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GEORG WERNICK
Der Wirklichkeitsgedanke
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"Wenn also Brentano sagt, daß jedes Vorstellen das Vorstellen von Etwas sei, so müssen wir dieses als eine Erschleichung zurückweisen. Die Vorstellung ist wohl etwas, aber sie ist für sich allein genommen, nicht die Vorstellung  von  etwas."

I.

1. Der Sinn des Problems, das uns beschäftigen soll, scheint zunächst äußerst klar zu sein: angesichts der unleugbaren Tatsache, daß wir gewissen vorhandenen Inhalten eine besondere, an anderen Inhalten versagte Bewertung beilegen, in dem wir ihnen Wirklichkeit zuschreiben, wollen wir uns fragen, worin denn der psychologische Vorgang des Fürwirklichhaltens, der W-Vorgang, wie ich ihn kurz benennen will, eigentlich besteht. Suchen wir uns die in Frage stehende Tatsache an einem Beispiel zu vergegenwärtigen. Es ist ein großer Unterschied, ob ich annehme, daß der Unterstock des Hauses, in dem ich bin, wirklich brennt oder ob ich diesen Brand nur phantasiemäßig vorstelle. Näher läßt sich sagen, daß sich dieser Unterschied erstens durch  unmittelbares  Bewußtwerden kundgibt - wir zweifeln an der Verschiedenheit der beiden Akte so wenig, wie an der roten und blauen Farbempfindung, zweitens durch die Folgen, die jeder der beiden Vorgänge im Gefühls-, Willen- und Vorstellungsleben nach sich zieht: wer den Brand für wirklich hält, wird von Schrecken erfaßt, wünscht seine Person in Sicherheit zu bringen, denkt an Mittel, dem Feuer Einhalt zu gebieten und ähnliches, wer ihn dagegen für nicht wirklich hält, erfreut sich vielleicht am angenehmen Grauen, das die Vorstellung mit sich bringt, wünscht sie weiter in Einzelheiten auszuführen, denkt an diesbezügliche Verse aus SCHILLERs "Glocke" und ähnliches. Wenn hier also ganz gewiß zwei wesentlich verschiedene Tatsachen vorliegen, so ist es doch fraglich, ob die Analyse dieser Verschiedenheit den eigentlichen Gegenstand unseres Problems bildet; wir brauchen, um das zu zeigen, nur daran zu erinnern, daß ja auch im zweiten Fall eine Wirklichkeitsbewertung vorliegt oder vorliegen kann, da wir ja auch dem vorgestellten  Brand  als Phantasiegebilde volle Wirklichkeit beilegen. Am deutlichsten wird das, wenn wir etwa am nächsten Tag aufgrund der Erinnerung das Urteil fällen: gestern um die und die Zeit dachte ich an einen Brand, aber auch im Augenblick des Erlebens selbst bedarf es nur eines Aktes der Selbstbestimmung, um einen W-Vorgang zu erhalten. Wenn dieser aber in beiden Fällen vorliegt, so kann, wie es scheint, die Aufhellung ihres Unterschiedes das Wesen des Vorganges noch nicht klar legen, sondern es müssen andere Gegensätze als die hier berührten ins Gewicht fallen. Man sieht, daß die Fragestellung nicht ganz so einfach ist, wie sie auf den ersten Blick erscheint; um über  sie  zunächst zu voller Klarheit zu gelangen, wollen wir die wichtigen Vorfragen entscheiden, ob der W-Vorgang in den beiden angeführten Fällen der gleiche ist oder ob wir es mit zwei verschiedenartigen Vorgängen zu tun haben und wenn das letztere, ob dieselben koordiniert oder der eine als Spezialfall im anderen enthalten ist.
    DAVID HUME glaubte diese gleich am Anfang auftretenden Schwierigkeiten zu überwinden, wenn er mit einseitiger Berücksichtigung der Tatsache, daß wir jeden vorgestellten Inhalt als wirklich bewerten - richtiger gesagt: bewerten können - für  wirklich halten  gleich  vorstellen  setzte. Wenigstens finden sich in seinem Hauptwerk Stellen, die keine andere Auffassung zulassen. "Die Vorstellung der Existenz," (1) sagt er, "muß also genau dasselbe sein, wie die Vorstellung dessen, was wir uns als existierend vergegenwärtigen. An irgendetwas einfach denken und an etwas als an ein Existierendes Denken, das sind nicht zwei verschiedene Dinge ... Was immer wir vorstellen, stellen wir als existierend vor. Jede Vorstellung, die es uns beliebt zu vollziehen, ist die Vorstellung von etwas Seiendem". Daß diese Auffassung unhaltbar ist, läßt sich leicht zeigen. Wir wollen hier nur 3 Einwände anführen. Erstens kann HUME nicht erklären, daß wir gewisse Inhalte, während wir sie vorstellen, doch für nicht wirklich halten. Die Tatsache selbst ist nicht in Abrede zu stellen. Ich erinnere mich z. B. daran, daß das Vergnügen, das ich mir von der gestrigen Theateraufführung versprach, nicht eingetreten ist; der Frierende denkt an behagliche Wärmeempfindungen, findet aber zu seinem Bedauern, daß dieselben nicht wirklich sind u. ä. kurz gesagt, wir sind befähigt, über  Vorgestelltes  auch  negative  Existenzialurteile zu fällen. Ebensowenig kann HUME erklären, daß wir Dinge für wirklich halten, ohne sie vorzustellen. Der von Geburt an Blinde hält aufgrund der Erfahrungen, die er über das Verhalten seiner Mitmenschen macht, Sinneswahrnehmungen bei diesen für wirklich, über die er sich nicht die geringste Vorstellung bilden kann. Der erkenntnistheoretische Realist hält Dinge für wirklich, denen keiner der durch die Sinne vermittelten Empfindungsinhalte als Eigenschaft oder Bestandteil zukommt, von deren Beschaffenheit er sich also keine Vorstellung machen kann, von denen er aber annimmt, sie seien, da sonst, wie er glaubt, auch die Empfindungsinhalte nicht sein würden. Unabhängig davon, ob man sich zu dieser Ansicht bekennt, mjuuß man doch ihr Vorhandensein zugeben. Auch diesen Tatsachen steht HUMEs Theorie ratlos gegenüber. Drittens kann DAVID HUME nicht erklären, daß wir uns erinnern, eine Vorstellung gehabt zu haben, ohne ihr Objekt für wirklich zu halten. Um mich daran zu erinnern, daß ich gestern an einen Brand gedacht habe, muß ich mir notwendigerweise diesen Brand vorstellen, aber ein Zwang, ihn für wirklich zu halten, ist, wie wir gesehen haben, damit keineswegs gegeben. - HUME hat das Unzureichende seiner Lehre selbst empfunden und in offenbarem Widerspruch mit ihr noch ganz andere Erklärungen über das Fürwirklichhalten gegeben; trotzdem bleibt sie historisch denkwürdig, insofern sie die radikalste unter allen Theorien ist, die die Wirklichkeitsbewertung auf bloßes Vorstellen zurückführen wollen und insofern sie selbst eine kräftige Anregung zur Bildung derartiger Theorien gegeben hat.
Wir kehren zu den oben gestellten Vorfragen zurück. Wir lernten zwei Vorgänge kennen, deren Verschiedenheit unleugbar ist und wollten wissen, worin diese Verschiedenheit besteht. Zwei Annahmen sind hier möglich. Entweder liegt bei Identität des Vorganges der Wirklichkeitsbewertung der Unterschied in den Inhalten, die der Bewertung unterworfen werden oder er liegt bei der Identität der Inhalte in der Verschiedenheit der Wirklichkeitsbewertung. Die dritte Möglichkeit, daß sowohl die Inhalte als auch ihre Bewertungen verschieden sind, braucht hier nicht erörtert zu werden. (2) Wir werden diese Frage, die für das Folgende von entscheidender Bedeutung ist, im Sinne der zweiten Alternative entscheiden, müssen jedoch, um zu diesem Ziel zu gelangen, zunächst die erste einer genaueren Betrachtung unterziehen. Zu ihren Gunsten läßt sich anführen, daß wir, wie die Erfahrung lehrt, mit Sicherheit zwischen einer Vorstellung und ihrem Gegenstand unterscheiden; beide halten wir für verschiedene Dinge und bewerten demgemäß jedes von ihnen unabhängig vom andern als wirklich oder nicht wirklich. Bei näherem Zusehen muß von diesem Standpunkt aus weiter angenommen werden, daß die Vorstellung bereits das Objekt irgendwie in sich enthält. Das beweist erstens die Tatsache, daß ich an die Vorstellung eines Dings nicht denken kann, ohne mir das Ding selbst vorzustellen, das läßt sich zweitens a priori einsehen, da es unmöglich wäre, einen Gegenstand einer Beurteilung zu unterziehen, wenn er nicht irgendwie in der Vorstellung gegenwärtig wäre. Man ist also zu einer weiteren Unterscheidung genötigt, nämlich zu der zwischen dem immanenten Objekt der Vorstellung und dem transzendenten ihm entsprechenden äußeren Gegenstand. Wer die Vorstellung für wirklich hält, hält damit selbstverständlich auch ihr immanentes Objekt, ohne das sie nicht gedacht werden kann, für wirklich, wer den Gegenstand für wirklich hält, bezieht sein Urteil dagegen auf ein Transzendentes, über die Vorstellung Hinausgehendes. Das immanente Objekt und der transzendente Gegenstand dürfen aber nicht als äußerlich nebeneinander stehend angesehen werden, sonst wäre es unbegreiflich, wie wir, die wir doch nur das erstere besitzen, das letztere zu beurteilen vermögen, vielmehr müssen sie in einer besonderen, engen Beziehung stehen. Diese Beziehung aber ist, wie die Erfahrung zu zeigen scheint, die, daß das immanente Objekt auf den äußeren Gegenstand  hinweist.  Jede Vorstellung ist die Vorstellung von etwas (vgl. das folgende Zitat), es liegt in ihrer Natur, etwas zu bezeichnen, was nicht sie selbst ist, auf etwas hinzuweisen, was über ihre Sphäre hinausgeht.

Diese Gedanken sind am eingehendsten von BRENTANO und seinen Nachfolgern durchgeführt.
    "Jedes psychische Phänomen, sagt BRENTANO, ist durch das charakterisiert, was die Scholastiker des Mittelalters die intentionale Inexistenz eines Gegenstandes genannt haben und was wir ... die Beziehung auf einen Inhalt, die Richtung auf ein Objekt (worunter hier nicht eine Realität zu verstehen ist) oder die immanente Gegenständlichkeit nennen würden. Jedes enthält etwas als Objekt in sich ... In der Vorstellung ist etwas vorgestellt".
Der Unterschied zwischen immanentem und transzendentem Objekt wird klarer als von BRENTANO von den Fortbildnern seiner Lehre HILLERBRAND, MARTY und TWARDOWSKI hervorgehoben, wozu sie im Interesse der schärferen Fassung der Urteilstheorie genötigt waren. (3)

Wir lehnen die hier skizzierte Anschauung aus mehrfachen Gründen ab. Zuzugeben ist, daß wir die angegebenen Unterscheidungen zwischen einer Vorstellung und ihrem Objekt machen oder vielmehr machen können, falls nämlich unser Abstraktionsvermögen hinreichend entwickelt ist. Damit ist aber die Sache nicht erledigt, vielmehr handelt es sich für uns darum, ob die angeführten Momente bereits in den uns gegebenen Inhalten als solchen enthalten sind oder ob es der W-Vorgänge bedarf, um dieselben herauszuarbeiten. Ich behaupte das letztere und berufe mich zum Beweis dessen (4) auf die Erfahrung. Wäre das erstere der Fall, so müßte es möglich sein, daß wir etwas vorstellen, ohne ein intentionales Objekt und damit Beziehung, Richtung oder Hinweis auf einen äußeren Gegenstand zu denken. Nun lehrt aber die Erfahrung, daß jeder Inhalt, der uns vorliegt, zunächst nur den Charakter eines  qualitativ bestimmten Seins  trägt und daß damit sein Wesen völlig erschöpft ist. Es ist nicht wahr, daß wir innerhalb der Vorstellung ein besonderes Objekt bemerken, auf das sie ihrer Natur nach  intentional  hinweist und das sie in Beziehung zu einem äußeren Gegenstand setzt, so daß sie gleichsam ein Wegweiser wäre, der nach einem außer ihr bestehenden Sein hinzeigt. Von einer derartigen Zweiheit oder Entzweitheit können wir in keiner Vorstellung etwas entdecken. Man zergliedere die Empfindung "Rot", soviel man will, man wird niemals in ihr das Empfinden als solches und die objektive rote Farbe als solche antreffen, vielmehr ist sie nichts weiter als ein in sich völlig abgeschlossener Inhalt, der auf nichts anderes als sich selbst hinweist. In dieser Beziehung unterscheidet sich das Vorstellen durchaus nicht vom Fühlen und hier einen Unterschied zwischen beiden Arten des Vorhandenen herausfinden zu wollen, wie viele es tun, ist ein vergebliches Bemühen. Wer diesen einfachen Sachverhalt der Objektlosigkeit der vorhandenen Inhalte nicht anerkennt, den frage man, welches denn das intentionale Objekt der Empfindung  Kopfschmerz  ist. Etwa das Gehirn? Aber im Kopfschmerz liegt nicht der geringste Hinweis auf das Objekt Gehirn und wer nicht bereits auf anderem Wege veranlaßt ist, sein Gehirn für wirklich zu halten, kann beliebig viele Kopfschmerzen erleben, ohne darin den geringsten Hinweis auf ein Objekt zu verspüren. Wenn also BRENTANO sagt, daß jedes Vorstellen das Vorstellen von Etwas sei, so müssen wir dieses als eine Erschleichung zurückweisen. Die Vorstellung ist wohl etwas, aber sie ist für sich allein genommen, nicht die Vorstellung von etwas. Ein Objekt kann ich an einer Vorstellung erst dann entdecken, wenn ich sie nicht nur habe, sondern auch als Vorstellung, d. h. als subjektives Erzeugnis,  anerkenne;  dann erst schält sich das Objekt als ein von der Vorstellungstätigkeit Verschiedenes aus ihr heraus. Diese Anerkennung ist aber keineswegs mit dem Inhalt selbst gegeben, sie ist die Folge einer weitreichenden Abstraktionstätigkeit, die wir aufgrund tief eingewurzelter Gewohnheit im Leichtigkeit anstellen, aber keineswegs mit jedem Inhalt notwendigerweise anzustellen brauchen. Wo aber diese Tätigkeit nicht vorliegt, ist keine Rede davon, daß wir an der Vorstellung ein Objekt vorfinden. Wenn wir fragen, was die ursprüngliche, unverfälschte Erfahrung lehrt, so muß die Antwort dahin lauten, daß gewisse Inhalte vorhanden sind. Ich sage absichtlich nicht, daß sie "gegeben" sind, wie der beliebte Ausdruck lautet oder daß sie "vorgefunden" werden, wie AVENARIUS sich ausdrückt; beides kann zum offenen oder versteckten Mißverständnis führen, als wären diese Inhalte einem Subjekt gegeben oder von ihm vorgefunden, welches Mißverständnis durch den Ausdruck "vorhanden", der ein bloßes Sein bezeichnet, ausgeschlossen wird. Ebenso wäre der Ausdruck "Vorstellung" statt "Inhalt" an dieser Stelle nur zulässig, wenn man ihn zur Kennzeichnung des qualitativen Seins, etwa im Gegensatz zum Gefühl gebraucht, nicht aber im Gegensatz zum Objekt, was wieder eine Erschleichung sein würde. Die erste Tatsache ist also die, daß Inhalte vorhanden sind. Das kleine Kind weiß noch nichts vom Vorstellen, wohl aber von zahlreichen Inhalten, die erfahren werden, aber noch diesseits von Subjekt und Objekt liegen. Wer, wie es allgemein geschieht, die Vorstellung von ihrem Objekt unterscheidet, dem bleibt das unverwehrt, ja auf diese Unterscheidung werden wir durch Erfahrung und die Natur des Denkens mit Notwendigkeit geführt; wer aber diesen Unterschied als ein erstes Vorgefundenes ansieht, der überspringt ein Problem und, dürfen wir hinzusetzen, gerade dasjenige, das uns hier beschäftigen soll. (5) Denn was heißt einen Inhalt als Objekt nehmen anders, als ihm einen bestimmten Wirklichkeitswert beilegen oder einen Inhalt als Vorstellung nehmen anders, als ihm einen davon verschiedenen, gleichfalls bestimmten Wirklichkeitswert beilegen? Die Farbe des vor mir liegenden Tuches halte ich sowohl für ein subjektives Erlebnis, als auch für etwas objektiv Gegenständliches, aber nicht weil im Vorhandenen ein subjektives und objektives Element eingeschlossen ist, sondern weil derselbe Inhalt eine verschiedene Wirklichkeitsbewertung erfährt. (6)

2. Noch durch eine andere, mehr theoretische Erwägung läßt sich die Annahme widerlegen, daß es in der Natur der Vorstellung liegt, sich auf ein Objekt zu beziehen. Die Vertreter dieser Ansicht geraten nämlich gegenüber der Tatsache in die größte Verlegenheit, daß häufig ein und derselbe Vorstellungsinhalt mehrfache Wirklichkeitsbewertung erfährt. Nehmen wir an, es hat jemand an drei aufeinander folgenden Tagen denselben Vorgang bemerkt, etwa das Lösen eines Schusses und erinnert sich am vierten Tag seiner dreifachen Wahrnehmung. Die drei Inhalte waren zu der Zeit, wo sie wahrgenommen wurden, zwar nicht genau gleich, aber bei der Reproduktion können die Unterschiede vollständig verwischt sein, so daß tatsächlich nur noch  ein  Inhalt in Frage kommt. Soll jetzt etwa ein und dieselbe Vorstellung drei intentionale Objekte haben? Das ist eine Konsequenz, zu der weder BRENTANO noch seine Nachfolger sich bekennen würden, daß es für sie ganz selbstverständlich ist, daß jede Vorstellung  ein  intentionales Objekt hat. Zudem wissen wir ja auch, daß, falls die vorangegangenen Erfahrungen andere wären als eben angenommen, mit der gleichen momentane Vorstellung nur  ein  Objekt gemeint sein würde. Wenn aber derselbe Vorstellungsinhalt je nach den Umständen auf ein oder mehrere Objekte bezogen wird, so folgt daraus mit Erlaub mit Evidenz, daß das Objekt in der Vorstellung als solcher nicht gegeben sein kann.

Nehmen wir weiter an, daß unser Beobachter am fünften Tage sich nicht nur der dreifachen Wahrnehmung, sondern auch der Erinnerung erinnert, die am vierten Tag statt hatte, so würde zu den drei intentionalen Objekten noch ein viertes hinzukommen, das seinerseits eine Vorstellung ist und die drei ersteren in sich enthält. So würde es nicht schwer sein, die Anzahl der intentionalen Objekte derselben Vorstellung cum gratia in infinitum [mit unendlicher Nachsicht - wp] zu vermehren. Erst recht geraten wir in Schwierigkeiten, wenn wir die Tatsache erklären wollen, daß derselbe Vorstellungsinhalt, sagen wir Rot, in unzähligen Dingen, die wir für wirklich halten, wiederkehrt. Hat etwa auch diese einfache Empfindung unzählig viele intentionale Objekte, die alle gelegentlich "anerkannt" werden? Doch wozu die Ungereimtheiten häufen, die alle aus dem Irrtum hervorgehen, im Wesen der Vorstellung etwas zu suchen, wozu sie erst durch besondere Vorgänge - welche, werden wir später sehen, - gemacht werden kann.

Wenn nun nachgewiesen ist, daß die Vorstellung als solche niemals die Vorstellung eines Objektes ist, so kann dasjenige, was den Gedanken an die Wirklichkeit des Objekts vor dem Gedanken an die Wirklichkeit des entsprechenden Phantasiegebildes auszeichnet, nicht im Vorstellungs inhalt  liegen, über dessen Wirklichkeit entschieden werden soll, vielmehr müssen wir uns zu der Ansicht bekennen, daß dieser in beiden Fällen ein und derselbe ist. Daraus folgt mit zwingender Notwendigkeit weiter, daß der Unterschied der beiden Wirklichkeitsgedanken, von deren Betrachtung wir ausgingen (objektiver und gedachter Brand) im  Vorgang  der  Wirklichkeitsbewertung  liegen muß. Derselbe Inhalt gilt in beiden Fällen als wirklich, aber der Sinn des Wirklichkeitsgedankens ist ein verschiedener; die Vorstellung des objektiven Brandes unterscheidet sich inhaltlich nicht von der des gedachten, aber die psychologischen Vorgänge, in denen diese Vorstellung als  Glied  enthalten ist, sind von verschiedener Art. Damit hat unsere erste Vorfrage ihre Erledigung gefunden und zugleich sehen wir, daß unser Problem reichhaltiger ist, als es auf den ersten Blick erschien; wir haben nicht eine einzige, sondern eine ganze Menge Fragen zu beantworten, von denen ich die wichtigsten gleich hier anführe: was heißt einen Inhalt wirklich für objektiv (körperlich), was ihn für subjektiv (seelisch) halten? Welch letztere Frage noch in die Unterfragen zerfällt: was bedeutet Ich-Wirklichkeit, was Du-Wirklichkeit? Doch bezeichnen diese Fragen, wie sich später zeigen wird, noch keineswegs die ganze Mannigfaltigkeit der W-Vorgänge. Wie es möglich ist, daß dieselben Inhalte die Grundlagen verschiedener Wirklichkeiten bilden, will ich an dieser Stelle durch ein Bild andeuten, ohne damit der eingehenderen Erörterung vorgreifen zu wollen. Die Völker des Altertums haben bekanntlich die Gesamtheit der Sterne zu gewissen Sternbildern zusammengefaßt, die in früheren Zeiten gewiß auch Wirklichkeitscharakter getragen haben. Nun ist es sehr wohl denkbar, daß andere Völker dieselben Sterne zu ganz anderen Bildern zusammenfassen und so aus ihnen eine andere Wirklichkeit herauslesen. Es wird sich zeigen, daß in ähnlicher, wenn auch nicht ganz gleicher Weise die  Gruppierung  für den Wirklichkeitscharakter des Vorhandenen maßgebend ist.

Sehr kurz können wir die zweite unserer Vorfragen erledigen, ob nämlich die verschiedenartigen Wirklichkeitsbewertungen koordinierte Vorgänge sein oder ob vielleicht die eine in der anderen als Teilmoment enthalten ist. Ohne Zweifel ist das erstere der Fall, die verschiedenen W-Vorgänge finden im allgemeinen unabhängig voneinander statt. Ich kann einem Inhalt objektive Wirklichkeit zu- und subjektive absprechen, ich kann mich ihm gegenüber umgekehrt verhalten und ich kann ihn in beiden Beziehungen für wirklich oder für unwirklich halten. Ich halte z. B. den Bergsturz bei Goldau für ein objektives Ereignis der Vergangenheit, ein anderer erinnert sich vielleicht außerdem, Zeuge desselben gewesen zu sein. Gefühle gelten ausschließlich als subjektiv wirklich, die Loslösung der Saturnringe vom Hauptkörper ausschließlich als objektiv. Wendet man gegen das letzte ein, daß dieser Vorgang doch auch subjektiv wirklich erscheint, insofern ich jetzt an ihn denke, so ist darauf zu erwidern, daß dazu noch ein besonderer Akt der Selbstbesinnung nötig ist, der mit der objektiven Wirklichkeitsbewertung keineswegs verbunden zu sein braucht. Daß übrigens subjektive und objektive W-Vorgänge sich in gewissen Fällen unterstützen, ist mit dem Gesagten nicht ausgeschlossen und wird sich später sogar als tatsächlich erweisen.

Unsere Lehre von der Vieldeutigkeit der W-Vorgänge steht in schroffem Gegensatzh zur BRENTANO-MARTYschen Lehre von der Eindeutigkeit des psychologischen Aktes der Anerkennung von Objekten. Gleichsam als Ersatz für die fehlende Elastizität seines absolut starren Existenzialbegriffs läßt MARTY neben dem Gegensatz zwischen Existenz und Nichtexistenz einen zweiten, Realität-Nichtrealität, bestehen, der ganz unabhängig vom ersten sein soll. Ich kann jedoch nicht finden, daß die diesbezüglichen Ausführungen MARTYs glücklich sind. Schon daß eine Ausnahme von jener angeblichen Unabhängigkeit zugegeben werden muß, insofern als daß das Prädikat des Nichtexistierenden nur dem Nichtrealen zukommen soll (Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 19, Seite 34) legt die Vermutung nahe, daß es mit der Unabhängigkeit nicht so weit her ist, als MARTY uns glauben machen will, daß vielmehr Zusammengehöriges gewaltsam von ihm getrennt wird. Überdies kann ich nicht finden, daß aus MARTYs Auseinandersetzungen mit Deutlichkeit hervorgeht, worin der Gegensatz zwischen Real und Nichtreal besteht. MARTY erklärt, daß "da alle unsere Vorstellungen den Begriff des Realen irgendwie einschließen, - eine Definition von ihm im strengen Sinne nicht möglich ist". (Vierteljahrsschrift f. w. Ph., Bd. 8, Seite 441). Die einzige Art, diesen Gegensatz klar zu machen, wäre die durch Beispiele des Realen und Nichtrealen. "Den Gegensatz des Realen", sagt er, "bildet der Mangel eines Realen (der Mangel eines Dings, d. h. doch wohl sein Nicht- oder nur in geringer Quantität Vorhandensein pflegt sonst nicht sein Gegensatz zu sein, Anmerk. d. Verf.), wie ein Loch, eine Grenze, das Vergangene, das Zukünftige, das bloß Mögliche als solches und das Unmögliche, das Vorgestellte, Geliebte als solches usw." Allein ich finde, daß diese Begriffe teils auf den Begriff der Existenz bzw. Nichtexistenz zurückzuführen sind, teils nicht hierher gehören. Um ein Loch, etwa in einem Brett, zu bemerken, ist erstens nötig, daß ich mir das Vorhandensein von Holz an der betreffenden Stelle  denke,  zweitens, daß ich die Nichtwirklichkeit des Holzes daselbst feststelle. Der Begriff ist also ohne Zweifel - um in MARTYs Sprache zu reden - durch Reflexion über ein negatives  Existenzialurteil  entstanden. - Unter Grenze versteht man eine Linie, auf deren einer Seite ein Ding existiert, auf der anderen nicht. Noch deutlicher ist bei den Begrifen des Vergangenen und Zukünftigen die Beziehung zu dem der Existenz. Wenn ich von einem Ding oder Ereignis behaupte, es sei vergangen, behaupte ich damit gleichzeitig seine (ehemalige) Existenz. Das Prädikat "vor hundert Jahren" kann ich nur einem solchen beilegen, das damals existierte. Das Mögliche und Unmögliche bedeutet ein Urteil über unser Wissen betreffs der Existenz bzw. Nichtexistenz eines Gegenstandes. Kurz, ich kann nicht finden, daß diese Beispiele einen Gegensatz, der unabhängig von dem zwischen Existenz und Nichtexistenz wäre, erkennen lassen. Unverständlich ist mir, wie MARTY dazu kommt, das Geliebte und das Vorgestellte als etwas Nichtreales zu bezeichnen, weit eher könnte man das Gegenteil tun. Überhaupt nicht miteinander zu vereinen sind die Bemerkungen MARTYs über Realität bzw. Nichtrealität des Vorgestellten. Einmal heißt es "den Gegensatz des Realen bildet ... das bloß Vorgestellte" (Vierteljahrsschrift usw. Bd. 8, Seite 171), dann werden wir wieder belehrt: "Vom Begriff des Realen gilt, daß er von Haus aus in allen Gegenständen unserer Vorstellung steckt" (Vierteljahrsschrift usw. Bd. 18, Seite 440, Anm.) Also das, was vorgestellt wird, ist nicht real, der Gegenstand der Vorstellung aber ist real. Das begreife, wer es kann. - Ein bedenklicher Mangel ist es ferner, daß wir über die Herkunft der Begriffe des Realen und Nichtrealen nichts zu hören bekommen. Während zu wiederholten Malen auseinandergesetzt wird, woher der Begriff der Existenz stammt, nämlich aus der Reflexion über anerkennende Urteile, die ihrerseits aus einem nicht weiter zurückführbaren geistigen Vermögen hervorgehen, findet sich nirgends eine Angabe, wie wir zum Begriff des Realen gelangen. Stammt auch er aus einem besonderen Vermögen oder vielleicht aus einer besonderen Klasse von Erfahrungen? Davon erfahren wir nichts und so kann ich denn den Versuch, die Begriffe des Realen und Nichtrealen unabhängig von denen der Existenz und Nichtexistenz verständlich zu machen, nicht als geglückt ansehen.
LITERATUR - Georg Wernick, Der Wirklichkeitsgedanke, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie und Soziologie, Bd. 30, Leipzig 1906
    Anmerkungen
    1) DAVID HUME, Traktat über die menschliche Natur, Ausgabe von LIPPS, I. Teil, Seite 90 und 91
    2) Vom Standpunkt der Logik kann man die Frage so formulieren: liegt der Unterschied der Urteile  "A  ist" und "die Vorstellung  A  ist" im Subjekt oder im Prädikat? Es wird manchem paradox erscheinen, daß diese Frage überhaupt aufgeworfen wird. Aber wir bitten, mit dem Urteil zurückzuhalten, bevor man das Folgende gelesen hat.
    3) FRANZ von BRENTANO, Psychologie vom empirischen Standpunkt, 1874, Bd. I, Seite 115
    4) Vgl. Z. B. Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 18, 1894, Seite 443; ferner TWARDOWSKI: Inhalt und Gegenstand von Vorstellungen § 4.
    5) AVENARIUS erklärt, daß am Anfang seines Philosophierens das "Ich mit den Gedanken und Gefühlen inmitten einer Umgebung" war. (Bd. XVIII der Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Seite 144). Damit kann jedoch niemandem das Recht genommen werden und das ist wohl auch nicht die Meinung des Autors, den Beginn  seiner  Philosophie noch weiter zurückzulegen. Angesichts der Tatsache, daß die Vorstellungen des Ich und der Umgebung erst durch verwickelte Vorgänge zustande kommen, ist eine solche Absicht jedenfalls berechtigt.
    6) Ähnlich WUNDT: Die Vorstellung des Gegenstandes ist ursprünglich eins mit dem Gegenstand selber (Logik 1893, Seite 424); in Widerspruch damit stehen WUNDTs Bemerkungen über die Vorstellung auf Seite 11. Vgl. auch WILLIAM JAMES, Psychology I, Seite 272 - 273. BRENTANO glaubt die genannten Schwierigkeiten zu vermeiden, wenn er die Phantasiegebilde zu den physischen Phänomenen zählt - ein wunderlicher Ausweg!