tb-1ra-1p-4ra-1P. SternHerbartR. HönigswaldH. LanzJ. Jeansdow    
 
PAUL NATORP
Quantität und Qualität
[in Begriff, Urteil und gegenständlicher Erkenntnis]
[ 1 / 2 ]

"Das, was erkannt werden soll, der Gegenstand, ist, eben sofern es erkannt werden soll, ein noch nicht Gegebenes, folglich ein X. Gegenstand heißt: das zu Erkennende; was er demgemäß sein soll, wird sich allein ableiten lassen aus dem Gesetz des Erkennens. Insofern ist nicht bloß der Gegenstand, sondern selbst der Begriff von ihm noch nicht gegeben, sondern erst gesucht."

"Sage ich dies ist A, so liegt in der Kopula ist gleichsam eine Festsetzung, die ich bei mir selber treffe und die für mein Denken gültig bleiben soll. Sie hat bereits den Charakter des Allgemeinen darin, daß, wann immer ich diese selbe einmalige Datum X wiederum denke, ich ihm dieselbe Bestimmung seines Was beilegen muß. Jede Bestimmung ist die Setzung einer Identität, und jede Identitätssetzung schließt die synthetische Funktion, die Einheit des Mannigfaltigen, den Grund der Allgemeinheit, schon in sich. Es ist also ein Schein, daß die Allgemeinheit abgeleitet wird."

"Die Allgemeinheit liegt schon in jeder bestimmten Auffassung des Einzelnen, sodaß sich ein jeder Begriff, ein jedes Urteil von vornherein in den Gesichtspunkt des Allgemeinen stellt, auch wenn es kein Allgemeines nach der logischen Klassifikation ist, dennoch sozusagen unter einem universellen Gesichtspunkt gedacht wird".


Vorbemerkung

Eine in den Philosophischen Monatsheften, Bd. XXIII, Seite 257f veröffentlichte logische Studie schloß mit der Ankündigung einer Fortsetzung. Diese wurde zunächst verschoben mit Rücksicht auf die 1888 erschienene "Einleitung in die Psychologie", durch welche einer der Punkte, deren Behandlung noch in Aussicht gestellt wurde, seine Erledigung gefunden hat. Überhaupt aber möchte ich auf die dort angewandte Betrachtungsart nicht zurückkommen. Es scheint so unfruchtbar, bloß über Logik zu reden; förderlicher ist es vielleicht, gleich selbst ein Stück Logik zu liefern, ein solches übrigens, nach welchem man meine Vorstellung von ihrer gesamten Aufgabe und Behandlungsweise wird beurteilen können. Man möge also an der folgenden Darstellung prüfen, 1) inwiefern die Art der Begründung, deren ich mich bediene, nicht subjektiv, nicht psychologisch, nicht genetisch, nicht kausal, oder etwa teleologisch, sondern rein objektiv ist; objektiv im gleichen Sinn, wie die Mathematik objektiv verfährt, wenn sie unternimmt, sich der Grundbegriffe und Grundsätze, die zu ihren Deduktionen notwendig und hinreichend sind, zu versichern. Wer etwa auch das für die Psychologie, für eine ursächliche Erklärung oder für Teleologie hält, möge an den §§ 4-6 erproben, ob diese Meinung standhält. Es wird 2) durch die gegenwärtige Untersuchung hoffentlich deutlicher werden, das die frühere Abhandlung nicht erst begründen, sondern als zugestanden nehmen zu sollen glaubte, obgleich manche auch heutige Logiker es vielleicht nicht ohne weiteres einräumen: daß es eine formale Logik - die zumindest Wissenschaft sein, d. h. ihre Aufstellungen auch beweisen, nicht bloß technische Anweisungen ohne Ableitung aus einem wahren Grund erteilen will - gar nicht geben kann, es sei denn, daß sie auf der Logik der gegenständlichen Erkenntnis (einer transzendentalen Logik) beruth oder nur einen Ausschnitt daraus darstellt, dessen Trennung von dem Ganzen, in das er sachlich hineingehört, dann wiederum bloß technische, nicht wissenschaftliche Gründe haben könnte.

Ich schreite nun sofort zu meinem Vorhaben.

I. Die Abstraktion
der synthetischen Einheit

1. Die Aufgabe ist:. die logische (transzendentale) Deduktion der Quantität und Qualität in Begriff und Urteil wie in der Erkenntnis des Gegenstands, d. h. ihre Zurückleitung bis zu den letzten auf einem rein objektiven Weg der Untersuchung erreichbaren Voraussetzungen.

Daß eine Deduktion ohne alle Voraussetzungen beginnt, wäre ein widersinniges Verlangen. Vorausgesetzt wird in jedem Fall, außer dem, was zum Verständnis der Aufgabe gehört, irgendein Letztes, woraus deduziert wird. Voraussetzungslosigkeit kann nur in dem Sinne gefordert werden, daß nicht mehr als das Unerläßliche vorausgesetzt, nichts, was schon zur Lösung gehört, vorweggenommen wird. Es ist daher unser Erstes, dasjenige Minimum an Voraussetzungen festzustellen, welches zur verlangten Deduktion notwendig und hinreichend ist.

2. Die allgemeine Aufgabe, der die unsrige sich als besonderes Problem unterordnet, ist: die letzten im vorher erklärten Sinn objektiven Grundlagen der Erkenntnis überhaupt festzustellen. Vorausgesetzt wird also jedenfalls ein allgemeiner Begriff von Erkenntnis.

Darin liegt sofort Zweierlei:
    1) Was heißt Erkennen? und
    2) was ist das zu Erkennende?
Das Zweite mag vorerst zur Seite gestellt werden. Das, was erkannt werden soll, der Gegenstand, ist, eben sofern es erkannt werden soll, ein noch nicht Gegebenes, folglich ein X. Es muß auch der Sinn dieses X, der Sinn der Forderung der Gegenständlichkeit der Erkenntnis im Voraus feststehen, sonst ist die Aufgabe selbst eine unverständliche. Doch soll - um Mißverständnissen vorzubeugen, denen die vorige Abhandlung vielleicht noch nicht hinlänglich begegnet ist - auch darüber für jetzt nichts mehr zugrunde gelegt werden als das eben Gesagte: daß der Sinn dieses X sich nur in Bezug auf die Gleichung der Erkenntnis (um im Bild zu bleiben), nicht abseits dieser Beziehung, bestimmen läßt. Gegenstand heißt: das zu Erkennende; was er demgemäß sein soll, wird sich allein ableiten lassen aus dem Gesetz des Erkennens. Insofern ist nicht bloß der Gegenstand, sondern selbst der Begriff von ihm noch nicht gegeben, sondern erst gesucht; es steht nur fest, daß er da zu suchen ist, wo allein er gefunden werden kann und notwendig gefunden werden muß: in der Erkenntnis, nicht außerhalb von ihr. Außerhalb der Erkenntnis wissen wir von keinem Gegenstand, nicht einmal von ihm als Aufgabe; Aufgabe ist er eben nur für die Erkenntnis.

Wer sich nun nicht mit mir auf diesen Boden begeben mag, wer meint, wenn auch nicht die Gegenstände, so doch den Gegenstand schon voraussetzen zu müssen, um von Erkenntnis auch nur reden zu dürfen, mit dem suche ich mich vielleicht nachher zu verständigen. Für den Anfang reicht es aus, wenn er mir bloß gestatttet, von dem Plus, welches er voraussetzen zu dürfen und zu müssen glaubt, auch noch abzusehen; wofür es keines tieferen Grundes bedarf als des angegebenen: daß ich versuchen möchte, mit einem Minimum an Voraussetzungen auszukommen. Das Gleiche möge man bei allen folgenden Abstraktionen im Sinn behalten und mit Rücksicht darauf bedenken, die sich im Verlauf der Betrachtung vielleicht von selber heben, vorerst unterdrücken.

3. Es bleibt übrig, vom anderen Teil der Voraussetzung, von der Erkenntnis selbst zu sprechen. Dieser darf dann freilich nicht in gleicher Unbestimmtheit verharren. Also: was ist Erkenntnis?

Erkenntnis ist Begriff und Urteil von dem, was wir den Gegenstand nennen; so würde etwa die nächste Antwort lauten, die nächste, aber noch nicht die ausreichende. Denn was Begriff, was Urteil ist, wie sich beide zueinander verhalten, welches das Ursprünglichere ist, darüber herrscht keineswegs volle Einigkeit, es bedarf erst der Definition. Selbst die Doppelheit der Voraussetzung stört und muß die Frage veranlassen, ob es denn nichts Einfacheres gibt, worin beide ihre gemeinsame Wurzel haben.

Ich behaupte nun, daß Begriff und Urteil, mit hernach anzugebender Distinktion [Unterscheidung - wp], in der Tat nur zwei Ausdrücke ein und derselben Grundgestalt des Erkennens, der synthetischen Einheit sind. So sei es gestattet, diejenige Einheit zu nennen, welche "aus der Vereinigung eines gegebenen Mannigfaltigen, in der Betrachtung desselben aus einem Gesichtspunkt, entsteht".

Das wird dann freilich, bevor wir darauf weiterbauen, der Rechtfertigung bedürfen. KANT hat so etwas gesagt, und man hat nichts daraus zu machen gewußt; warum sollte es mir besser ergehen?

4. Vor allem ist dem Schein des Psychologischen gerade an dieser Ursprungsstelle der ganzen Deduktion zu begegnen. Zwei Momente sind es, an welche sich dieser Schein heften kann, ja fast unvermeidlich heftet. Das Erste ist das "Vereinigen", d. h. die Zurückführung der im Begriff und Urteil gegebenen "Einheit des Mannigfaltigen" auf den Vollzug einer Handlung, wodurch eine solche Einheit erst hergestellt würde.

Doch wird es gestattet sein, diese Ausdrücke hier so zu definieren, wie wir sie für die folgende Definition allein nötig haben, mit einer Absehung von allem, was sie Anderen, vielleicht auch uns selbst in einem anderen Zusammenhang, bedeuten mögen. Es sei also darüber gar nichts vorausgesetzt, wie das Vereinigen von sich geht, wer der Vollstrecker dieser Handlung, wer das Subjekt ist, das sie verübt; ob die Psyche, das Bewußtsein, das Gehirn oder was man sonst so nennen mag; desgleichen, aus was für Ursachen sie erfolgt, ob aus psychischen, physischen, psychophysischen oder welche neue Klasse von Ursachen man auch immer noch einführen mag. Und zwar habe ich noch einen besseren Grund, von dem allen hier nichts voraussetzen zu wollen, als meine allerdings eingestandene persönliche Unwissenheit über alle diese Dinge: daß nämlich in Grundbegriffen wie Substanz oder Ursache nicht wenige andere vorausgesetzt werden, die offenbar zu eben dem gehören, wonach hier erst gefragt ist. Man mag die "Substanz" Subjekt nennen und als solches vom Objekt unterscheiden und ihm gegenüberstellen: indem man sie als Substanz denkt, hat man sie schon zum Objekt gemacht. Man mag die Ursache "Bewußtseinstätigkeit" nennen und im Unterschied zu einer Naturkausalität bezeichnen; auch so ist sie, damit allein, daß man sie als Ursache denkt, objektiv gemacht. Eine solche Objektivierung der Subjektivität selbst hat mir bisher schwere Bedenken gemacht, deren Wegräumung ich von Einsehenderen noch erwarte; gesetzt aber auch, sie sei, mir oder einem Anderen, geglückt, so bemerkt man doch wohl, weshalb ich davon hier keinen Gebrauch machen kann, wo es erst gilt, den Begriff vom Objekt aus seinen Bestandsstücken, zu denen etwa Substantialität und Kausalität gehören mögen, zusammenzusetzen, oder vielmehr die letzte Voraussetzung erst zu gewinnen, aus welcher zu diesen Bestandsstücken zu gelangen ist.

5. Darf also von dem allen hier nichts vorausgesetzt werden, so bedarf es umso mehr der Rechtfertigung, daß ich einen Ausdruck, welcher eine Tätigkeit, folglich auch ein Subjekt einzuschließen scheint, überhaupt gebrauche.

Das geschah aus diesem Grund: Eben weil mir jetzt noch kein Gegenstand, nicht einmal der bloße Begriff von ihm, folglich auch keine Erkenntnis, gegeben ist, so soll Erkenntnis, sollen Begriff und Urteil, folglich auch das, worin beide bestehen, die "Einheit des Mannigfaltigen", nicht schon vollzogen, sondern erst als sich vollziehend gedacht werden; d. h. ich möchte mich auch dabei nicht sogleich beruhigen, daß eine Einheit des Mannigfaltigen, die wer weiß woher kommt, existiert, sondern möchte, wenn irgendwie möglich, auch sie noch weiter abgeleitet sehen. Für den Sinn dieser gleichsam genetischen Ableitung darf ich mich auf das Vorbild des definitorischen Verfahrens der Mathematik berufen. Dasselbe ist, gerade wo es auf die Gewinnung eines Begriffs aus seinem wahren Quell abgesehen ist, eigentlich stets der Form nach genetisch: man gibt die Regel der Konstruktion an, nach der das fragliche Objekt, z. B. der Kreis, sich erzeugt. Ist das nun die Feststellung der psychologischen oder (was weiß ich?) physischen Verursachung dieses Objekts? Schwerlich. Sondern es soll nur in Erinnerung gebracht werden, daß dieses Objekt nicht von selbst da ist, nicht beliebig gesetzt ist, nicht voraussetzungslos aus der Eingebung einer unfehlbaren mathmatischen Phantasie entsprungen ist, sondern sein Begriff auf einem bestimmt zu definierenden Zusammenhang einfacherer, logisch fundamentalerer Begriffe oder Begriffselemente ruht, aus welchem, nicht die Verursachung der Existenz eines solchen Objekts, sei es in der Natur draußen oder in einem dürftigen Nachbild der Phantasie, sondern der Bestand des Begriffs dieses bloß mathematischen, gar nicht anders als in seinem mathematischen Begriff "existierenden" Objekts erklärlich wird. Nun mag es ja noch eine interessante Frage für den Psychologen sein, wie diese eigene Art von Existenz: Existenz im bloßen Begriff, selber verursacht ist; wie der Begriff, jetzt nicht seinem bloßem Inhalt oder Bestand nach, sondern als existent im Bewußtsein, geboren wird, lebt und stirbt; wer oder was ihn ins Dasein ruft, eine Zeit lang erhält und schließlich umbringt. Allein von solch geheimnisvollen Dingen redet doch wohl die Mathematik nicht, wenn sie genetisch definiert. Sie spricht wohl auch von einer "Existenz" ihrer Begriffe (z. B. der Zahl e, des Imaginären etc.); sie versteht aber darunter nur: daß und wie diese Begriffe in den Voraussetzungen, welche für die Mathematik überhaupt gelten, sicher begründet sind. Nur im gleichen, ganz und gar objektiven Sinn also, wie die Mathematik es tut, sei hier, bei der "synthetischen Einheit", von Genesis gesprochen; d. h. nur um zu erinnern, auch diese schon sehr fundamentale Gestalt des Erkennens sei doch noch nicht absolut einfacher Natur, sondern schließe noch eine Mehrheit von Elementen in einem bestimmten Zusammenhang in sich, der sich, wie in der Mathematik, füglich durch eine Genesis versinnbildlichen läßt. Welches dieser Zusammenhang ist, wird in § 9, endgültig aber im dritten Abschnitt (§ 31) zur Sprache kommen.

6. Aber auch wenn über diesen Punkt eine Verständigung erreicht ist, kann sich der Schein des Psychologischen zweitens an Ausdrücke wie "Gesichtspunkt" und "Betrachtung" aus einem solchen heften. Ein Gesichtspunkt und eine Betrachtung, wird man sagen, gibt es nur, sofern es einen Betrachtenden gibt; also liegt darin 1) ein Bewußtsein, 2) ein Subjekt.

Allein zumindest das läßt sich bestreiten, daß man von Bewußtsein nicht reden kann, ohne ein Subjekt dafür zu setzen. Auch hier mag ein mathematischer Vergleich zur Verdeutlichung dienen. Bloße Mathematik vermag Sätze über Bewegung abzuleiten, ohne daß ein anderes Bewegliches vorausgesetzt wird als Etwas im Raum überhaupt, z. B. ein Punkt. Das ist verschieden von derjenigen Voraussetzung eines Beweglichen, welche die Mechanik braucht und in der Materie definiert. Analog denke man sich hier den Unterschied. Das ist ja selbstverständlich, daß von einem Bewußtsein die Rede ist, wenn es um Erkenntnis, um Begriff und Urteil geht. Aber ein Subjekt des Bewußtseins wird damit nicht notwendig gesetzt, und auch vom Bewußtsein selbst braucht hier nur das Mindeste vorausgesetzt zu werden, was sich voraussetzen läßt; dieses Mindeste ist wohl: die Beziehung eines Mannigfaltigen auf eine zentrale Einheit. Von der besonderen Existenzweise dieser Beziehung und allen ferneren Bedingungen ihres Stattfindens kann abgesehen werden, und weil davon abgesehen werden kann, so wird davon abgesehen, nach dem Prinzip, welches diesen ganzen Abstraktionsprozeß regiert: dasjenige Minimum von Voraussetzungen zu erreichen, welches zur verlangten Deduktion genügt. Es wird also weder geleugnet, daß die "synthetische Einheit" eine Bewußtseinseinheit ist, noch, daß ein Bewußtsein ein Subjekt, Ursachen etc. voraussetzt, aber es wird davon abstrahiert, weil wir es hier nicht brauchen. Es mag in anderer Hinsicht notwendige Voraussetzungen geben; für die verlangte Deduktion sind es nicht notwendige Voraussetzungen.

7. Nachdem dies klargestellt ist, obliegt mir zu zeigen, daß die synthetische Einheit zum Fundament für Begriff und Urteil und somit für die Erkenntnis wirklich taugt.

Ganz unmittelbar wäre das erreicht, wenn die Definitionen gestattet wären: "Begriff ist die Einheit des Gesichtspunktes, unter der sich ein gegebenes Mannigfaltiges auffassen läßt", "Urteil die Auffassung unter einer solchen Einheit". Da die Auffassung den Gesichtspunkt voraussetzt, vollends der Gesichtspunkt ohne die Auffassung nichts ist, so wären demnach Begriff und Urteil bloß zwei Ausdrücke ein und derselben Sache. Damit würde der Streit, was das Ursprünglichere ist, Begriff oder Urteil, sich einfach, vielleicht zu einfach, lösen. Doch wird auch nur behauptet, daß beide in ihrer ursprünglichsten, elementarsten Form in Eins zusammenfallen.

Man denke sich also unter Begriff jetzt nicht die Auffassung eines voraus schon anderswie aufgefaßten, also im hier angenommenen Sinn schon begrifflichen Mannigfaltigen; dabei wird eine erste Begriffsfassung, eine erste Festhaltung in einer Einheit, eine erste Bestimmung des vordem noch gar nicht bestimmten Gegebenen = X doch immer vorausgesetzt; dieses Ursprünglichere also, welches der gemeinhin so benannte Begriff schon voraussetzt, soll für jetzt "Begriff" heißen. Entsprechend soll unter Urteil nicht schon der "Vergleich zweier Begriffe" verstanden werden. Begriffe habe ich noch gar nicht, höchstens den Begriff. Wie ich zu Begriffen, wie zur Vergleichung komme und was sie wollen kann, das alles weiß ich noch gar nicht, da ich Erkenntnis hier als etwas, nicht bloß im Einzelfall, sondern überhaupt erst zu leistendes, nicht immer schon Geleistetes betrachte. Man wird jedoch einräumen, daß die Auffassung eines zwar gegebenen, aber bis dahin noch gar nicht begrifflich bestimmten Mannigfaltigen in einer Einheit, wenn nicht schon Begriff und Urteil, dann ein Analogon davon, und zwar ein Elementares ist als was die Logiker so zu nennen pflegen. Dies soll uns also Begriff und Urteil in ihrer Urgestalt sein. Um den Namen wird man ja nicht streiten wollen; ich sage kurzweg Begriff und Urteil, um die lästige Umschreibung zu sparen: dasjenige an der synthetischen Einheit, was dem Begriff und Urteil entspricht oder woraus ich sie abzuleiten gedenke.

8. Damit sehe ich mich dann freilich der Bequemlichkeit beraubt, von irgendeiner überlieferten Erklärung des Begriffs oder des Urteils Gebrauch machen zu können. Ich weiß z. B. noch nicht, was Subjekt, was Prädikat, was die Gleichung zwischen Subjekt und Prädikat bedeutet; enthält sie doch eben die "Vergleichung" zweier Begriffe, die ich für die ursprüngliche Form des Urteils ablehne.

Doch lassen sich Analoga zu dem allen an meinem Analogon des Urteils allerdings aufzeigen. Subjekt soll dasjenige sein, wovon, Prädikat das, was geurteilt oder worunter das Subjekt begriffen wird. Offenbar ist jenes bei uns vertreten durch das Mannigfaltige, das in einer synthetischen Einheit aufgefaßt wird, dieses durch die synthetische Einheit (oder Einheit des Gesichtspunkts) selbst; woraus z. B. KANTs Erklärung des Begriffs als "Prädikats möglicher Urteile" folgen würde. Die Beziehung zwischen Subjekt und Prädikat, die der Kopula entsprechen müßte, ist jetzt freilich nichts weniger als Gleichheit. Doch erklärt sich leicht, wie man zur Gleichheit kommt. Die Einheit der Synthesis ist allerdings die Wurzel des das Urteil im gewöhnlichen Sinne, ja auch das ursprüngliche Urteil regierenden letzten Gesichtspunkts der Identität; vielmehr ist sie selbst die Identität, nur diejenige, die durch die Synthesis erst gesetzt wird, nicht im Voraus schon gegeben war. Die Identität soll doch logische, d. h. im Denken (Begriff und Urteil) gesetzte sein; irgendeinmal mußte sie also dem Denken erst gewonnen werden. Diesen ersten Gewinn einer Identität betrachte ich als die ursprüngliche Gestalt des Begriffs wie des Urteils. Bevor ich sagen kann: A ist (identisch mit) B, muß ich ein Identisches = A und ein Identisches = B haben. Schon der Gebrauch dieser Begriffszeichen ist ja bedingt durch eine im Gedanken gesetzte Identität, welche durch die des Symbols vertreten wird. Die ursprüngliche Identität ist also die, die nicht immer schon im Voraus für die Erkenntnis da war, sondern für sie durch das Erkennen selbst erst gesetzt wird. Diese jedenfalls geforderte erste Setzung eines vordem noch nicht für identisch Erkannten als identisch nenne ich das Urteil in ursprünglicher Form. Sein Ausdruck wäre nicht: A = B; allenfalls: X = A; richtiger jedoch, da auch die Gleichung ihren Sinn verliert, ein Symbol wie x1, x2, x3 ... entspricht A, welches besagen will: ein vorerst inhaltlich noch nicht Bestimmtes (x1) und ein zweites, drittes solches (x2, x3 etc. - die übrigens noch gar nicht bestimmt unterschieden, sondern bloß als Mannigfaltiges überhaupt unterscheidbar gegeben sein sollen - werden als in irgendeinem Sinn dasselbe erkannt und dadurch die begriffliche Identität A selbst zuerst gesetzt, für die Erkenntnis erst geschaffen. Hier haben wir Subjekt, Prädikat, Kopula; nur keine Identität zweier Begriffe; vielmehr deckt dieser Ausdruck des ursprünglichen Urteils offenbar zugleich die ursprüngliche Begriffsbildung.

9. Allein, man wird fragen: was heißt X? Wo ist ein solches schlechthin Unbestimmtes aufzuweisen? Ich höre von einem existierenden Chaos, von einer Erneuerung des Unbegriffs der platonischen Materie und dgl. sprechen.

Darauf antworte ich: es wird gar nicht behauptet, daß das Chaos existiert. Ich sage nur: in dem Stadium, wo erst erkannt werden soll, im status nascens [Zustand des Geborenwerdens - wp] der Erkenntnis, ist das im Begriff zu Bestimmende nicht allemal schon ein Bestimmtes, sondern, eben als das zu Bestimmende, noch unbestimmt zu denken; deshalb, weil hier Erkenntnis als erst zu vollbringende Leistung, nicht als schon geleistet angenommen wird. Ansich mag alles so bestimmt sein, wie man nur will; das hilft nur der Erkenntnis wenig. Vor der Erkenntnis gibt es, eben für sie, noch gar keine Bestimmtheit der Dinge; erst von der gewonnenen Erkenntnis aus kann von einer Bestimmtheit, welche die der Dinge selbst wäre, überhaupt geredet werden.

Auch das sei nicht etwa bloß zugestanden, sondern auf das Nachdrücklichste betont: zurückversetzen können wir uns in jenen status nascens der Erkenntnis nicht; er kann nicht Gegenstand der Beobachtung sein. Dennoch deuten wir, mit vollem Recht, die vollbrachte Leistung der Erkenntnis, eben weil sie doch erst hat vollbracht werden müssen, zurück auf denjenigen Anfangspunkt, wo nicht schon erkannt war, sondern die Erkenntnis erst entsprang. Übrigens ist auch dieser Anfangspunkt und dieses Entspringen nur im oben erklärten Sinn einer genetischen Definition zu verstehen, wofür nochmals auf § 31 im Voraus verwiesen sein soll.

10. Schließlich ist zu betonen, daß auch von irgendeiner besonderen Art, wie das Mannigfaltige gegeben ist, hier noch nichts vorausgesetzt, sondern nur festgehalten werden soll, daß es ein Mannigfaltiges und als solches von der im Begriff gesetzten Einheit charakteristisch unterschieden werden soll.

Gesetzt also, es ließe sich eine bestimmte Art, wie allein das Mannigfaltige gegeben sein kann, im Voraus absehen, z. B. daß es in Zeit und Raum gegeben sein muß, so wird doch auch das hier nicht vorausgesetzt. Es wird darum nicht behauptet, daß man durch die Beschränkung der Betrachtung auf die synthetische Einheit, von solchen Bedingungen, an die sie etwas gebunden ist, wirklich loskäme; wir werden sie vielleicht hernach selber darin entdecken und zu weiteren Folgerungen benutzen; ihre Einführung bedarf aber dann erst der Rechtfertigung; vorerst sehen wir auch davon ab, weil wir uns eben zum Gesetz gemacht haben, von allem abzusehen, wovon sich nur irgendwie absehen läßt.

11. Dies glauben wir nunmehr erreicht zu haben, denn noch weiter zurück könnten wir offenbar nicht, ohne uns von Begriff, Urteil, Erkenntnis und Gegenstand, folglich von unserem ganzen Problem zu verabschieden. Daß sich aber aus dieser einzigen, durch fortgesetzte Abstraktion erhaltenen Voraussetzung der "synthetischen Einheit" das, was wir suchen: Quantität und Qualität im Begriff und Urteil, als den Grundformen aller Erkenntnis, werde ableiten lassen, dafür erweckt ein günstiges Vorurteil, daß wir den Begriff selbst, nach seinen beiden Grundeigenschaften des Umfangs und Inhalts, desgleichen das Urteil nach Quantität und Qualität, offenbar schon haben und also nur zu entwickeln brauchen. In unserer Formel nämlich repräsentieren offenbar die x1, x2 etc. den Umfang, die Bestimmung A den Inhalt des Begriffs; oder, wenn man will, jene die Quantität eines einfachsten Urteils, diese dessen Grundqualität, die einfache Setzung einer Identität. Nach unserer Vermutung über die ursprüngliche Einheit von Begriff und Urteil dürfte es nicht überraschen, wenn beides, Umfang und Inhalt im Begriff, Quantität und Qualität im Urteil, etwa auf primitiver Stufe geradezu zusammenfallen; in welcher Hinsicht wir die Ausdrücke "Quantität" und "Qualität" wohl schon jetzt auch für den Begriff verwenden dürfen; ohnehin sagt Umfang und Inhalt nichts anderes, weder mehr noch weniger.

Wir werden nun im ersten Teil unserer Deduktion bei Begriff und Urteil stehen bleiben, nach dem Gegenstand und also nach der Erkenntnis noch gar nicht fragen. Nicht als könnten Begriff und Urteil je ohne Gegenstand sein; er wird wohl irgendwie darin stecken; aber wir suchen danach vorerst nicht, sondern wollen für jetzt die Natur des Begriffs und Urteils erforschen, bloß soweit sie Ausdruck der synthetischen Einheit sind. Eben darum kann auch die Natur des "Gegebenen" = X, das zur synthetischen Einheit gebracht werden soll, vorläufig ununtersucht bleiben; zur Begründung der gegenständlichen Erkenntnis freilich wird diese Untersuchung unerläßlich sein. Der Grund dieses Unterschiedes - der mit dem kantischen der bloß logischen von der transzendentalen Untersuchung ungefähr zusammentrifft - wurde schon angedeutet: was Gegenstand ist, wird sich selbst erst vom Erkennen aus bestimmen lassen; also muß zu allererst das Erkennen selbst, mit möglichster Abstraktion davon, was das ist, was erkannt werden soll, erwogen werden. Die Urgestalt der Erkenntnis aber ist die synthetische Einheit.


II. Quantität und Qualität im
Begriff und Urteil


A. Die Quantität

12. Um aus der synthetischen Einheit zunächst die Quantität des Begriffs und Urteils abzuleiten, ist nichts weiter erforderlich, als sich das Mannigfaltige, welches zur synthetischen Einheit zusammengefaßt wird, bloß als solches zu Bewußtsein zu bringen, und sich klar zu machen, welche ursprünglichen Arten der begrifflichen Auffassung an ihm möglich sind.

Mannigfaltigkeit heißt Mehrheit, die als solche eine Einheit voraussetzt. Das Mannigfaltige läßt sich als solches nur denken, indem es gedacht wird als Mehrheit einer Einheit.

Das sind nun schon zwei ursprünglich verschiedene wie zusammengehörige Arten der Auffassung: Einheit und Mehrheit. Ist nun damit alles erschöpft, was am Mannigfaltigen, bloß als solchem, begrifflich auffaßbar ist? Anscheinend ja.

Doch wir besinnen uns, daß von demjenigen Mannigfaltigen die Rede ist, welches zur synthetischen Einheit zusammengefaßt wird. Diese Einheit des Mannigfaltigen ist noch nicht gegeben durch die bloße Setzung einer Mehrheit von Einheiten. Denn die bedeutet nur die Setzung von Einem und wiederum Einem und so fort; in der bloßen wiederholten Setzung liegt ansich gar kein Grund eines Abschlusses oder Zusammenschlusses in einer neuen Einheit. Eine solche schafft erst die Einheit der Synthesis, die Zusammenfassung in dem einen Blick des Geistes. Doch erstreckt sich die Zusammenfassung auf das Mannigfaltige selbst; insofern gehört sie in das Gebiet der Quantität. Also ergibt sich eine dritte quantitative Auffassungsart: die Einheit einer Mehrheit oder die Allheit. Alle sind Viele, nämlich die Vielen, d. h. die im Begriff begrenzte, zur Einheit wieder zusammengeschlossene Vielheit der Einzelnen.

13. Das ist wohl zu beachten, daß die Allheit, obwohl zur Quantität gehörig, doch nicht durch das Mannigfaltige bloß als solches, sondern erst durch dessen synthetische Einheit gegeben ist. Sie bringt auf dem Gebiet der Quantität die Denkeinheit als synthetische zum Ausdruck; sie ist erst gegeben durch die Einheit des Gesichtspunktes, welche der Begriff setzt. "Alle" heißt daher notwendig: "Alle A".

Diesen Ursprung der Allheit aus der Begriffseinheit bezeichnet deutlicher die Allgemeinheit. Denn nichts anderes als die Beziehung auf die zentrale Einheit des Begriffs ist das "Allen Gemeine", welches den Zusammenschluß der Mehrheit zur Allheit, nicht voraussetzt, sondern erst bewirkt.

Selbstverständlich kann auch die Einheit und Mehrheit nicht anders gedacht werden als unter irgendeiner inhaltlichen (qualitativen) Bestimmung. Auch das Einzelne ist, sofern es doch gedacht wird, ein einzelnes A, auch die Mehreren eine Mehrheit von A. Eben darum ist das Einzelne, auf dem Standpunkt des Begriffs, notwendig das Einzelne des Allgemeinen, sowie selbstverständlich das Allgemeine das Allgemeine der Einzelnen. Ja, sofern für das Denken eben die Denkeinheit leitend ist, - die aber von vornherein nicht auf das einzelne Gegebene eingeschränkt bleibt, sondern für alles in gleicher Art Gegebene ebensowohl zur Verfügung steht, - ist für den Begriff die Allgemeinheit das Ursprünglichere und das Einzelne hat nur die Bedeutung des Beispiels, des "Exemplars".

Somit begründet unsere Ableitung den großen Gegensatz des Einzelnen und Allgemeinen. Auf diese beiden Arten der quantitativen Einheit nämlich kommt es in der Erkenntnis vornehmlich an; die Mehrheit ist als Mittelglied zwar nicht zu entbehren, denn der Einheit steht zunächst die Mehrheit, nicht sogleich die Allheit gegenüber, die erst daraus entspringt, daß die vielen Einheiten wieder zur einen Vielheit zusammengenommen werden; aber damit, daß durch die Mehrheit der Übergang vom Einzelnen zum Allgemeinen vermittelt wurde, ist ihre Rolle auch ausgespielt, ihr ganzer Beitrag zur Erkenntnis ist in der Allheit, die in der Allgemeinheit liegt, geborgen und hat selbständig neben dieser nichts mehr zu bedeuten. Der Grund dieser bloß vermittelnden Rolle der Mehrheit ist klar: Mehrheit, ohne den Zusammenschluß zur Allheit, behält den Charakter der Unbestimmtheit, während Erkenntnis Bestimmtheit fordert. Die Allheit ist bestimmt; denn, wenngleich unbestimmt bleibt, wieviele Einzelne darunter fallen, so ist doch in jedem gegebenen Fall bestimmt, ob ein Einzelnes darunter fällt oder nicht.

14. Absichtlich habe ich vermieden, der Deduktion eine genetische Form zu geben. Im Hinblick auf die wiederholt angeregte methodische Frage will ich jedoch nicht unterlassen es nachträglich zu tun, sei es auch nur, damit man sich überzeuge, daß dabei nichts Neues zutage kommt.

Wir setzen also ein vorerst unbestimmt Gegebenes = X, welches unter irgendeiner Bestimmung, z. B. A, erst erkannt werden soll. Drücken wir diese unmittelbarste Erkenntnis in dem Urteil aus: dieses (X) ist A, so darf unter A nicht schon der fertige Begriff gedacht werden, unter den dieses Einzelne "subsumiert" würde; eben den Begriff als das Allgemeine, worunter das Einzelne zu subsumieren ist, möchten wir ja erst entstehen sehen. Also ich halte nur eine gewisse Bestimmtheit dieses Gegebenen fest, von der ich, auch ohne den fertigen Begriff zu haben, doch wissen kann, was sie in meiner Vorstellung ist. Es soll nun ein Zweites, dem vorigen Gleichartiges gegeben sein; also zu x1 ein x2. Ich rekognosziere [erkenne - wp] es als Dasselbe, nämlich A; ebenso ein Drittes (x3) und so fort. Nun weiß ich bereits: unter dieser selbigen Bestimmung A läßt sich nicht bloß ein Einzelnes, sondern lassen mehrere ebensolche, unbestimmt wieviele, auffassen. So erhalte ich die offene Reihe x1, x2, x3 ... Von einer Allheit, folglich der Allgemeinheit des "Begriffs" A weiß ich soweit noch nichts. Sondern das ist erst der dritte Schritt, der den Stufengang vollendet, daß ich mir zu Bewußtsein bringe, die ansich unbegrenzte Reihe der Data, die unter diese selbige Bestimmung A fallen, kann, eben sofern sie darunter fallen, als ein geschlossenes Gebiet von Data vorgestellt werden. Fortan denke ich unter A nicht mehr bloß dieses Einzelne, oder diese Einzelnen, die mir gerade vorgekommen sind, sondern alle, die mir je vorgekommen sind oder noch vorkommen mögen, oder die auch einem Andern vorkommen, ja die vielleicht keinem wirklich vorkommen, aber doch vorkommen könnten, kurzum "alle". Das heißt, ich habe nunmehr die Eigentümlichkeit dieser Bestimmung A gedacht, daß sie zur Auffassung von Gegebenem (auch im bloßen Gedanken, d. h. als möglich Gegebenem) nicht bloß einmal, oder mehrmals, sondern ein für allemal bereitsteht. Damit erst ist der "Begriff" A in seiner Allgemeinheit gewonnen; und nicht allein der Begriff, auch das Urteil. Denn ganz natürlich werden sich die drei Stufen des Prozesses in den Urteilen aussprechen:
    1) Dieses (Einzelne) X ist (ein Bestimmtes, identisch festzuhaltendes, z. B.) A;

    2) Diese (Einzelnen) x1, x2 ... sind (unter dieser bestimmten Auffassung) ein und dasselbe, nämlich A; und

    3) Alle Solche (so Aufzufassenden) sind (unter eben dieser Auffassung) ein und dasselbe, nämlich A; oder, wenn wir die Einheit der Vielheit, welche die Allheit bedeutet, auch sprachlich zum Ausdruck bringen wollen: Alles Solche ist A.
Kaum bemerkt zu werden braucht, daß diese drei Stufen der qualitativen Synthesis zugleich die natürlichen drei Schritte jeder Gewinnung eines Allgemeinen, folglich der einfachen Induktion (inductio per enumerationem simplicem [durch einfache Aufzählung - wp]) darstellen: vom Einzelnen durch eine vorerst unabgeschlossene Reihe von Einzelfällen zur Allheit der gleichartigen (unter einem bestimmten Begriff zur Einheit zusammengefaßten) Fälle.

15. Fast ist zu besorgen, daß Manchem diese Ableitung einleuchtender, ja radikaler erscheinen wird als die erste; eben weil sie genetischer aussieht, weil die Allgemeinheit, ja die Mehrheit, nicht sogleich vorausgesetzt, sondern erst abgeleitet zu werden scheint.

Dennoch ist damit wirklich nichts anderes gesagt, als mit der ersten Ableitung, und diese ist, nicht die zweite, die rein logische. Im Grunde liegt nämlich die Allgemeinheit doch schon in der ersten Auffassung auch des absolut einzelnen X als dieses und jenes, z. B. A. Sage ich "Dies ist A", so liegt in der Kopula "ist" gleichsam eine Festsetzung, die ich bei mir selber treffe und die für mein Denken gültig bleiben soll. Sie hat bereits den Charakter des Allgemeinen darin, daß, wann immer ich diese selbe einmalige Datum X wiederum denke, ich ihm diese selbige Bestimmung seines Was beilegen muß. Das ist doch für mein Vorstellen schon ein zweiter, dritter etc. Fall der Anwendung dieser selben Bestimmung A; sie wird aber dann ebenso anwendbar bleiben für alle gleichartigen Fälle. Jede Bestimmung ist die Setzung einer Identität, und jede Identitätssetzung schließt die synthetische Funktion, die Einheit des Mannigfaltigen, den Grund der Allgemeinheit, schon in sich. Es ist also ein Schein, daß die Allgemeinheit abgeleitet wird; in der Tat ist sie auch hier bloß in ihre einzelnen Momente auseinandergelegt. Das leistete aber schon die erste Deduktion, also haben wir diese nur in einer anderen Wendung des Ausdrucks wiederholt.

Darum wird natürlich nicht geleugnet, daß es ein Fortschritt des Bewußtseins ist, von der Auffassung des Einzelnen als dieses und jenes zum bestimmten Denken der Allgemeinheit. Allein dieser Fortschritt betrifft das Bewußtsein bloß in subjektiver Hinsicht, nicht nach dem, was es ansich enthält. Ansich enthält die bestimmte Auffassung auch des Einzelsten die Allgemeinheit, aber mein Bewußtsein kann mehr oder weniger hell sein, d. h. es muß nicht den vollen Gehalt der von meinem Denken vollzogenen Leistung allemal auch wirklich ausschöpfen. Unser wirkliches Denken begnügt sich sozusagen mit Abbreviaturen [Kürzeln - wp] des Denkens, sicher zwar, sich auf den Vollgehalt dessen, was im Gedanken liegt, jederzeit, wo es nottut, zurückbesinnen zu können, aber doch ohne sich in jedem einzelnen Fall, wo es nicht erforderlich und deshalb störend ist, Rechenschaft davon zu geben. Dieser psychologische Unterschied ist aber für die Logik gleichgültig; sie hat gerade die Aufgabe, den Vollgehalt der Beziehungen zu entwickeln, die in unseren Gedanken wirklich liegen, gleichgültig wieviel oder wenig davon mir im einzelnen Fall ( von dessen besonderer Natur hier gar nicht die Rede ist) bewußt sein mag.

16. Aufgrund der eben angestellten Betrachtung können wir nunmehr unsere Auffassung der Quantität des Begriffs und Urteils zu der der überlieferten Logik in ein Verhältnis setzen.

Es war, abgesehen von einem starken Gefühl von der dominierenden Bedeutung des Allgemeinen in der Erkenntnis, wohl hauptsächlich die technische Rücksicht auf den Aufbau der Syllogistik, was ARISTOTELES bestimmte, die Urteile, der Quantität nach, bloß in die zwei Klassen des Allgemeinen und des Besonderen, d. h. nicht allgemeinen Urteils zu scheiden. Er sieht im Urteil die Vergleichung zweier Begriffe. Sofern dieselbe den Umfang betrifft, kann gefragt werden, ob der Begriff des Subjekts mit seiner ganzen Sphäre oder nur mit einem Teil derselben unter den des Prädikats fällt; wogegen es weniger belangreich erscheint, ob dieser Teil gerade nur aus einem Einzelnen oder aus einer Mehrheit von Einzelnen besteht. Es mag nun sein, daß diese Zweiteilung sonst ihr gutes Recht hat, aber der ursprüngliche Gegensatz ist zweifellos der des Einzelnen und Allgemeinen, dem auch ARISTOTELES selbst, außerhalb der logischen Technik, alle Beachtung schenkt; oder, wenn man lieber will, der der Einheit und Mehrheit, der von ihm gleichfalls nicht vernachlässigt wird. Der Gesichtspunkt der Teilung der Begriffssphäre gehört offenbar gar nicht hierher, er sollte, wo es sich um die Grundeigenschaften des Begriffs und Urteils handelt, überhaupt beiseite bleiben. Die Begriffe Ganzes und Teil sind aus eben den Kategorien, nach deren Ursprung wir forschen, vielmehr erst abgeleitet.

Seit KANT wird die Vernachlässigung des Einzelnen in der aristotelischen Klassifikation deutlich als Fehler empfunden und deswegen die kantische Dreiteilung vor der aristotelischen Zweiteilung bevorzugt. Doch hat man den alten Gesichtspunkt der "Vergleichung zweier Begriffe" gewöhnlich festgehalten und ist so über den ganzen Standpunkt der Klassifikation der Urteile nicht hinausgekommen. Für uns handelt es sich vielmehr um den Ursprung von Begriff und Urteil; womit fast unmittelbar gegeben ist, daß wir gar nicht mehr koordinierte Arten von Urteilen, sondern unaufheblich zueinander gehörige, nur abstraktiv zu scheidende Momente ein und desselben synthetischen Prozesses, in dem Begriff und Urteil miteinander erst entspringen, erhalten. Nur abgeleiteterweise, indem die einzelnen Momente allerdings auch je nach ihrer besonderen Leistung für die Erkenntnis zu Bewußtsein gebracht werden können, ließe sich etwa von Urteilsarten reden. Was man übersehen hat, ist, daß die Allgemeinheit schon in jeder bestimmten Auffassung auch des Einzelnen liegt, sodaß sich ein jeder Begriff, ein jedes Urteil von vornherein in den Gesichtspunkt des Allgemeinen stellt, auch wenn es kein Allgemeines nach der logischen Klassifikation ist, dennoch sozusagen sub ratione universalis [unter einem universellen Gesichtspunkt - wp] gedacht wird. In der Allgemeinheit liegt aber schon die untrennbare Einheit der drei Momente: Allheit als die im Begriff begrenzte Mehrheit der Einzelnen.

17. Man hat sich bisher nicht namentlich über den logischen Wert des partikularen Urteils verständigen können. Unsere Ableitung gestattet auch darüber eine klare Entscheidung. Der Ausdruck "partikulares" oder "besonderes" Urteil ist allerdings ziemlich ungeeignet, um das natürliche Mittelglied zwischen dem Allgemeinen und Einzelnen zu bezeichnen. Bei der ersten Benennung wird die Sphäre des einzuteilenden Begriffs offenbar schon vorausgesetzt. Das hatte bei ARISTOTELES Sinn, wird aber alsbald unsinnig, wenn man vom Einzelnen ausgeht und zum Allgemeinen erst den Weg sucht. Vollends setzt der Ausdruck "besonderes Urteil" das Verhältnis von Art und Gattung, d. h. das Verhältnis zweier Allgemeinen von bloß verschiedenem Umfang voraus, während vielmehr ein vom Allgemeinen überhaupt zu Unterscheidendes ausgedrückt werden sollte. Aber es auch bei einem Gegensatz des Einzelnen und Allgemeinen bewenden zu lassen, geht nicht an, weil, wie schon gesagt, der Einheit zunächst die Mehrheit gegenübersteht, deren Zusammenschluß zur Allheit erst wieder eine neue Leistung des Begriffs oder Urteils ist. Man wird also die Dreizahl der Stufen festhalten und bloß das besondere und partikulare Urteil (wenn einmal von Urteilsarten geredet werden soll) ersetzen müssen durch das plurale. Daß das plurale Urteil das allgemeine mit zu umfassen scheint, weil doch alle auch mehrere sind, wird jetzt hoffentlich niemand mehr einwenden. Ich nenne "Mehrheit" die noch nicht abgeschlossene, also noch offene, der Erweiterung jederzeit fähige Reihe der Setzungen von Einem und wiederum Einem usw.; weswegen ich auch den Ausdruck Vielheit, der ebensowohl die bestimmte, also abgeschlossene, wie die unbestimmte bedeuten kann, lieber vermeide und den Komparativ "Mehrere" bevorzuge, der, in seiner ausschließlichen Entgegensetzung zur Einheit, tauglicher scheint, bloß die wiederholte, beliebig zu wiederholende Setzung der Einheit auszudrücken. Oder verlangt man etwa, daß die Mehreren, wie einerseits mehr als Eins, so andererseits weniger als Alle sein müßten? Aber das ist wieder der falsche Gesichtspunkt der Teilung der Begriffssphäre. Für uns ist die zweite Quantitätsstufe ausschließlich dadurch charakterisiert, daß die Reihe der Setzungen unabschlossen bleibt. Die Mehreren können Alle sein, aber wir wissen es nicht, halten daher die Fortsetzung der Reihe offen. Nicht um die Teile der Allgemeinheit handelt es sich, sondern um ihre begrifflichen Konstituentien, und da sollte klar sein, daß das wahre Komplement der Einheit zur Allheit die Mehrheit ist und nicht die Besonderheit, die, ohne die fertige Allgemeinheit, gar nicht zu verstehen ist.

18. Noch eine wichtige Frage bleibt zu erledigen. Mit Einheit, Mehrheit, Allheit, mit der Quantität überhaupt, steht die Unendlichkeit in einem unlösbaren Zusammenhang. Wie verhält sie sich zu unseren Kategorien?

KANT sagt: das einzelne Urteil verhält sich zum allgemeinen wie Einheit zu Unendlichkeit. Dagegen setzten wir die unbestimmte Vielheit der Mehrheit gleich, während die bestimmte, also abgeschlossene, doch wohl unter die Kategorie der Allheit fällt.

In der Tat wäre es irrig zu glauben, daß Allgemeinheit ohne weiteres Unendlichkeit wäre. "Alle A" heißt nicht notwendig: unendlich viele. "Alle Menschen" sind, wenn das Menschengeschlecht entstanden und vergänglich ist, keine unendliche, sondern eine ansich begrenzte, wenngleich für uns nicht zu ermessende Zahl von Menschenindividuen; "alle Elemente" sind nicht unendlich viele, sondern vielleicht nur ganz wenige, usw.

Aber ebensowenig ist die Unendlichkeit durch die Mehrheit, sofern sie die beliebig fortsetzbare Reihe der Einheiten bedeutet, schon gegeben. Unendlichkeit bedeutet nicht die bloße Unbestimmtheit des Endes; ist ist nichts rein Negatives, in dem Sinne, daß sie schon gedacht wäre durch das bloße Nichtdenken des Endes. Es ist tausendmal gesagt und noch immer wahr: nicht der Begriff des Unendlichen ist negativ, sondern der des Endes. Etwas hat ein Ende, heißt: es macht irgendwo dem Nichtsein Platz; es hat kein Ende, heißt: es ist immerfort. Also wird die Unendlichkeit der Quantität die immer fortbestehende Möglichkeit einer quantitativen Setzung bedeuten müssen.

Daher streitet die Unendlichkeit überhaupt nicht mit der Bestimmtheit des Denkens und zwar (worauf es hier ankommt) des quantitativen Denkens. Sie besagt einfach, daß das Verfahren des Denkens, durch den Zusammenhang der vielen Einheiten zur einen Vielheit ein Quantum zu setzen, nicht bloß ein- oder einigemale, sondern ein- für allemal zur Verfügung steht. Das wird sehr deutlich an der Zahl, sowohl am unendlichen möglichen Fortgang in der Reihe der Zahlen, der positiv nur gedacht werden kann durch das Denken der gleichartigen Erzeugung von Zahl aus Zahl durch eine fortgesetzte Vervielfältigung der Einheit, als an der Unendlichkeit der möglichen Teilung, die vielleicht noch sichtbarer macht, wie in der geschlossenen Einheit dennoch die Unendlichkeit eingeschlossen liegt. Denn nicht bloß die Vielheit einer erst gesetzten Einheit läßt sich wiederum als Einheit einer anderen Vielheit denken usw., sondern ebenso umgekehrt jede Einheit einer Vielheit wieder als Vielheit einer anderen Einheit betrachten. Das hat seinen einfachen Grund darin, daß jener ganze dreigliedrige Stufengang eben das ein- für allemal zur Verfügung stehende Verfahren der Größensetzung bedeutet. Die Zahl ist das Mittel, dieses Denkverfahren als solches zum wissenschaftlichen Ausdruck zu bringen; darum versteht sich für sie die Unendlichkeit und unendliche Teilbarkeit einfach von selbst.

Demnach wäre unser obiges Problem so zu beantworten: die Unendlichkeit ist überhaupt nicht in einer einzelnen Kategorie zu suchen, sie betrifft vielmehr das ganze, in den drei Quantitätskategorien ausgedrückte Denkverfahren. Jede einzelne Anwendung des Verfahrens geht auf Bestimmtheit aus und erreicht sie; auch darin, daß das Verfahren der Bestimmung oder Begrenzung unbeschränkt anwendbar ist, liegt ansich keine Unbestimmtheit. Nichts anderes als das ist überhaupt die Aufgabe des Denkens: das Grenzenlose zu begrenzen; ebendazu muß das begrenzende Verfahren selbst ohne Grenzen anwendbar sein. So ist es möglich, das Unendliche zu denken, obgleich Denken Begrenzen heißt.

Sofern übrigens die Allgemeinheit der konzentrierte Ausdruck des ganzen Verfahrens der quantitativen Synthesis ist, sofern sie die beiden anderen Kategorien in sich schließt und als Vorstufen voraussetzt, bleibt es richtig, daß in ihr vorzugsweise die Unendlichkeit liegt. "Alle Menschen" heißt allerdings nicht von selbst: eine unendliche Zahl von Individuen; aber es ist sozusagen nicht Schuld des Begriffs, wenn es ihrer etwa nur eine begrenzte Zahl gibt; es ist vom Standpunkt des Begriffs ein "Zufall", d. h. durch den Begriff selbst nicht gesetzt, er auch für weitere und weitere Individuen zur Verfügung, ohne Schranken. Das ist der richtige Kern der Meinung KANTs. Gerade ihm bedeutet ja die synthetische Einheit eine "Funktion", d. h. eine jederzeit zur Verfügung stehende Verfahrensweise; ja das Charakteristische des Denkens überhaupt ist ihm die "Einheit der Handlung", d. h. des Verfahrens, die in der Tat das Problem löst.

19. Die Unendlichkeit streitet nicht mit der Bestimmtheit des quantitativen Denkens; sie ändert andererseits nichts daran, daß man mit ihm, ohne anderweitige Ergänzung, durchaus auf dem Gebiet der diskreten [fest bestimmten - wp] Vielheit stehen bleibt.

Die Mehrheit bleibt immer Vervielfältigung von Einheiten, die Allheit nur eine Zusammenfassung der Mehrheit, die aus Einheiten besteht. Jede gesetzte Einheit aber kann auch wieder als Mehrheit einer anderen Einheit gesetzt, d. h. geteilt werden, und die Teilung führt immer nur zu wiederum teilbaren Einheiten. So wird aber gar kein wahrer Anfang der Größensetzung erreicht, auch die Erzeugung der Größe nicht begriffen, da sie soweit nur als Zusammensetzung willkürlicher Einheiten erscheint. Ist aber keine Erzeugung der Größe, so ist auch kein stetiger Übergang von Größe zu Größe gedacht; der Übergang wird ja so auch nur durch Addition willkürlicher (d. h. immer wieder eine Mehrheit einschließender) Einheiten und auch sprungweise vollzogen. Das ist aber die Natur der diskreten Größe im Unterschied von der kontinuierlichen.

Die wichtige Bedeutung dieser Feststellung wird in der Folge erst klarer zutage treten. Für jetzt wenden wir uns zur Ableitung der Qualität.


B. Die Qualität

20. Wurzelt die Quantität in der Eigentümlichkeit der synthetischen Einheit, ein Mannigfaltiges zu vereinigen, so ist die Qualität abzuleiten aus der Einheit dieses Mannigfaltigen im zusammenfassenden Blick des Geistes, also aus der Denkeinheit selbst. Wie auf jener der Umfang, so beruth auf dieser der Inhalt des Begriffs, d. h. die Begrenzung des geistigen Blicks durch die Bestimmtheit des Gesichtspunkts, unter dem das Mannigfaltige auf- und zusammengefaßt wird.

Der unmittelbare Ausdruck dieser qualitativen Einheit der Synthesis ist die Identität. Identitätssetzung ist aber der Sinn allen Begriffs und nicht weniger allen Urteils. "X ist A" heißt: dies vordem Unbekannte, obwohl Gegebene, wird erkannt als - durch die Erkenntnis umgeschaffen in - ein Bestimmtes, Identisches; welche Identität und Bestimmtheit, im Unterschied von der Nochnichtbestimmtheit des X, durch das A, den Ausdruck der bekannten Größe, vertreten wird. Der "Satz der Identität" ist insofern wirklich das wahre und letzte Prinzip des Urteilens überhaupt. Fehlerhaft ist an seiner hergebrachten Fassung nur, daß die Identität, in Gestalt des gegebenen Begriffs oder Urteils, immer schon vorausgesetzt, und von dieser schon vorausgesetzten Identität dann überflüssigerweise versichert wird, sie sei wirklich identisch. So gefaßt taugt der Satz der Identität freilich höchstens zu einem Prinzip der "Analysis" der Erkenntnis; er ist aber Prinzip der Analysis nur, weil er der Ausdruck für die Einheit der Synthesis ist, ohne die überhaupt kein Begriff und keine Erkenntnis zu analysieren wäre; denn "wo der Verstand vorher nichts verbunden hat, da kann er auch nichts auflösen".

21. Ist somit die Identität der adäquate Ausdruck der Einheit der Synthesis selbst und auch des Begriffs und Urteils, der Qualität nach, so sieht man nicht gleich ab, wie zu einer Mehrheit von Urteilsarten, oder richtiger von Momenten der qualitativen Synthesis, wie wir solche an der quantitativen zu unterscheiden fanden, zu gelangen wäre. Doch wir besinnen uns, daß die Identität auf der Begrenzung des geistigen Blicks beruth. Durch Begrenzung aber wird nicht bloß etwas gesetzt, sondern zugleich etwas ausgeschlossen. Wir erhalten also doch eine Zweiheit, auch deshalb, weil es sich ja hier um ein Denkverfahren von allgemeiner Anwendbarkeit handeln wird, eine zunächst unabgeschlossene Mehrheit. Ihr Ausdruck, im Verhältnis zur Identität, als qualitativer Einheit, ist offenbar die Verschiedenheit. Wir haben also nun schon zwei Arten der Setzung: Identität und Verschiedenheit, sich verhaltend wie qualitative Einheit und Mehrheit, oder wie das Einerlei und Mehrerlei.

Diese offenbare Analogie der zwei ersten Kategorien der Qualität mit denen der Quantität führt naturgemäß auf die Frage, ob etwa auch bei der Qualität das Dritte sich wiederfindet: die Wiedervereinigung des erst Geschiedenen zu einer neuen, die Mannigfaltigkeit nicht aus- sondern einschließenden Einheit. Daß es in der Tat so ist, dafür haben wir hoffentlich einen besseren Grund als die "Liebe zur Symmetrie". Unterscheiden heißt nämlich nicht bloß auseinanderhalten, es heißt zugleich beziehen, vergleichen und auch zusammenhalten. Darin liegt aber schon die geforderte Zusammenfassung zur höheren Einheit. Es ist die Einheit des Gesichtspunkts der Vergleichung; also eine neue qualitative Einheit, eine neue Identität, eine solche aber, welche die Unterscheidung nicht aus- sondern einschließt. Sie begründet das, was die Logik Gattung nennt. Die Gattung ist, gegenüber der Art, nicht bloß das Allgemeine, Umfassende; vielmehr sie ist quantitativ das Umfassende nur, weil sie qualitativ die höhere, d. h. radikalere, konzentriertere Einheit darstellt. Sie gibt darum die primäre oder Grundbestimmung dessen,, was die Sache ist, im Vergleich zu welcher die Besonderheiten oder Artbestimmungen als sekundär gelten.

Ich würde es für ein Wagnis halten, in so fundamentalen Dingen etwas absolut zu neuern; daher ist es nicht überflüssig zu bemerken, daß schon ARISTOTELES die Sache richtig erkannt hat (Metaphysik X 3, 1054b 25f). Was verschieden ist, sagt er, ist in Etwas (in bestimmter Hinsicht) verschieden (tivi diapheron [anders - wp]); es ist also ein Selbiges, worin beide sich unterscheiden; dieses "was beides Unterschiedene dem Begriff nach Identisches ist", heißt die Gattung. Alles voneinander Unterschiedene ist somit nicht bloß Jedes ein Anderes (extera), sondern auch wiederum dasselbe. Nimmt man hinzu, daß ARISTOTELES (im selben Kapitel) ausdrücklich Identität und Verschiedenheit als qualitative Einheit und Mehrheit mit der quantitativen in Vergleichung stellt, so wundert man sich nur, wie wenig diese bedeutsamen Winke von der Logik bisher beachtet worden sind.

Auch die Qualität stellt hiernach ein allgemeines Denkverfahren dar, welches in drei Stufen vor einer zuerst gesetzten Einheit (Identität) durch Sonderung in eine Mehrheit (Unterscheidung) zu einer neuen, die Mehrheit nicht vernichtenden, sondern in sich aufnehmenden Einheit fortschreitet. Das Verhältnis der erst gesetzten zur höheren qualitativen Einheit ist das der Art zur Gattung. Die ganze Fortschreitung aber von den nächstgegebenen zu höheren und höheren Denkeinheiten hat die Bedeutung der fortschreitenden Vereinheitlichung (Zentralisierung) der Erkenntnis. Der zweiten Stufe fällt dabei, wie der entsprechenden Quantitätsstufe, bloß eine vermittelnde Rolle zu; ihr Ertrag an Erkenntnis ist in der dritten Stufe vollständig geborgen und behauptet neben ihr keinen selbständigen Wert. Der Grund ist derselbe wie dort: die Unbestimmtheit der bloßen Sonderung muß überwunden werden, weil Erkenntnis Bestimmtheit verlangt.

22. Diese durchgängig sich bewährende Analogie zwischen den "Kategorien" der Qualität und der Quantität ist so merkwürdig, daß wir sie noch etwas näher ins Auge fassen müssen, um uns zu überzeugen, daß sie in der Tat - keine Merkwürdigkeit ist.

Die Entsprechung ist nämlich eine notwendige, wenn doch Quantität und Qualität sich verhalten wie das synthetisch zu vereinigende Mannigfaltige und dessen synthetische Vereinigung. Es wurde schon gesagt: "Alle" heißt notwendig "Alles Solche", d. h. was unter die und die Qualitätsbestimmung fällt (z. B. alle A). Und das ist nicht etwa der Allheit eigentümlich, sofern diese Einheit des Vielen nur durch die qualitative Einheit möglich ist, sondern es trifft ebensowohl zu für die Einzelheit und die Mehrheit. Auch das Einzelne ist notwendig etwas Einzelnes oder ein Solches, sonst könnte es auch nicht als Einzelnes festgehalten werden; desgleichen kann eine Mehrheit gar nicht quantitativ auseinandergehalten werden, ohne zugleich qualitativ irgendwie unterschieden zu werden. Auch wenn ich dasselbe mehrmals setze, setze ich es zumindest neben- oder nacheinander; das sind aber doch inhaltliche, also (im logischen Sinn) Qualitätsbestimmungen. Das Eine ist hier, das Andere dort, das Eine jetzt, das Andere dann gegeben: damit sind beide nicht bloß geschieden (als mehr denn Eines), sondern zugleich unterschieden, jedes mit sich identisch, mit dem Anderen nichtidentisch gesetzt. So sicher Orts- und Zeitbestimmung einer Identität ist, so sicher fällt auch die bloß zeitliche oder räumliche Unterscheidung logisch unter den Gesichtspunkt der Qualität. Somit ist die Entsprechung der beiderseitigen Kategorien eine notwendige, sodaß, wer die drei Kategorien der Quantität anerkennt, es nicht mehr frei hat, die ihnen entsprechenden der Qualität zu verwerfen.

So dient derselbe Ausdruck des "Einen" und "Andern" das quantitative und qualitative Verhältnis zu bezeichnen. Habe ich Eins und ein Anderes, so habe ich zugleich quantitaiv ein Erstes und Zweites, und folglich Einheit und Mehrheit, und qualitativ Eins verschieden vom Andern, folglich Einerlei und Mehrerlei. Wäre der Grund dieser Entsprechung nicht erkannt, so müßte sie dennoch die Frage veranlassen, ob es nicht auch in der Qualität ein Drittes gibt, welches der quantitativen Allheit entspricht; nachdem der einfache Grund der Analogie in der Natur der synthetischen Einheit nachgewiesen ist, ist die dritte Kategorie der Qualität keine Frage mehr, sondern eine Notwendigkeit. Sie muß also das Vielerleit wieder zur Einheit, zur qualitativen Einheit, also zum Einerlei zusammenfassen - folglich zu einem Allerlei. So umfaßt die Gattung Dreieck nicht bloß der Zahl nach "alle" Dreiecke, sondern damit zugleich auch qualitativ alle Arten: die allerlei Dreiecke die es gibt. Die Entsprechung erstreckt sich also ebenfalls auf die dritte Kategorie.

23. Kaum bedarf es der Ausführung, daß sich auch auf diese Kategorien die genetische Betrachtungsart anwenden läßt. Das Resultat ist dasselbe wie bei der Quantität: die drei Stufen der qualitativen Synthesis sind ebensowenig wie die der quantitativen überhaupt zu trennen, sondern als untrennbar zusammengehörige Momente oder Stufen ein und desselben synthetischen Prozesses anzusehen. Wirklich liegt die "höhere" Einheit, als Gesichtspunkt der Vergleichung, schon in der Unterscheidung; und sofern auch das Einzelne der Qualität nur in der Unterscheidung von anderem Einzelnen gesetzt wird, so liegt die höhere Einheit auch schon der ersten Identitätssetzung in gleichem Sinne zugrunde wie die Allgemeinheit der Einzelheit; sie wird, wie schon gesagt, als die radikalere oder fundamentalere gedacht. Daß für uns subjektiv die abgeleitetere Identität gewöhnlich die näherliegende, die ursprünglichere die entferntere ist, kommt hier so wenig wie dort in Betracht. Kurz: alles verhält sich genauso wie bei der Quantität (siehe § 15).

Daraus ergibt sich ebenfalls unsere Stellung zur bisherigen logischen Behandlung der Urteilsqualität. Seit ARISTOTELES unterscheidet man unter dem Gesichtspunkt der Qualität zwei Urteilsklassen, das bejahende und verneinende Urteil. Auch hier ging man aus von der Vergleichung zweier Begriffe. Bezieht sich die Vergleichung auf den Inhalt, so scheint nur eines von beidem möglich: die verglichenen Begriffe sind entweder identisch oder nicht identisch. Mehr ist in der Tat nicht zu finden, solange man den Gesichtspunkt der Klassifikation nach dem Qualitätsverhältnis der verglichenen Begriffe, des Subjekts- und Prädikatsbegriffs, festhält.

Neuerlich werden gegen das verneinende Urteil Bedenken laut; sie sind unbegründet. In aller Erkenntnis, meint man, komme es doch auf Bejahung an; die Verneinung sei also mindestens an Erkenntniswert nicht der Bejahung gleichzustellen; sie sei aber auch in der Tat nicht gleich ursprünglich, sondern bedeutet nur ein Urteil über ein Urteil: das Urteil, daß ein anderes, nämlich das gegenüberstehende bejahende Urteil, falsch ist. Der täuschende Schein verschwindet, sobald man sich klar macht, daß die Verneinung eine Unterscheidung bedeutet. Da nämlich alles Urteilen unter dem Gesichtspunkt der Identität steht, so kann das "ist" und "ist nicht" nichts anderes besagen als Identität und Nichtidentität, d. h. Unterscheidung. "A ist nicht B" besagt: A ist etwas, B ist auch etwas, aber Eins ist nicht das Andere, d. h. es ist von ihm verschieden; oder A und B sind Zweierlei. So sicher nun das Urteil "dies sind Zwei" eine Erkenntnis von eigenem Wert ausspricht und nicht bloß den Sinn hat, den Irrtum fernzuhalten, es sei Eins, so sicher hat das Urteil "dies ist Zweierlei" oder "das Eine ist nicht das Andere", einen eigenen Wert und bedeutet nicht bloß die Abwehr des Irrtums, es sei Einerlei. Wird das verneinende Urteil richtig als Unterscheidungsurteil verstanden,so dürfte es selbst an Wichtigkeit für die Erkenntnis hinter dem bejahenden nicht zurückstehen. Die Begriffe auseinanderzuhalten ist gewiß ebenso wichtig wie jeden in seiner Identität festzuhalten.

Aber das ist doch ganz dasselbe! wird man entgegnen. - Es ist dasselbe und ist auch nicht dasselbe. Es ist dasselbe, sofern beides mit gleicher Ursprünglichkeit in der begrenzenden Natur der synthetischen Einheit gegeben ist;, sofern durch denselben begrenzenden Blick des Geistes gleich unmittelbar das, was unter die Denkeinheit fällt, gesetzt, und, was nicht darunter fällt, ausgeschlossen ist. Aber eben insofern ist es doch wiederum nicht Eins sondern Zweierlei, so gewiß Einheit und Mehrheit nur im Verhältnis zueinander gegeben, aber darum doch nicht dasselbe sind.

Der Fehler liegt also nicht in der Gleichberechtigung, die man für die Negation in Anspruch nahm, sondern in einem falschen Gesichtspunkt der Klassifikation der Urteile. Man sollte eben auch hier, wie bei der Quantität, nicht von koordinierten Urteilsarten reden, sondern von den untrennbar zueinander gehörigen Momenten ein und desselben synthetischen Aktes, in welchem Begriff und Urteil miteinander erst entspringen. Die Klassifikation ist nicht unzulässig, aber sie ist sekundär.

24. Die volle Klarheit über den logischen Wert der Negation ergibt aber erst die Hinzunahme der dritten Kategorie, deren Vernachlässigung sich somit als der tiefere Grund des Mißverständnisses entdeckt.

Sicher bedeutet die Negation einen Fortschritt der Erkenntnis. Ich weiß etwas mehr, wenn ich nicht bloß weiß, was die Sache ist, sondern auch, was sie nicht ist. Darin liegt eine neue Synthesis, eine weitergreifende sogar als die der einfachen Position. Denn es liegt darin ein Hinausgehen über die erst gesetzte Grenze der Betrachtung, also die Erhebung zu einem höheren Gesichtspunkt, der Fortschritt zu einer umfassenderen, weil konzentrierteren Gedankeneinheit.

Aber allerdings nicht die Negation für sich leistet so etwas Großes, sondern nur sofern sie den Übergang bedeutet von der ersten zur höheren Identitätssetzung. Das ist also die wahre Bedeutung der Negation: daß sie den ersten Schritt tut, dem als zweiter folgen muß die Gewinnung eines höheren Gesichtspunktes, unter dem die vorher bloß wechselweise eingenommenen sich wieder vereinigen. Die Bedenken gegen das negative Urteil heben und erklären sich also ganz im gleichen Sinn wie oben (siehe § 17) die gegen das partikulare: es hat seine Rechtfertigung darin, daß es die unentbehrliche Mittelstufe darstellt von der Einheit zur Allheit der Qualität; die Mittelstufe, nicht im Sinne einer den beiden anderen koordinierten Urteilsart, sondern im Sinne des Begrifflichen Komplements der Position zu einer höheren Position.

Mit gutem Grund also läßt man den "Begriff" im vollen Sinn erst fertig werden mit der "Definition" durch Gattung und artbildenden Unterschied; worin genau die drei Momente der qualitativen Synthesis ausgedrückt sind.

25. Die durchgängige Analogie der Qualität und Quantität, die Wiederkehr der drei Momente, Einheit, Mehrheit, Allheit, auf dem Gebiet der Qualität selbst führt weiter auf die Frage, ob etwa hier wie dort nicht bloß eine Mehrheit, sondern eine Unendlichkeit in Frage kommt. Im gleichen Sinn wie dort in der Allgemeinheit, so würde sie hier in der quantitativen Einheit der Gattung zu suchen sein.

Ohne Zweifel bedeutet die Allheit der Unterschiede, die innerhalb einer Gattung gesetzt werden können, dem logischen Quell nach Unendlichkeit. Denn auch das Denkverfahren der Setzung von Identität und höherer Identität, das sich in den drei Qualitätsstufen ausdrückt, steht ein für allemal zur Verfügung und führt also auf einen unendlichen Fortschritt der Erkenntnis. Auch die qualitative Synthesis bedeutet eine "Funktion", eine "Einheit der Handlung", d. h. der Verfahrensweise; und sofern sich ihre gesamte Leistung in der dritten Kategorie zusammenfaßt, liegt in ihr, wie in der Allheit der Quantität, die Unendlichkeit beschlossen.

ARISTOTELES und wer aristotelisch gesinnt ist, wird widersprechen und auf der notwendigen Endlichkeit der Arten bestehen. Allein die neuere Wissenschaft ist nun einmal nicht aristotelisch gesinnt; ihr ist die qualitative Unendlichkeit etwas ganz Geläufiges. Sie unterscheidet sich hier wie überhaupt von der aristotelischen durch die offene Anerkennung der Unendlichkeit und damit gesetzten Relativität, gegenüber einem unverbesserlichen empirischen Absolutismus des ARISTOTELES. So wie die Gattung des Dreiecks nicht bloß der Zahl nach unendliche, sondern unendlich verschiedene Dreiecke einschließt, so im Grunde jede echte Gattung.

Die unendlichen Unterschiede der Qualität in die Grenzen des Begriffs einzuschließen, das ist die Aufgabe. Soll das möglich sein, so muß das begrenzende Verfahren selbst unbegrenzt anwendbar sein.

26. Aufgrund der Unendlichkeit der Qualität läßt sich - um hier beispielsweise einmal auf die weiteren Folgerungen einzugehen - ein nicht unwichtiges Kapitel der überlieferten Logik, das Kapitel vom Gegensatz, ins Reine bringen.

Schon ARISTOTELES gründet die Kontradiktion nicht ausschließlich auf das Verhältnis von Bejahung und Verneinung, sondern daneben auch direkt auf die Identität und Unterscheidung; was ja in der Sache Eins ist. Identität und Verschiedenheit bilden einen Gegensatz, sofern "Jedes im Verhältnis zu jedem Andern entweder dasselbe oder verschieden ist" (Metaphysik X3, 1054b 15); wo das Entweder-oder beweist, daß der Gegensatz der kontradiktorische ist.

Interessant ist aber namentlich seine Ableitung der anderen Art des Gegensatzes, der Kontrarietät (ebd. c.4). Das Unterschiedene fällt doch unter dieselbe Gattung. Nun ist innerhalb einer Gattung der Unterschied größer und kleiner; der größte Unterschied also, oder der dem "weitesten Abstand" entspricht, ergibt die Kontrarietät (enantiosis).

Lehrreich ist hier die durchweg quantitative Behandlung qualitativer Verhältnisse, deren Grund wir erkannt haben. Es gibt eine Größe des qualitativen Unterschieds. Das weitere folgt für ARISTOTELES aus der Voraussetzung, daß die Reihe der Unterschiede beiderseitig begrenzt sein muß; offenbar durch die Einheit des Gesichtspunkts der Vergleichung, also die Gattung. So ergibt sich der Lehrsatz: daß es zu jedem Begriff nur einen Gegensatz gibt - nämlich im Sinne des "vollen" Gegensatzes (des teleios enantion).

Ist diese Voraussetzung richtig? Unsere heutige Physik zumindest kennt Qualitätsreihen, die beiderseits bis ins Unendliche gehen. Auch bildet die notwendige Begrenzung des Gesichtspunkts der Vergleichung offenbar kein Hindernis. Es wäre instruktiv, die Folgen des Mangels des Begriffs der qualitativen Unendlichkeit an einer Vergleichung der aristotelischen mit der modernen Physik nachzuweisen. Daß unsere traditionelle Logik an der Frage einfach vorbeigeht, beweist, wie wenig sie davon ahnt, daß seit GALILEI nicht bloß die Physik, sondern die Logik des Aristoteles - gestürzt ist.

Was wird denn nun aus dem konträren Gegensatz? Er bleibt in Geltung, aber mit einer Korrektur. Rücken die Enden beiderseits ins Unendliche hinaus, so bleibt doch der Gegensatz der Richtungen, Plus- und Minusrichtung. KANT gebrauchte dafür in seinem wertvollen vorkritischen "Versuch", die negativen Größen in die Weltweisheit einzuführen", den Ausdruck "Realopposition". Ist es das Merkmal des konträren Gegensatzes, daß er ein Drittes oder Mittleres nicht ausschließt, sondern fordert, so ist die echte Kontrarietät der Richtungsgegensatz. Das Mittlere zwischen + und - ist die Null; so das Mittlere zwischen Bewegung in einer und der entgegengesetzten Richtung die Ruhe usw. Der aristotelische Satz, daß ein jedes nur einen Gegensatz hat, erhielte dadurch die veränderte Gestalt: daß es unter einem Gesichtspunkt der Vergleichung unendliche Unterschiede, aber nur zwei Unterscheidungsrichtungen gibt. Selbst das bei ARISTOTELES so wichtige und so verhängnisvolle Prinzip der Spezifikation durch den Gegensatz (Prinzip der Zweiteilung) könnte mit der entsprechenden Abänderung ohne Schaden bestehen bleiben. Das Ergebnis ist, daß auch der konträre Gegensatz relativiert, eben dadurch aber der Unendlichkeit der Relationen, welche das wahre Element der Erfahrungserkenntnis ist, angepaßt wird.

27. Bewährt sich auch hier die Entsprechung zwischen Qualität und Quantität, so zeigt sich andererseits gerade an der Unendlichkeit am klarsten der Grundunterschied beider. Quantitative und qualitative Einheit bedeuten beide eine Einheit des Unendlichen, aber sie fassen das Unendliche auf grundverschiedene Art in sich. Die quantitative Allheit umschließt es bloß, als die unendlichen Teile und Teile der Teile; dabei wird keine wahre Einheit erreicht und die Verbindung von Teil und Teil ist bloß eine äußere Zusammensetzung (Aggregation), kein innerer Zusammenhalt (Kontinuität). Daher kann ihr zufolge auch der Übergang von Größe zu Größe nur gedacht werden durch den Zusatz willkürlicher Einheiten, d. h. diskret; es fehlt soweit an jedem Mittel, eine Kontinuität auch nur auszudrücken. Dagegen schaft die qualitative Allheit, durch eine Zusammenfassung der unendlichen Unterschiede der Qualität in einer höheren Identität, nicht bloß eine äußere Verbindung durch die Angrenzung der Teile an- und eine Abgrenzung voneinander, sondern den Zusammenhalt in einer inneren, zentralen Einheit, als Quell, woraus die Mannigfaltigkeit, die unendliche Mannigfaltigkeit sich erzeugt. Genau dies ist aber erforderlich, um die Kontinuität verständlich zu machen: kontinuierlich heißt die Größe, sofern sie in ihrer Erzeugung gedacht wird. Das, woraus sie sich erzeugt, kann nicht immer wiederum eine Größe sein, weil so kein wahrer Anfang erreicht wird; und so sieht man sich von selbst vielmehr auf eine qualitative Einheit gedrängt, aus der jede quantitative erst hervorgehend gedacht werden muß.

Daß sich damit das Problem der Kontinuität wirklich löst, leuchtet vielleicht hier schon ein und wird künftig (siehe § 46) näher beleuchtet werden. Demnach entspringt die Stetigkeit der Größe aus der dritten Qualitätskategorie, aus jener, das Mannigfaltige innerlich, zentral vereinigenden, nicht bloß äußerlich, peripherisch umfassenden Einheit der Qualität. Es sei gestattet, diese Art der Einheit die komprehensive [Vereinigung von Mannigfaltigkeit zu einer Einheit - wp], im Unterschied von der bloß kompositiven der quantitativen Allheit, zu nennen.

Daß die Stetigkeit, trotz ihres Ursprungs aus der Qualität, als Eigenschaft der Größe gilt, geht nicht wunderbar zu, sondern folgt zwingend aus der nachgewiesenen und als notwendig erkannten Entsprechung zwischen Qualität und Quantität überhaupt, welche die einfache Konsequenz ihres gemeinsamen Ursprungs aus einer synthetischen Einheit ist. Auch die qualitative Einheit bleibt doch eine Einheit des Mannigfaltigen, ist folglich schon ansich des quantitativen Ausdrucks nicht bloß fähig, sondern bedürftig. Ihr Mannigfaltiges ist überhaupt kein Anderes als dasjenige, welches andererseits quantitativ in den drei Stufen, Einzelheit, Mehrheit, Allheit, aufgefaßt werden kann. Folglich wird die Eigentümlichkeit der Qualität auch an der Quantität, nicht erscheinen, aber gedacht werden können und müssen. Sie erscheint in der Tat nicht; noch niemand hat Kontinuität gesehen, sie kann bloß gedacht werden. Eben damit beweist sie sich als Ausdruck der qualitativen Einheit, die ja am unmittelbarsten die Denkeinheit selbst bezeichnet.

Danach ist es so "merkwürdig" nicht mehr, wie KANT es fand, "daß wir an Größen überhaupt a priori nur eine einzige Qualität, nämlich die Kontinuität, an aller Qualität aber ... nichts weiter a priori als die intensive Quantität derselben ... erkennen können". (Kr. d. r. V., Ausgabe KEHRBACH, Seite 170). Zu verwundern ist vielmehr die große Einfachheit, in der sich das Wunder der Kontinuität löst.

Aus unserer Betrachtung folgt u. a., daß die Stetigkeit ohne jeden Anstoß oder künstliche Vermittlung auf die Zahlreihe übertragbar ist. Nicht einmal der Rekurs auf Zeit oder Raum ist dazu vonnöten; vielmehr genügt die einfache Besinnung, daß und warum qualitative und quantitative Einheit, als untrennbar zusammengehörige Ausdrücke ein und derselben Einheit der Synthesis, sich notwendig entsprechen.


Mit den letzten Erwägungen sind die Grenzen dieses Kapitels vielleicht schon um ein Weniges überschritten. Ich habe diese Überschreitung nicht vermieden, gerade um die genaue Anknüpfung des "Transzendentalen" an das "Logische" recht fühlbar zu machen. Vielleicht ist schon der eine oder andere Leser dahinter gekommen, daß das Logische vielmehr ohne Rest ins Transzendentale aufzuheben ist.

Länger dürfen wir jedoch nicht zögern, Zeit und Raum und damit das Problem des Gegenstandes direkt einzuführen, um den Wert unserer Kategorien auf ihrem eigentümlichen Feld, dem der gegenständlichen Erkenntnis, zu erproben. Auch die Kritik der von KANT aufgestellten dritten qualitativen Urteilsklasse mag für die Stelle aufgespart bleiben, wo die entsprechende "Kategorie" zu prüfen sein wird. Soviel dürfte jedoch schon hier klar sein: daß weder KANT bei der Aufstellung seiner dritten qualitativen Urteilsart und Kategorie bloß der kindlichen Freude an der Symmetrie nachgegeben hat, noch Kantianer, wenn sie die Dreizahl ungern preisgeben, darum notwendig in einem mittelalterlichen Autoritätswahn oder einer pythagoreischen Zahlenmystik befangen sind.
LITERATUR | Paul Natorp, Quantität und Qualität in Begriff, Urteil und gegenständlicher Erkenntnis Philosophische Monatshefte, Bd. 27, Heidelberg 1891
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