p-4cr-2H. CorneliusA. MartyK. GebertE. SchraderCh. Schwandtke    
 
OTTO ALEXANDER FRIEDRICHS
Beiträge zu einer Geschichte
und Theorie des Existentialurteils

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"Der Existentialsatz enthält im Kern die philosophischen Hauptprobleme. Von Kant ist der Schritt getan worden, welcher der Erkenntnistheorie ganz neue Wege wies."

"Die Trennung in ein Erkenntnissubjekt und in ein Erkenntnisobjekt findet statt, die zwischen Subjekt und Objekt sich vollziehende Tatsache der Erkenntnis wird dogmatisch vorausgesetzt und als in der Natur der Objekte gegeben betrachtet. Die Objekte sind draußen gegeben, sie werden von einem mehr passiv als aktiv sich verhaltenden Subjekt abgebildet, indem sie oder Teilchen von ihnen ins Auge des Subjekts hineinfliegen, und daraufhin gedacht. Durch einen Erkenntnisstoff wird das Erkennen erklärt, selbständig vom Subjekt existierende Dinge gehen in das auch begrifflich gestaltende Subjekt ein. Die Natur ist ein außerhalb und unabhängig vom Ich existierendes, vollkommen fertiges Gebilde, durch einen Projektionsprozeß aus sich selbst kommt die Natur in den Bewußtseinskreis des Subjekts, um entweder gleich im Denken abgebildet oder nach einiger Analyse reproduziert zu werden. Diese ganze Auffassung kann man als griechische Denkweise charakterisieren."

Was nun der Name der Existenz eigentlich besagt,
darüber sind sich die Philosophen nicht einig,
obwohl nicht bloß sie, sondern jeder einfache
Mann ihn mit aller Sicherheit zu gebrauchen weiß.

- Franz Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkt

Es ist überaus merkwürdig, daß je mehr man seine
gemeinsten und zuversichtlichsten Urteile durchforscht,
umso mehr Blendwerke entdeckt man, da wir mit Worten
zufrieden sind,ohne etwas von den Sachen zu verstehen.

- Kant, Versuch über die Krankheiten des Kopfes



1. Kapitel
Allgemeine Einleitung

Der Existentialsatz enthält in nuce [im Kern - wp] die philosophischen Hauptprobleme, sein Prädikat ist Relationsprädikat, wie später besonders gegen FRANZ BRENTANO und ANTON MARTY (1) dargetan werden soll, und die Glieder der Relation sind Denken und Sein.

Eine metaphysische und eine erkenntnistheoretische Ausdeutung des Existenzbegriffs ist möglich. (2)

Als Beispiel für die erstere möge eine Darlegung von JULIUS BERGMANN (3) angeführt werden, der eine idealistische Metaphysik vertritt. In der Existenzvorstellung findet die Setzung eines Gegenstandes als eines Selbständigen statt, sie ist die Analyse einer Synthese ihres Gegenstandes mit einem anderen in einer höheren Potenz. Auf die Welt als die Einheit, darin alle Dinge verknüpft sind, wird die Setzung eines Gegenstandes bezogen. Diese Welt wird eine bestimmte für uns sein durch einen ihre Vorstellungen konstituierenden Gegenstand T, welchen wir nicht mehr an ein anderes anlehnen, sondern lediglich an sich selbst. Dieses Ding, an welches wir alles, was wir als seiend vorstellen, anlehnen, muß in seiner Realität unmittelbar von uns ergriffen werden. Ein solches Ding, welches sozusagen den Mittelpunkt der Welt beim denkenden Menschen bildet, ist das eigene Ich.

Diese rein metaphysische Lösung darf den erkenntnistheoretischen und logischen Erörterungen nicht vorangehen. Gerade für das Existenzproblem gilt, daß das Erkenntnisproblem die  conditio sine qua non  [Grundvoraussetzung - wp] für die Beantwortung aller anderen Fragen, und so auch der metaphysischen, ist. Die metaphysische Ausdeutung des Existenzproblems hätte also höchstens am Ende dieses Versuchs einzusetzen, im Anschluß an eine universale Theorie des Existentialurteils.

Hier kommt allein die erkenntnistheoretische Ausdeutung in Betracht, und dieser suchen wir näher zu kommen, indem wir behaupten, daß das Verhältnis von Denken und Sein der Gegenstand der Behandlung in jedem philosophischen System oder Systemversuch ist. Eine solche Fragestellung geht immer voran, zur Beantwortung sind drei verschiedene, drei grundverschiedene Systemtypen aufgestellt worden.

Einmal wird das Denken als das Sein  kat exochen  [schlechthin - wp] gefaßt, die Welt eines denkunabhängigen, körperlichen Seins ist ein Minderwertiges, eine  quantité négligeable  [zu vernachlässigende Größe - wp]; ein zweites Mal ist ein vom Denken unabhängiges Sein das Primäre, das Denken vielleicht nur ein Akt der Anpassung an jenes, nur Mittel zum Zweck; die dritte Möglichkeit gewinnt durch die Berücksichtigung von Denken und Sein in gleicher Weise, durch eine Synthese aus beiden ihr fest fixiertes Erkenntnisfeld.

Die Extreme lauten Empirismus und Rationalismus, reine Erfahrung und reines Denken; und dementsprechend wird im ersten Fall die Relation des Gegenstandes  A  zum Reich der Wahrnehmungen ausgesprochen, im zweiten Fall sagt der Existentialsatz: der Gegenstand  A  steht in Relation zur Welt des reinen Denkens,, zur reinen Erkenntnissphäre, er ist ein Glied dieser Welt. - "Der Existentialsatz enthält in nuce die philosophischen Hauptprobleme.

Der Empirismus ist unphilosophisch, er weist das Streben nach Synthese ab, geht in einer Welt des Diskontinuierlichen auf, findet Genüge an einer Reihe von Induktionen, zerschlägt die Einheit des Geisteslebens, ist Reaktionsphänomen auf ein in umfassend großer Synthese operierendes und konstruierendes Denken, das Intuition (synagoge) mit Diskursivität verschmilzt. Aus der Geschichte der Philosophie läßt sich herauslesen, daß der Empirismus jeder Übergangs-, Dekadenz-Epoche und, wenn man einen anderen Gesichtspunkt hereinspielen läßt, englischem Denken eignet.

Fundamentierung und Ausbau einer Begriffswelt, einer Welt des Geistes, reine Spekulation, metaphysisch schwungvolles Gestalten im Denken, das tief unter sich im wesenlosen Schein die in Vielheiten auseinandergerissene Empirie schweben läßt, kennzeichnet antike, neue und neuere Philosophie mehr als die induktiv empiristischen Versuche, die aus dem singulären, ungestalteten, wechselnden und zusammenhangslosen Sein der Sinneswelt ein Weltbild, also etwas mehr als Einsicht in psychologische Komplexe, gewinnen wollen. - Auch für die Philosophen des 19. Jahrhunderts kann man wohl die Unterscheidung in Empiristen und spekulative Geister machen; aber nur die letzteren verdienen vielleicht in Wahrheit den Namen  philosophoi.(4)

Metaphysiker sind so als die ersten in Griechenland die Eleaten gewesen, bei denen in ganz merkwürdiger Weise das Verhältnis der Sinnenwelt zum Reich des Denkens reguliert worden ist, indem die erstere als trügerischer, widerspruchsvoller Schein ganz annulliert wird. Das Sein ist nach PARMENIDES das reine Denken, dieses Sein ist frei von Negationen und Relationen, ist allgemeinster Begriff (5), ohne Hinweis auf die Natur des Gegenstandes.

PLATON ist Dualist, er trennt und bestimmt scharf die Sinnenwelt der veränderlichen Wahrnehmungen und Meinungen und das Reich der Ideen, der Grundpfeiler des Wissens; aber monistische Gedanken spielen sofort herein. Zu gleicher Zeit will er eine Überwindung der Zweiweltenlehre, die durch Wertabstufung ermöglicht wird. Die Idee ist  paradeigma  [Vorbild, Muster - wp],  auto kat auto  [für sich selbst Seiendes - wp] existierend, die Sinnendinge  eidola  [Bilderchen - wp],  mememnata  [Erinnerungen - wp]. Die materielle Welt sinkt zum unvollkommenen herab, sie hat nur als Weg zum Vollkommenen einige Geltung. Die Welt, die wird und nie ist (genesis), wird gestützt und getragen - man vergegenwärtige sich die teleologische Richtung des platonischen Idealismus - von der Welt, die ist und nie wird. Das Sein eines der Sinnenwelt Transzendenten ist der Weltinhalt, das synoptische Denken (6), das Ideale ist das Wirkliche; die Dinge sind im Logischen begründet - Logik und Metaphysik fallen schließlich für PLATON zusammen -, Wirklichkeit und Wahrheit ist nicht empirisches, sondern vielmehr logisches Sein.

Als Kritiker des Platonismus wird ARISTOTELES als Realist bezeichnet, die transzendente Existenz der Ideen wird von ihm durch die Immanenz des Wesens in den einzelnen Objekten ersetzt. - Die Ideen werden als innerweltliche, in den Dingen selbst wirkende Kräfte aufgefaßt. Aber wenn zwei ausgezeichnete allem Existierenden gemeinsame Prinzipien angenommen werden, wenn eine reine stofflose Form, eine Aktualität ohne Potentialität, statuiert und aus der größeren oder geringeren Annäherung der empirischen Dinge an diese eine Stufenfolge von Existenzen angenommen wird; wenn für ARISTOTELES der Stoff das Leidende, die Quelle der Unvollkommenheiten in den Dingen und zugleich auch das individualisierende Prinzip ist, so ergibt sich eine aristotelische Auffassung des Seins, welche der platonischen gar nicht mehr fern steht. Die Sinnenwelt als Reich des Möglichen muß sich durch die denkende Form zum Wirklichen, zur reinen Denksphäre hinaufgipfeln; wir haben die Welt des Denkens, charakterisiert durch die reine Form auf der einen Seite, davon getrennt auf der anderen Seite das Werdende, in welchem Stoff und Form einanander als  dynamis  und  energeia  bedingen; das Letztere ist ein Geringeres im Verhältnis zu jener reinen Welt. Nachdem ARISTOTELES im Gegensatz zu PLATON die Trennung in subjektiven Weltprozeß und gesonderte Realität vollzogen hat, müht er sich doch schließlich wieder damit, die Welt des Seins zu degradieren und in eine Welt des reinen Denkens ausmünden zu lassen. (7)

Platonisch-aristotelisch dachte die Scholastik. Schon im Universalienstreit kehrt die antike Auffassung wieder, so besonders als extremer Realismus (z. B. bei WILHELM von CHAMPEAUX) mit der Formel:  universalia ante rem,  die Gattungen sind das wahrhaft Wirkliche, unabhängig von den einzelnen Dingen. In ANSELM von CANTERBURYs Gottesbeweis wird aus der Natur und dem Wesen des absoluten Seins das Dasein des Absoluten gewonnen; das, was wir Wirklichkeit nennen, ist ein sekundäres Moment, nicht einmal notwendiges Begriffskorrelat. Man kann diesen Gedanken auch so ausdrücken: das begrifflich Gedachte, das Mögliche, die  essentia  ist das Wirkliche; das Sein, die  existentia  ist ein  complementum possibilitatis,  wenn man hier die später von WOLFF geprägte Wendung gebrauchen darf,, das Produkt einer Analyse aus der essentia. - Die Scholastik auf ihrem Höhepunkt in ALBERTUS MAGNUS und THOMAS von AQUIN baut das Reich des Offenbarungsmäßigen, die Welt der Dogmen aus; daneben oder besser ausgedrückt darunter steht die menschlich begriffliche Formulierung des vernunftmäßig Gedachten und schließlich die des Erfahrungsmäßigen als die Welt des Allgemeinvernünftigen. Dieses Naturganze, die Welt des Seins, in sich eine Stufenreihe, ist wiederum die Vorstufe zum Reich der Gnade. Und über ihm, dem wahren Sein, steht noch eine Welt der mystischen Intuition. Vgl. RUDOLF EUCKEN, Die Philosophie des Thomas von Aquino und die Kultur der Neuzeit, 1886.

Scholastiker sind so auch DESCARTES und SPINOZA, von einer im Denken festgefügten Begriffswelt gehen sie beide aus, von einer nach mathematischer Klarheit und Deutlichkeit fundierten Erkenntnissphäre, und schließen durch Begriffsgänge Glied an Glied zum Syste; beide räumen, allerdings in verschiedene Maße, unwillkürlich dem heterogenen Element der Erfahrung im System eine Stelle ein.

DESCARTES gewinnt so neben der denkenden Substanz noch eine ausgedehnte, zur Erkenntnis aus angeborenen Ideen gesellt sich gegen seine Absicht eine solche aus Erfahrung. An die Spitze des kartesianischen Lehrgebäudes wird die Gültigkeit und Gewißheit des eigenen Denkens gesetzt. Denken und Ausdehnung, Geist und Körper sind im Menschen vereinigt. Wie sie vereinigt sind, läßt sich nicht erklären. Aus diesem ergibt sich deutlich ein Widerspruch des kartesianischen Systes, der darin besteht, daß es als rein rationales Gedankengebäude mit seinem Prinzip: "Was denknotwendig ist, das ist das Wesen der Sache" die Erfahrung überwinden muß und will, und doch zugleich nebenbei sie heranzieht.

Etwas konsequenter ist der Spinozismus, denn er bricht mit der Erfahrungserkenntnis, indem er die These anerkennt: Die Natur eines Dings muß zugleich denkend und ausgedehnt sein; das Sein im Denken, das mathematische Sein ist das Sein in den Gegenständen, zwischen beiden besteht ein Parallelismus; die Erfahrung nimmt eine untergeordnete Stellung ein, wenn es die wahre Natur der Dinge auszumitteln gilt. Es erfolgt in echt rationalistischem Geist eine Wertabstufung der Erkenntnis in eine adäquate, die in den abstrakten Begriffen besteht,, das Beisichselbstsein des Denkens, und in eine inadäquate, die den Erfahrungsinhalt umfaßt. Das wahre Sein ist ein überempirisches, gehört der Denksphäre an.

Weniger eine Vermittlung von Rationalismus und Empirismus durch Einführung des Entwicklungsgedankens, aber doch eine Paktierung mit JOHN LOCKE enthält LEIBNIZ' Lehre, nach der Substanzen die Grundeinheit bilden, welche Monaden, immaterielle Kräfte sind. Zwar wird die Erfahrungswelt nicht gestrichen, neben den  vérités de raison  [Vernunftwahrheiten - wp] gibt es noch die  vérités de fait  [Glaubenswahrheiten - wp], Sätze, Wahrheiten, deren Auflösung nur in einem unendlichen Prozeß gelingt (alle Wahrheit wird hier durch Analyse gefunden); aber die Wahrnehmung ist eine im Prinzip minderwertige Erkenntnis, die Materie der Erfahrung eine dunkle und verworrene Vorstellung. Das wirklich Seiende ist das mit reinen Denkwesen bevölkerte Reich, von denen ein jedes rein zwecktätige, rein vorstellende Kraft ist. Kategorien, Axiome ermöglichen erst Erkenntnis, das Apriori läßt Erfahrung entstehen. Die nach dem Satz der Identität in unendlicher Analyse bestimmbare Welt konstituiert eine nach dem Satz des zureichenden Grundes regulierte; das unter logischen Bedingungen stehende ideale Sein und die unter physikalischen Bedingngen stehende reale Sphäre der Sinnenwelt sind nicht koordiniert, ihr Seinswert ist ein ganz verschiedener. Metaphysik rein aus sich heraus macht Physik erst möglich, das Reich der relativen Ursachen bedarf einer Anlehnung an eine absolute Ursache.

Dem Rationalismus in seinen mannigfaltigen Gestaltungen von den Eleaten bis auf WOLFF und darüber hinaus kommen einige fest bestimmte Merkmale zu, wie sich aus der vorhergehenden Darstellung erhellt, welche wir als ein Gegenstück des Empirismus bezeichnet haben. Aber beide Extreme sind wieder in einem Gemeinsamen vereinigt, d. h. sie sind beide dogmatischer Natur. Die Trennung in ein Erkenntnissubjekt und in ein Erkenntnisobjekt findet statt, die zwischen Subjekt und Objekt sich vollziehende Tatsache der Erkenntnis wird dogmatisch vorausgesetzt und als in der Natur der Objekte gegeben betrachtet. Die Objekte sind draußen gegeben, sie werden von einem mehr passiv als aktiv sich verhaltenden Subjekt abgebildet, indem sie oder Teilchen von ihnen ins Auge des Subjekts hineinfliegen, und daraufhin gedacht. Durch einen Erkenntnisstoff wird das Erkennen erklärt, selbständig vom Subjekt existierende Dinge gehen in das auch begrifflich gestaltende Subjekt ein. Die Natur ist ein außerhalb und unabhängig vom Ich existierendes, vollkommen fertiges Gebilde, durch einen Projektionsprozeß aus sich selbst kommt die Natur in den Bewußtseinskreis des Subjekts, um entweder gleich im Denken abgebildet oder nach einiger Analyse reproduziert zu werden. Diese ganze Auffassung kann man als griechische Denkweise charakterisieren. (8)

Ihr schroff gegenüber steht die kantische; gegen den Dogmatismus wendet sich der Kritizismus, welcher Spekulation, Erfahrung und beider Verhältnis untersucht und prüft. Die Philosophie ist nicht ein unabhängig von der Erfahrung spekulierendes und sie entwertendes Denken, sie ist nicht Erfahrungswissenschaft selber, sie macht vielmehr die Möglichkeit der Erkenntnis der Dinge zu ihrem Probem, aus dessen Lösung sich eine neue Weltansicht, die kantische Denkweise, ergibt. Sie gipfelt in dem Satz:  Der Verstand schreibt der Natur seine Gesetze vor.  Hier impliziert die Allmacht des Denkens nicht die Annullierung des Erfahrungsstoffes. In unserem Erkennen ist die Materie der Empfindung empirisch, die anschaulichen (Raum, Zeit) und die begrifflichen Formen (Kategorien) sind a priori gegeben. Damit wirkliche Erkenntnis zustande kommt, muß der Stoff gegeben sein und  last not least  die ihn zur Erfahrung, zur Natur gestaltenden, an ihm sich betätigenden apriorischen transzendentalen Erkenntnisfunktionen.

Das ist die wesentlichste und originalste Tat der Kantischen Philosophie, revolutionierend und epochemachend wirkend auf dem Gebiet der Erkenntnistheorie, ein Wendepunkt des Denkens; in der Reihenfolge der Theorien ist es etwas ungeahnt Neues, nichts Besseres, aber etwas wuchtig anderes (gerade in der Geschichte der Erkenntnistheorie möge man endlich einmal aufhören, in die Betrachtung von Entwicklungsgängen die Wertbetrachtung stets einzumischen).

Der Existentialsatz enthält in nuce die philosophischen Hauptprobleme. Von KANT ist der Schritt getan worden, welcher der Erkenntnistheorie ganz neue Wege wies. Das Originäre seiner Tat ist eben ganz allgemein angedeutet worden; ein spezielleres Bild davon wird uns die Betrachtung der die neue Wendung  en miniature  abspiegelnden kantischen Theorie des Existentialurteils liefern können.

Es wird daher nicht uninteressant sein und keiner weiteren Rechtfertigung bedürfen, wenn im folgenden die Betrachtung über den Existentialsatz gerade mit der kantischen Darlegung einsetzt und im Anschluß hieran die darauf bezüglichen Ansichten zweier späterer Denker, welche auf KANT basieren und diese Lehre weiterzubilden versuchen, angefügt werden.


2. Kapitel
Ein historischer Exkurs

Die historische Betrachtung der philosophischen Auffassung, der logischen Stellung des Existentialsatzes soll keine erschöpfende, soll eben Exkurs sein; sie hat daher nicht  ab ovo  [vom Ei an - wp], nicht mit dem ersten Auftauchen des Existenzproblems in der ersten Epoche der Philosophiegeschichte - das würde uns wohl auf die Lehren der Upanischaden zurückweisen - zu beginnen, sondern an einem markanten, großen Wendepunkt der philosophischen Denkungsart festen Fuß zu fassen, die alte Denkrichtung in Bezug auf ein einzelnes Problem mit der neuen nicht nur in Relation, auch in Kontrast zu setzen, mit dem Prius sich am Posterius zu orientieren, allerdings ohne sich in Deduktionsschematismen zu verlieren. Einen solchen ausgezeichneten Punkt auf der Entwicklungslinie unseres philosophischen Denkens drückt in radikal großer Weise jene kopernikanische Wendung aus, einesteils für das erkenntnistheoretische Fundamentalproblem, andernteils für die einzelnen Partialprobleme. Auch für sie in ihrer beiderseitigen Gestalt gilt das Gesetz historischer Abhängigkeit im allgemeinsten Sinne des Wortes, auch sie bilden nicht die Ausnahme zur Regel, daß im Gang der Entwicklung des Denkens das an  n-ter  Stelle Stehende das an  n-1 ter  Stelle Stehende aufnimmt, modifiziert, erweitert. Gerade am Seinsproblem läßt sich das demonstrieren: Kontinuität und Originalität in der Fragestellung und in der Theorie von KANT zurück zu bestimmten vorkantischen Anschauungen, von HERBART wiederum zu KANT, von FRANZ BRENTANO zurück zu HERBART.

Das Sein als Akzidenz, als Essentiale, als Modus wird über die Formel: Sein ist absolute Position (KANT) und Sein ist absolute Position, die ihren letzten Ausdruck im Substanzbegriff findet (HERBART) zum Sein als Anerkennen, Fürwahrhalten (BRENTANO) verschoben.

In der vorkantischen Philosophie wird zum Teil das existentiale Sein dem Kopulativen gleichgesetzt, der Existentialsatz ist weiter nichts als das kategorische Urteil, er hat diesem nichts voraus (PLATON, ARISTOTELES); im Zusammenhang mit der Schöpfung sowohl einer transzendentalenn als formalen Logik und ihrer scharfen Distinktion trennt KANT von den kategorischen Sätzen im engeren Sinn mit realem Prädikat die Existentialsätze mit logischem Prädikat ab, faßt aber, den Unterschied wieder verwischend, beide unter den Namen "kategorisches Urteil" zusammen. Eine scharfe und klare Trennung macht HERBART, indem das charakteristische Merkmal des Existentialsatzes die absolute Position des Prädikates ist, während das des kategorischen die relative Position von Subjekt und Prädikat bildet, die Ineinssetzung von kategorischem und hypothetischem Urteil konstituierend, während FRANZ BRENTANO die Differenz der beiden Urteile völlig aufhebt, sogar alle Urteile der Relation auf ein Einheitsurteil reduziert, alle Urteile Existentialurteile sein läßt und jene Dichotomie [Unterteilung - wp] HERBARTs als auf nur sprachlicher Differenz beruhend ansieht. Im traditionellen kategorischen Urteil deutet KANT zwei verschiedene Urteile als enthalten an, HERBART führt diese Scheidung aus und begründet sie, BRENTANO schmilzt das Getrennte wieder zusammen unter Zugrundelegung einer neuen Urteilssignatur.

DESCARTES charakterisiert den Existentialsatz als objektiv synthetisch, KANT als subjektiv synthetisch, HERBART als formal subjektiv synthetisch, inhaltlich asynthetisch, FRANZ BRENTANO als asynthetisch.

Diese Thesen bedürfen noch eines historischen Erweises, der hier einstweilen ohne umfängliche Kritik angefügt wird.

Die ganze ältere Schulmetaphysik dachte sich das Sein als  eine  unter den verschiedenen Bestimmungen des Dings; nachdem man das Ding als Subjekt schon vorausgesetzt hatte, legte man ihm hintendrein das Sein als Prädikat bei. (9) [...]

In dieser Denkweise lag die Fassung des Seins als  complementum possibilitatis  eingeschlossen, es war das Produkt einer Analyse aus dem Möglichen. (10) So kommt das Sein zu einem vor dem Möglichen ausgezeichneten und vergleichsweise größeren Geltungsinhalt; ein weiteres Plus führte dann zu der dritten der metaphysischen Kategorien der Modalität, zur Notwendigkeit (11) Gegen die alte Schulmetaphysik hatte sich KANT kritisch zersetzend gewandt. Dieses Hinzukommen zum Möglichen kenne ich nicht; denn was über dasselbe noch zugesetzt werden sollte, wäre unmöglich." (Durch die Wirklichkeit eines Dings setze ich freilich mehr als die Möglichkeit, aber  nicht im Ding.)  KANT zeigt sich uns in seinem Entwicklungsgang in naher Berührung mit den philosophischen Hauptströungen des 17. und 18. Jahrhunderts, die man, die kritische Lehre in diese Vorzeit projizierend, als empiristisch und rationalistisch bedingt bezeichnet. Bis 1769 ist die Existenz wie bei LOCKE für KANT ein reiner Erfahrungsbegriffe; 1770 und die folgenden Jahre führen die Zweiweltentheorie aus, deuten eine Umbiegung der Ansichten im rationalistischen Sinn an: Die Existenz gehört zu den metaphysischen Begriffen, sie ist nicht empirisch (in den Sinnen) begründet, sondern in der Natur des reinen Intellekts. 1781 in der Kritik der reinen Vernunft und dann in den "Prolegomenis zu einer jeden künftigen Metaphysik" tritt eine weitere Verschiebung der Ansicht über den Existenzbegriff in einem transzendentalen Sinn ein. Die höchste Voraussetzung des Rationalismus, das Substrat alles Realen,  Deus sive Substantia  [die Substanz, also Gott - wp], der Anfang der Deduktionsreihen, wurde ziemlich früh von KANT näher ins Auge gefaßt und in einem alten, d. h. vorkritischen Sinn behandelt. Die Existenz Gottes, der Beweis der Existenz Gottes, die Natur des Existierens, wird dann auch in einer besonderen Schrift in zum Teil originärer, aber nicht abschließender Weise abgehandelt. Eine endgültige Behandlung dieser Fragen geschieht erst im Hauptwerk.

Der in einem zusammengesetzten Syllogismus sich vollziehende kartesianische Gottesbeweis machte über den Merkmalscharakter des Seins nachdenklich, durch Herbeiziehung der Unterscheidung der Urteile in analytische und synthetische wurde die Frage zu einem klargefaßten Problem verdichtet. (12) Die Orientierung darüber folgt daher am besten nicht der begrifflich-statischen, sondern der funktionellen Ausdrucksweise, nicht vom Existenzbegriff, sondern vom Existentialurteil wird ausgegangen, aus diesem heraus führt erst ein Abstraktionsakt auf den Existenzbegriff.

In dem disjunktiven Urteilsgefüge: der Existentialsatz ist entweder ein analytisches oder synthetisches Urteil gilt das zweite Glied, da das erste als widerspruchsvoll ausscheide. "Ihr habt schon einen Widerspruch begangen, wenn ihr in den Begriff eines Dinges, welches ihr ledilich seiner Möglichkeit nach denken wolltet, es sei unter welchen versteckten Namen, schon den Begriff seiner Existenz hineinbrachtet."

Für KANT steht fest, daß das Existentialurteil synthetischer Natur ist; es steht nur weiter die Frage offen, ob es gleichwertig allen anderen nichtanalytischen Urteilen ist. Schon wenn wir rein äußerlich die Urteile "Gott ist allmächtig" und "Gott ist" oder "der Nebel ist feucht" und "Nebel ist vorhanden (existiert)" parallelisieren und in Bezug auf die Form ihres zweiten Bestandteiles vergleichen, werden wir auf eine Sonderstellung der Urteile der letzten Form aufmerksam werden, eine gewisse Inkommensurabilität der Prädikate läßt sich herauslesen, darauf beruhend, daß die Prädikate der an erster Stelle angeführten Urteile Inhaltsbestimmungen des Subjekts werden können, das Prädikat des Existentialsatzes aber ganz allein von der Fähigkeit, Merkmal des Subjekts zu sein, ausgeschlossen ist, im Gegensatz zur kartesianischen These.

Die modalen Kategorien nehmen eine Sonderstellung ein.

Wäre das existentiale Sein Merkmal des Subjekts, so könnte dieses Subjekt niemals Objekt der Erinnerung werden, da aus seinen  n  Merkmalen dann  n - 1  Merkmale werden würden, und kein Gedanke, kein Gegenstand der Erinnerung mit  n  Merkmalen würde existieren können, da wir ihn als Ding in der Wahrnehmung mit  n + 1  Merkmalen behaftet vorfänden, d. h. als einen ganz anderen Gegenstand. Kurzum auf diese Weise würde es überhaupt keine den Dingen adäquate Begriffe geben. "Wenn ich ein Ding, durch welche und wieviele Prädikate ich will, . . . denke, so kommt dadurch, daß ich noch hinzusetze: Dieses Ding  ist,  nicht das mindeste zu diesem Ding hinzu." Das Prädikat des Existentialsatzes weist so vor dem jedes anderen synthetischen Urteils seine Eigennatur auf, daß es nicht auch als Merkmal fungieren kann.

Das Ergebnis der bisherigen Darlegungen scheint in Schwierigkeiten zu stürzen und Widersprüche in sich zu enthalten. das synthetische Moment im Existentialsatz ist dargetan, zugleich aber die additionale Natur des existentialen Seins geleugnet worden. Die Frage ist nicht aus der Luft gegriffen, mit welchem Recht man denn noch im Existentialsatz von Synthese reden kann;, er wäre dann prädikatlos identisch mit interjektionaler [einwerfender - wp] These; das Dilemma wird von KANT gelöst, indem er eine scharfe Trennung zwischen realem und logischem Prädikat macht.

Ein  reales  Prädikat ist ein Begriff, der zum Ding als seine Bestimmung und Vermehrung seiner Merkmale hinzukommt, jederzeit bloß beziehungsweise auf das Ding gesetzt wird. Ein  logisches  Prädikat ist bloß die Position eines Dings oder gewisser Bestimmungen ansich. Das Dasein ist ein Prädikat von dem Gedanken,, den man von einem Ding hat, nicht vom Ding selbst. Die Erkenntnis der Existenz eines Dings besteht darin, daß dieses  außerhalb des Gedankens  ansich gesetzt ist, daß der Gedanke von einem Ding und das Dasein des Dings synthetisiert werden. Das existentiale Sein setzt den  Gegenstand  in Beziehung zu meinem  Begriff.  Die Existenz ist also ein Relationsbegriff, drückt das Verhältnis des Inhaltes des Begriffs zu meinem ganzen Zustand des Denkens aus. Daß der  Begriff  der Wahrnehmung vorhergeht, bedeutet  dessen  bloße  Möglichkeit;  die Wahrnehmung aber, die den Stoff zum Begriff hergibt, ist der einzige Charakter der  Wirklichkeit,(13) - KANT ein Empirist? - der Gegenstand wird schlechthin gedacht durch die Relationstätigkeit.

Das existentiale Sein ist ein modales Prädikat; die modale Kategorie drückt nur das Verhältnis zum Erkenntnisvermögen aus, wirkt nicht funktional im Reich des Tatbestandes. (14) Dies wirft ein Licht auf das scheinbare Paradoxon: das Wirkliche enthält nichts mehr als das Mögliche. Zur Erklärung muß man einschränkend hinzufügen, was die realen Prädikate anbetrifft; wenn man frägt, was ist gesetzt. Fragt man aber, wie ist es gesetzt, dann wird durch die Wirklichkeit mehr gesetzt als durch die Möglichkeit, und hier liegt das Plus, das wieder auf den synthetischen Charakter des Existentialurteils zurückweist (15).

KANTs Ansicht über das existentiale Sein läßt sich kurz folgendermaßen zusammenfassen: Es ist kein Subjektsmerkmal, aber doch Prädikat (logisches), synthetischer Provenienz, Relationsprädikat, modaler Natur.

Die architektonische Anlage der Kategorientafel weist nun unter  Qualität  das Sein als die Wirklichkeit (real ist, was durch ein bejahendes Urteil gesetzt ist), unter der Modalität das Sein als Dasein bzw. Nichtsein auf, eine Fassung, die direkt zur Konfundierung beider auffordert und große Verwirrung angerichtet hat. (16) Im Vorhergehenden war die letzte Kategorie in Betracht gekommen.

Was von den Kategorien im allgemeinen statuiert worden ist, findet natürlich auch auf die Existenz, auf das Sein Anwendung. Das Sein oder Dasein eines vorgestellten Dings gehört weder einem  mundus sensibilis  noch einem  mundus intelligibilis  an, sondern der Beziehung und Vereinigung von Denken und Wahrnehmen. Begriffe ohne Anschauungen sind eben leer, Anschauungen ohne Begriffe blind. Der Gegenstand wird durch die Existenz als im Kontext der gesamten Erfahrung enthalten gedacht. (17) Eine Existenz außer diesem Feld z. B.  Gott  kann zwar nicht schlechterdings für unmöglich erklärt werden, sie ist aber eine Voraussetzung, die wir durch nichts rechtfertigen können.

Den kantischen Existenzbegriff hält HERBART für den einzig wahren, da er kein Merkmal ist, keine Addition zum Möglichen, sondern die bloße Position der Dinge aussagt. Auch hier ist der Begriff das Mögliche, der Gegenstand und seine Position das Wirkliche. Die Entwicklung geht von der vorkantischen Metaphysik über KANT und JACOBI (18) auf HERBART in der Transformation der Auffassung des Seins als realen Prädikates zur bloßen Position. Auf der Basis des Nichtmerkmalseins des Seins baut HERBART seine ganze Logik und Metaphysik auf.

KANT meint mit der bloßen Position eines Dings nicht einen Gegenstand, der potentiell eine Menge von Realitäten enthält (etwa nach spinozistischem Vorbild), die sich in Wirklichkeit dann aus wirken.  Die Existenz im Sinne von Wirken, Hervortreten, Aktualität weist wieder auf ganz moderne Theorien (BENNO ERDMANN, WILHELM JERUSALEM).

Als eine Tat von höchster Bedeutung sieht HERBART die kantische Aufstellung des wahren Seinsbegriffs an, in der die Frage nach dem  Wie  des Seins umfassend beantwortet wird. Aber HERBART fragt weiter:  Was  hat KANT als seiend gesetzt? und antwortet: danach sucht man in seiner ganzen Lehre vergebens; denn er hatte die wahren Begriffe der Substanz und Kraft nicht. An die von KANT freigelassene Stelle setzt HERBART seinen metaphysischen Substanzbegriff, er wird Eleatist, kommt durch umfassendste Abstraktionsgänge zum reinen, reinsten, leeren Sein.

Dieses Reinmetaphysische wird nun auch ins Reinlogische (Reinformale) hinüberprojiziert, in die Urteilslehre, und auf der Grundlage des konkreten Urteils  A  ist  B  durch konsequent stetige Aufhebung der gegenseitigen Determination von  S  und  P  aus dem kopulativen Sein das allumfassende Sein der absoluten Position, das existentiale ermittelt.

Um das Wesen des existentialen Seins, der Existentialurteile bei HERBART kennen zu lernen, muß von seiner Urteilstheorie ausgegangen werden.

Im Denken, das nur Mittel, Medium, Vehikel ist, um Begriffe zusammenzuführen, befinden sich die Begriffe  A  und  B  im Begegnungszustand, sie stehen gleichsam gegeneinander in der Schwebe, wofür als sprachlicher Ausdruck die Frage fungiert.

Eine  erste  Entscheidung in diesem Schwebezustand führt das Urteil herbei, d. h. der Zustand der Vibration ohne genau fixierten Endeffekt, der sowohl  A  nach  B  als  A  nach  B1,  wie auch  B  nach  A1  usw. usw. weisen konnte, wird so determiniert, daß  A  und  B  als alleinige Relationsglieder übrigbleiben, sodaß  A  zu  B  oder  B  zu  A  tritt, eine erste Lösung der Frage, herbeigeführt nicht durch Eigenschaften, durch spontane Akte des Mediums Denken, vielmehr durch die Natur, durch die Qualitäten der Begriffe  A  und  B,  die ein Zueinanderpassen implizieren. Das Aktionsmoment bei der Urteilsbildung liegt im Urteilsmaterial selbst.

Eine  zweite  Entscheidung, die Aufhebung jener korrelativen Beziehungsart, wird dadurch ermöglicht, daß die Begriffe  A  und  B  Eigenstellungen als Subjekt und Prädikat angewiesen erhalten, indem die (zeitliche) Priorität Subjektscharakter, die Posteriorität Prädikatsnatur verleiht. So ist das Subjekt (A) Subjekt für irgendeine (posterior hinzutretendes) Prädikat (B, B1, B2 ...), das Prädikat (B) ist Prädikat für ein bestimmtes Subjekt (A). Ohne die Voraussetzung des Subjekts würde an kein Prädikat gedacht werden, aber auch  per conversionem  - ohne das spätere Sichhinzugesellen des Prädikats würde kein Subjekt zu fixieren möglich sein.

Im Urteil ist keine Versicherung enthalten, wie viel das Subjekt für sich allein gilt. Im negativen Urteil ist daher das Subjekt vergeblich, das Prädikat gar nicht aufgestellt.  A  wird versuchsweise gesetzt, dann, insofern dies geschehen ist, soll es gewiß sein (dies behauptet das kategorische Urteil), daß ihm der Begriff  B  beizulegen sei. Keine absolute, definitive, nur eine hypothetische Aufstellung des Subjekts findet im kategorischen Urteil statt.  A ist B  impliziert nicht  "A ist",  sondern heißt, wenn  A  gesetzt wird, so ist  B  mitgesetzt zur Vereinigung in einem Gedanken.

In jedem bejahenden kategorischen Urteil kommt das Prädikat nur in, dem Subjektsumfang proportiona, beschränktem Sinn vor. So wende ich z. B. das Prädikat "warmblütig" in zwölffach oder n-fach jedesmal verschiedener Geltung an, wenn ich es vom Individualbegriff über Art, Gattung, Familie usw. usw. bis zum Reich prädiziere. (19) Oder
    a) Europäer sind Menschen
    b) Menschen sind Menschen
    c) Einige Sterbliche sind Menschen
    d) Einige Wesen sind Menschen
    e) Es  sind  Menschen (= sunt homines).
In diesen fünf Fällen ist der Umfang und auch der Inhalt des Prädikats ein fünffach verschiedener, von  a  nach  e  wächst mit dem Subjektsumfang der Prädikatsumfang immer mehr, von  e  nach  a  nehmen beiden ihrem Inhalt nach in kommunizierender Weise zu. [...]

Die bei KANT vorgefundene qualitative Differenz der beiden Seinsweisen wird von HERBART überbrückt und eine bloß quantitative konstatiert. "Wenn für ein Prädikat das Subjekt fehlt, so verwandelt sich die Kopula in das Zeichen des existentialen Seins, und es entsteht auf diese Weise ein Existentialsatz, den man unrichtig auslegt, wenn man in ihm den Begriff des Seins für das ursprüngliche Prädikat hält." Der genetischen Deutung ist der Existentialsatz eigentlich nichts mehr, nichts anderes als der kategorische Satz, aber trotzdem faßt HERBART im Zeichen der unbedingten Aufstellung ein Sein  sui generis  [eigener Art - wp].

Die freie Stellung des Prädikats, im Maximum seines Umfangbereichs, da wo der Inhalt des Subjekts verschwindet, wird durch "es" signalisiert, das die Urteilsform wahrt und die restlose Aufhebung des Subjekts dementiert. Aber trotzdem sind die Existentialurteile oder die Impersonalsätze - beide Namen gebraucht HERBART promiskue [wechselseitig - wp] für dasselbe Phänomen - keine "gewöhnlichen" Urteile mehr.

In den Impersonalsätzen "es blitzt, es donnert" deutet die Sprachform die unbedingte Aufstellung an, in den Existentialsätzen "es gibt Menschen, es gibt einen Gott" verrichtet "sein, geben" die gleichen Funktionen. Nur eine andere Form der Existentialsätze bilden "Menschen ind, Gott ist," wo der Prädikatsbegriff die Subjektstelle einnimmt und das Urteil prädikatlos wird. Trotzdem ist der reale Gegenstand nicht Subjekt, sondern Prädikat, versichert HERBART ausdrücklich.

Die Aufnahme dieser letzten Andeutungen, ihre Ausbildung und Begründung im gegenteiligen Sinne, überhaupt die Lehre HERBARTs von der freien Stellung des Prädikats im Existentialsatz, wie sie zum Charakteristikum eines jeden Urteils verallgemeinert wird . . . all das kennzeichnet die Theorie des Existentialurteils von FRANZ BRENTANO.

BRENTANO vertritt in seiner Psychologie den qualitativen Unterschied von Vorstellung und Urteil als zwei gänzlich verschiedener Weisen des Bewußtseins von einem Gegenstand. Vor DESCARTES wurde der Fehler gemacht, beie in  einer  Grundklasse vereinigt zu denken, nach ihm der Fehler, im Urteil ein Zusammensetzen oder Beziehen von Vorstellungen aufeinander zu sehen, so daß für die Vorstellung der Gedannke ohne den Inhalt einer Bezieung spezifisch wäre. Im Verbinden und Trennen besteht eben nicht die wesentliche Eigentümlichkeit des urteilenden im Gegensatz zum vorstellenden Denken; man mag Vorstellungen zusammensetzen, in Relation stellen, so viel man will, einen grünen Baum, einen goldenen Berg, einen Vater von hundert Kindern, einen Freund der Wissenschaft . . . solange und sofern man nichts weiteres tut, fällt man kein Urteil. Das Urteilen ist ein psychisches Grundphänomen, in dem zum Vorstellen eine zweite intentionale Beziehung zum vorgestellten Gegenstand hinzukommt, die des Anerkennens oder Verwerfens; jeder Gegenstand wird im Bewußtsein als vorgestellt und als anerkannt oder geleugnet aufgenommen.

Das Wesen des Urteils liegt nicht in einer Verbindung, einer verbindenden Tätigkeit, es wird durch den Glauben, durch  belief  charakterisiert. Vorstellen und Urteilen sind eben zwei verschiedene Denktätigkeiten, zwei verschiedene Urvermögen.

Darüber, daß es ein bestimmtes Urteilen im Sinne von nur  Als-wahr-Annehmen  oder  Als-falsch-Verwerfen  gibt, welches nicht etwa schon ein Zusammen von Verbinden und Anerkennen wie bei JOHN STUART MILL ist, liefert der Existentialsatz Bescheid. In dem Existentialsatz "A ist" findet nicht eine Verbindung der Existenz als Merkmal, als Prädikat mit dem Subjekt  A  statt, die Vorstellung des einen geht nicht eine Synthese mit der des andern ein, das Urteil meint nichts anderes, als daß  A  als Gegenstand anerkannt, eventuell geleugnet wird. Das Sein, Existieren in dieser Urteilsart fällt nicht uner das Prädikationsschema, der Existentialsatz ist kein kategorisches Urteil der traditionellen Logik, weder ein analytisches noch ein synthetisches Urteil im Kantischen Sinn.

KANT setzte sich der Metaphysik seiner Zeit entgegen, indem er die Merkmalnatur des Seins bekämpfte und widerlegte. HERBART sprach von absoluter Position unter Beibehaltung der Prädikationsbeziehung. BRENTANO ist konsequent radikal, indem für ihn im Existentialsatz kein Prädikat vorkommt. Für ihn schließt jenes "ist" und "ist nicht" nur eine Wertung ein, die des Fürwahrhaltens und Fürfalschhaltens, welche konstitutives Element des Urteils ist.

Der Existentialsatz besitzt eine asynthetische Eigennatur. Doch ist er damit nicht vor den kategorischen Urteilen ausgezeichnet, auch diese sind asynthetischer, prädikatloser Natur, sie sind nur sprachlich verkappte Existentialsätze. BRENTANO unternimmt eine Amplifikation [Ausweitung - wp] des Existentialurteils, eine Reduktion aller Urteile auf Existentialurteile, d. h. die Exklusion der Synthesis bei allen Urteilsoperationen.

Die Differenz zwischen existentialem und kopulativem Sein war zum Teil von den Griechen (Sophisten, PLATON) (20), ARISTOTELES (21) als gewichtiges Moment in der Urteilslehre übersehen worden. Die neueren Grammatiker und Logiker haben beide streng auseinandergehalten. Dagegen vertritt BRENTANO in bewußter Weise wieder einen Aristotelismus (22) scholastischen Gepräges in der Lehre vom Urteil, das Sein beider Sätze als Anerkennen ausdeutend. Er unternimmt es, aufs Deutlichste zu zeigen, daß jeder kategorische Satz ohne die geringste Änderung des Sinnes in einen Existentialsatz übergeführt, übersetzt werden kann, und daß überall an die Stelle der Kopula das "ist" und "ist nicht" des Existentialsatzes tritt. So ist dem Sinn nach gleich:
    1. Irgendein Mensch  ist  krank = ein kranker Mensch  ist 

    2.  Kein  Stein  ist  lebendig = ein lebendiger Stein  ist nicht. 

    3. Alle Menschen  sind  sterblich = ein  un sterblicher Mensch  ist nicht. 

    4. Irgendein Mensch  ist nicht  gelehrt = ein  un gelehrter Mensch  ist. 
Die Möglickeit der sprachlichen Umwandlung kategorischer Sätze in Existentialurteile ist offenbar, zugleich ist erwiesen, daß kein bejahendes Urteil allgemein, kein verneinendes partikular sein kann; das "ist" und "ist nicht" ist ein bloßes Äquivalent der Kopula, kein Prädikat, nur Annerkennungsindex, Urteilssignatur.

Auch alle hypothetischen Sätze lassen sich in die existentiale Formel kleiden, sie sind lauter verneinende Behauptungen.
    Hypothetischer Satz:  a  - Wenn ein Mensch schlecht handelt, schädigt er sich selbst.

    Kategorischer Satz:  = b  - Alle schlecht handelnden Menschen schädigen sich selbst.

    Existentialsatz:  = c  - Ein sich selbst nicht schädigender schlecht handelnder Mensch ist nicht.
Alle drei haben einerlei Bedeutung, nur bevorzugt die Sprache wegen der Schwerfälligkeit der existentialen Formel die beiden anderen syntaktischen Einkleidungen.

Alle Urteile sind somit auf Existentialurteile zurückgeführt, die Korrelativa: Subjekt und Prädikat, Antezedenz und Konsequenz treffen nicht das Wesen des Urteils.

Aber so konsequent sich der Existentialsatz als Grundlage der ganzen Logik ergibt, so vollständig sich auch die Reduktion aller Urteile vollziehen mag, so ist doch eine Ausnahme zu konstatieren. Manche zusammengesetzte Urteile sind nicht ohne Rest auf die existentiale Formel zurückführbar; die "Doppelurteile" (23) enthalten allein eine Aufeinanderbeziehung der Vorstellungen wie Subjekt und Prädikat, sie bestehen eigentlich aus zwei Urteilen, von welchen das eine die Anerkennung des Subjekts ist, das andere im Zu- oder Absprechen einer Bestimung sein Wesen hat. Solche Urteile sind, "die Rose ist ein Blume" (24), "Gott ist gerecht", (25) alle singulären Urteile, (26) so auch "dies ist ein Mensch", wo in dem "dies" schon der Glaube an die Existenz eingeschlossen liegt und ein zweites Urteil ihm das Prädikat "Mensch" zuspricht. Trotz dieser Modifikation ist für BRENTANO das Urteil  kat exochen  [schlechthin - wp] der Existentialsatz, prädikatlos, nur anerkennender Natur.

Eine historische Betrachtung kann Mittel zum Zweck sein, sie soll hier die Einführung zur Systematik bilden. In der vorausgehenden Darstellung wurde nicht nur Gewicht auf das Faktum als solches mit allen seinen Eigenschaften und seiner feinen Nuancierung gelegt, sondern auch verschiedenen Epochen angehörende Fakta in Beziehung gesetzt, um einen Reiheneindruck zu übermitteln. Der Exkurs war ein problemgeschichtlicher, der die Zwischenräume diskreter Ansichtenkomplexe überbrückte, der anscheinend schroff selbständige Thesen im Gedanken der Kontinuität aneinander brachte, ohne ihre Heterogenität zu verwischen.

Die historische Betrachtung wird zum Fundament der systematischen. Durch Hervorkehrung einer Anzahl von Richtungen in der Auffassung, Anfassung und Durchführung des Problems, durch Gruppierung nach den nach der traditionellen Einteilung der Urteile gegebenen Gesichtspunkten, durch Zusammenfassung der bei ihnen sich ergebenden Mannigfaltigkeit der Stellungnahme im disjunktiven Urteilsgefüge, durch kritisches Prüfen der Glieder, durch Annahme eines bestimmten Gliedes oder eines modifiziert bestimmten, das die Geltung der übrigen annulliert, soll im folgenden Bahn für eine systematische Erörterung des Existenzproblems gewonnen werden.

Nach einigen psychologischen Vorbemerkungen soll unser Problem zunächst im Hinblick auf die Unterscheidung der Urteil in analytische und synthetische, dann in Bezug auf die Qualität des Urteils, des weiteren in Bezug auf seine Relation, schließlich im Hinblick auf die Urteilsmodalität kurz erörtert werden, um im Anschluß hieran einige Andeutungen über eine umfassende Theorie des Existentialsatzes zu geben. Um an diese letzte Aufgabe herantreten zu können, müssen wir uns der Arbeit unterziehen, auf die uns auch der historische Exkurs schon zwar stillschweigend, aber doch nicht minder nachträglich hingewiesen hat, ich meine, die Bedeutung, den Geltungswert und -umfang, die Natur der Begriffe  Sein, Dasein, Existenz, Wirklichkeit, Realität  genau nachzuweisen mit möglichst vollständiger Berücksichtigung aller durch die Wissenschaften gegebenen Variationen; was eines jeden von diesen  proprium  [das Eigentümliche - wp] ist, inwiefern der eine für den andern eintreten kann, inwiefern nicht; ob einige von ihnen homonym, ob einige äquipollent [umfangsgleich - wp] sind usw. usw., ist ein für allemal festzulegen.

LITERATUR: Otto Alexander Friedrichs - Beiträge zu einer Geschichte und Theorie des Existentialurteils, Prenzlau 1906
    Anmerkungen
    1) ANTON MARTY, Über subjektlose Sätze und das Verhältnis der Grammatik zur Logik, 7 Artikel, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 8, Seite 8 und 19.
    2) Angefügt möge hier die Tatsache werden, wie  ein  erkenntnistheoretischer Standpunkt immer in die Metaphysik hinüberspielt. Es ist der  Rationalismus  in seiner mannigfachsten Form, der die Sinnenwelt überwinden will. Die reine Denkwelt wird noch von etwas Höherem, Metaphysischem abhängig gemacht.
    3) Vgl. JULIUS BERGMANN, Reine Logik, Seite 158f
    4) PLATON, Republik VI, Seite 484a.
    5) Vgl. OSWALD WEIDENBACH, Das Sein in seiner methodologisch-kritischen Bedeutung, Jena 1900
    6) Vgl. WINDELBAND, Platon, Seite 72f
    7) Wir wenden uns von ARISTOTELES gleich zur Scholastik, inde wir die neuplatonischen Anschauungen als weniger unser Thema berührend übergehen.
    8) Vgl. zum Folgenden auch MAX SCHELER in seinem zur Kant-Säkularfeier (Februar 1904) in der Beilage der Allgemeinen Zeitung erschienenen Aufsatz.
    9) Vgl. HERBART, Werke III, Seite 80, 188f, der auf BAUMGARTENs Metaphysik § 134 hinweist.
    10) Vgl. das Wort HERBARTs über die Scholastik (Werke III, Seite 183): Die Scholastik ließ das eigentlich Reale im See der bloßen Möglichkeit ertrinken.
    11) HERBART, Werke III, Seite 205; WOLFFs Ontologie § 205
    12) Die Kategorien sind keine Begriffe, sie sind Funktionen zu den Begriffen, sind Gesetze der Urteile. Begriff und Urteil sind aber auseinanderzuhalten. Der Begriff ist zwar ein potentielles Urteil, bleibt aber eine isolierte Fixierung. Die Kategorien  Sein, Existenz  sind konkret an der Wissenschaft gewonnen, als  Urteils formen gefunden (bei KANT wird zuerst von der logischen Funktion des Verstandes im Urteilen gehandelt und dann auf dieser Basis zu einer Entdeckung der Kategorien fortgeschritten).
    13) Es ist daher falsch, wie KANT in den Paralogismen der reinen Vernunft betont, wenn man die transzendentale Apperzeption als Existentialsatz auffaßt, da das Ich nur bloßes Bewußtsein ist, welches alle Begriffe begleitet;; die empirische Apperzeption läßt sich höchstens in den Existentialsatz fassen, die transzendentale kann nach dem oben angegebenen Wesen des Existentialsatzes nie Existentialsatz sein, vielmehr gründet er in jener.
    14) Die Grundsätze der Modalität sagen von einem Begriff nichts anderes als die Handlung des Erkenntnisvermögens, dadurch er erzeugt wird, aus; sie sind nur subjektiv synthetisch, d. h. sie fügen zum Begriff eines Dings (Realen), von dem sie sonst nichts sagen, die Erkenntniskraft hinzu, worin er entspringt und seinen Sitz hat.
    15) Vgl. die Exemplifikationen dieses Gedankensgangs bei KANT am Beispiel von den hundert wirklichen und möglichen Talern.
    16) Vgl. die hierher gehörigen scharfsinnigen Bemerkungen JULIUS BERGMANNs in seiner "reinen Logik", Seite 146f.
    17) KUNO FISCHER, Geschichte der neueren Philosophie, Bd. IV, Seite 444: "Das Kriterium des Daseins ist nie logisch, sondern durchaus empirisch." Damit ist natürlich keineswegs irgendeiner Art von Empirismus oder Sensualismus Tür und Tor geöffnet.
    18) Von HERBART, Werke I, Seite 234 namhaft gemacht.
    19) Vgl. ÜBERWEG, System der Logik, § 58. Auch B. ERDMANN. Logische Elementarlehre, Seite 139
    20) Vgl. einige Stellen in THEODOR GOMPERZ, Griechische Denker.
    21) Vgl. HEINRICH MAIER, Die Syllogistik des Aristoteles II, Seite 2
    22) Über BRENTANOs Zusammenhang mit ARISTOTELES vgl. KARL GEBERT, Theorie des Existentialsatzes, Straßburg 1893, Seite 27f, Anm.
    23) So nennt sie BRENTANO in seiner Rezension über MIKLOSICHs Subjektlose Sätze.
    24) Die Existenz der Rose wird anerkannt und ihr Begriff der Blume zugesprochen.
    25) Gott wird anerkannt und  gerecht  von ihm prädiziert.
    26) Wohl erst von HILLEBRAND in seinen "Neuen Theorien der kategorischen Schlüsse" weiter ausgeführt, worauf HANS CORNELIUS, Versuch einer Theorie der Existentialurteile", Seite 22, hinweist.