ra-3 W. SombartM. Reischlevon HallerF. KleinJ. Mausbach    
 
LUDWIG STEIN
[1859 - 1930]
Das Autoritätsproblem

"Unter Autorität verstehen wir logisch das ungeprüfte Fürwahrhalten eines fremden Urteils. Einer Autorität sich unterwerfen, bedeutet die Preisgabe des eigenen Urteils zugunsten eines anderen, den Verzicht auf persönliche Urteilsabgabe mit Rücksicht auf das uns bindende Urteil der von uns als Träger der Autorität anerkannten Personen, Bücher oder Institutionen."

"Beispiele solcher Autoritäten sind die Unterwerfung der Kinder unter die Eltern, der Schüler unter die Lehrer, der Bürger unter den Staat, der Gläubigen unter ihre Kirche, der Laien unter die Fachmänner, der Gemeinen unter die Offiziere, der Stadtgenossen unter ihre Behörden, der politischen Parteien unter ihre Führer."

"Daher die Revolte aller energischen Naturen, allen voran die Fichtes, gegen die erdrückende Macht der Autorität, die alle Persönlichkeit zu einem Kanal des Allgemeingültigen herabdrückt. Schon Kant hielt die Heteronomie, die Rücksichtnahme auf fremde Willen für sittlich minderwertig, indem er nur solchen Handlungen, die aus eigener Zwecksetzung resultieren, einen Sittlichkeitscharakter zubilligt."

"Autorität ist ein Beziehungsbegriff genauso wie Kausalität oder Wahrheit, wie Nutzen oder Schaden. Daß alle Beziehungsbegriffe nur von Menschen für Menschen gelten, also jenseits des menschlichen Bewußtseins gar keine Realität besitzen, wird nur zu leicht vergessen."

Die philosophische Behandlung eines Problems gilt vornehmlich jenen stillen, verschwiegenen Voraussetzungen, welche ungeprüft von Mund zu Mund gehen, durch Überlieferung Sanktion erhalten, bis ein unruhiger philosophischer Fragesteller dahinterkommt, daß die Probleme recht eigentlich erst dort anfangen, wo andere Lösungen sehen. Setzt der Mathematiker Raum, Zeit und Zahl, der Naturforscher das Dasein einer Körperwelt mit streng kausalem Gesetzescharakter, der Theologe das Dasein Gottes, der Rechtslehrer das Eigentum als fertige, nicht weiter diskutierbare Gegebenheiten oder Erlebnisse voraus, so verwandeln sich für die Philosophen alle diese gedannklichen Ruhepunkte in ebensoviele Fragezeichen. Ist das Eigentum eine psychologische Kategorie mit notwendigem Entwicklungscharakter oder nur eine historische Kategorie mit zeitlich und örtlich bedingtem Übergangscharakter, so fragt der rechtsphilosophie Feuergeist FERDINAND LASSALLE. Ist das, was der Naturforscher Körper nennt, nur ein  phaenomenon bene fundatum [Erscheinung mit gutem Grund. - wp] wie LEIBNIZ annimmt, oder, mit ERNST MACH zu sprechen, nur ein Komplex von Empfindungen? Ist das Dasein Gottes logisch-mathematisch beweisbar, wie DESCARTES uns lehrte, oder est es durch reine Vernunft schlechterdings nicht auszumachen, wie KANT in der "Kritik der reinen Vernunft" uns begreiflich zu machen suchte? Ist der Raum mit NEWTON "un être réel absolu" [ein absolut reales Wesen - wp] und selbst die Zeit eine auch außerhalb unseres Denkens sich abspielende Wirklichkeit; gibt es ein  tempus absolutum,  wie NEWTON sagte, oder sind Raum und Zeit mit KANT nur Anschauungformen a priori? So geartet ist die philosophische Problemstellung, die es weniger mit der Tatsächlichkeit als mit der Ursächlichkeit aller Erscheinungen zu tun hat, die nicht Krone und Wipfel am Baum der Erkenntnis bewundert, sondern das Erdreich aufgrät, aus welchem der Baum seine geheimen Säfte saugt und die darum nicht eher ruht, bis die letzten Wurzelfasern bloßgelegt sind. Eine philosophische Behandlung des Autoritätsproblems wird nach all dem andere Wege einschlagen als etwa eine theologische, welche die göttliche Autorität als fertiges Dogma verkündet, oder eine juristische, welche die Staatsautorität als Tatsache des geschichtlichen Lebens stillschweigend voraussetzt. Wir werden vielmehr über die geschichtliche Tatsächlichkeit der Autorität hinweg - die als Prinzip so wenig strittig ist, daß sich sogar Räuberbanden gezwungen sehen, Führer einzusetzen, deren Autorität sie sich meist blindlings unterwerfen - zu den tieferen philosophischen Beweggründen hinabzusteigen haben. Für uns ist Autorität ein sozialpsychisches Problem, richtiger das zentrale Problem der Massenpsychologie.

Daß die Menschen aller Zonen und Zeiten, sobald sie mit SPENCER zu sprechen, zu einem Aggregat von mehr als hundert Personen etwa sich vereinigen, ohne soziale Differenzierung, ohne hierarchische Abstufung, ohne System der Unter- [sklave] und Überordnung [hershaft] schlechterdings nicht mehr miteinander auskommen, das ist ein unumstößliches Faktum nicht bloß der vergleichenden Ethnographie und der Universalgeschichte, sondern und vor allem das Grundphänomen der sozialen Psychologie. Die Massenpsychologie, die es mit der suggestiven Wirkung des Führers auf seine Anhänger, des Redners auf seine Zuhörerschaft, des Sektenstifters auf seine Adepten, des großen Künstlers oder Gelehrten auf ihre Schüler usw. zu tun hat - diese Massenpsychologie hat ihr wissenschaftliches Rückgrat im Problem der Autorität. Wir werden uns daher in erster Linie um eine knappe und präzise Definition zu bemühen haben, was unter Autorität zu verstehen ist. Sodann werden wir dem seelischen Ursprung allen Glaubens an Autoritäten nachzugehen haben, um schließlich die logische Geltung des Autoritätsprinzips mit besonderer Rücksicht darauf zu prüfen, ob wir es beim Problem der Autorität mit einer bloß historischen Kategorie zu tun haben, die auch anders hätte ausfallen können, wenn die zeitlichen und örtlichen Bedingungen andere gewesen wären, oder ob wir das Prinzip der Autorität als seelische Notwendikeit der Selbsterhaltung der menschlichen Gattung zu deuten, als sozialen Regulator des gesellschaftlichen Gleichgewichts unter den unvermeidlich miteinander kollidierenden Interessen der einzelnen Individuen zu begreifen haben. Wir wenden uns alsdann den geschichtlichen Trägern des Autoritätsprinzips zu. Die letzte Frage unserer Behandlung des Autoritätsproblems, die nach dem logischen Geltungsbereich, nach Umfang und Grenzen, nach Grad und Maß, nach Art und Wirksamkeit der Autorität, wie wir sie in einem besonderen Werk darzustellen gedenken, wird natürlich von der Entscheidung der Vorfrage abhängen, ob Autorität eine bloß historische oder ob sie eine psychologische Kategorie darstellt.

Unter "Autorität" verstehen wir logisch das "ungeprüfte Fürwahrhalten eines fremden Urteils" (WILHELM JERUSALEM). Einer Autorität sich unterwerfen, bedeutet die Preisgabe des eigenen Urteils zugunsten eines anderen, den Verzicht auf persönliche Urteilsabgabe mit Rücksicht auf das uns bindende Urteil der von uns als Träger der Autorität anerkannten Personen, Bücher oder Institutionen. Der Glaube an die Überlegenheit der uns als Autoritäten geltenden Instanzen, seien diese physische oder hyperphysische [übernatürliche - wp] Personen, Werke oder Einrichtungen, liegt allem Autoritätsbedürfnis seelisch zugrunde. Wenn wir unser Denken und dementsprechen unser Handeln so einrichten, wie die von uns gesetzten und gebilligten Autoritäten uns befehlen oder raten, so verwandeln sich die Autoritäten in Motivquellen unseres Handelns. Man ordnet in diesem Fall den eigenen Willen einem fremden unter, heiße dieser fremde Wille nun Gott oder König, religiöse Offenbarung oder Rechtsgesetz. Jedes Handeln nach Autoritätsvorschriften ist, wie KANT und nach ihm besonders FICHTE uns eingeschärft haben, heteronom [von außen gesetzt - wp] und nicht autonom. Was die Autoritäten vorempfinden, haben wir nachzuempfinden, was sie vordenken, haben wir nachzudenken, was sie schließlich vorgewollt haben, das haben wir nur nachzuwollen. Dort Befehl, hier Gehorsam. Die Autoritäten stellen die Regeln, Normen und Gesetze des Denkens, Fühlens und Handelns fest, während diejenigen, die sich diesen Autoritäten oder ihren Trägern unterwerfen, nur Vollziehungsorgane sind, gleichsam die Exekutive dort darstellen, wo die Autoritäten die Legislative repräsentieren. Die Autoritäten sind, je nachdem, Hemmungs- oder Beschleunigungsorgane unseres Willens. Sie schaffen die allgemeingültigen Werte; sie prägen die Münze, während die ihnen seelisch Unterworfenen sie nur in Kurs setzen.

Woher rührt nun diese freiwillige Versklavung und selbstauferlegte Bevormundung des ganzen Menschengeschlechts? Seit Anbeginn der beglaubigten Geschichte kennt man kein Volk, in dem sich nicht ein Oben und Unten, eine Über- und Unterordnung, eine Spaltung in Befehlende und Gehorchende, in Herrschende und Dienende, kurz eine soziale Differenzierung in Klassen und Stände durchgesetzt hätte. Sollte das bloßer Zufall sein, daß die Anarchie des Urzustandes mit fortschreitender Gesittung allüberall äußerlich geregelter Konvention und Legalität, einem mehr oder weniger komplizierten, meist abgestuften System der Über- und Unterordnung gewichen ist? Weswegen sind zwar die  Formen  der Autoritäten genauso nach Zone und Bodenbeschaffenheit verschieden wie die Sprachen und Kulte, während das  Prinzip  der Autorität auf dem ganzen Erdenrund ebenso notwendig und unaufhebbar zu sein scheint, wie alle Sprachen eine gemeinsame Logik, oder wie alle Zeremonielle und Kulte einen gemeinsamen religiösen Kern in sich bergen.

Wäre das Autoritäts- oder Anlehnungsbedürfnis der Menschennatur nur eine historische Kategorie, d. h. zeitlich und örtlich bedingt, also etwas Relatives - ein Willkürprodukt, das auch anders hätte ausfallen könen, so bliebe jener  consensus omnium [allgemeiner Konsens - wp], der bei allen Völkern, in allen Zonen und zu allen Zeiten  Autoritäten  gezeitigt hat, ein soziologisches Rätsel. Beispiele solcher Autoritäten sind die Unterwerfung der Kinder unter die Eltern (patria potestas [väterliche Gewalt - wp], der Schüler unter die Lehrer, der Bürger unter den Staat, der Gläubigen unter ihre Kirche, der Laien unter die Fachmänner, der Gemeinen unter die Offiziere, der Stadtgenossen unter ihre Behörden, der politischen Parteien unter ihre Führer. Ohne eine Unterordnung der Einzelnen unter eine Gesamtheit wäre das gesellschaftliche Gleichgewicht so sensibler und reizsamer Persönlichkeiten, wie wir Kulturmenschen nun einmal sind, auf die Dauer unmöglich zu behaupten. Ist doch das  zoon politikon, Mensch  genannt, das unbeholfenste aller Lebewesen, wie schon ANAXIMANDER im Altertum richtig beobachtet hat. Der menschliche Säugling ist auf elterliche Fürsorge länger, dringender und unabweislicher angewiesen, als irgendeine Tiergattung. Und darum ist dann auch die  patria potestas  als Korrelat der unaufhebbaren elterlichen Fürsorge die Urform aller Autorität. Wer ohne elterlichen Schutz oder ausgiebige Hilfe von Erwachsenen zur Welt kommt, geht unrettbar unter, es sei denn, daß eine gefällig Wölfin aus der Romulussage die Mutterschaft substituiert. Bis zum Erwachen der Selbständigkeit im Denken, Fühlen und Handeln ist es ein unabweisliches Gebot der Selbsterhaltung eines jeden menschlichen Wesens, der elterlichen Gewalt überantwortet zu sein, zumal ein Fehlen oder Versagen dieser Autorität die schwersten Schäden für das betreffende Individuum selbst mit sich bringt. Ja, es hat fast den Anschein, als ob das Prinzip der Autorität eines jener unterirdischen Mitte wäre, deren sich der "Hegelsche Weltgeist" in der stufenweisen Erziehung des Menschengeschlechts von der Bestialität zur Humanität bedient. Jedenfalls spielt das Prinzip der Autorität im Handlungsplan der Menschheitsgeschichte die Rolle des jeweiligen sozialen Regulators. In diesem Sinne habe ich Autorität und Anarchie als die beiden äußersten Enden menschlichen Zusammenlebens bezeichnet ("Sinn des Daseins", vorher in Schmollers "Jahrbüchern" erschienen). Dort stellte ich folgende Begriffsbestimmung auf: Autorität ist das einigende, zusammenschließende, arterhaltende, Anarchie das auflösende, zersetzende, artschädigende Prinzip. Dort Altruismus, hier Egoismus; dort Allgemeininteresse der Gattung, hier Spezialinteresse des Individuums.

Der fundemantale Konflikt der Weltgeschichte ist der perennierende [andauernde - wp] Widerstreit von Individuum und Gattung, von Persönlichkeit und Gemeinschaft. Der aufsaugenden und nivellierenden Wirkung der Autoritäten stemmt sich die Persönlichkeit je länger, desto trotziger und selbstsicherer entgegen. Das Thema der neueren Geschichte seit der Renaissance, dem Humanismus und der Reformation ist der Kampf um die Persönlichkeit, um Autonomie gegen Heteronomie, um Individualität gegen Autorität.

Dem politischen Schlachtruf STAHLs: "Autorität, nicht Majorität", steht schroff und unversöhnlich FICHTEs: "Sei Person!", STIRNERs "Einziger", NIETZSCHEs "Übermensch" gegenüber. Dort werden die Interessen der Gattung ebenso einseitig auf Kosten des Individuums verfochten, wie hier umgekehrt die Interessen des Individuums ganz losgelöst von denen der Gattung in den Vordergrund gestellt werden. Die Gegensätze von Autorität und Anarchie, von Kommunismus und Individualismus, Gattungsinteresse und Individualinteresse sind von den starren Vertretern der betreffenden Weltanschauungen immer auf ein  aut - aut  [entweder - oder | wp] gestellt. Entweder Autorität, oder Anarchie.  Tertium non datur.  [Ein Drittes gibt es nicht. - wp] Die philosophische Behandlung des Problems der Autorität wird die Einseitigkeit von rechts ebensowenig gelten lassen wie die von links. Wo die grundsätzlichen Gegenfüßler nur ein hitziges  aut - aut  sehen, da wittert der philosophische Betrachter ein kühleres  et - et [sowohl - als auch | wp]. Das Problem der Autorität birgt daher ein  sowohl - als auch  in sich. Das krasse Herausstellen einseitiger Standpunkte, wie das rückhaltlose Verfechten der Autorität seitens STAHLs und HALLERs, und das draufgängerische Vertreten der Rechte der Persönlichkeit von seiten STIRNERs und NIETZSCHEs hat den Vorzug durchsichtiger Klarheit und schlupfwinkellosen Zuendedenkens. Aber nichts schädigt einen Standpunkt mit der Zeit sicherer als seine eigene Karikatur. Das starre Autoritätsprinzip, dem AUGUSTINUS ("Gegen die Manichäer", Kap. 6 einmal die Fassung gegeben hat: "Ego vero evangelio non crederem, nisi me catholicae ecclesiae commoveret auctoritas" [Ich für meinen Teil würde das Evangelium nicht glauben, gäbe es nicht die Autorität der katholischen Kirche. - wp] hat angesichts der geschichtlichen Tatsachen seit der großen französischen Revolution ebenso Schiffbruch erlitten, wie die von den Anarchisten verkündete unantastbare Souveränität oder Selbstherrlichkeit des Individuums. Ohne alle Autorität ist das Menschengeschlecht ebensowenig zu erziehen und zu lenknen wie mittels einer alle Persönlichkeit ersticenden und verflachenden Autorität. Bei Extremen kann sich das Menschengeschlecht niemals auf die Dauer beruhigen; denn jedes auf die Spitze getriebe Gesellschaftsprinzip stört das Gleichgewicht und geht zuletzt an seiner blutleeren Einseitigkeit zugrunde. So schreibt einmal der kommunistische Historiker HIPPOLYTE CASTILLE: "Das Prinzip der Autorität ist eine ewige Schutzwehr der menschlichen Gesellschaft." ROBESPIERRE sei ein bedeutender Mann, nicht seiner Talente und Tugenden halber, sondern wegen seines Sinnes für Autorität. Und in der Tat sehen sich selbst Raubstaaten, wie die Flibustier [Freibeuter - wp], gezwungen, Autoritäten einzusetzen und zu respektieren. So sehnt sich STIRNER nach einem "Verein von Egoisten" - ein drolliges Gegenstück zum Verein prinzipieller Vereinsgegner - und NIETZSCHE sucht wie hypnotisiert nach einer neuen Autorität, nach einem Führer oder vielmehr nach einer Edelrasse von Übermenschen. Ähnlich tuns sich auf benachbartem Gebiet die Atheisten oder "Freien" zu freireligiösen Gemeinden zusammen. Dieser seelische Zwang zum Zusammenschluß, der mit elementarer Gewalt auch dort hervorbricht, wo die Persönlichkeit gegen jede wie auch immer geartete Autorität innerlich revoltiert, zeigt uns mit unverkennbarer Deutlichkeit, daß es sich beim Problem der Autorität genauso wie beim Problem des Glaubens, seiner Zwillingsschwester, nicht um historische, sondern um psychologische Kategorien handelt.

In seinen posthumen "Dialogen über die natürliche Religion" hat uns HUME3 gezeigt, daß das religiöse Bedürfnis des Menschengeschlechts eine ebensolche psychologische Notwendigkeit darstellt, wie später KANT das metaphysische Bedürfnis der Menschennatur als unabweislich hingestellt hat. Dem religiösen und metaphysischen Bedürfnis möchte ich nun als dritte Grundeigenschaft der menschlichen Stammesnatur mit ihrer Gattungserfahrung ("Mneme") das Autoritätsbedürfnis an die Seite stellen. Hat man das religiöse Bedürfnis mit SCHLEIERMACHER, GOETHE und FEUBERBACH auf eine Gefühlsnotwendigkeit, das metaphysische Bedürfnis mit KANT auf eine Denknotwendigkeit zurückgeführt, so will ich hier das Autoritätsbedürfnis der menschlichen Stammesnatur als  Zwecknotwendigkeit, als  Willens ökonomie, als Ausfluß des Gesetzes vom kleinsten Kraftmaß erweisen. Was an den Religionen zeitlich und örtlich ist, das ist, wie wir wissen, nur das Konfessionelle. Was aber in allen Religionen überzeitlich und überräumlich ist, also ihr Ewiges darstellt, das ist der unaufhebbare Zwang der Menschennatur, sich Götter zu schaffen, alte nur zu stürzen, um neue an deren Stelle zu setzen. Ganz parallel verhält es sich, wie wir sahen, mit der Entwicklung der zahllosen Sprachen, Dialekte und Idiome zu der einen, sie bannenden Logik. Es beruhen die Gesetze der Logik, die allen Menschen und sogar Tieren gemeinsam sind, auf einem ebensolchen seelischen Zwang wie der Ausbau der religiösen Idee. Diesen seelischen Zwang nennen wir psychologische Kategorie im Gegensatz zu den einzelnen historischen Konfessionen oder den verschiedenen Fassungen der formalen Logik, denen wir nur zeitlich-örtlichen Charakter zubilligen.

Was zeitlich-örtlich bedingt ist, nennen wir historische, was überzeitlich und überörtlich als ständig sich einstellender Seelenzwang der identisch organisierten menschlichen Gattungsnatur mit ihren identischen Erfahrungen offenbart, das heißen wir psychologische Kategorie. Und eine solche psychologische Kategorie sehen wir in einem unaufhebbaren Autoritätsbedürfnis der menschlichen Stammesnatur. Historisch notwendig sind nur die  Formen  der Autorität, psychologisch notwendig aber ist das  Prinzip  der Autorität. Der Arterhaltungstrieb des Menschengeschlechts fordert gebieterisch, daß man sich überhaupt Autoritäten setzt. Welche Art von Autoritäten aber man einzusetzen oder anzuerkennen hat, das ist zeitlich-örtlich bedingt; denn das hängt von Boden und Klima, von Fauna und Flora, von Bewässerung und Höhenzügen, von körperlichen und tellurischen, schließlich von geschichtlichen Bedingungen ab. Die  Formen  der Autorität sind als historische Kategorien genauso verschieden, wie die Formen der göttlichen Anbeitung oder die grammatischen Formen und Lautsymbole der verschiedenen Sprachen, aber derselbe unaufhebbare Trieb der Menschennatur, der als psychologische Notwendigkeit zur Bildung der Sprache und Gestaltung der Religion überhaupt geführt hat, war auch am Werk, das Autoritätsprinzip als sozialen Regulator mit innerer Notwendigkeit zu zeitigen.

In meinem "Sinn des Daseins" (Tübingen, 1904, Seite 240 bis 271) habe ich versucht, eine phylogenetische Ableitung des Autoritätsprinzips zu geben, indem ich Furcht, Nachahmung und Einsicht als die drei aufsteigenden Offenbarungsformen des Autoritätsprinzips in der Geschichte aufgezeigt habe. Hier ist es mir darum zu tun, eine noch tiefere seelische Schicht des Autoritätsprinzips bloßzulegen, indem ich zunächst geflissentlich davon absehe, wie sich das Autoritätsprinzip in der Geschichte manifestier, vielmehr die ganze Frage darauf abstelle: wie ist das Problem der Autorität soziologisch zu packen? Lassen sich die historischen Erscheinungsformen der Autorität auf einen Generalnenner bringen, so daß letztenendes die historischen Erscheinungen der Autorität auf einem ebensolchen inneren Seelenzwang, also einer psychologischen Kategorie ruhen, wie das metaphysische und religiöse Bedürfnis? Warum verzichten die Menschen auf ihre Urfreiheit und Ungebundenheit in Sprechen und Denken, in Fühlen und Handeln, indem sie sich im Sprechen den Regeln der Grammatik, im Denken den Gesetzen der Logik, im Handeln schließlich entweder dem Rechtsgesetz oder der Moralnorm freiwillig unterwerfen? Die fortschreitende Gebundenheit des Individuums seitens des Kollektivs, dem sich das betreffende Individuum entweder selbst zuzählt oder vom Staat zwangsweise zugeordnet wird, ist ein hervorstechendes Kennzeichen eines jeden entwickelten Kultursystems. Diese freiwillige Bindung des modernen Menschen, der sich politische und religiöse Freiheit, Presse- und Redefreiheit in gewaltigen revolutionären Zuckungen nach mehrhundertjährigem Ringen ertrotzt hat, aber gleichwohl in seinem Sprechen, Denken, Fühlen und Handeln den tausendfachen Vorschriften der Grammatik und Logik, den Bevormundungen von Brauch und Sitte, von Recht und Gesetz, von Konvention und Legalität, von Etikette und Mode ohne Murren fügt, ansonsten er als Ausgestoßener gilt, das alles bedarf einer soziologischen Erklärung. Wenn die Menschen den anarchischen Zustand der autoritätslosen Ungebundenheit in der Wildnis oder Wüste mit fortschreitender Zivilisation allesamt verlassen haben, um sich im staatlich geordneten Zustand zahllose Bindungen und Bevormundungen selbst aufzuerlegen, so müssen für diesen Verzicht auf die Freiheit des Urzustandes zugunsten einer tausendfältigen Bindung des Menschen innerhalb eines geschlossenen Kultursystems tieferliegende Beweggründe maßgebend gewesen sein. Die historische Kategorie der Autorität, die sich bisher auf den Common sense insofern berief und ihr soziologisches Daseinsrecht damit begründete, daß alle uns bekannt gewordenen zivilisierten Völker irgendeine Art von Autorität eingesetzt und respektiert haben, muß in letzter Instanz auf eine psychologische Kategorie, auf einen unaufhebbaren Seelenzwang zurückgeführt werden, der sich darin kundgibt, daß das Autoritätsverhältnis ein unaufgebbares Merkmal der menschlichen Stammesnatur darstellt. Es handelt sich also nach all dem um das psychologische, weiterhin um das biologische und soziologische Fundament des Autoritätsprinzips.

Hier hilft uns nun folgende Erwägung: HERBERT SPENCER stellt, soweit ich weiß, zum ersten Mal den Begriff der "repräsentativen Gefühle" auf. Unter solchen "repräsentativen Gefühlen" versteht SPENCER die organisierten Resultate von Erfahrungen, welche das Menschengeschlecht im Laufe der Jahrtausende gesammelt hat. Solche aufgehäufte Gattungserfahrungen, die sich zum vererbbaren Instinkt verdichten, sind eine für die Gattung erworbene, für das Individuum ererbte Eigenschaft. Die menschliche Gattung hat ihre aufgespeicherten Erfahrungen in den Assoziationsbahnen und ihren Funktionen niedergelegt und in ihren abstrakten logischen Begriffen organisiert. Jede solche Gattungserfahrung oder Abstraktion stellt ein von der Vorzeit bereits durchdachtes Problem dar, das uns erspart, dieselbe Arbeit noch einmal zu vollziehen, welche unsere Vorfahren für uns schon verrichtet haben. Kein Individuum ist gescheit genug, alle näheren oder entfernteren Folgen seiner Handlungen selbst zu übersehen, also sieht es sich genötigt, sich durch Begriffe oder Gefühle, Normen und Gesetze leiten zu lassen, welche seine Vorfahren aufgrund mehrtausendjährigen Erfahrungen über das Artschädliche und Artnützliche ihm als fertige Erbschaft hinterlassen haben. Diese Gattungserfahrungen ("Gattungsgedächtnis" bei HERING, "Mneme" bei SEMON) beanspruchen autoritative Geltung, weil sie das Individuum entlasten, ihm die Mühe abnehmen, Erfahrungen noch einmal zu machen, die Hunderte von Generationen schon vor ihm gemacht haben. Darin liegt z. B. der Wert der Spruchweisheit, der Überlieferung, der goldenen Lebensregeln, die wie feste Münzen ungeprüft von Hand zu Hand gehen. Sprichwörter sind solchergestalt marktgängige Werturteile, auf welche die Gattungserfahrung ihrn Eichstempel gedrückt hat. Solche Gattungserfahrungen werden durch tausendjährige Übung und Gewöhnung automatisch, von den Vorfahren auf die Nachkommen genauso vererbt, wie die Raschheit der Funktionen ihrer Assoziationsbahnen. Jedes Individuum, das in ein Kultursystem hineingeboren wird, findet die Erbschaft dieser Gattungserfahrungen in seinen sozialen Instinkten schon als feste Disposition vor. Diese Disposition ist kein unbedingter seelischer Zwang, von dem es kein Entrinnen gäbe, wohl aber eine Hinneigung, eine Tendenz, eine Willensinklination zur Verrichtung solcher Handlungen, wie diese zu Instinkten geronnenen, automatisch gewordenen ehemaligen Willenshandlungen seiner Vorfahren dem Individuum im Interesse seiner Selbsterhaltung sie vorschreiben.

Für die Selbsterhaltung des Individuums aber sind solche "repräsentative Gefühle" soziale Regulatoren ohne Gleichen. Denn sie gewähren dem Menschen eine Kraftersparnis, wie er sie, nach dem Gesetz des kleinsten Kraftmaßes, schon als Naturwesen, vollends als Vernunftwesen vollziehen muß. Kann ich mich auf die Erfahrungen anderer verlassen, so daß ich sie nicht selbst zu machen brauche, so werde ich in meiner Zeit und Arbeitskraft dermaßen entlastet, daß ich sie anderen Aufgaben, für welche noch keine Erfahrungen der Vorfahren vorliegen, verwenden kann. Das Kraftersparnisprinzip, dem AVENARIUS und MACH eine denkökonomische Deutung und Biegung gegeben haben, befiehlt uns nur im Interesse unserer Art- und Selbsterhaltung, mit einem Minimum von Aufwand und Leistung ein Maximum an Ertrag zu gewinnen. Haben also unsere Vorfahren gewaltige Erfahrungsschätze über Artnützliches und Artschädliches angehäuft und diese organisierten Erfahrungen uns in repräsentativen Gefühlen als Religion und Autorität hinterlassen, so haben wir diese Erbschaft - natürlich  cum beneficio inventarii [Nutzen durch Bestandsaufnahme -wp] - im Interesse unserer Selbsterhaltung anzutreten.

Eine dieser Erbschaften der Gattung an das Individuum ist nun der soziale Regulator des Autoritätsprinzips, dem ich eine  willensökonomische  Interpretation geben möchte. Wie MACH alle Wissenschaft und alle Logik denkökonomisch abgeleitet hat, so möchte ich das Autoritätsprinzip willensökonomisch rechtfertigen, eben damit aber dieses Prinzip zu einer psychologischen Kategorie in demselben Sinn erheben, wie es HUME für das religiöse Problem vollbracht hat. NIETZSCHE sagt einmal, den "Pragmatismus" von WILLIAM JAMES vorwegnehmend: Wahr heißt, für die Existenz des Menschen zweckmäßig. Der Glaube an Autoritäten ist in diesem Sinne, wie jeder Glaube, Ausdruck des Vertrauens, das wir dem Träger der Autorität, einem Menschen, einer Überlieferung, einer Einrichtung, einer Satzung oder einem Gebot entgegenbringen. Aller Autoritätsglauben hängt unzertrennlich mit dem Wesen des Glaubens oder Fürwahrhaltens fremder Meinungen oder Überlieferungen zusammen. Ohne Vertrauen zu jenen Wahrheiten, welche das vorangegangene Geschlecht dem nachfolgenden in der Form fester Überzeugungen und unumstößlicher Lehrsätze hinterläßt, müßte jede Generation immer wieder von neuem anfangen. Das verstieße aber als unnützer Kraftverbrauch gegen das Sparsamkeitsgesetz in der Natur. Ist eine Überlieferung unserer Vorfahren erprobt, oder haben sich die von autoritativen Instanzen gegebenen Ratschläge oder auch direkten Befehle im Interesses des Gattungswohles bewährt, so haben sie Anspruch auf Glaubwürdigkeit und Vertrauen. Was sich in der Vergangenheit hundertfach als nützlich erwiesen hat, läßt den Schluß zu, daß die Zukunft der Vergangenheit darin gleichen wird, und so ist es zu begreifen, daß HERBERT SPENCER z. B. in der Ahnenverehrung den Ursprung aller religiösen Gefühle sah. Ahnenkultus, Verehrung Verstorbener, der abgeschiedenen Seelen der eigenen Vorfahren und Heroenkultus hängen psychologisch aufs Engste zusammen. Die abgeschiedenen Seelen hinterlassen uns ihre mündlichen Befehle oder schriftlichen Testamente und wirken mit autoritativer Macht auf die Willensbildung der Hinterbliebenen ein. Die verstorbenen Ahnen oder Heroen sind nicht bloß die zeitlich ersten Vertreter des Autoritätsprinzips, sondern auch die gegenwärtig wirksamsten Autoritätsquellen. Wem das Andenken seiner Väter oder Nationalhelden heilig ist, der richtet sich in seinen Handlungen mit Vorliebe nach den Idealen, denen jene zustrebten. Autoritäten sind solchergestalt förmliche Willensschablonen. Der Ahnunkult ist wohl die starrste Form der Autorität. Denn die Willensmeinung eines Toten ist eine unwiderrufliche Instanz. Ein Appell ist nicht möglich. Der Verstorbene ist nicht widerlegbar. So bilden sich, in feudalen Geschlechtern zumal, die große Familienüberlieferungen haben, ganze Traditionsketten heraus, die als Autoritätsmotive so nachhaltig wirken, daß sie die einzelnen Persönlichkeiten durch das Übermaß an Familienautorität vielfach erdrücken. Was die Kontinuität der Familienüberlieferung und Ahnenverehrung für das einzelne Individuum ist, das bedeuten die drei Testamente als Kundgebungen der höchsten Autorität oder Gottes für die drei monotheistischen Religionen, endlich Verfassung und Gesetzgebung für die politischen Gebilde. Alle  diese Autoritätszentren stellen gleichsam Abbreviaturen [Abkürzungen - wp] von Willensmotiven dar.  Jede Autorität ist ein Hemmungs- oder Beschleunigungsapparat des Willens -  eine  Formel für abgekürztes Vertrauen.

Es ist dem Individuum schlechterdings unmöglich, jede seiner Handlungen ganz selbständig, nur aus eigenem Willensentschluß heraus zu vollziehen. Schon seinem Trägheitsbedürfnis, einem Parallelvorgang des Trägheitsgesetzes in der Natur, sagt es zu, statt jedesmal selber zu überlegen und mit seiner Wahl auch die unerläßlich daran geknüpfte Qual mit in Kauf zu nehmen, so zu handeln, wie seine Autoritäten ihm raten oder befehlen, gleichviel ob es sich um elterliche oder religiöse, staatliche oder gesellschaftliche Autoritäten handelt.

Es ist so unsagbar bequem, behaglich auf einem Schlummerkissen zu ruhen, das unsere Autoritäten für uns zubereitet und sanft unter den Kopf gelegt haben. Daher die Revolte aller energischen Naturen, allen voran die FICHTEs, gegen die erdrückende Macht der Autorität, die alle Persönlichkeit zu einem Kanal des Allgemeingültigen herabdrückt. Schon KANT hielt die Heteronomie, die Rücksichtnahme auf fremde Willen für sittlich minderwertig, indem er nur solchen Handlungen, die aus eigener Zwecksetzung resultieren, einen Sittlichkeitscharakter zubilligt. Weiter noch geht FICHTE (in den "Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters" vom Jahr 1806 und in der "Rechtslehre" vom Jahr 1812) in der Verurteilung des Autoritätsprinzips. FICHTE erklärt es in seiner temperamentvollen Weise für geradezu "gewissenlos", nach Autoritäten zu handeln. Und doch hat FICHTE einen tiefen Eindruck in die Doppelnatur des Menschen getan und den ewigen Widerspruch zwischen Gattung und Individuum, zwischen Altruismus und Egoismus, zwischen Autorität und Anarchie aufgedeckt. FICHTE löst diesen tief in der Menschenbrust liegenden Widerspruch prophetisch so, daß im Zeitalter der vollendeten Vernünftigkeit, dessen Kommen er verkündet, das Individuum sich bewußt unter die Autorität des Sittengesetzes begeben wird. Aus Einsicht in den Werdeprozeß der Geschichte werde sich das Individuum dereinst den Imperativen der Gattungsvernunft unterordnen. In seiner "Rechtslehre" vollends sieht FICHTE geradezu die Hauptaufgabe des Staates darin, das Volk durch Erziehung und Bildung so weit zu bringen, daß es aus Einsicht tut, was es früher nur aufgrund des Autoritätsglaubens vollbracht hat. Diese Weissagung FICHTEs mag einem zu erstrebenden Idealzustand entsprechen; die Wirklichkeit sieht anders aus. Könnte das Autoritätsprinzip jemals verschwinden, sich selbst überflüssig machen und restlos in völliger Einsicht aufgehen, so wäre Autorität eine historische Kategorie, und keine psychologische, wie ich behaupte.

So sehr ich mit KANT und FICHTE darin übereinstimme, daß der sittliche Wert einer Handlung nur gemessen werden kann am eigenen Anteil, den das Individuum an ihr genommen und nicht am Gehorsam oder der Unterwerfung unter eine wie immer geartete Autorität, so wenig vermag ich mich davon zu überzeugen, daß das Autoritätsprinzip als biologischer Auslesefaktor, als nützliche Willensmotivation für unsere Durchschnittshandlungen, vollends als sozialer Regulator jemals ganz verschwinden wird. Seine psychologische Notwendigkeit ist vielmehr auf dem festen Felsengrund seiner biologischen Nützlichkeit gegründet. Ich sehe daher in der "Autorität" ein ebenso notwendiges Übel wie ERNST MACH im Vorurteil. Es entbehrt nicht eines pikanten Reizes, den rückhaltlosen Vorkämpfer aller nationalen und konfessionellen Vorurteile gelegentlich eine Lanze brechen zu sehen für das Prinzp des Vorurteils. ERNST MACH sagt einmal:
    "Zu große Nachgiebigkeit gegen jede neue Tatsache läßt gar keine feste Denkgewohnheit aufkommen. Zu starke Denkgewohnheiten werden der freien Beobachtung hinderlich. Im Kampf, im Kompromiß des Urteils mit dem Vorurteil wächst unsere Einsicht. Ein gewohntes Urteil, ohne vorausgegangene Prüfung auf einen neuen Fall angewandt, nennen wir  Vorurteil. Wer kennt nicht dessen furchtbare Gewalt? Seltener denken wir daran, wie wichtig und nützlich das Vorurteil sein kann. So wie niemand physisch bestehen könnte, wenn er die Blutbewegung, die Atmung, die Verdauung seines Körpers durch willkürliche, vorbedachte Handlungen einleiten und imstande halten müßte, so könnte auch niemand intellektuelle bestehen, wenn er genötigt wäre, alles, was ihm vorkommt, zu beurteilen, ohne sich vielfach durch ein Vorurteil leiten zu lassen. Das Vorurteil ist eine Art Reflexbewegung auf dem Gebiet der Intelligenz."
Was MACH vom Vorurteil sagt, gilt mit einer Übertragung vom Intellekt auf den Willen, vom Denken auf das Handeln, auch von der Autorität;  sie ist eine Reflexbewegung auf dem Gebiet des Willens.  Autoritäten sind Machtzentren und Willensabbreviaturen, Schablonen des Handelns, welche als bequeme Urteilsquellen jenen Individuen, die sich den betreffenden Autoritäten unterwerfen, das eigene Wählen und Prüfen unendlich erleichtern. Nicht jedes Individuum hat, in die Not des Lebens gestellt, in sich die Fähigkeit, zwischen zwei Möglichkeiten das für sein Wohl und Weh Richtige zu wählen. Ohne Autoritäten, die den einzelnen nicht bloß vorgedacht, sondern und vor allem  vorgewollt  und  vorgehandelt  haben, würden die Menschen wie BURIDANs Esel zwischen zwei Heubündeln seelisch verhungern. So aber überträgt der Mensch im Durchschnitt seiner täglichen Verrichtungen seine Willenshandlungen den von ihm als Autoritäten respektierten einzelnen Machtzentren oder Willensmotivationen. Er geht zur Kirche, wie seine Konfession es ihm gebietet, zur Wahlurne, wie der Staat oder seine Partei ihm befiehlt, in seine Berufspflichten, wie seine Berufsmoral ihm vorschreibt, er geht und steht, er fährt und reitet, er grüßt und lächelt, wie Sitte und Brauch, Konvention und Etikette, Mode und Takt ihm vorschreiben. Weitaus der größte Teil aller gleichgültigen Handlungen des Menschen - die Stoiker hatten dafür den Ausdruck "Adiaphora" [ethische Neutralität - wp] - spielt sich nach den Vorschriften der zahllosen Autoritätszentren ab, sei es nach dem geschriebenen Gesetz des Staates, sei es nach dem ungeschriebenen der gesellschaftlichen Moral und guten Sitte. Und das ist gut so. Denn diese bequemen Willensschablonen entlasten unsere Willenskraft und machen sie frei für wirklich große sittliche Aufgaben, die nur das Individuum bewältigen kann. Autoritäten als Reflexbewegungen auf dem Gebiet des menschlichen Handelns überheben uns vielleicht in 90 Prozent aller Fälle der überflüssigen Mühe, selbst nach Motivquellen Ausschau zu halten und zwischen den konkurrierenden Motiven eine Wahl zu treffen. Wie im Vorurteil, dem wir anhängen, andere für uns vorgedacht und vorgefühlt haben,  so haben die Autoritäten für uns vorgewollt.  Was in einem logischen Sinn ein Vorurteil im Guten wie im Schlimmen bedeutet, das ist auf ethischem Gebiet die Autorität, im Guten wie im Schlimmen, nämlich eine Art von  Vorwille.  Gibt man im Vorurteil sein Denken gefangen zugunsten eines anderen, der uns bereits vorgeurteilt hat, so gibt man in der Autorität seinen Willen gefangen zugunsten anderer, die uns bereits vorgewollt und uns durch dieses Vorwollen die Wege gewiesen haben. Das Nützliche an dieser psychologischen Kategorie des Autoritätsprinzips ist die ungeheure Entlastung, die sie unseren alltäglichen Willenshandlungen darbietet. Wie die wissenschaftlichen Formeln mir die Mühe ersparen, den ganzen Denkprozeß, der auf diese Formel als ihren Generalnenner gebracht ist, zu machen, so daß jede wissenschaftliche Formel das menschliche  Gedächtnis  ungemein entlastet, genauso verhält es sich mit den einzelnen Autoritätszentren, die als Motivquelle für unser Handeln dienen, also unseren  Willen  entlasten. Was die Wissenschaften für das Denken, das sind die Autoritäten für das Handeln.

Sowenig aber der Besitz der Wissenschaft von der Aufgabe entbindet, neue Wege zu bahnen und neue Formeln zu finden, ebensowenig dürfen uns die Autoritäten hinderlich sein, neue Pfade der Moral zu betreten oder neue sittliche Werte zu prägen. Hier wie dort gilt mit FICHTE als höchstes sittliches Gebot:  Arbeite!  Arbeite in der Wissenschaft daran, den Gesichtskreis täglich zu erweitern und anstelle der ungültig gewordenen wissenschaftlichen Formeln neue zu setzen; arbeite auf dem Feld der praktischen Vernunft, auf dem Gebiet des Handelns, in der Welt der Werte und Zwecke unverdrossen daran, alte Autoritäten zu stürzen, um neue an deren Stelle zu setzen. Denn was an der Autorität psychologische Kategorie ist, das heißt Ewigkeitscharakter besitzt, das ist nur das biologische Prinzip, nicht ihre wandelbaren geschichtlichen Formen. Nützen wir die herkömmlichen Autoritäten dort, wo sie uns dienlich sind, wo sie in den  Adiaphora  des Lebens unser Wollen tausendfach entlasten, ähnlich wie wir physiologisch die Reflexbewegungen in unserem Gehen und Stehen und unseren automatischen Handlungen uns zunutze machen. Aber überall dort, wo es sich um ernste Lebensfragen, um sittliche Probleme, um Wert oder Unwert der Persönlichkeit handelt, da ist kein Verlaß mehr auf diejenigen Autoritäten, die uns vorgewollt haben, sondern in allen entscheidenden sittlichen und kulturellen Fragen muß jedes heranwachsende Geschlecht von Neuem die herkömmlichen Werte prüfen, Schutt und Asche wegräumen, Vergilbtes und Verstaubtes beseitigen, um einzig das Lebendige, mit dem jeweiligen Kulturbewußtsein Übereinstimmende, als neue Autorität energisch zu behaupten. Die  Formen  der Autoritäten wechseln und stürzen, aber das  Prinzip  der Autorität als psychologische Kategorie bleibt.

Haben wir solchergestalt das  Prinzip  der Autorität in seiner nützlichen Art biologischer Funktion aufgedeckt, so gilt es nunmehr, die geschichtlichen  Träger  dieses Prinzips zu besprechen. Die Autoritätsfunktion ist biologisch notwendig (physis), die Träger dieser Funktion aber sind eine geschichtliche  Satzung (thesis), das heißt: durch Klima und Bodenbeschaffenheit, durch Mythos und Tradition, zeitlich-örtlich bedingt.

Was nämlich das Selbsterhaltungsprinzip für das Individuum, das bedeutet das Autoritätsprinzip für die Erhaltung der Gattung. Mag das Individuum nach Laune und Willkür, nach Neigung und Temperament, nach Eingebung und Stimmung in der Praxis des Lebens verfahren: Das Interesse der Gattung, das gesellschaftliche Selbsterhaltungsprinzip fordert gebieterisch, daß Regeln und Kanones, Normen und Gesetze aufgestellt werden, welche das individuelle Belieben ausschalten, indem die Gesamtheit öffentlichen Befehle (Gebote, Vorschriften, Gesetze) erteilt, denen sich der Einzelne unweigerlich zu unterwerfen hat, ansonsten er entweder der physischen Bestrafung oder der moralischen Ächtung verfällt. Solche Befehlshaber oder Gesetzgeber, welche die einzelnen, die sich diesen Imperativen freiwillig oder gezwungen unterwerfen, in ihren Bannkreis zwingen, gelten als Autoritäten. Überall dort wo der Machtwille [willma] überragender Persönlichkeiten - Religionsstifter, Gesetzgeber, Despoten, Propheten, Apostel, Genies, Ketzer oder Sektierer - allgemeine Regeln des Verhaltens aufstellen, welche gläubig hingenommen und befolgt werden, bilden sich, wie ich dargelegt habe, Willensschablonen heraus, welche auf die einzelnen Individuen durch Übung und Gewöhnung im Laufe der Jahrhunderte mit beinahe automatischer Sicherheit wirken. Das normale, d. h. das gefügige Durchschnittsindividuum handelt in der Regel so, wie seine Familientraditionen, sein Milieu, seine kirchlichen oder staatlichen Autoritäten ihm vorschreiben. Mittels des Autoritätsprinzips, das seine ewige biologische Schutzwehr der menschlichen Arterhaltung darstellt, wird eine gewisse Gleichförmigkeit, ja eine wohltuende Übereinstimmung unter den menschlichen Gruppenhandlungen hergestellte, die ein natürliches Gegengewicht bildet gegen die anarchische Willkür des Individuums.

Die Ausbildung der Ordnungsfunktionen im menschlichen Zerebralsystem errichtet erst eine definitive Scheidegrenze zwischen Mensch und Tier. Empfindungen und Wahrnehmungen, Gedächtnis und Einbildungskraft, Gefühle und Triebe, Affekte und Instinkte haben Tiere ebenso, ja sogar vielfach verstärkt und verschärft, wie wir Menschen. Aber den Tieren gehen unsere Ordnungsfunktionen ab, welche uns Menschen ermöglichen, das Chaos von milliardenförmigen Eindrücken in den Kosmos eines gesetzmäßig zusammenhängenden Weltbildes umzudeuten. Solche Ordnungsfunktionen haben wir oben bereits nachgewiesen und zwar: für das Sprechen in den Regeln der Grammatik, für das Denken in den Gesetzen der formalen Logik, für das Fühlen in den Vorschriften der Religionen, für das Wollen in den Normen der Moral, für das Handeln in den Rechts- und Staatsgesetzen, für das Verhalten und Benehmen in Sitte und Brauch, in Mode und Takt, in Konvention und Legalität. Die Ordnungsprinzipien, welche die zufälligen Eindrücke unserer Sinnesorgane, wie wir sie mit den Tieren teilen, nach so festen Regeln miteinander verknüpfen und verknoten, daß aus ihnen ein generelles, für alle Menschen gültiges, also der persönlichen Willkür entzogenes Denkgesetz hervorgeht, wobei der tierische Intellekt nicht mehr gleichen Schritt mit uns zu halten vermag, nennen wir mit KANT:  Kategorien Diesen Kategorien in der Logik, in deren Mittelpunkt nach SCHOPENHAUER die Kategorie der  Kausalität  steht, korrespondiert nun in der Soziologie die Kategorie der  Autorität.  Wie es sich dort um eine Denknotwendigkeit handelt, so hier um eine Handlungsnotwendigkeit. Was die logische Kategorie der Kausalität für die Erklärung des kosmischen Zusammenhangs leistet, indem sie anstelle der Willkür, wie die Welt in den Augen der Wilden und Barbaren dasteht, streng gesetzmäßiges Ineinandergreifen aller entgötterten Naturkräfte setzt, das bedeutet die soziologische Kategorie der "Autorität", welche der anarchischen Willkür des individuellen Handelns ein Ziel setzt. Wie die logische Kategorie der "Kausalität" die Gedankenanarchie der Wilden und Barbaren steuert, so die soziologische Kategorie der  Autorität  der zügellosen Gefühls- und Willensanarchie des egozentrischen Individuums.

Je weiter wir in den Mechanismus der Natur und in den Organismus der Gesellschaft wissenschaftlich eindringen, umso entscheidender werden Zufall und Willkür um allen Kredit gebracht. Wie die Naturwissenschaft den Zufall und das "Wunder" - von SPINOZA als "asylum ignorantiae" [Zufluchtsort der Unwissenheit - wp] gebrandmarkt - aus der theoretischen Erklärung der Welt ausgeschlossen hat, so sind heute die Sozialwissenschaften daran, die Willkür - gleichsam den Zufall des Handelns - aus der praktischen Vernunft, aus der Welt des allgemein-menschlichen Handelns zu verweisen. Und gleichwie das Kausalitätsprinzip den Zufall als logisch zulässige Erklärungsform aus der Naturwissenschaft endgültig verbannt hat, genauso ist das Autoritätsprinzip daran, die Willkür als soziologisch zulässige Form des Handelns wissenschaftlich auszuschalten.

Jene Ordnungsfunktionen, welche den Menschen über das Tier erheben, lassen sich nämlich durchweg als Eigengesetzgebung (Autonomie) der menschlichen Gattungsvernunft ansprechen. Sinnliche Bilder, die in zufälliger Reihenfolge und in tausendfältig variierenden individuellen Spielarten in unseren Wahrnehmungskreis treten, empfanden wir Kulturmenschen von der Außenwelt genauso wie Tiere, Wilde, Idioten und Kinder. Aber nur wir sind imstande, mittels unserer logischen Denkfunktionen (Kategorien) in diesen scheinbaren Wirrwarr isolierter Eindrucksatome jene endgültige Ordnung zu bringen wie sie in der Astrophysik und in den beschreibenden Naturwissenschaften vorliegt.

In die gleiche Reihe umfassender Ordnungsprinzipien, welche uns Kulturmenschen ein "System der Natur", ein wissenschaftliches Weltbild aufbauen, gehört nun auch das  Autoritätsprinzip,  das uns genau solche Richtlinien für menschliches Handeln gewährt, wie die Kausalität für menschliches Denken. Und hat SCHOPENHAUER die elf übrigen Kategorien KANTs als "blinde Fenster" verspottet, um die Kausalität als Zentralkategorie hinstellen zu können, so möchten wir die Autorität, ungeachtet unserer wiederholt erhobenen Forderung einer soziologischen Kategorientafel, als soziologische Zentralkategorie hinstellen.

Wollte man gegen diese Vorstellung des Autoritätsprinzips den Einwand erheben, es sei ein keckes Wagnis, in unserem Zeitalter der Autonomie (Selbstgesetzlichkeit) der menschlichen Persönlichkeit für das angeblich überwundene und zum alten Eisen geworfene Autoritätsprinzip eine Lanze zu brechen, so muß ich darauf erwidern, daß zwar die geschichtlichen  Formen  der Autorität mit der Zeit wechseln und sich wandeln, wie ich dargelegt zu haben glaube, daß aber das biologische Ausleseprinzip der Autorität als sozialer Regulator der menschlichen Arterhaltung  unaufhebbar  ist. Die  geschichtlichen Träger  der Autoritt überleben sich und schwinden dahin, aber die soziologische Kategorie der Autorität bleibt im Wandel der Zeiten unverrückbar bestehen. Denn in Wirklichkeit war Europa, trotz der vermeintlichen Brechung aller Autoritäten in Kirche und Staat seit der englischen und der großen französischen Revolution, niemals besser diszipliniert als heute. Der Heidelberger Theologe ERNST TROELTSCH führte in der "Internationalen Wochenschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik" unter dem Titel  Autonomie und Rationalismus in der modernen Welt (Nr. 7 vom 18. Mai 1907) aus:
    "Die durchgängige geistige Eigentümlichkeit der modernen Welt ist der Sturz der übernatürlichen geistigen Eigentümlichkeit der modernen Welt ist der Sturz der übernatürlichen Autorität um der Autorität willen. Aber nur die übernatürliche göttliche Geltung und Einsetzung der Autoritäten, der ethische Anspruch auf die Brechung des Individuums um der Demut willen ist geschwunden ... Aber die Autoritäten und objektiven Mächte sind sachlich geblieben, und der ethische Anspruch auf die Einfügung des Individuums in den Dienst des Ganzen wirkt sachlich nicht viel anders als jene Autoritätsforderung ... Den alten übernatürlichen Autoritäten ist das Leben stark erschwert, aber die ihnen gegebenen Inhalte selbst bleiben nach wie vor zum größten Teil die Ausgangspunnkte und Stoffe des Denkens und praktischen Gestaltens. Formell ist alles anders geworden, und das reicht tief hinein in Stimmung, Gefühl und Gestaltung. Sachlich ist es beim alten geblieben."
Den Grund dieser von TROELTSCH herausgefühlten Erscheinung, daß die Autoritäten zwar wechseln, die Autorität aber als soziale Funktion in unverminderter Kraft weiterbesteht, glaube ich durch die Unterscheidung der Autorität als historischer und psychologischer Kategorie aufgedeckt zu haben.

Die geschichtlichen Träger der Autorität sind entweder Persönlichkeiten und deren Überlieferungen oder öffentliche Einrichtungen. Ahnen- und Heroenkultus stehen an der Schwele wie aller Religion, so auch aller Autorität. Deshalb ist die elterliche Gewalt (patria potestas) der ursprüngliche Träger aller Autorität. Selbst Gott wird mythologisch zum Vater des Menschengeschlechts (Gott-Vater) und hervorragende Monarchen werden zum Vater des Vaterlandes (pater patriae) umgedichtet, damit sie zu höchsten Trägern der Autorität aufrücken. Landesväter oder Kirchenväter sind von jeher bevorzugte Autoritätsquellen. Die geschichtlichen Träger der Autorität sind:
    1. die elterliche,
    2. die göttliche,
    3. die priesterliche,
    4. die königliche,
    5. die staatlich-militärische,
    6. die rechtliche,
    7. die Schulautorität,
    8. die Wissenschaftsautorität
Autorität ist das Ruhende, Beharrende, Gesicherte des Gesamtwillens im Gegensatz zum Schwankenden, Fließenden und Willkürlichen des individuellen Einzelwillens. Die Autorität ist in allen ihren Trägern Repräsentantin des menschlichen Kollektivwillens, der sich meist auf die Gattungserfahrung der vorangegangenen Geschlechter stützt, gegenüber der ratlosen Willkür des Einzelnen. Die ewige Tragik des Menschen ist, wie ich wiederholt hervorgehoben habe, sein ruheloses Pendeln zwischen der Selbsterhaltung, die ihn zur kräftigen Behauptung seines Eigentinteresses reizt, und der Arterhaltung, die ihn zur Preisgebung des eigenen Willens zugunsten des artnützlichen Gesamtwillens nötigt. Und diesen Gesamtwillen symbolisieren die einander ablösenden Träger des Autoritätsprinzips.

Daß diese Träger von Haus aus wirkliche oder erdichtete Persönlichkeiten - Ahnen, Heroen, Götter - waren und erst bei gesteigerter Abstraktionsfähigkeit sich in Institutionen verwandelten, liegt in der auf sinnliche Anschaulichkeit gestellten menschlichen Gattungsnatur tief begründet. Allüberall geht das Konkrete dem Abstrakten, das personifizierende oder vergegenständlichende Denken dem zuständliche, vollends dem beziehentlichen Denken zeitlich voraus. Autorität aber ist ein Beziehungsbegriff genauso wie Kausalität oder Wahrheit, wie Nutzen oder Schaden. Daß alle Beziehungsbegriffe nur von Menschen für Menschen gelten, also jenseits des menschlichen Bewußtseins gar keine Realität besitzen wird nur zu leicht vergessen. Wie vor Wortfetischen, so kniet man vor seinen Begriffsfetischen nieder. Man stirbt für die "Gerechtigkeit", als wäre sie eine Person, der man sich opfert, oder man wird zum Märtyrer der "Wahrheit", als wäre sie ein für sich seiendes Wesen, ein Gott, dem man huldigt. In Wirklichkeit entstand das Substantivum  Wahrheit  durch kategoriale Verschiebung aus dem Adjektivum  wahr,  wie das Substantivum  Gerechtigkeit  nur die Umwandlung des Eigenschaftswortes  gerecht  in das Gegenstandswort "Gerechtigkeit" darstellt. Wahr und falsch gilt eben niemals von den Beziehungen der  Gegenstände  untereinander - denn diese sind entweder wirklich oder unwirklich - vielmehr nur vom Urteil über die logische Zulässigkeit der Verbindung von  Vorstellungen  untereinander. Ebenso gelten "gerecht" oder "ungerecht" nur als menschliche Wertbezeichnungen von Willenshandlungen. Tiere sind gutartig oder bösartig, aber nicht gerecht oder ungerecht. Eine Gerechtigkeit vollends, als Ding oder Gegenstandsbegriff, drückt nur die Umwandlung einer Beziehungsform menschlicher Willenshandlungen in ein Substantiv aus. Da wir uns Eigenschaften ohne Träger dieser Eigenschaften, ohne Substrat (hypokeimenon), nicht vorzustellen vermögen, dichten wir den Träger hinzu, indem wir die Eigenschaften durch kategoriale Verschiebung von Attribut zur Substanz veranschaulichen, verlebendigen, verdinglichen. Der reine Beziehungsbegriff  Gerechtigkeit  verwandelt sich in  Dike [hirzel] oder  Themis,  verfleischlicht sich zur Person oder sublimiert sich zur Göttlichkeit, um sich später in göttliche Gerechtigkeit wieder zurückzuverwandeln. Und so dient dann allüberall dieser zu den Beziehungsbegriffen hinzugedachte Träger als lebendiger Odem, der dem toten Skelett abstrakter Beziehungsbegriffe warmpulsierendes Leben einhaucht und ihm solchergestalt zu einem selbständigen Dasein verhilft. Ohne den hypostasierten (hinzugedachten) Träger könnte die leere Beziehung von "Gerechtigkeit" oder "Wahrheit" nicht auf eigenen Füßen stehen. Die Umwandlung in ein Substantivum verleiht diesen Beziehungsbegriffen erst die Krücken zum selbständigen Gehen. Hat sich aber erst das beziehentliche Denken in ein gegenständliches zurückverwandelt, wie dies beispielsweise bei der reinen Denkform (Kategorie) der Kausalität der Fall ist, die ja ihrerseits immer nur eine Beziehung zwischen Ursache und Wirkung, Grund und Folge, Reiz und Empfindung oder Motiv und Handlung ausdrückt, so kennt die Begriffsausdehnung eines solchen Wortfetischs keine Grenzen mehr. So tritt z. B. die Kausalität zuerst in der mythologischen Gestalt des Schicksals, der Vorsehung, der  Moira,  des Fatums genauso auf, wie die Gerechtigkeit unter der Worthülle "Dike". Nach und nach aber verwandelt und verflüchtigt sie sich zum logischen Begriff des Determinismus, um endlich bei SPINOZA zu den höchsten Staffeln der Vergegenständlichung und Substanzialisierung emporzusteigen: Die logische Kausalität von Grund und Folge wird bei ihm als  causa sui [Grund aus sich selbst - wp] zur Substanz, zur Natur, zu Gott. Gott ist ihm, wie wir sahen, die logische Prämisse der Welt.

Denselben logischen Prozeß macht das Autoritätsprinzip durch. Es setzt ein mit Ahnen und Helden, mit Zauberern und Priestern, mit Gesetzgebern und Religionsstiftern, die wir als die ersten Träger der Autorität anzusehen haben. Nach und nach wird die hinzugedichtete Persönlichkeit, der Träger der Autorität, zu einem Zustands- oder gar Beziehungsbegriff verflüchtigt, ganz ebenso wie sich die  Dike  in die abstrakte Gerechtigkeit und das Fatum in den philosophischen Determinismus auflösten. Nicht mehr Personen sind jetzt Träger der Autorität, sondern Institutionen, die man als verdichtete Gattungsvernunft oder, mit HEGEL, als objektiven Geist ansprechen kann.

Der Dekalog, SOLONs "Zehntafelgesetz", SULLAs "Zwölftafeln", die drei Testamente der monotheistischen Religionen, das römische Recht, Kaisertum und Papsttum, Konzilien und Synoden, Gesetze und Verfassungen, Parlamente und Regierungen heißen nunmehr die neuen Autoritätsquellen. Die konkrete Autorität des Vatrs, die noch in ihrem letzten Stümpfchen fortlebt in "Gottvater", im "heiligen Vater", im "Landesvater", im "Väterchen Zar" verdünnt sich allmählich zu unpersönlichen Institutionen und Gesetzgebungen. Die persönliche Autoritätsquelle der  voluntas regis [Der Wille des Regierenden ist höchstes Gesetz. - wp] weicht im aufsteigenden geschichtlichen Rhythmus der unpersönlichen  salus publica [Wohl der Allgemeinheit - wp]. Auch das Autoritätsprinzip demokratisiert sich. An die Stelle der Heteronomie tritt seit der großen französischen Revolution je länger desto ausgesprochener die Autonomie.

Die Träger der Autorität sind nicht mehr von oben herab befohlen, sondern sie sind von unten hinauf gewählt, und das heißt: Autonomie (Selbstgesetzlichkeit im Gegensatz zur Fremdgesetzlichkeit). Gesetze als unpersönliche Autoritätsquellen werden uns heute nicht mehr von fremden Willen aufgenötigt, sei es von Ahnen oder Heroen, sei es von Göttern oder Despoten, sei es von Konzilien oder Synoden, deren Zusammensetzung nicht der souveräne Wille des Volkes bestimmt hat, sondern von gesetzgebenden Behörden, die in konstitutionell regierten Staaten in letzter Instanz den Volkswillen repräsentieren. Alle wahlfähigen Bürger und Mitkonstituenten jener Gesetze, denen sie sich umso williger unterwerfen, als diese Gesetze nicht Fremdbefehle, sondern Eigenbefehle darstellen. Deshalb sind die konstitutionell regierten Staaten, ungeachtet aller Freiheiten, vermutlich sogar infolge ihrer, besser diszipliniert, als der tönerne Koloss Rußland, wo sich die Schattenautorität noch auf Furcht und Nachahmung stützen möchte, welche einer überwundenen geschichtlichen Phase der Selbstentfaltung des Autoritätsprinzips angehören, und nicht auf Einsicht, wie das moderne, autonome Autoritätsprinzip fordert.

Unser heutiges Autoritätsprinzip ist kein gepredigter Glaube mehr, sondern eine wissenschaftlich gefestigte Überzeugung. Wir setzen selbst Autoritäten ein - Behörden, gesetzgebende Körperschaften, Regierungen, öffentlich-rechtliche Einrichtungen, Verfassungen - weil man uns biologisch beweisen kann, daß wir solche Autoritäten im Interesse unserer Arterhaltung, die ja letztenendes auch der Selbsterhaltung zugute kommt, unweigerlich brauchen. Die soziologische Geltung des Autoritätsprinzips beruth auf seiner nachgewiesenen Nützlichkeit als Arterhaltungsprinzip. Die von uns selbst eingesetzten Träger der Autorität sind die erforderlichen Stützmauern, ohne welche der abstrakte Beziehungsbegriff "Autorität" kein lebendig wirksames, anschaulich darstellbares Fundament hätte. Wie wir den Kausal- oder Substanzbegriff errichten, um mittels dieses Einheitsgerüsts die Funktionen und Gesetze der Natur zu begreifen, so setzen wir uns bewußt Autoritäten, um die Zwecke und Werte der menschlichen Gesellschaft mittels ihrer zu erreichen.

Die Träger der Autorität sind nun jene Macht- oder Willenszentren, die wir zur Formung von Imperativen im Interesse der Arterhaltung brauchen. Jeder Träger der Autorität stellt eine Herrschaftsform von Menschen über Menschen dar. Diese Träger der Autoritätsind die Organe der sozialen Willensbildung. Je nach Zone und Kulturstufe wird ein solcher Befehl (sozialer Imperativ) von übersinnlichen oder sinnlich greifbaren Instanzen, Göttern oder Monarchen, Gesetzestafel oder Gesetzbüchern erteilt. Pater familias, Herdenoberhaupt, Lehnsherr, die Eupatriden Athens, der mittelalterliche Stadtmagistrat, Zünfte, Gilden, Orden und Bruderschaften, Papst und Kaiser, Kirche und Staat sind, je nach der geschichtlichen Konstellation, Beispiele von Trägern der Autorität. Früher herrschte jedoch durchweg ein Einzelner über ein Kollektivum, während heute in fortgeschrittenen Staaten umgekehrt das Kollektivum über den Einzelnen herrscht.

Die Träger der Autorität bedienen sich zur Durchsetzung ihres Machtwillens, den sie dem normalen Individuum aufprägen - die anderen, der Autorität sich widersetzenden Individuen heißen in der Kirche  Ketzer,  im Staat  Revolutionäre,  im Recht  Verbrecher,  in Kunst und Wissenschaft  Neuerer  oder  Wühler - durchweg der Massensuggestion. Ihre Hilfsmittel sind große Worte, Offenbarungen, Wunder, Bilder, Formeln, Kultformen, Jllusionen, Versprechungen, Erlösungen, Erleuchtungen, zu allerletzt Vernunftgründe. Art und Grad dieser Hilfsmittel der Massensuggestioin hängen von Klima und Bodenbeschaffenheit, von Zivilisationsstand und Kulturgrad, kurz von geschichtlichen Bedingungen ab. In fortgeschrittenen Ländern versehen Parteiparole und politisches Schlagwort den Dienst der Massensuggestion. Mit der Verbreitung der Naturerkenntnis weicht die mythologische Form der Autorität allmählich der logischen, wie mit dem Aufkommen von Handel und Industrie die mystischen Vertreter der Autorität zurücktreten, um bewußt gesetzten Trägern der Autorität den Platz zu räumen.

Das Autoritätsprinzip verliert nichts an Ansehen und Würde dadurch, daß wir es als unsere eigene Setzung aufgedeckt haben. Muß sich doch seit FEUERBACH selbst der Gottesbegriff diesen seelischen Ursprung gefallen lassen. Subintelligiert [hineindeuten - wp] man nämlich an die Stelle der Autorität der menschlichen Gattung die Person, so wird Gott Einer, wie - im Orient - der Despot Einer ist. Die Einheitsfunktion unseres Bewußtseins drängt mit psychologischer Notwendigkeit immer und überall auf Einheitssymbole der Autorität. Selbst Republiken geben sich Präsidenten als Träger dieses Einheitssymbols. Jedes organisierte Zusammen von vielen Menschen zwecks Erreichung gemeinsamer Ziele bedarf der hierarchischen Gliederung, und es tendiert darum allüberall einer führenden Persönlichkeit, einer präsidialen Spitze entgegen. Wenn auch die persönlichen Gesetzgeber (SOLON, LYKURG, MOSES) allmählich verschwinden, um dem abstrakten Gesetze den Platz zu räumen, und die persönlich gedachten Naturgottheiten als Symbole der Naturkräfte der besseren Erkenntnis weichen müssen, daß die Naturgottheiten nur personifizierte Symbole von Naturgesetzen waren, so haben doch auch wir Modernen unsere vereinheitlichten Autoritätszentren, heißen sie nun: Humanität, Gerechtigkeit, Wahrheit oder Fortschritt der Menschheit. Jedoch begreifen wir heute diese Autoritätsinstanzen nicht mehr als lebendige  Personen,  sondern als lebensspendenden  Ideale Personen  sind (existieren), Ideale  sollen  sein,  sollen  sich verwirklichen. Dachten sich die früheren Generationen ihre Autoritäten als seiend, so begreifen wir sie heute als sollend. Die Träger unserer autonomen (selbstgesetzten) Autoritäten sollen jene Zwecke realisieren, derentwegen wir sie eingesetzt haben. Die früheren Träger der Autorität wurden ontologisch als Seinsnotwendigkeiten gedeutet. Jene waren Vollstrecker einer starren Idee, diese sind Vollzieher eines allmählich zu verwirklichenden Ideals. Den Naturgesetzen in der Physik und den Sittengesetzen in der Moral korrespondieren die Zweckgesetze in der Soziologie. Haben die Naturgesetze - nach KANT - denknotwendige und die Sittengesetze (der kategorische Imperativ) willensnotwendige Gültigkeit, so haben die Imperative der Autoritäten zweckgesetzlichen Charakter. Den Naturgesetzen  muß  man, den Sittengesetzen soll man sich, nach KANT,  unbedingt  unterwerfen, den Zweckgesetzen aber, in deren Mittelpunkt die Imperative der Autoritäten stehen, soll man sich nur  bedingt  unterwerfen. Natur- und Sittengesetze gelten absolut, soziale imperative der Autoritäten aber nur relativ, denn sie sind zeitlich und örtlich bedingt. Sie begründen keine starren Gesetze, sondern nur Tendenzen oder Willensneigungen der Menschennatur. Mathematische oder logische ("ewige") Wahrheiten sind denknotwendige Setzungen, Autoritätenn aber sind nur Willenssetzungen, die eine Disposition begründen. Ihre Geltung ist von der restlosen Erfüllung ihrer Aufgabe abhängig. Haben die Träger der Autorität jene Ideale, in deren Dienst sie gestellt sind und als deren lebendige Inkarnation sie eingesetzt worden sind, nicht begriffen oder nicht erfüllt, so haben ihre Befehle keinen unwidersprechlichen Zwangscharakter. Zwecksetzungen können in dem Augenblick aufgehoben werden, in welchem sie ihre Funktionen nicht mehr zweckdienlich erfüllen. Unsere heutigen Träger der Autorität sind deshalb der öffentlichen Kontrolle unterworfen, weil sie als Funktionäre der Gesamtheit sich in ihren öffentlichen Handlungen darüber auszuweisen haben, daß das Vertrauens- und Machtzentrum, das man stellvertretend in ihre Hände gelegt hat, fortdauernd gerechtfertigt bleibt. Früher hatte die Autorität nur zu befehlen, das Individuum nur zu gehorchen. Heute aber sind die Träger der Autorität unsere eigenen Setzungen [ggb], folglich unterstehen ihre Handlungen der öffentlichen Kritik genauso, wie sie aus dem öffentlichen Vertrauen hervorgegangen sind. Wie wir nun aus der geschichtlichen Tatsache, daß man Penaten, [römische Hausgötter - wp], Götzenbilder, Idole nur zertrümmerte, um immer wieder neue Götter zu schaffen, folgern müssen, daß der Gottesbegriff eine seelische Notwendigkeit der sich kulturell entfaltenden Menschennatur darstellt, genauso müssen wir aus dem Umstand, daß man alte Autoritäten stürzt, um immer wieder neue zu errichten, unabweislich den Schluß ziehen, daß Autoritäten sozialpsychische Notwendigkeiten darstellen.
LITERATUR: Ludwig Stein, Philosophische Strömungen der Gegennwart, Stuttgart 1908