die Annahmen über das sittliche Ziel des Menschen. Auch das Glaubenssystem der neueren europäischen Völker und ihre philosophische Dogmatik wurden in ihrer Allgemeingültigkeit von der Zeit ab ernsthaft erschüttert, als am Hof des Hohenstaufen FRIEDRICH II. Mohammedaner und Christen ihre Überzeugungen miteinander verglichen und die Philosophie von IBN ROSCHD [Averroes - wp] und ARISTOTELES in den Gesichtskreis der scholastischen Denker trat. Und seitdem das Altertum wieder erstand, griechische und römische Schriftsteller nach ihren wirklichen Motiven verstanden wurden und das Zeitalter der Entdeckungen die Mannigfaltigkeit der Klimate, der Völker und ihrer Denkarten auf unserem Planeten zunehmend kennen lehrte, verschwand völlig die Sicherheit der Menschen in den bisherigen festumgrenzten Überzeugungen. Heute werden die verschiedensten Arten von Glaube sorgfältig von Reisenden festgestellt, die machtvollen, großen Phänomene religiöser und metaphysischer Überzeugungen, bei den Priesterschaften des Ostens, in den griechischen Politien, in der arabischen Kultur werden von uns registriert und zergliedert. Wir blicken zurück auf ein unermeßliches Trümmerfeld religiöser Traditionen, metaphysischer Behauptungen, demonstrierter Systeme: Möglichkeiten aller Art, den Zusammenhang der Dinge wissenschaftlich zu begründen, dichterisch darzustellen oder religiös zu verkünden, hat der Menschengeist durch viele Jahrhunderte versucht und durchgeprobt, und die methodische, kritische Geschichtsforschung erforscht jedes Bruchstück, jeden Rest dieser langen Arbeit unseres Geschlechts. Eins der Systeme schließt das andere aus, eins widerlegt das andere, keines vermag sich zu beweisen: Nichts von der friedlichen Unterhaltung auf RAPHAELs Schule von Athen, welche der Ausdruck der eklektischen [Übernahme fremder Ideen - wp] Tendenz jener Tage war, finden wir in den Quellen der Geschichte. So ist der Widerspruch zwischen dem zunehmenden geschichtlichen Bewußtsein und dem Anspruch der Philosophien auf Allgemeingültigkeit immer härter geworden, immer allgemeiner die Stimmung einer vergnüglichen Neugier neuen philosophischen Systemen gegenüber, welches Publikum es wohl um sich zu sammeln und wielange es dasselbe wohl festzuhalten vermag.

2. Viel tiefer aber als die skeptischen Schlüsse aus der Gegensätzlichkeit menschlicher Meinungen reichen die Zweifel, welche aus der fortschreitenden Ausbildung des geschichtlichen Bewußtseins erwachsen sind. Ein geschlossener Typus Mensch, ausgestattet mit einer bestimmten Inhaltlichkeit, bildete die vorherrschende Voraussetzung des geschichtlichen Denkens der Griechen und Römer. Ebenso lag er der christlichen Lehre vom ersten und zweiten Adam, vom Menschensohn zugrunde. Von derselben Voraussetzung war noch das natürliche System des 17. Jahrhunderts getragen. Es entdeckte im Christentum ein abstraktes, dauerndes Paradigma der Religion: die natürliche Theologie; es abstrahierte die natürliche Rechtslehre aus der römischen Jurisprudenz und aus dem griechischen Kunstschaffen ein Muster des Geschmacks. So waren nach diesem natürlichen System in allen geschichtlichen Verschiedenenheiten beständige und allgemeine Grundformen der sozialen und rechtlichen Ordnungen, des religiösen Glaubens und der Sittlichkeit enthalten. Die Methode, aus der Vergleichung der geschichtlichen Lebensformen ein Gemeinsames abzuleiten, aus der Mannigfaltigkeit der Sitten, Rechtssätze und Theologien ein Naturrecht, eine natürliche Theologie und eine Vernunftmoral mittels des Begriffs eines höchsten Typus derselben herauszuheben - ein Verfahren, das von HIPPIAS durch die Stoa und das römische Denken hindurch sich entwickelt hatte, beherrschte noch das Jahrhundert der konstruktiven Philosophie. Die Auflösung dieses natürlichen Systems wurde vom analytischen Geist des 18. Jahrhunderts angebahnt. Er ging von England aus, wo der freieste Überblick über barbarische und fremde Lebensformen, Sitten und Denkweisen zusammentraf mit empiristischen Theorien und der Anwendung der zergliedernden Methode auf die Erkenntnistheorie, Moral und Ästhetik. Durch VOLTAIRE und MONTESQUIEU wurde dieser Geist nach Frankreich übertragen. HUME und D'ALEMBERT, CONDILLAC und DESTUTT de TRACY sahen in dem Bündel von Trieben und Assoziationen, als welches sie den Menschen auffaßten, grenzenlose Möglichkeiten, unter der Verschiedenheit des Klimas, der Sitten und der Erziehung die mannigfaltigsten Formen hervorzubringen. Der klassische Ausdruck dieser geschichtlichen Betrachtungsweise waren HUMEs "Natürliche Geschichte der Religion", seine "Dialoge über natürliche Religion". Und aus den Arbeiten dieses achtzehnten Jahrhunderts trat nun schon der Entwicklungsgedanke hervor, welcher das neunzehnte beherrschen sollte. Von BUFFON bis KANT und LAMARCK wurde die Erkenntnis von der Entwicklung der Erde, der Aufeinanderfolge verschiedener Lebensformen auf ihr erworben. Andererseits bildete sich in epochemachenden Arbeiten das Studium der Kulturvölker aus, und diese Arbeiten wandten überall von WINKELMANN, LESSING und HERDER ab den Gedanken der Entwicklung an. Zuletzt wurde im Stadium der Naturvölker das Mittelglied zwischen der naturwissenschaftlichen Evolutionslehre und den entwicklungsgeschichtlichen Erkenntnissen gewonnen, die auf Staatsleben, Religion, Recht, Sitten, Sprache, Dichtung und Literatur der Völker gegründet waren. So konnte nun der entwicklungsgeschichtliche Gesichtspunkt im Studium der ganzen natürlichen und historischen Entwicklung des Menschen durhgeführt werden, und der Typus  Mensch  löste sich auf in diesen Prozeß der Entwicklung.

Die Entwicklungslehre, die so entstand, ist notwendig verbunden mit der Erkenntnis von der Relativität jeder geschichtlichen Lebensform. Vor dem Blick, der die Erde und alle Vergangenheiten umspannt, schwindet die absolute Gültigkeit irgendeiner einzelnen Form von Leben, Verfassung, Religion oder Philosophie. So zerstört die Ausbildung des geschichtlichen Bewußtseins gründlicher noch als der Überblick über den Streit der Systeme den Glauben an die Allgemeingültigkeit irgendeiner der Philosophien, welche den Weltzusammenhang in zwingender Weise durch einen Zusammenhang von Begriffen auszusprechen unternommen haben. Die Philosophie muß nicht in der Welt, sondern im Menschen den inneren Zusammenhang ihrer Erkenntnisse suchen. Das von den Menschen gelebte Leben - das zu verstehen ist der Wille des heutigen Menschen. Die Mannigfaltigkeit der Systeme, welche den Weltzusammenhang zu erfassen strebten, steht nun mit dem Leben in einem offenbaren Zusammenhang; sie ist eine der wichtigsten und belehrendsten Schöpfungen desselben, und so wird dieselbe Ausbildung des geschichtlichen Bewußtseins, welche ein so zerstörendes Werk an den großen Systemen getan hat, uns hilfreich sein müssen, den harten Widerspruch zwischen dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit in jedem philosophischen System und der historischen Anarchie dieser Systeme aufzuheben.


I. Leben und Weltanschauung

1. Das Leben

Die letzte Wurzel der Weltanschauung ist das Leben. In unzähligen einzelnen Lebensläufen über die Erde verbreitet, in jedem Individuum wieder erlebt, und, da es als bloßer Augenblick der Gegenwart sich der Beobachtung entzieht, in der nachklingenden Erinnerung festgehalten, andererseits wie es sich in seinen Äußerungen objektiviert hat nach seiner ganzen Tiefe in Verständnis und Interpretation vollständiger erfaßbar als in jedem Innewerden und Auffassen des eigenen Erlebnisses - ist das Leben in unserem Wissen in unzähligen Formen uns gegenwärtig und zeigt doch überall dieselben gemeinsamen Züge. Unter seinen verschiedenen Formen hebe ich  eine  hervor. Ich erkläre hier nicht, ich teile nicht ein, ich beschreibe nur den Tatbestand, den jeder ansich beobachten kann. Jedes Denken, jede innere oder äußere Handlung tritt wie eine zusammengefaßte Spitze hervor und dringt vorwärts. Ich erlebe aber auch einen inneren Ruhestand; er ist Traum, Spiel, Zerstreuung, Zuschauen und leichte Regsamkeit - wie ein Untergrund des Lebens. Ich fasse in ihm andere Menschen und Sachen nicht nur auf als Wirklichkeiten, die mit mir und unter sich in einem ursächlichen Zusammenhang stehen: Lebensbezüge gehen von mir nach allen Seiten, ich verhalte mich zu den Menschen und Dingen, nehme ihnen gegenüber Stellung, erfülle ihre Forderungen an mich und erwarte etwas von ihnen. Die einen beglücken mich, erweitern mein Dasein, vermehren meine Kraft, die andern üben einen Druck auf mich aus und schränken mich ein. Und wo irgendwie die Bestimmtheit der Einzelnen vorwärts drängenden Richtung dem Menschen Raum dafür läßt, bemerkt und fühlt er diese Beziehungen. Der Freund ist ihm eine Kraft, die sein eigenes Dasein erhöht, jedes Familienmitglied hat einen bestimmten Platz in seinem Leben, und alles, was ihn umgibt, wird von ihm verstanden als Leben und Geist, die sich daran objektiviert haben. Die Bank vor seiner Tür, der schattige Baum, Haus und Garten haben in dieser Objektivation ihr Wesen und ihre Bedeutung. So schafft das Leben von jedem Individuum aus sich seine eigene Welt.


2. Die Lebenserfahrung

Aus der Besinnung über das Leben entsteht die Lebenserfahrung. Die einzelnen Geschehnisse, die das Bündel von Trieben und Gefühlen in uns bei seinem Zusammentreffen mit der umgebenden Welt und dem Schicksal hervorruft, werden in ihr zu einem gegenständlichem und allgemeinen Wissen zusammengenommen. Wie die menschliche Natur immer dieselbe ist, so sind auch die Grundzüge der Lebenserfahrung allen gemeinsam. Die Vergänglichkeit der menschlichen Dinge und inmitten derselben unsere Kraft, die Stunde zu genießen; in starken oder auch in beschränkten Naturen ein Zug, diese Vergänglichkeit durch den Aufbau eines festen Gerüstes ihrer Existenz zu überwinden, und in weicheren oder grüblerischen Naturen das Ungenüge daran und die Sehnsucht nach einem wahrhaft Dauernden in einer unsichtbaren Welt; die vordringende Macht der Leidenschaften, die wie ein Traum Phantasiebilder schaffen, bis die Jllusion in ihnen sich auflöst. So gestaltet sich die Lebenserfahrung verschieden in den Einzelnen. Ihren gemeinsamen Untergrund in allen bilden die Anschauungen von der Macht des Zufalls, der Korruptibilität von allem, was wir besitzen, lieben oder auch hassen und fürchten, und von der beständigen Gegenwart des Todes, der allgewaltig für jeden von uns die Bedeutung und den Sinn des Lebens bestimmt.

In der Kette der Individuen entsteht die allgemeine Lebenserfahrung. Aus der regelmäßigen Wiederholung der einzelnen Erfahrungen bildet sich im Nebeneinander und der Abfolge der Menschen eine Überlieferung von Ausdrücken für sie, und diese erhalten im Lauf der Zeit immer größere Genauigkeit und Sicherheit. Ihre Sicherheit beruth auf der immer zunehmenden Zahl der Fälle, aus denen wir schließen, auf der Unterordnung derselben unter vorhandene Verallgemeinerungen und auf beständiger Nachprüfung. Und auch wo im einzelnen Fall die Sätze der Lebenserfahrung nicht ausdrücklich zum Bewußtsein gebracht werden, wirken sie auf uns. Alles, was uns als Sitte, Herkommen, Tradition beherrscht, ist in solchen Lebenserfahrungen begründet. Immer aber, in den einzelnen Erfahrungen wie in den allgemeinen, ist die Art der Gewißheit und der Charakter der Formulierung derselben durchaus verschieden von wissenschaftlicher Allgemeingültigkeit. Das wissenschaftliche Denken kann das Verfahren nachrechnen, auf dem seine Sicherheit beruth, und es kann seine Sätze genau formulieren und begründen: die Entstehung unseres Wissens vom Leben kann nicht so nachgerechnet und feste Formeln derselben können nicht entworfen werden.

Unter diese Lebenserfahrungen gehört auch das feste Beziehungssystem, in welchem die Selbigkeit des Ich mit anderen Personen und den äußeren Gegenständen verbunden ist. Die Realität dieses Selbst, der fremden Personen, der Dinge um uns und die regelmäßigen Beziehungen zwischen ihnen bilden das Gerüst der Lebenserfahrung und des in ihr sich bildenden empirischen Bewußtseins. Das Ich, die Personen und die Sachen um uns können als die Faktoren des empirischen Bewußtseins bezeichnet werden, und es hat seinen Bestand in den Relationen dieser Faktoren zueinander. Und welche Prozeduren das philosophische Denken auch vornehmen mag, in denen es von den einzelnen Faktoren oder ihren Beziehungen abstrahiert: sie bleiben die bestimmenden Voraussetzungen des Lebens selbst, unzerstörbar wie dieses und durch kein Denken veränderlich, da sie in den Lebenserfahrungen, welche die Realität der Außenwelt und meine Beziehungen zu ihr begründen, sind die wichtigsten, daß sie mein Dasein einschränken, einen Druck auf es ausüben, den ich nicht beseitigen kann, daß sie meine Intentionen auf eine unerwartete und nicht zu ändernde Art hemmen. Der Inbegriff meiner Induktionen, die Summe meines Wissens beruhen auf diesen im empirischen Bewußtsein gegründeten Voraussetzungen.


3. Das Rätsel des Lebens

Aus den wechselnden Lebenserfahrungen tritt dem auf das Ganze gerichteten Auffassen das Antlitz des Lebens hervor, widerspruchsvoll, Lebendigkeit zugleich und Gesetz, Vernunft und Willkür, immer neue Seiten darbietend, und so im Einzelnen vielleicht klar, im ganzen vollkommen rätselhaft. Die Lebensbezüge und die in ihnen gegründeten Erfahrungen sucht die Seele zu einem Ganzen zusammenzunehmen und vermag es nicht. Der Mittelpunkt aller Unverständlichkeiten sind Zeugung, Geburt, Entwicklung und Tod. Der Lebendige weiß vom Tod und kann ihn doch nicht verstehen. Vom ersten Blick auf einen Toten ab ist dem Leben der Tod unfaßlich, und hierauf beruth zu allernächst unsere Stellung zur Welt als zu etwas anderem, Fremdartigem und Furchtbarem. So liegt in der Tatsache des Todes ein Zwang zu Phantasievorstellungen, die diese Tatsache verständlich machen sollen; Totenglaube, Ahnenverehrung, Kult der Abgeschiedenen erzeugen die Grundvorstellungen des religiösen Glaubens und der Metaphysik. Und die Fremdartigkeit des Lebens nimmt zu, indem der Mensch in Gesellschaft und Natur den permanenten Kampf, die beständige Vernichtung des einen Geschöpfes durch das andere, die Grausamkeit dessen, was in der Natur waltet, erfährt. Seltsame Widersprüche treten hervor, die in der Lebenserfahrung immer stärker zu Bewußtsein kommen und nie aufgelöst werden: die allgemeine Vergänglichkeit und der Wille in uns zu einem Festen, die Macht der Natur und die Selbständigkeit unseres Willens, die Begrenztheit jedes Dings in Zeit und Raum und unser Vermögen, jede Grenze zu überschreiten. Diese Rätsel haben die ägyptischen und babylonischen Priester so gut beschäftigt wie heute die Predigt der christlichen Geistlichen, HERAKLIT und HEGEL, den  Prometheus  des AISCHYLOS so gut wie GOETHEs  Faust. 


4. Bildungsgesetz und Weltanschauungen

Jeder große Eindruck zeigt dem Menschen das Leben von einer eigenen Seite; dann tritt die Welt in eine neue Beleuchtung: indem solche Erfahrungen sich wiederholen und verbinden, entstehen unsere Stimmungen dem Leben gegenüber. Von einem Lebensbezug aus erhält das ganze Leben eine Färbung und Auslegung in den affektiven oder grüblerischen Seelen - die universalen Stimmungen entstehen. Sie wechseln, wie das Leben dem Menschen immer neue Seiten zeigt: aber in den verschiedenen Individuen herrschen nach ihrem Eigenwesen gewisse Lebensstimmungen vor. Die Einen haften an den handfesten, sinnlichen Dingen und leben im Genuß des Tages, andere verfolgen mitten durch den Zufall und Schicksal große Zwecke, die ihrem Dasein Dauer geben; es gibt schwere Naturen, welche die Vergänglichkeit dessen, was sie lieben und besitzen, nicht ertragen und denen so das Leben wertlos und wie aus Eitelkeiten und Träumen gewebt erscheinen will, oder die über diese Erde hinaus nach etwas Bleibendem suchen. Unter den großen Lebensbestimmungen sind die umfassendsten der Optimismus und der Pessimismus. Sie spezialisieren sich aber in mannigfachen Nuancen. So erscheint die Welt dem, der sie als Zuschauer ansieht, fremdartig, ein buntes flüchtiges Schauspiel; dagegen wer nach einem Lebensplan wohlgeordnet sein Leben lenkt, dem ist dieselbe Welt vertraut, heimisch: er steht auf festen Füßen in ihr und ist ihr zugehörig.

Diese Lebensstimmungen, die zahllosen Nuancen der Stellung zur Welt bilden die untere Schicht für die Ausbildung der Weltanschauungen. In diesen vollziehen sich dann aufgrund der Lebenserfahrungen, in denen die mannigfachen Lebensbezüge der Individuen zur Welt wirksam sind, die Versuche der Auflösung des Lebensrätsels. Gerade in ihren höheren Formen macht sich  ein  Verfahren besonders geltend - das Verständnis eines unfaßlichen Gegebenen durch ein deutlicheres. Das Deutliche wird zum Verständigungsmittel oder Erklärungsgrund für das Unfaßliche. Die Wissenschaft analysiert, und nun entwickelt sie an den so isolierten homogenen Tatbeständen deren allgemeine Beziehungen; Religion, Poesie und urwüchsige Metaphysik sprechen Bedeutung und Sinn des Ganzen aus. Jene erkennt, diese verstehen. Eine solche Auslegung der Welt, welche ihr vielartiges Wesen durch ein einfacheres verdeutlicht, setzt schon in der Sprache ein, und sie entwickelt sich in der Metapher als der Vertretung einer Anschauung durch eine andere verwandte, die sie in irgendeinem Sinn einleuchtender macht, in der Personifikation, welche durch Vermenschlichung nahebringt und verständlich macht, oder durch Analogieschlüsse, die aufgrund von Verwandtschaft von einem Bekannten aus das weniger Bekannte bestimmen und sich so schon dem wissenschaftlichen Denken annähern. Überall wo Religion, Mythos, Dichtung oder urwüchsige Metaphysik verständlich und eindrucksvoll zu machen suchen, geschieht es durch dasselbe Verfahren.


5. Die Struktur der Weltanschauung

Alle Weltanschauungen enthalten, wenn sie eine vollständige Auflösung des Lebensrätsels zu geben unternehmen, regelmäßig dieselbe Struktur. Diese Struktur ist jedesmal ein Zusammenhang, in welchem auf der Grundlage eines Weltbildes die Fragen nach Bedeutung und Sinn der Welt entschieden und hieraus Ideal, höchstes Gut, oberste Grundsätze für die Lebensführung abgeleitet werden. Sie ist durch die psychische Gesetzlichkeit bestimmt, nach welcher die Wirklichkeitsauffassung im Lebensverlauf die Unterlage für die Wertung der Zustände und Gegenstände in Lust und Unlust, Gefallen und Mißfallen, Billigung und Mißbilligung ist und diese Lebenswürdigung dann wieder die untere Schicht für die Willensbestimmung bildet. Unser Verhalten geht regelmäßig durch diese drei Bewußtseinslagen hindurch, und darin macht sich nun die eigenste Natur des psychischen Lebens geltend, daß in einem solchen Wirkungszusammenhang die untere wirkende Schicht fortbesteht: die Beziehungen, die in den Verhaltensweisen liegen, nach denen ich über Gegenstände urteile, an ihnen Lust habe und auf etwas zu Verwirklichendes gerichtet bin, bestimmen den Aufbau dieser verschiedenen Schichten übereinander, und so konstituieren sie die Struktur der Gebilde, in denen der ganze Wirkungszusammenhang des Seelenlebens seinen Ausdruck findet. Das lyrische Gedicht zeigt in einfachster Form diesen Zusammenhang - eine Situation, eine Folge von Gefühlen und daraus oftmals hervortretend ein Verlangen, Streben, Handeln. Jedes Lebensverhältnis entwickelt sich zu einem Gefüge, in dem dieselben Verhaltensweisen regelmäßige Gebilde, in welchen sich diese Struktur des Seelenlebens ausdrückt. Ihre Unterlage ist immer ein Weltbild: es entsteht aus unserem auffassenden Verhalten, wie es in der gesetzmäßigen Stufenfolge des Erkennens verläuft. Wir beobachten innere Vorgänge und äußere Gegenstände. Wir klären die so entstehenden Wahrnehmungen auf, indem wir mittels der elementaren Denkleistungen Grundverhältnisse des Wirklichen an ihnen deutlich machen; gehen die Wahrnehmungen vorüber, so werden sie abgebildet und geordnet in unserer Vorstellungswelt, die uns über die Zufälligkeit der Wahrnehmungen erhebt; die in diesen Stufen eine zunehmende Festigkeit und Freiheit des Geistes, seine Herrschaft über die Wirklichkeit vollendet sich dann in der Region der Urteile und Begriffe, in der Zusammenhang und Wesen des Wirklichen allgemeingültig erfaßt wird. Wenn eine Weltanschauung zur vollen Entwicklung gelangt, so geschieht es zunächst regelmäßig in diesen Stufen der Wirklichkeitserkenntnis. Und nun baut sich auf sie ein anderes typisches Verhalten, in einer analogen gesetzmäßigen Stufenfolge. Im Gefühl unserer selbst genießen wir den Wert unseres Daseins; wir schreiben Gegenständen und Personen um uns einen Wirkungswert zu, weil sie unser Dasein erhöhen und erweitern: nun bestimmen wir diese Werte nach den in den Gegenständen enthaltenen Möglichkeiten, uns zu nutzen oder zu schaden; wir schätzen sie ab, und wir suchen für diese Abschätzung einen unbedingten Maßstab. so erhalten Zustände, Personen und Dinge im Verhältnis zum Ganzen der Wirklichkeit eine Bedeutung, und dieses Ganze selbst erhält einen Sinn. Indem diese Stufen des Gefühlverhaltens durchlaufen werden, bildet sich gleichsam eine zweite Schicht in der Struktur der Weltanschauung; das Weltbild wird Grundlage der Lebenswürdigung und des Weltverständnisses. Und nach derselben Gesetzlichkeit des seelischen Lebens entsteht aus der Lebenswürdigung und dem Weltverständnis eine oberste Bewußtseinslage: die Ideale, das höchste Gut und die obersten Grundsätze, in denen die Weltanschauung erst ihre praktische Energie empfängt - gleichsam die Spitze, mit welcher sie sich einbohrt in das menschliche Leben, in die äußere Welt und in die Tiefen der Seele selbst. Die Weltanschauung wird nun bildend, gestaltend, reformierend. Und auch diese höchste Schicht der Weltanschauung entwickelt sich durch verschiedene Stufen hindurch. Aus der Intention, dem Streben, der Tendenz entwickeln sich die dauernden Zwecksetzungen, die auf die Realisation einer Vorstellung gerichtet sind, das Verhältnis von Zwecken und Mitteln, die Wahl zwischen den Zwecken, die Auslese der Mittel und schließlich die Zusammenfassung der Zwecksetzungen in einer höchsten Ordnung unseres praktischen Verhaltens - einem umfassenden Lebensplan, einem höchsten Gut, obersten Normen des Handelns, einem Ideal der Gestaltung des persönlichen Lebens und der Gesellschaft.

Das ist die Struktur der Weltanschauung. Was im Lebensrätsel verworren, als ein Bündel von Aufgaben enthalten ist, wird hier in einen bewußten und notwendigen Zusammenhang von Problemen und Lösungen erhoben; dieser Fortgang erfolgt in gesetzmäßig von innen bestimmten Stufen: daraus folgt, daß jede Weltanschauung eine Entwicklung hat und in dieser zur Explikation des in ihr Enthaltenen gelangt: so empfängt sie Dauer, Festigkeit und Macht, allmählich, im Verlauf der Zeit: sie ist ein Erzeugnis der Geschichte.


6. Die Mannigfaltigkeit
der Weltanschauungen

Die Weltanschauungen entwickelns sich unter verschiedenen Bedingungen. Das Klima, die Rassen, die durch Geschichte und Staatsbildung bestimmten Nationen, die zeitlich bedingten Abgrenzungen nach Epochen und Zeitaltern, in denen die Nationen zusammenwirken, verbinden sich zu den speziellen Bedingungen, die auf die Entstehung der Mannigfaltigkeit in den Weltanschauungen wirken. Das Leben, das unter solchen spezialisierten Bedingungen ensteht, ist sehr verschiedenartig, und ebenso ist es der Mensch selbst, der das Leben auffaßt. Und zu diesen typischen Verschiedenheiten treten die der einzelnen Individualitäten, ihres Milieus und ihrer Lebenserfahrung. Wie die Ere von unzähligen Formen der Lebewesen bedeckt ist, zwischen denen sich ein beständiger Streit um die Existenz und den Raum zur Ausbreitung abspielt, so entwickelt sich in der Menschenwelt die Gestalten der Weltanschauung und ringen miteinander um die Macht über die Seele.

Da mach sich nun ein gesetzliches Verhältnis geltend, nach welchem die Seele, bedrängt von einem ruhelosen Wechsel der Eindrücke und der Schicksale und von der Macht der äußeren Welt, nach innerer Festigkeit streben muß, um sich all dem entgegenzusetzen: so wird sie vom Wechsel, von der Unbeständigkeit, dem Gleiten und Fließen ihrer Verfassung, ihrer Lebensanschauungen fortgeführt zu dauernden Würdigungen des Lebens und festen Zielen. Die das Lebensverständnis fördernden, zu brauchbaren Lebenszielen führenden Weltanschauungen erhalten sich und verdrängen die geringeren. So findet eine Auslese statt zwischen ihnen. Und in der Abfolge der Geschlechter entwickeln sich nun die lebensfähigken unter diesen Weltanschauungen zu immer vollkommenerer Gestalt. Wie dieselbe Struktur in der Mannigfaltigkeit der organischen Lebewesen wirksam ist, so sind auch die Weltanschauungen gleichsam nach demselben Schema gebildet.

Das tiefste Geheimnis ihrer Spezifikation liegt in der Regelhaftigkeit, welche der teleologische Zusammenhang des Seelenlebens der besonderen Struktur der Weltanschauungsgebilde aufdrückt.

Mitten in der scheinbaren Zufälligkeit dieser Gebilde besteht in jedem derselben ein Zweckzusammenhang, der aus der Abhängigkeit der im Lebensrätsel enthaltenen Fragen voneinander, insbesondere aus dem konstanten Verhältnis zwischen Weltbild, Lebenswürdigung und Willenszielen, entspringt. Eine gemeinsame Menschennatur und eine Ordnung der Individuation steht in festen Lebensbezügen zur Wirklichkeit, und diese ist immer und überall dieselbe, das Leben zeigt immer dieselben Seiten.

In diese Regelhaftigkeit der Struktur der Weltanschauung und ihrer Differenzierung zu einzelnen Formen tritt nun ein unberechenbares Moment ein - die Variationen des Lebens, der Wechsel der Zeitalter, die Veränderungen in der wissenschaftlichen Lage, das Genie der Nationen und der einzelnen: unaufhörlich wechselt hierdurch das Interesse an den Problemen, die Macht gewisser Ideen, die aus dem geschichtlichen Leben erwachsen und es beherrschen: immer neue Kombinationen von Lebenserfahrung, Stimmungen, Gedanken machen sich in den Weltanschauungsgebilden nach dem geschichtlichen Ort, den sie einnehmen, geltend: sie sind irregulär nach ihren Bestandteilen und deren Stärke und Bedeutung im Ganzen. Dennoch sind sie nach der Gesetzmäßigkeit in den Tiefen der Struktur und der logischen Regelhaftigkeit nicht Aggregate, sondern Gebilde.

Und nun zeigt sich weiter, wenn man diese Gebilde einem vergleichenden Verfahren unterwirft, daß sie sich zu Gruppen ordnen, unter denen eine gewisse Verwandtschaft besteht. Wie Sprachen, Religionen, Staaten mittels der vergleichenden Methode gewisse Typen, Entwicklungslinien und Regeln der Umwandlungen erkennen lassen: so kann auch an den Weltanschauungen dasselbe aufgewiesen werden. Diese Typen gehen durch die historisch bedingte Singularität der einzelnen Gebilde hindurch. Sie sind überall durch die Eigenheit des Gebietes bedingt, in dem sie entstehen. Aber aus dieser sie ableiten zu wollen, war ein schwerer Irrtum der konstruktiven Methode. Nur das vergleichende geschichtliche Verfahren kann sich der Aufstellung solcher Typen, ihrer Variationen, Entwicklungen, Kreuzungen nähern. Die Forschung muß sich hierbei gegenüber ihren Ergebnissen jede Möglichkeit einer Fortbildung fortdauernd offen halten. Jede Aufstellung ist nur vorläufig. Sie ist und bleibt nur ein Hilfsmittel, historisch tiefer zu sehen. Und mit dem vergleichenden historischen Verfahren verbindet sich überall die Vorbereitung desselben durch eine systematische Betrachtung und die Interpretation des Geschichtlichen aus dieser. Auch diese psychologische und geschichtssystematische Auslegung des Historischen ist den Fehlern des konstruktiven Denkens ausgesetzt, das ein einfaches Verhältnis in jedem Gebiet der Anordnung zugrunde legen möchte, gleichsam einen in ihm waltenden Bildungstrieb.

Ich fasse das bisher Erkannte in einem Hauptsatz zusammen, den die vergleichende historische Betrachtung an jedem Punkt bestätigt. Die Weltanschauungen sind nicht Erzeugnisse des Denkens. Sie entstehen nicht aus dem bloßen Willen des Erkennens. Die Auffassung der Wirklichkeit ist ein wichtiges Moment in ihrer Gestaltung, aber doch nur eines. Weltanschauungen gehen aus dem Lebensverhalten, der Lebenserfahrung, der Struktur unserer psychischen Totalität hervor. Die Erhebung des Lebens zum Bewußtsein in Wirklichkeitserkenntnis, Lebenswürdigung und Willensleistung ist die langsame und schwere Arbeit, welche die Menschheit in der Entwicklung der Lebensanschauungen geleistet hat.

Dieser Hauptsatz der Weltanschauungslehre erhält seine Bestätigung, wenn wir den Gang der Geschichte im Großen und Ganzen ins Auge fassen, und durch diesen Gang wird zugleich eine wichtige Konsequenz unseres Satzes bestätigt, die uns zum Ausgangspunkt der vorliegenden Abhandlung zurückführt. Die Ausbildung der Weltanschauungen ist bestimmt von einem Willen zur Festigkeit des Weltbildes, der Lebenswürdigung, der Willensleistung, der sich aus dem dargelegten Grundzug der Stufenfolge in der psychischen Entwicklung ergibt. Religion wie Philosophie suchen Festigkeit, Wirkungskraft, Herrschaft, Allgemeingültigkeit. Aber die Menschheit ist auf diesem Weg nicht einen Schritt weitergekommen. Der Kampf der Weltanschauungen untereinander ist an keinem Hauptpunkt zu einer Entscheidung gelangt. Die Geschichte vollzieht eine Auslese zwischen ihnen, aber ihre großen Typen stehen selbstmächtig, unbeweisbar und unzerstörbar nebeneinander aufrecht da. Sie können keiner Demonstration ihren Ursprung verdanken, da sie von keiner Demonstration aufgelöst werden können. Die einzelnen Stufen und die speziellen Gestaltungen eines Typus werden widerlegt, aber ihre Wurzel im Leben dauert und wirkt fort und bringt immer neue Gebilde hervor.


II. Die Typen der Weltanschauung in
Religion, Poesie und Metaphysik

Ich beginne mit einem Unterschied in den Weltanschauungen, welcher durch die Kulturgebiete bedingt ist, in denen sie auftreten.

Die Grundlage der Kultur bilden die Gebiete der Wirtschaft, des gesellschaftlichen Zusammenlebens, des Rechts und des Staates. In ihnen herrscht überall eine Arbeitsteilung, nach welcher die einzelne Person an einem bestimmten geschichtlichen Ort ihres Wirkens eine bestimmte Leistung vollzieht. Der Wille ist hier eingespannt in die so gegebenen begrenzten Aufgaben, welche ihm der Zweckzusammenhang eines Gebietes anweist. Die Wissenschaft führt in diesem praktischen Zusammenhang des Lebens durch die Erkenntnis eine rationale Regelung der Arbeit herbei; so steht sie im engsten Zusammenhang mit der Praxis, und da auch sie dem Gesetz der Arbeitsteilung unterliegt, setzt sich jeder Forscher in einem bestimmten Gebiet und an einer bestimmten Stelle der Erkenntnisarbeit eine begrenzte Aufgabe. Ja, die Philosophie selbst ist in einem Teil ihrer Funktionen dieser Arbeitsteilung unterworfen. Das religiöse, dichterische oder metaphysische Genie dagegen lebt in einer Region, in der es der gesellschaftlichen Bindung, der Arbeit an beschränkten Aufgaben, dem Sich-Unterordnen unter das in den Schranken der Zeit und der historischen Lage Erreichbare entnommen ist. Jede Rücksicht auf eine solche Bindung verfälscht sein Verständnis des Lebens, das ganz unbefangen und souverän dem Gegebenen gegenübertreten soll. Es wird unwahrhaft schon durch die Einschränkung des Blickes, die Rücksicht auf eine Zeitlage - durch irgendeine Tendenz. In einer solchen Region der Freiheit entstehen die wertvollen und mächtigen Weltanschauungen und bilden sich fort.

Diese Weltanschauungen sind aber in einem religiösen, einem künstlerischen und metaphysischen Genie nach ihrem Bildungsgesetz, ihrer Struktur und ihren Typen unterschieden.


1. Die religiöse Weltanschauung

Die religiösen Weltanschauungen entspringen aus einem eigenen Lebensbezug des Menschen. Jenseits des Beherrschbaren, in welchem der Naturmensch als Krieger, Jäger, Bearbeiter und Benutzer des Bodens durch physische Einwirkungen in einer rationalen Zwecksetzung Veränderungen in der Außenwelt hervorbringt, erstreckt sich das Gebiet des einem solchen Wirken nicht Zugänglichen, der Erkenntnis nicht Erreichbaren. Und wie ihm nun doch von da Wirkungen auszugehen scheinen, die ihm Jagdglück, kriegerischen Erfolg, eine gute Ernte in die Hand geben, wie er sich in Krankheit, Wahnsinn, Alter, Tod, Hinsterben der Frau, der Kinder, der Herde von einem Unbekannten abhängig findet: entsteht die Technik, dieses Unfaßliche, durch physische Tätigkeit nicht zu Beherrschende durch seine Gebete, seine Gaben, seine Unterordnung zu beeinflussen. Er möchte die Kräfte höherer Wesen in sich aufnehmen, ein gutes Verhältnis zu ihnen gewinnen, sich mit ihnen vereinigen. Die Handlungen, die hierauf gerichtet sind, machen den ursprünglichen Kultus aus. Es entsteht das Handwerk des Zauberers, Medizinmannes oder Priesters, und wie dieser Stand sich immer fester ordnet, sammeln sich in ihm Kunstgriffe, Erfahrungen, Wissen, und es bildet sich in ihm eine Lebensweise, die ihn absondert von den anderen Gliedern der Gesellschaft. So entsteht in den kleinen abgeschlossenen Gemeinschaften der Horde und des Stammes eine Tradition der im Verkehr mit den höheren Wesen entwickelten religiösen Lebenserfahrung und der geistlichen Lebensordnung, und von den magischen Kulthandlungen geht die Entwicklung dieser abergläubischen Religiosität allmählich zu einem religiösen Prozeß fort, in welchem Gemüt und Wille des Menschen durch eine innerliche Disziplin dem göttlichen Willen unterworfen werden. Das entscheidende Moment liegt darin, wie auf der Grundlage der immer und überall wiederkehrenden Erlebnisse von Geburt, Tod, Krankheit, Traum, Wahnsinn, von schlimmen und heilsamen Eingriffen des Dämonischen in den Lebensverlauf, von seltsamen Mischungen von Ordnung in der Natur, die immer ein teleologisches Verhältnis der Auffassenden zu ihr bedeutet, und von Zufall, Zerstörungskraft und Widerstreit sich die primitiven religiösen Ideen entwickeln. Das zweite Ich im Menschen, die göttlichen Kräfte in Himmel, Sonne und Gestirnen, das Dämonische in Wald, Sumpf und Gewässer - diese durch Lebensbezüge bestimmten Grundvorstellungen sind die Ausgangspunkte eines affektiv bedingten Phantasielebens, das durch immer neue religiöse Erfahrungen genährt wird. Die Wirkungskraft des Unsichtbaren ist die Grundkategorie des elementaren religiösen Lebens. Das analogische Denken kombiniert die religiösen Ideen zur Lehren vom Ursprung der Welt und des Menschen und von der Herkunft der Seele.

Also die aus dem Übersinnlichen stammende Wirkungskraft in Dingen und Menschen gibt denselben ihre religiöse Bedeutung. Diese Dinge und Menschen sind sinnlich, sichtbar, zerstörbar, eingeschränkt, und doch sind sie ein Sitz göttlicher oder dämonischer Wirkungen. Die Welt ist erfüllt von einem religiösen Verhältnis einzelner konkreter, endlicher Dinge und Personen zum Unsichtbaren, nach welchem deren religiöse Bedeutung in der in ihm geborgenen Wirkungskraft des Unsichtbaren enthalten ist. Heilige Stätten, heilige Personen, Götterbilder, Symbole, Sakramente sind einzelne Fälle dieses Verhältnisses: es bedeutet in der Religion, was das Symbolische in der Kunst und das Begriffliche in der Metaphysik bedeutet. Und die Tradition wird innerhalb des religiösen Verhältnisses gerade durch die Dunkelheit ihres Ursprungs zu einer Macht von ausnehmender Stärke.

Dies ist die Grundlage der ganzen weiteren religiösen Entwicklung. Während der Gemeingeist in den früheren Stufen vorwiegend wirksam ist, vollzieht sich der Fortgang zu höheren Stufen durch das religiöse Genie, in den Mysterien, im Einsiedlerleben, im Prophetentum. Zu den einzelnen Wirkungen zwischen dem Menschen und den höheren Wesen tritt im religiösen Genie ein innerliches Verhältnis des ganzen Menschen zu denselben. Diese konzentrierte religiöse Erfahrung nimmt nun die elementaren religiösen Ideen zu religiösen Weltanschauungen zusammen, und dieselben haben ihre Wesen darin, daß hier aus dem Verhältnis zum Unsichtbaren die Deutung der Wirklichkeit, die Lebenswürdigung und das praktische Ideal hervorgehen. Sie sind in der bildlichen Rede und den Glaubenslehren enthalten. Sie beruhen auf einer Lebensverfassung. In Gebet und Meditation entwickeln sie sich.

Alle typischen Gebilde dieser religiösen Weltanschauungen haben von ihrem ersten Ansatz her in sich den Gegensatz wohltätiger oder böser Wesen, des sinnlichen Daseins und der höheren Welt.

Die Immanenz der Weltvernunft in den Lebensordnungen und dem Naturlauf, das geistige All-Eine, das in allem Geteilten dessen Zusammenhang, Wahrheit und Wert ist, und in das daher das Einzeldasein zurückkehren muß, der schöpferische Gotteswille, der die Welt hervorbringt und den Menschen nach seinem Bilde schafft oder im Gegensatz zu einem Reich des Bösen steht und für diesen Kampf die Frommen in seinen Dienst nimmt - das sind die Haupttypen der mannigfachen religiösen Weltanschauungen. Und wie nun vom ersten Ansatz an der Verkehr mit dem Unsichtbaren abgesondert ist von der Arbeit und dem Genuß in den Ordnungen des irdischen gesellschaftlichen Daseins, so sind diese religiösen Weltanschauungen immer im Streit mit der weltlichen Lebensauffassung: in ihr macht sich nun in diesem Widerstreit vielfach ein urwüchsiger Naturalismus geltend: gerade aus dem Gegensatz zu den religiösen Weltanschauungen erhält er seine Energie und Macht.

So haben wir in religiösen Zeiten den Kampf zwischen Typen vor uns, die eine entschiedene Verwandtschaft mit denen der Metaphysik zeigen. Der jüdisch-christliche Monotheismus, die chinesische und indische Form des Pantheismus, im Gegensatz dazu die naturalistische Lebensstellung und Denkweise sind die Vorstufen und Ansatzpunkte für die weitere Entwicklung der Metaphysik. Immer aber bildet der religiöse Verkehr mit seiner Magie, seinen religiösen Kräften, Personen und Heiligtümern, seiner Bilderschrift religiöser Symbolik den Hintergrund der religiösen Weltanschauungen, wie das Volk die breite, untere Schicht des kirchlichen Gemeinlebens ausmacht. In diesen Weltanschauungen selbst erhält sich ein dunkler, spezifisch religiöser Kern, den die begriffliche Arbeit der Theologen niemals aufklären und begründen kann. Die Einseitigkeit einer Erfahrung, die aus dem bittenden, fordernden, das Seine opfernde Verkehr mit den höheren Wesen entspringt und aus den Lebensbezügen der Seele zu ihnen die Prädikate dieser Wesen gewinnt, kann niemals überwunden werden.

Hieraus entsteht ein Verhältnis, nach welchem die religiöse Weltanschauung die Vorbereitung der metaphysischen ist, aber nie in diese aufgehen kann. Die jüdisch-christliche Lehre vom rein geistigen, frei schaffenden Gott und den nach ihm gebildeten Seelen setzte sich um in den monotheistischen Idealismus der Freiheit, die verschiedenen Formen der religiösen All-Einheitslehre bereiteten den Panentheismus [die Welt ist in Gott eingeschlossen - wp] der Metaphysik vor, in der indischen Spekulation, in den Mysterien und der Gnosis entwickelte sich das Schema des Hervorgangs der mannigfaltigen Welt aus dem Einen und der Rückkehr zu ihm, welches die Neuplatoniker, BRUNO, SPINOZA und SCHOPENHAUER entwickelt haben. Und ebenso deutlich ist der Zusammenhang, der vom Monotheismus zur scholastischen Theologie der jüdischen, arabischen und christlichen Denker und von ihr zu DESCARTES, WOLFF, KANT und den Philosophen der Reaktionszeit im 19. Jahrhundert hinüberführt. Aber wie sehr auch die theologische Begriffsarbeit an den religiösen Weltanschauungen diese der Metaphysik nähern mag: ihr Bildungsgesetz und ihre Struktur trennt sie dennoch immer vom metaphysischen Denken. Der einseitige Gesichtspunkt der religiösen Lebensverfassung und Weltanschauung ist ihre Schranke. Das religiöse Gemüt hat mit seinen Erfahrungen immer recht. Aber der fortschreitende Geist erkennt, daßß die Fixierung der Seele auf die übersinnliche Welt, dieses historische Produkt der priesterlichen Technik, einst den Idealismus mächtig, wenn auch in künstlicher Verschiebung, aufrecht erhielt und die Disziplinierung des Lebens, wenn auch in asketischer Härte, durchsetzte, daß aber das Fortrücken des Geistes in der Geschichte freiere Stellungen zu Leben und Welt aufsuchen muß - Stellungen, die nicht an die aus dunklen fragwürdigen Ursprüngen stammenden Traditionen gebunden sind.


2. Die Stellungen der Weltanschauung
in der Dichtung

In der Religion erhielten Dinge und Menschen ihre Bedeutsamkeit durch den Glauben an die Anwesenheit einer übersinnlichen Wirkungskraft in ihnen. Die Bedeutsamkeit des Kunstwerks liegt darin, daß ein Singulares, in den Sinnen Gegebenes aus dem Nexus des Erwirktseins und Wirkens ausgesondert und zum ideellen Ausdruck der Lebensbezüge erhoben wird, wie sie aus Farbe und Gestalt, Symmetrie und Proportion, Tonverbindungen und Rhythmus, seelischem Vorgang und Geschehnis zu uns sprechen. Liegt nun hierin eine Tendenz, eine Weltanschauung auszubilden? Das künstlerische Schaffen hat ansich mit einer solchen nichts gemein; aber das Verhältnis der Lebensverfassung des Künstlers zu seinem Werk hat hier doch eine sekundäre Beziehung zwischen Kunstwerk und Weltanschauung herbeigeführt. Die Kunst entfaltete sich zuerst unter der Einwirkung der Religion. Der religiöse Stoffkreis ist ihr nächster Gegenstand; Zwecke der religiösen Gemeinschaft machen sich in Architektur und Musik geltend: in diesem Zusammenhang hat die Kunst den Gehalt der Religiosität in die Äternität [Ewigkeit - wp] erhoben, in welcher die vergänglichen Dogmen verschwinden, und aus diesem Gehalt ist die innere Form der erhabenen Kunst hervorgegangen, wie das die religiöse Epik des GIOTTO in der Malerei, die große kirchliche Architektur und die Musik von BACH und HÄNDEL beweisen. Und das macht nun den geschichtlichen Gang des Verhältnisses der Kunst zu den Weltanschauungen aus, daß nach dieser religiösen Vertiefung der Kunst in ihr die Lebensverfassung der Künstler zu einem freien Ausdruck gekommen ist. Dies wird nicht im Hineinlegen einer Lebensanschauung in das Kunstwerk zu suchen sein, sondern in der inneren Form der künstlerischen Gebilde. Ein bemerkenswerte Versucht ist gemacht worden, dies an der Malerei nachzuweisen und die Wirkung der typischen Lebensverfassungen, aus denen die naturalistische, heroische und panentheistische Weltanschauung entspringt, an der Form malerischer Werke aufzuzeigen. Ein ähnliches Verhältnis könnte auch im musikalischen Schaffen dargelegt werden. Und wenn nun geistesmächtige Künstler wie MICHELANGELO, BEETHOVEN, RICHARD WAGNER aus einem inneren Antrieb zur Ausbildung einer Weltanschauung fortschreiten, wird diese den Ausdruck ihrer Lebensverfassung in der künstlerischen Form verstärken.

Unter den Künsten hat nun aber die Dichtung ein besonderes Verhältnis zur Weltanschaung. Denn das Medium, in dem sie wirksam ist, die Sprache, ermöglicht ihr einen lyrischen Ausdruck und eine epische oder dramatische Darstellung von allem, was erblickt, gehört, erlebt werden kann. Ich versuche hier nicht, Wesen und Leistung der Dichtung auszusprechen. Indem sie ein Geschehnis aus dem Nexus [Zusammenhang - wp] der Willensbezüge herauslöst und seine Repräsentation in dieser Welt des Scheins zu einem Ausdruck der Natur des Lebens umbildet, befreit sie die Seele von der Last der Wirklichkeit und offenbart ihr zugleich deren Bedeutung. Indem sie dem durch Schicksal und eigene Lebensentscheidungen in die Schranken einer Lebensbestimmtheit eingeschlossenen Menschen die geheime Sehnsucht befriedigt, Lebensmöglichkeiten, die er nicht realisieren konnte, in der Phantasie durchzuführen, erweitert sie sein Selbst und den Horizont seiner Lebenserfahrungen. Sie öffnet ihm den Blick in eine höhere und stärkere Welt. In all dem aber kommt das Grundverhältnis zum Ausdruck, auf dem die Poesie beruth: das Leben ist ihr Ausgangspunkt; Lebensbezüge zu Menschen, Dingen, Natur werden deren Kern für sie; so entstehen die universalen Lebensstimmungen in dem Bedürfnis, die aus den Lebensbezügen stammenden Erfahrungen zusammenzunehmen, und der Zusammenhang des in den einzelnen Lebensbezügen Erfahrenen ist das dichterische Bewußtsein von der Bedeutung des Lebens. Solche universale Lebensstimmungen liegen dem  Hiob  und den Psalmen, den Chören der attischen Tragödie, den Sonetten DANTEs und SHAKESPEAREs, dem grandiosen Schlußteil der  Göttlichen Komödie,  der großen Lyrik von GOETHE, SCHILLER und den Romantikern und dem  Faust  GOETHEs, den  Nibelungen  WAGNERs und dem  Empedokles  HÖLDERLINs zugrunde. Die Poesie will danach nicht Wirklichkeit erkennen wie die Wissenschaft, sondern die Bedeutsamkeit des Geschehnisses, der Menschen und Dinge sehen lassen, die in den Lebensbezügen liegt; so konzentriert sich hier das Lebensrätsel in einem inneren Zusammenhang dieser Lebensbezüge, der aus Menschen, Schicksalen, Lebensumgebung gewoben ist. In jeder großen Epoche der Dichtung vollzieht sich von Neuem in gesetzmäßigen Stufen der Fortgang von Glaube und Sitten um sie her, die sich aus der allgemeinen Lebenserfahrng von Gemeinschaften bilden, zu der Aufgabe, das Leben von Neuem aus ihm selbst verständlich zu machen. Das war der Weg von HOMER zu den attischen Tragikern, vom unselbständigen katholischen Glauben zur ritterlicher Lyrik und Epik und vom modernen Leben zu SCHILLER, BALZAC, IBSEN. Diesem Fortgang entspricht die Aufeinanderfolge der dichterischen Formen, in der sich die Epik bildet, dann das Drama die höchste Konzentration vollzieht, welche den Zusammenhang der vom Leben geschaffenen Bezüge von Handlung, Charakter und Schicksal in einer Lebensauffassung erzeugt, und der Roman eine grenzenlose Fülle des Lebens ausbreitet und darin ein Bewußtsein von der Bedeutung des Lebens ausdrückt.

Wir folgern! Der Ausgang der Dichtung vom Leben führt sie direkt dazu, im Geschehnis eine Lebensanschauung auszusprechen. Diese Lebensanschauung entsteht dem Dichter aus der Natur des Lebens selbst, aufgefaßt von seiner eigenen Lebensverfassung aus. Sie entwickelt sich in der Geschichte der Dichtung, in der diese sich schrittweise ihrem Ziel nähert, das Leben aus ihm selber zu verstehen, indem sie die großen Eindrücke desselben in völliger Freiheit auf sich wirken läßt. Da wendet nun das Leben der Poesie immer neue Seiten zu. Dichtung zeigt nun die grenzenlosen Möglichkeiten, das Leben zu sehen, zu werten und schaffend fortzugestalten. Das Geschehnis wird so zum Symbol, aber nicht für einen Gedanken, sondern für einen im Leben geschauten Zusammenhang - geschaut von der Lebenserfahrung des Poeten aus. So sehen STENDHAL und BALZAC im Leben ein aus der Natur selbst absichtslos, in einem dunklen Trieb geschaffenes Gewebe von Jllusionen, Leidenschaften, Schönheit und Verderben, in dem der starke Wille seiner selbst die Sieg behält; GOETHE sieht ihn ihm eine gestaltende Kraft, welche die organischen Gebilde, die Entwicklung der Menschen, wie die Ordnungen der Gesellschaft in einem wertvollen Zusammenhang vereinigt; CORNEILLE und SCHILLER sehen in ihm den Schauplatz heroischen Handelns. Und einer jeden dieser Lebensverfassungen entspricht eine innere Form der Dichtung. Von da ist nur ein Schritt zu den großen Typen der Weltanschauung, und der Zusammenhang der Literatur mit den philosophischen Bewegungen führt einen BALZAC, GOETHE, SCHILLER zu dieser höchsten Vollendung des Lebensverständnisses. So bereiten Typen der dichterischen Weltanschauung die der Metaphysik vor, oder sie vermitteln deren Einfluß auf die ganze Gesellschaft.


3. Die Typen der Weltanschauung
in der Metaphysik

Alle Fäden laufen nun zusammen zur Lehre von der Struktur, Typen und Entwicklung der Weltanschauungen in der Metaphysik. Ich fasse die Verhältnisse zusammen, die hier entscheidend sind.

1. Der ganze Vorgang der Entstehung und der Festigung der Weltanschauungen drängt zu der Forderung, sie zu einem allgemeingültigen Wissen zu erheben. Auch in den Dichtern von höchster Denkkraft scheinen die großen Eindrücke immer wieder dem Leben eine neue Beleuchtung mitzuteilen: der Zug nach Festigung führt über sie hinaus. Im Kern der Weltreligionen bleibt etwas Bizarres und Extremes, das aus den gesteigerten religiösen Erlebnissen, aus der in der priesterlichen Technik angelegten Fixierung der Seele auf das Unsichtbare stammt und der Vernunft unzugänglich ist. Die Orthodoxie versteift sich darauf, Mystik und Spritualismus suchen es zurückzuübertragen in das Erleben, der Rationalismus will es begreifen und muß es zersetzen: so wird der Wille zur Herrschaft in den Weltreligionen, der sich auf die innere Erfahrung der Gläubigen, Tradition und Autorität gestützt hatte, abgelöst durch die Forderung der Vernunft, ihr gemäß die Weltanschauungen umzuformen und auf sie ihre Geltung zu gründen. Wenn die Weltanschauung so zu einem begrifflichen Zusammenhang erhoben, wenn dieser wissenschaftlich begründet wird, und er so mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit auftritt, so entsteht die Metaphysik. Die Geschichte erweist, daß überall, wo sie auftritt, die religiöse Entwicklung sie vorbereitet, daß die Dichtung sie beeinflußt und die Lebensverfassung der Nationen, deren Würdigung des Lebens und ihre Ideale auf sie wirken. Der Will zu einem allgemeingültigen Wissen gibt dieser neuen Form der Weltanschauung eine eigene Struktur.

Wer könnte sagen, an welchem Punkt das Erkenntnisstreben, das in allen Zweckzusammenhängen der Gesellschaft wirksam ist, Wissenschaft wird? Das mathematische und astronomische Wissen der Babylonier und Ägypter ist doch erst in den ionischen Kolonien von den praktischen Aufgaben und aus dem Zusammenhang mit dem Priestertum losgelöst und selbständig gemacht worden. Und wie nun die Forschung das Ganze der Welt zu ihrem Gegenstand machte, traten die werdende Philosophie und die entstehenden Wissenschaften in die engste Beziehung zueinander. Mathematik, Astronomie und Erdkunde wurden Mittel der Welterkenntnis. Das alte Problem der Auflösung des Lebensrätsels beschäftigte die Pythagoreer oder HERAKLIT wie die Priester des Ostens. Und wenn die vordringende Macht der Naturwissenschaften das Problem der Naturerklärung zum Mittelpunkt der Philosophie in den Kolonien machte, so wurden im weiteren Verlauf der Philosophie alle im Welträtsel enthaltenen großen Fragen in den philosophischen Schulen diskutiert; eben auf die innere Beziehung von Wirklichkeitserkenntnis, Lebensrichtung und Willensleitung in den Einzelnen und der Gesellschaft, kurz auf die Ausbildung einer Weltanschauung waren sie alle gerichtet.

Die Struktur der Weltanschauungen in der Metaphysik war zunächst durch ihren Zusammenhang mit der Wissenschaft bestimmt. Das sinnliche Weltbild wurde umgeformt in das astronomische; die Welt des Gefühls und der Willenshandlungen wurde vergegenständlicht in Begriffen von Werten, Gütern, Zwecken und Regeln; die Forderung der begrifflichen Form und der Begründung führte die Erforscher des Welträtsels auf Logik und Erkenntnistheorie als erste Grundlagen; die Arbeit an der Lösung selbst drang von den bedingten und begrenzten Gegebenheiten vor zu einem allgemeinen Sein, einer ersten Ursache, einem höchsten Gut und einem letzten Zweck; die Metaphysik wurde System, und dieses ging durch die Bearbeitung ungenügender Vorstellungen und Begriffe, wie sie in Leben und Wissenschaft sich ausgebildet hatten, zu Hilfsbegriffen fort, die alle Erfahrungen überschritten.

Neben das Verhältnis der Metaphysik zur Wissenschaft trat nun weiter das zur weltlichen Kultur. Indem die Philosophie sich dem Geist jedes Zweckzusammenhangs in der Kultur hingibt, gewinnt sie aus ihr neue Kräfte und teilt ihr zugleich die Energie ihres Grundgedankens mit. Sie stellt den Wissenschaften ihre Verfahrensweisen und ihren Erkenntniswert fest; die unmethodischen Lebenserfahrungen und die Literatur über sie werden zu einer allgemeinen Würdigung des Lebens ausgebildet; die Grundbegriffe des Rechts, wie sie aus der Praxis des Rechtsgeschäfts hervorgegangen sind, erhebt sie zu einem einheitlichen Zusammenhang; die Sätze über die Funktionen des Staates, die Formen der Verfassung und deren Abfolge, die aus der Technik des politischen Lebens entsprungen sind, setzt sie zu den höchsten Aufgaben der menschlichen Gesellschaft ins Verhältnis; die Dogmen unternimmt sie zu beweisen, oder wo ihr dunkler Kern dem begrifflichen Denken unzugänglich ist, vollzieht sie an diesem ihr weltgeschichtliches Zerstörungswerk; Formen und Regeln der Kunstübung rationalisiert sie von einem Zweck der Kunst aus: überall will sie die Leitung der Gesellschaft durch das Denken durchsetzen.

Und nun das Letzte. Jedes dieser metaphysischen Systeme ist durch den Ort bedingt, den es in der Geschichte der Philosophie einnimmt; es ist von einer Lage der Probleme abhängig und von den Begriffen bestimmt, die aus ihr hervorgehen.

So entsteht die Struktur dieser metaphysischen Systeme - der logische Zusammenhang in ihnen und zugleich ihre vielfach bedingte Irregularität, das Repräsentative, das eine bestimmte Lage des wissenschaftlichen Denkens in bestimmten Systemen zum Ausdruck bringt, und zugleich das Singulare. Daher wird jedes große metaphysische System ein vielstrahliges Ganzes, das jeden Teil des Lebens, dem es angehört, erleuchtet.

Ein einziges allgemeingültiges System der Metaphysik - das ist die Tendenz dieser ganzen großen Bewegung. Die aus den Tiefen des Lebens stammende Differenzierung der Metaphysik erscheint diesen Denkern als ein zufälliger und subjektiver Zusatz, der ausgeschieden werden muß. Die ungeheure Arbeit, die auf die Schöpfung eines einmütigen beweisbaren Begriffszusammenhangs gerichtet ist, in dem das Lebensrätsel dann methodisch aufgelöst wäre, gewinnt eine selbständige Bedeutung; in der Entwicklung zu diesem Ziel erhält jedes System durch die Lage der Begriffsarbeit seinen Ort. Und der Verlauf dieser Arbeit vollzieht sich in den Kulturländern Europas, zunächst in den Staaten des Mittelmeers, dann in den germanisch-romanischen Staaten seit der Renaissance - und zwar in einer oberen Schicht, die nur zeitweise bei dieser Arbeit von der unter ihr herrschenden Religiosität beeinflußt wird und sich immer mehr einer solchen Einwirkung zu entziehen strebt.

2. In diesem Zusammenhang treten nun Unterschiede an den Systemen auf, welche im rationalen Charakter der metaphysischen Arbeit gegründet sind. Die einen derselben bezeichnen Stadien in ihrer Entwicklung, wie der von Dogmatismus und Kritizismus. Andere Unterschiede gehen durch den ganzen Verlauf hindurch; sie entspringen aus dem Unternehmen der Metaphysik, das in Wirklichkeitsauffassung, Lebenswürdigung und Zwecksetzung Enthaltene ist einem Zusammenhang darzustellen, und ihr Gegenstand sind die Möglichkeiten, solche Hauptprobleme aufzulösen. Faßt man die Begründungen der Metaphysik ins Auge, so treten uns hier die Gegensätze von Empirismus und Rationalismus, von Realismus und Idealismus entgegen. Die Bearbeitung der gegebenen Wirklichkeit wird von den entgegengesetzten Begriffen des Einen und Vielen, des Werdens und des Seins, der Kausalität und der Teleologie aus vollzogen, und dem entsprechen Unterschiede an den Systemen. Die verschiedenen Gesichtspunkte, unter denen das Verhältnis des Weltgrundes zur Welt und der Seele zum Leib aufgefaßt wird, drücken sich in den Standpunkten des Deismus und des Pantheismus, Materialismus und Spiritualismus aus. Von den Problemen der praktischen Philosophie aus werden andere Unterschiede gemacht, unter denen ich den Eudämonismus und seine Fortbildung im Utilitarismus und die Doktrin von einer unbedingten Regel der moralischen Welt heraushebe. Alle diese Unterschiede haben ihre Stelle in den Einzelgebieten der Metaphysik, und sie bezeichnen Möglichkeiten, von entgegengesetzten Begriffen aus diese Gebiete dem rationalen Denken zu unterwerfen. Sie können alle im Zusammenhang so einer systematischen Arbeit als Hypothesen angesehen werden, durch welche der metaphysische Geist sich einem allgemeingültigen System annähert.

Und so sind schließlich die Versuche hervorgetreten, die metaphysischen Systeme unter diesem Gesichtspunkt zu klassifizieren. Von ihnen entspricht den in jenen Unterschieden vorherrschenden Entgegensetzungen der Begriffe in der Reflexion, welche in der Natur dieser metaphysischen Begriffsbildung selbst gegründet ist, am besten eine Zweiteilung der Systeme, mit dem Gegensatz des realistischen und des idealistischen Standpunktes oder einem ähnlichen.

Wem könnte die Bedeutung entgehen, welche die Begriffsarbeit der Philosophie auf den verschiedensten Gebieten geleistet hat? Sie bereitet die unabhängigen Wissenschaften vor; sie faßt sie zusammen. Ich habe hierüber früher ausführlich gesprochen. Aber das, was diese Leistungen der Metaphysik von der Arbeit der positiven Wissenschaften sondert, ist der Wille, den wissenschaftlichen Methoden, die sich für die Einzelgebiete des Wissens ausgebildet haben, den Zusammenhang des Universums und des Lebens selbst zu unterwerfen. Im Schluß auf das Unbedingte überschreiten sie die Grenzen der Verfahrensweisen der Einzelwissenschaften.

3. An diesem Punkt kann nun der Grundgedanke klar gemacht werden, von dem überhaupt mein Versuch einer Weltanschauungslehre ausgegangen ist, und der auch diese Arbeit bestimmt. Hinter die Richtung der Metaphysiker auf ein einheitliches allgemeingültiges System, hinter die von ihr bedingten Unterschiede, welche die Denker trennen, und schließlich die Zusammenfassung dieser Unterschiede in Klassifikationen führt und das  geschichtliche Bewußtsein  zurück. Dieses macht den tatsächlich bestehenden Widerstreit der Systeme in der Gesamtverfassung derselben zu seinem Gegenstand. Es sieht diese Gesamtverfassungen in einem Zusammenhang mit dem Verlauf der Religionen und der Dichtung. Es zeigt, wie aller metaphysischen Begriffsarbeit nicht ein Schritt vorwärts zu einem einheitlichen System geglückt ist. So sieht man den Widerstreit der metaphysischen Systeme schließlich  im Leben selbst gegründet,  der Lebenserfahrung, den Stellungen zum Lebensproblem. In diesen Stellungen ist die Mannigfaltigkeit der Systeme und zugleich die Möglichkeit, in ihnen gewisse  Typen  zu unterscheiden, angelegt. Jeder dieser Typen befaßt  Wirklichkeitserkenntnis, Lebenswürdigung und Zwecksetzung.  Sie sind unabhängig von der Form der Antithese, in welcher von entgegengesetzten Standpunkten aus Grundprobleme aufgelöst werden.

Das Wesen dieser Typen tritt ganz deutlich hervor, wenn man auf die großen metaphysischen Genies blickt, welche die in ihnen wirksame persönliche Lebensverfassung in gültigkeitsfordernden, begrifflichen Systemen ausgedrückt haben. Die typische Lebensverfassung derselben ist eins mit ihrem Charakter. Sie drückt sich in ihrer Lebensordnung aus. Sie erfüllt alle ihre Handlungen. Sie äußert sich in ihrem Stil. Und wenn ihre Systeme selbstverständlich bedingt sind von der Lage der Begriffe, in der sie auftreten, so sind, historisch gesehen, ihre Begriffe doch nur Hilfsmittel für die Konstruktion und den Beweis ihrer Weltanschauung.

SPINOZA beginnt seinen Traktat über den Weg zur vollkommenen Erkenntnis mit der Lebenserfahrung von der Nichtigkeit der Leiden und Freuden, der Furcht und der Hoffnung des täglichen Lebens, er faßt den Entschluß, das wahre Gut aufzusuchen, das ewige Freude gewährt, und er löst dann in seiner Ethik diese Aufgabe durch die Aufhebung der Knechtschaft unter die Leidenschaften in der Erkenntnis Gottes, als des der Welt innewohnenden Grundes der vielen vergänglichen Dinge, und durch die aus dieser Erkenntnis folgende intellektuelle unendliche Liebe zu ihm, kraft deren Gott, der unendliche, im beschränkten menschlichen Geist sich selber liebt. FICHTEs ganze Entwicklung ist der Ausdruck einer typischen Seelenverfassung - der moralischen Selbständigkeit der Person gegenüber der Natur und dem ganzen Weltlauf, und so ist sein letztes Wort, mit dem die große Willenshandlung dieses stürmischen Lebens abbricht, das Ideal des heroischen Menschen, in dem die höchste Leistung der menschlichen Natur, die in der Geschichte, als dem Schauplatz des moralischen Lebens vollbracht wird, verbunden ist mit der überirdischen Ordnung der Dinge. Und die unermeßliche geschichtliche Wirkung des EPIKUR, der intellektuell so weit hinter den größten Denkern zurückstand, liegt in der reinen Klarheit, mit der er eine typische Seelenverfassung zum Ausdruck gebracht hat. Sie liegt in der gelassenen heiteren Unterordnung des Menschen unter den gesetzlichen Zusammenhang der Natur und in einem sinnenfreudigen und doch bedachten Genuß ihrer Gaben.

So verstanden ist jede echte Weltanschauung eine Intuition, die aus dem Darinnensein im Leben selbst entsteht. Die frühen Aufzeichnungen HEGELs [haym], die aus der Berührung seiner religiös-metaphysischen Erfahrungen mit der Auslegung urchristlicher Dokumente entstanden, sind ein Beispiel solcher Intuitionen. Dieses Darinnensein im Leben vollzieht sich in den Stellungnahmen zu ihm, in den Lebensbezügen. Das ist auch der tiefe Sinn des verwegenen Wortes, daß der Dichter der wahre Mensch ist. Ich wage nicht, hier weiterzugehen. Wir kennen das Bildungsgesetz nicht, nach welchem aus dem Leben die Differenzierung der metaphysischen Systeme hervorgeht. Wenn wir uns der Auffassung der Weltanschauungstypen nähern wollen, so müssen wir uns an die Geschichte wenden. Und das Wesentliche, was Geschichte hier zu lehren hat, ist doch das Erfassen des Zusammenhangs von Leben und Metaphysik, das Sichhineinversetzen in das Leben als Mittelpunkt dieser Systeme, das Bewußtsein der großen durch die Geschichte hindurchgehenden Zusammenhänge von Systemen, in denen ein typisches Verhalten besteht - mögen sie dann abgegrenzt und eingeteilt werden, wie man will. Das Tiefersehen vom Leben aus, ein den großen Intentionen der Metaphysik Nachgehen ist das, worum es sich handelt.

Dies ist nun auch der Sinn, in welchem ich eine Unterscheidung von drei Haupttypen vorlege. Es gibt kein anderes Hilfsmittel für eine solche Einteilung als  den historischen Vergleich.  Sein Ausgangspunkt ist, daß jeder metaphysische Kopf dem Lebensrätsel gegenüber von einem bestimmten Punkt aus gleichsam dessen Knäuel aufwickelt; dieser Punkt ist durch seine Stellung zum Leben bedingt, und von ihm aus formiert sich die singulare Struktur seines Systems. Wir können die Systeme nur zu Gruppen ordnen nach dem Verhältnis von Abhängigkeit, Verwandtschaft, gegenseitiger Anziehung oder Abstoßung. Hier aber macht sich eine Schwierigkeit geltend, der alle geschichtliche Vergleichung unterliegt. Sie muß in einer Antizipation einen Maßstab anlegen für ihre Auswahl der Züge in dem, was sie vergleicht, und dieser Maßstab bestimmt dann das weitere Verfahren. So hat das, was ich hier vorlege, einen ganz provisorischen Charakter. Das Kernhafte darin kann allein die Intuition sein, die aus einer langen Beschäftigung mit den metaphysischen Systemen hervorgegangen ist. Schon die Fassung derselben in eine geschichtliche Formel kann nur subjektiven Charakter haben. Ob man dann anders logisch arrangiert, indem man etwa die beiden Formen des Idealismus zusammennimmt oder den objektiven Idealismus mit dem Naturalismus vereinigt - diese und ähnliche Möglichkeiten stelle ich jedem frei. Diese Typenunterscheidung soll ja nur dienen, tiefer in die Geschichte zu sehen und zwar vom Leben aus.
LITERATUR: Max Frischeisen-Köhler, Hg., Weltanschauung, Berlin 1911