tb-1ra-2E. AdickesK. KromanA. Schopenhauervon EhrenfelsN. Hartmann    
 
BRUNO BAUCH
[mit NS-Vergangenheit]
E t h i k
[1/2]

"Das allein kann also die Frage sein:  Wie muß  ich wollen, um so zu  wollen, wie ich wollen soll.  Ohne Rücksicht auf das Material also muß gefragt werden, wenn die material nicht tangierte Allgemeinheit erreicht werden soll. Denn das Material ist nie allgemein, sondern immer individuell. Ein allgemeines Gebot kann also an den als solchen immer individuellen Willen nur ergehen, indem es ihn in seiner Individualität zugleich überindividualisiert, es von ihm fordert, nicht  bloß  individuell zu bleiben, sondern sich auch zum überindividuellen Allgemeinen zu erheben und zu erweitern."

Einleitung

Innerhalb eines Werkes, das die "Kultur der Gegenwart" zum Inhalt haben soll, gerade die "Ethik" zu schreiben, das erscheint doppelt paradox. Denn diese "Gegenwart" hat ja nicht nur überhaupt die Kultur ins Nichts geworfen, sondern sie hat die Kultur gerade deshalb verloren, weil ihr das sittliche Bewußtsein verlorengegangen ist. Unter einem ethischen und kulturellen Gesichtspunkt bietet unsere "Gegenwart" also eigentlich nur das negative Interesse, daß sie an ihrer sittlichen Lehre auch ihre kulturelle Leere und an ihrer kulturellen Leere auch ihre sittliche Leere deutlich machen kann, um zugleich positiv wenigstens ahnen zu lassen, daß sittlicher Gehalt und kultureller Gehalt eben positiv selbst einen bestimmten Zusammenhang darstellen. Jene positiven Gehalte und dieser ihr Zusammenhang sind in gewissem Sinne zum Glück von aller "Gegenwart" unabhängig. Darum allein ist es ja auch möglich, daß von jeder möglichen Gegenwart aus und sei sie selbst ethisch und kulturell so erbärmlich wie diese wirkliche gegenwärtige Gegenwart, eine Besinnung auf jene Gehalte und ihren Zusammenhang erfolgen kann, sofern man nur mit dieser Besinnung diese zufällige, wirkliche, gegenwärtige Gegenwart hinter sich gelassen oder sich überhaupt nicht auf sie eingelassen hat.

Hat man einen solchen Standort diesseits und jenseits unserer ethisch und kulturelle leeren und nichtigen Gegenwart gewonnen, dann wird man die systematische Philosophie in der Tat als die "Selbstverständigung des Kulturbewußtseins", als welche sie von WINDELBAND bezeichnet worden ist, begreifen. Man wird auch begreifen, daß in ihrem Mittelpunkt die Ethik steht und endlich wird man von da aus auch den konkreten Stand der systematischen Philosophie wie des Kulturbewußtseins überhaupt und des sittlichen Bewußtseins im besonderen eines bestimmten und selbst konkreten Zeitalters verstehen. Die Ethik steht ja gerade darum im Mittelpunkt der systematischen Philosophie als "Selbstverständigung des Kulturbewußtseins", weil im wirklichen sittlichen Leben die Lebensfäden aller wirklichen Kultur zusammenlaufen. Insofern nach dem objektiven Geltungs- oder Rechtsgrund dessen, was wir Kultur zu nennen haben, gefragt wird, wird der Geltungs- und Rechtsgedanke zum umfassenden Prinzip jener "Selbstverständigung des Kulturbewußtseins", mag dieses seine konkrete Darstellung nun in der Wissenschaft finden oder in der Kunst, in der Sittlichkeit oder in der Religion, im Recht oder in der Politik. Unter jenem prinzipiellen Gesichstpunnkt ist, wie FICHTE erkannt hatte, in letzter Linie alle Philosophie "praktisch" auch die theoretische", die PLATON schon richtig als  episteme tes epistemes",  als Wissenschaft von der Wissenschaft", oder, wie wir eben seit FICHTE kurz sagen, als "Wissenschaftslehre" bestimmt hatte. Und von allem Kulturbewußtsein aus angesehen stellt sich gerade darum, dieses Prinzip im Konkreten bewährend, die Wissenschaft selbst als ein Kulturgebiet unter Kulturgebieten dar. Der subjektiven Reflexion bietet sich darum zunähst in der Subjektsbezogenheit des objektiven Rechtsgrunds-Gedankens dessen Gliederung und Auslagerung, wie in den verschiedenen Kulturgebieten, so auch in den verschiedenen philosophischen Disziplinen zu geschichtlicher Greifbarkeit dar. Die systematische Fragestellung hat darum, wie an die Unterschiede in der Subjektsbezogenheit anzuknüpfen, so auch sich auf den objektiven, übersubjektiven Gehalt zu besinnen, der die inhaltliche Differenzierung in jener Subjektsbezogenheit ermöglicht und für sie vorausgesetzt ist.

Das tatsächliche sittliche Bewußtsein, das für die Ethik den subjektsbezogenen Ausgangspunkt bildet, ist hineingesetllt in den Prozeß des Werdens. Es geht darum von sich aus zu der Frage, mit welchem Recht nun von einem sittlichen Bewußtsein gesprochen werden kann, da die sittlichen Anschauungen nicht bloß von Volk zu Volk wechseln, nicht bloß innerhalb eines und desselben Volkes von Generation zu Generation, von Individuum zu Individuum, sondern auch innerhalb eines und desselben Individuums. Wenn es möglich ist, alle diese Anschauungen trotz ihres Wandels doch gerade als "sittlich" zu bezeichnen, dann muß ein Prinzip vorausgesetzt sein, das auf der einen Seite als allgemeine Ideee in allen jenen wechselnden sittlichen Anschauungen konkrete geschichtliche Gestalt gewinnt und auf der anderen Seite der Beurteilung dieser Anschauungen gerade als sittlicher Anschauungen als Kriterium dient, wie diese Anschauungen das Material der Beurteilung abgeben.


I. Die Allgemeinheit des
Grundgesetzes des sittlichen Bewußtseins

Damit das tatsächliche, subjektive, sittliche Bewußtsein den Anspruch erheben kann, eben nicht bloß tatsächlich und subjektiv, sondern gerade sittlich zu sein, ist ein objektiver Rechtsgrund von jener spezifischen Inhaltlichkeit vorausgesetzt, die gerade die Sittlichkeit charakterisiert. Insofern er objektiv ist, heißt er Gesetz; insofern sein Inhalt die Sittlichkeit ist, heißt er Gesetz des sittlichen Bewußtseins. Zum Unterschied vom tatsächlichen subjektiven sittlichen Bewußtseins kann er also als Grundgesetz des sittlichen Bewußtseins oder kurzweg als objektives sittliches Bewußtsein bezeichnet werden. Dieses ist das Gesetz, unter dem das tatsächliche sittliche Bewußtsein stehen muß, nicht um bloß tatsächlich, sondern um eben gerade sittlich zu sein. Sein Inhalt ist von dem des subjektiven Bewußtseins nicht bloß unterschieden, wie Gesetzesinhalt überhaupt vom Tatsacheninhalt unterschieden ist. Denn es ist nicht Tatsachengesetz, sondern, insofern die Sittlichkeit einen Sinn und Wert bezeichnet, Sinn- und Wertgesetz, das sich, insofern es subjektsbezogen ist, als objektive Forderung an das subjektive Bewußtseins richtet. In dieser seiner Subjektsbezogenheit ist es ein Sollensgesetz zum Unterschied von den die Tatsachen in ihrer bloßen Tatsächlichkeit, in ihrem wertfreien, naturhaften Sein bestimmenden Seins- oder Naturgesetzen. Seine Geltung ist von der Subjektsbezogenheit durchaus unabhängig, währen umgekehrt die Subjektsstellung von ihm ihre Gültigkeit empfängt. Die Subjektbezogenheit, die im Sollen liegt, dient uns hier also nur dazu, seinen eigentümlichen Gesetzescharakter zum Unterschied von bloßen Seins- und Naturgesetzen deutlich zu machen. Und er wird auch von denen immer schon vorausgesetzt, die, den SCHOPENHAUERschen Mißverständnissen folgend, das Sollen ablehnen, weil sie aus dogmatisch substanziierenden Vorstellungskreisen nicht herausgelangen können und mit dem Sollen deshalb nichts anzufangen wissen, obwohl sie es, wie gesagt, selber immer schon voraussetzen, wenn sie überhaupt in Sachen der Ethik mitreden wollen. Es soll uns in dieser Subjektbezogenheit nur der Forderungscharakter des Gesetzes deutlich werden, der nur nicht so mißverstanden werden darf, als wenn ein Subjekt "forderte oder befehle" (wie KANTs Bezeichnung des "Imperativs" immer noch mißverstanden wird). Nicht wir fordern und befehlen, sondern das Gesetz fordert und befiehlt uns, das Gesetz setzt "Forderung und Befehl", sofern es subjektbezogen ist. So dient der Hinweis auf die Subjektbezogenheit des Gesetzes im "Sollen", wie heute eigentlich jedem deutlich sein sollte, der von den wertphilosophischen Untersuchungen RICKERTs mit einigem Verständnis Kenntnis genommen hat, vor allem zur Charakteristik der ethischen Wertgesetzlichkeit zum Unterschied von allen Seins-Gesetzen.

Das Grundgesetz des sittlichen Bewußtseins, der objektive ethische Wert, ist danach also objektives Gesetz, nach dem das subjektive Bewußtsein  sittlich  ist, nicht aber ein Gesetz, nach dem das subjektive sittliche Bewußtsein ist. Im Sinne des Seins des sittlichen Bewußtseins könnten wir gar nicht vom Grundgesetz des sittlichen Bewußtseins sprechen. Hier ließe sich eine Mannigfaltigkeit von Naturgesetzen ermitteln, die die Entwicklung des allgemeinen Sittenlebens, das ja auch wieder unsittlich werden kann, nach der Verschiedenheit der Völker- und Rassencharakteres und ihrer äußeren Lebensbedingungen bestimmt. Das Grundgesetz des sittlichen Bewußtseins aber bestimmt jenen Forderungsinhalt, der bei aller naturgesetzlich bestimmten Verschiedenheit der Seinsinhalte auch eine Sphäre innerhalb der Seinsinhalte gerade als sittlich zu charakterisieren ermöglicht, soweit sie sich trotz ihrer seinsinhaltlichen Verschiedenheit einheitlich als subjektive Bezogenheiten auf ihn darstellen.

Insofern nun die Subjektbezogenheit des Sollens ihren Anknüpfungs- und Beziehungspunkt im Subjekt am Wollen hat, das Sollen sich also selbst auf das Wollen bezieht, bestimmt sich genauer der Charakter des ethischen Grundgesetzes in einer Willensaufgegebenheit. Kommt also auch in der Willensaufgegebenheit die Subjektsbezogenheit der ethischen Gesetzlichkeit zum Ausdruck, so unterscheidet doch gerade die Willensaufgegebenheit die ethische Gesetzlichkeit von aller subjektiven Willkürlichkeit. In ihrer Geltung bleibt die ethische Gesetzlichkeit eben unabhängig von allem Willen, nach ihr zu handeln, wie von allen Versuchen, sie im Erkennen zu ermitteln. Die weitverbreitete Vermengung dieser drei Gesichtspunkte hat neuerdings PAUL FERDINAND LINCKE mit Recht wieder scharf zurückgewiesen und ebenfalls streng unterschieden zwischen dem Gesetz als solchem, dem Handeln nach dem Gesetz im Leben und der Eruierung des Gesetzes in der ethischen Wissenschaft. Im Charakter des Gesetzes liegt seine Allgemeinheit. Da es nicht Seinsgesetz, sondern Sollensgesetz ist, muß es alllgemeine Willensaufgabe sein. Als  das  sittliche  Grund gesetz müßte es also an jedes sich überhaupt auf ein Sollen beziehen könnende, d. h. vernünftige Wollen richten. Sonst ließe sich nicht von einer allgemeinen Willensaufgabe schlechthin, sondern von allgemeinen Willensaufgaben reden. Wir haben darum von vornherein auch auf einen Unterschied in der Allgemeinheit der ethischen Gesetzlichkeit überhaupt zu achten, der auf der einen Seite  das  ethische  Grund gesetz  schlechthin,  auf der anderen Seite eine Mannigfaltigkeit der ethischen Gesetzlichkeit  überhaupt  betrifft. Wenn wir hier also doch von einer gesetzlichen Mannigfaltigkeit reden können, so ist das aber nicht im Sinne der naturgesetzlichen Mannigfaltigkeit zu verstehen. Denn deren Inhalte sind und bleiben Seinsinhalte. Die Inhalte der ethischen Gesetzlichkeit aber sind und bleiben, auch wenn sich innerhalb ihrer Allgemeinheit wiederum ein Unterschied bezeichnen läßt, Sollensinhalte.


II. Die beiden Formen der Allgemeinheit
ethischer Gesetzlichkeit überhaupt

Um den Unterschied innerhalb der ethischen Gesetzlichkeit genauer zu bezeichnen, deren Inhalt objektiv sein muß, damit sie selbst den Charakter der Gesetzlichkeit wahren kann, ist zunächst wiederum an ihre Subjektbezogenheit anzuknüpfen. In dieser Subjektbezogenheit kann sie sich als allgemeine Willensaufgabe nun entweder, trotz ihrer Allgemeinheit und Objetivität nicht an jeden vernünftigen Willen als solchen richten oder sie kann sich in ihrer Allgemeinheit und Objektivität an jeden vernünftigen Willen richten. Auch in jenem Fall müßte gelten, daß sie  überhaupt  gewollt werden sollte. In diesem  überhaupt  Gewollt-Werden-Sollen drückt sich ihre Objektivität und Allgemeinheit auch nach den Seiten der Subjektbezogenheit aus. Aber sie brauchte darum noch  nicht von jedem  Willen gewollt werden zu sollen. Ihr Gewollt-Werden-Sollen könnte geknüpft sein an Bedingungen ihres Erfüllt-Werden-Könnens. Und nur innerhalb dieser Bedingungen des Erfüllt-Werden-Könnens würden sie allgemein sein. Ihr Inhalt hätte die gleiche Objektivität wie derjenige der an jeden Willen sich richtenden allgemeinen Willensaufgabe. In dieser Objektivät läge auch seine allgemeine Anerkennungsnotwendigkeit für jeden auf die ethische Gesetzlichkeit als Sollensgesetzlichkeit ihm gegenüberstehende sich beziehen könnenden, d. h. vernünftigen Willen. Und diese allgemeingültige Anerkennungsnotwendigkeit des objektiven Inhalts würde nach seiten der Subjektbezogenheit auch die Allgemeinheit dieser ethischen Gesetzlichkeit bezeichnen. Aber läge nicht im objektiven Gesetzesinhalt darum auch schon seine allgemeine Erfüllungsnotwendigkeit für jeden vernünftigen Willen, weil die Erfüllung an bestimmte Bedingungen der Ausführungsmöglichkeiten gebunden sein könnte. Bei gleicher Objektivität der Gesetzesbestimmung läßt diese also in ihrer Subjektsbezogenheit doch zwei Formen der Allgemeinheit deutlich auseinandertreten. Ohne Voraussetzung des an jeden Willen sich richtenden ethischen  Grund gesetzes wäre freilich auch die sich nicht an jeden Willen richtende ethische Gesetzlichkeit denkbar. Ihr Inhalt oder ihre Inhalte müssen sich bereits als inhaltliche Spezifikationen jenes Grundgesetzes darzustellen vermögen. Aber sie blieben, obwohl inhaltlich spezifiziert und in ihrer Ausführungsmöglichkeit bedingt, dennoch in ihrer allgemeinen Anerkennungsnotwendigkeit und Sollensgesetzlichkeit generell. Und eben das würde ihren Gesetzescharakter deutlich machen und von bloß subjektiven und individuellen Absichten, von bloß im Subjekt verbleibenden Willensbestimmungen unterscheiden. Das generelle Moment würde also den Gesetzescharakter beider Allgemeinheitsformen ethischer Gesetzlichkeit deutlich machen. Innerhalb ihres Allgemeinheitscharakters aber ließe sich die eine als universell, die andere als spezifiziert unterscheiden. Bezeichnet man die ethische Gesetzlichkeit mit Rücksicht auf ihren an den Willen sich richtenden Aufgabencharakter als Gebot, so könnte hinsichtlich der universellen Gesetzlichkeit auch lediglich vom ethischen Gebot im Singular, hinsichtlich der als Gesetzlichkeit zwar selber generellen, aber wegen ihrer inhaltlich spezifizierten Mannigfaltigkeit selbst spezifizierten Gesetzlichkeit von ethischen Geboten im Plural gesprochen werden.

Hier treffen wir in gewisser Einschränkung mit KANTs Unterscheidung zwischen dem "kategorischen Imperativ" und den "hypothetischen Imperativen" zusammen. Freilich hat KANT diese Unterscheidung leider nicht sonderlich fruchtbar gemacht. Ja, die "hypothetischen Imperative" sind sehr bald, nachdem er die Unterscheidung eingeführt hat, in ihrer ganzen Bedeutung und Tragweite seiner Reflexion so sehr entglitten, daß sie ihm oft genug einerseits in die bloß "subjektive Maxime", andererseits in die bloß "technische Regel" sich verflüchtigen, während sie in der Tat, was bei KANT allerdings auch zum Ausdruck kommt, eine gewisse Mittelstellung zwischen "kategorischem Imperativ" und "subjektiver Maxime" haben. Diese Unklarheit und Unausgeglichenheit bei KANT verschuldete nicht allein das grobe und leichter zu zerstreuende Mißverständnis, als ob die ethische Gesetzlichkeit überhaupt, inhaltlos wäre, sondern auch das viel verhängnisvollere Mißverständnis, als ob, weil der "kategorische Imperativ" in einem guten und vernünftigen Sinne "formal" ist, die Ethik in einem schlechten und unvernünftigen Sinn "bloß formal" sein müßte.


III. Form, Inhalt und Material der ethischen Bestimmung

Daß "formal" soviel wie inhaltlos bedeute, das war und ist noch heute ein weitverbreitetes Mißverständnis, dem bereits die kantische Leistung auf dem Gebiet der Ethik ausgesetzt war. Diesem Mißverständnis ist aber gerade in letzter Zeit, nicht etwa erst von mir, sondern lange vor mir schon von KARL VORLÄNDER, dann auch von AUGUST MESSER entgegengetreten worden. Auch dieses Mißverständnis hängt mit dem soeben erwähnten Mangel, daß KANT in der Tat das Moment des Inhalts nicht genügen zur Geltung gebracht hat, zusammen, wenn er freilich auch keineswegs selber den Fehler begangen hat, formal und inhaltlos gleichzusetzen. Denn wenn ihm auch gerade die gesetzliche Bestimmung "formal" heißt, so ist er doch nie der Absurdität verfallen, daß das Gesetz als solches keinen Inhalt habe.

Zu systematischer Präzision aber gelangt man, wie immer man sonst zu KANT stehen mag, jedenfalls nicht, solange man nicht begriffen hat, daß "formal" und "inhaltlich", die ja zueinander gerade in unlöslicher Korrelation stehen, nicht einander ausschließende Gegensätze sind, ja daß selbst "formal" und "material" einander nicht ausschließen, so streng sie voneinander zu unterscheiden sind und daß die Unterscheidung zwischen "inhaltlich" und "material", gerade weil diese besonders oft verwechselt werden, auch besonders nötig ist.

Stellt sich die ethische Gesetzlicheit als allgemeine Willensaufgabe dar, gleichviel welche Art der Allgemeinheit in Frage kommt, so ist sie dem gegebenen tatsächlichen subjektiven Willen gegenüber, sofern er überhaupt ethisch bestimmbar ist, Form seiner Bestimmbarkeit. In ihr aber muß zugleich der Inhalt des Gesetzes liegen, der seinen ethischen Charakter von dem des logischen, ästhetischen usw. unterscheidet, da ja auch dem gegebenen Willen in der Aufgabe eben immer etwas aufgegeben wird. Das Etwas ist Gesetzesinhalt. Seine Sinn- und  Wert-Geltung  ist seine Form. In der Subjektbezogenheit ausgedrückt heißt das: Das Sollen als solches bezeichnet die Form, das Gesollt den Inhalt des Gesetzes. Das Gesetz ist selbst  Form  als Wertprinzip überhaupt und es  hat  einen  Inhalt  als Wertgehalt. In seiner unlöslichen Ganzheit von Form und Inhalt bildet es das Kriterium der Beurteilung des gegebenen tatsächlichen Willens auf seine ethische Wertbestimmbarkeit. Wenn es sich nach seiner Subjektbezogenheit auch in seiner Form als Sollen, in seinem Inhalt als Gesolltes darstelle, so ist es doch sowohl nach seiten der Form seiner Geltung, wie nach seitens seines Geltungsgehaltes vollkommen davon unabhängig, ob sich der tatsächliche subjektive Wille darauf bezieht oder nicht. Vielmehr ist umgekehrt dessen Wert von seiner Beziehung auf das Gesetz abhängig.

Wie nun hinsichtlich des Gesetzes, kurz gesagt, Sollen und Gesolltes zwar zu unterscheiden sind, aber eine unlösliche Ganzheit in der Korrelation von Form und Inhalt bilden, so sind hinsichtlich des tatsächlichen Willens zwar ebenso Wollen und Gewolltes zu unterscheiden, bilden aber auch ihrerseits ebenso eine unlösliche Ganzheit und korrelative Einheit. Die Betonung des Wertcharakters der Form ethischer Gesetzlichkeit also dahin mißdeuten, daß aufgrund der formalen ethischen Bestimmung der Wille keinen Inhalt haben dürfte, das heißt den Sachverhalt in einer Weise verkennen, daß man nicht allein die doppelte Inhaltsbestimmtheit durch Gesolltes und Gewolltes übersieht, sondern auch verkennt, daß Sollen und Gesolltes in einer ganz anderen Sphäre, eben der Wert-Sphäre, stehen als der sowohl mit dem Wollen wie mit dem Gewollten in der Wirklichkeitssphäre liegende tatsächliche Wille. Demgegenüber ist also ausdrücklich zu betonen, daß wie im Sollen immer ein Gesolltes, so im Wollen ein Gewolltes gesetzt ist. Ein Wille, der nicht etwas wollte, wollte eben nichts und ein Wille, der nichts wollte, würde überhaupt nicht wollen, wäre also kein Wille. Dieses Etwas des Wollens könnte man nun ebenfalls als Inhalt des Wollens zum Unterschied vom Wollen als Wollen, das als "Form", aber nun im Sinne des "Aktes", seinen "Inhalt" "hat", bezeichnen. Um aber vom Etwas des Sollens als Gesetzesinhalt oder Gesolltem das Etwas des Wollens als Aktinhalt oder Gewolltes zu unterscheiden, heißt dieses Etwas des Wollens die "Materie" oder auch das "Material" des Willens.


IV. Der Inhalt des ethischen
Grundgesetzes schlechthin

Das sittliche Grundgesetz war durch universelle Allgemeinheit charakterisiert. Dadurch bestimmt sich von seiner Subjektbezogenheit auch sein Sollensgehalt oder Inhalt. Als an jeden vernünftigen Willen sich richtend, kann sein Inhalt, so wenig auch ein Wollen ohne Gewolltes ist, doch durch dieses von Wollen zu Wollen verschiedene Gewollte nicht bestimmt werden. In diesem Etwas des Wollens, das ja schon vom Etwas des Sollens unterschieden wurde, kann also nicht das Etwas des Sollens und damit nicht der Sinn des universellen Gesetzes, ja überhaupt nicht der Sinn eines ethischen Gesetzes liegen. SCHOPENHAUERs Unterscheidung zwischen der Frage: "ob ich tun kann, was ich will" und der Frage: "ob ich auch wollen kann, was ich will", klingt zwar sehr scharf und klar, ist aber in Wahrheit gerade unscharf und unklar. Sie verschiebt die Unterschiede nicht allein zwischen Objektivität und Allgemeinheit und den verschiedenen Formen der Allgemeinheit, sondern auch zwischen Inhalt und Materie; Unterschiede, an die SCHOPENHAUER freilich auch nicht einmal von ferne gedacht hat. Zu fragen: ob ich auch wollen kann, was ich will, das ist gar keine ethische Fragestellung; das ist auch keine psychologische Tatsachenfragestellung. Es ist in gewissem Sinne geradezu eine sinnlose Frage. Denn wenn ich etwas will, muß ich es auch wollen können. Könnte ich es nicht wollen, dann würde ich es auch gar nicht wollen. Die kantische Unterscheidung zwischen dem "Ob" und dem "Wie" der Möglichkeit, die KANT auf das allgemeine Erfahrungsproblem so tief und sinnvoll anwendet, steht hier für SCHOPENHAUER ja nicht in Frage. Darum bleibt es dabei: Was ich will, muß ich auch immer wollen können. Ich brauche es gewiß darum noch nicht tun zu können. Aber das kennzeichnet ja gerade die Verfehltheit der Frage: ob ich auch wollen könne, was ich will, daß zu ihr gar nicht die Frage: ob ich auch tun könne, was ich will, in Parallele zu setzen wäre. Der Frage: ob ich auch wollen könne, was ich will, könnte allein die Frage entsprechen: ob ich auch tun könne, was ich tue. Und mit der Sinnlosigkeit dieser Frage wird auch die Sinnlosigkeit der ersten Frage offenbar.

Das allein kann also die Frage sein:  Wie muß  ich wollen, um so zu  wollen, wie ich wollen soll.  Ohne Rücksicht auf das Material also muß gefragt werden, wenn die material nicht tangierte Allgemeinheit erreicht werden soll. Denn das Material ist nie allgemein, sondern immer individuell. Ein allgemeines Gebot kann also an den als solchen immer individuellen Willen nur ergehen, indem es ihn in seiner Individualität zugleich überindividualisiert, es von ihm fordert, nicht  bloß  individuell zu bleiben, sondern sich auch zum überindividuellen Allgemeinen zu erheben und zu erweitern. Der wahre und echte Inhalt des allgemeinsten ethischen Grundgesetzes kann darum in der Tat nichts anderes besagen, als so zu wollen, daß mein Wollen als Wollen (nicht das Gewollte) zum allgemeinen Prinzip erhoben werden könnte, so, wie KANT in der Form des "kategorischen Imperativs" tatsächlich das "Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft" ausgedrückt hat. In diesem guten Sinn ist das Gesetz nicht inhaltlos, aber sein Inhalt ist selbst "formal", weil er nicht "material" ist und das Gesetz selbst ist nicht in einem falschen Sinn "bloß formal", weil es nicht material ist.


V. Sittlicher Zweck und sittliches Motiv

Die Antwort auf die Frage: wie muß ich wollen, um so zu wollen, wie ich wollen soll, hat als Inhalt des Gesetzes die Forderung an mein Wollen, zum allgemeinen Prinzip zu taugen, ergeben. Damit ist das Gesetz als Ziel oder als Zweck meines Wollens selbst erkannt. Um des Gesetzes als Zweckes willen, um des Gesetzes als seiner selbst willen muß ich wollen, um sittlich zu wollen. Mein Wollen hat sich nach dem Gesetz zu bestimmen, wenn es Anspruch auf sittlichen Wert soll erheben dürfen. In diesem Gedanken vereinigen sich zwei Momente, die umso schärfer in ihrer Eigenbedeutung zu unterscheiden sind, je häufiger sie in der ethischen Diskussion vermengt werden. Auf der einen Seite steht das Gesetz als Zweck, auf der anderen Seite steht die Willensbestimmung als Motiv. Beide stehen in ethisch-notwendiger Subjekt-Objekt-Korrelation. Aber darum fallen doch in dieser Korrelation das subjektive und das objektive Korrelat nicht zusammen. Weil beide sich mit demselben Wort als "Grund" bezeichnen lassen, weil die Frage: aus welchem Grund man gehandelt habe, sich ebenso vom Gesetz oder Zweck aus, wie vom Motiv her beantworten läßt, darum wird ihr Unterschied leicht durch die Sprache verdeckt. Aber "Grund" bedeutet in beiden Fällen ganz Verschiedenes, so eng es auch aufeinander bezogen ist. Das Gesetz als Zweck ist der  objektive Rechtsgrund,  nach dem gewollt werden  soll;  das Motiv ist der  subjektive Beweggrund,  aus dem  tatsächlich  gewollt wird. Ist dieser subjektive Beweggrund nach dem objektiven Rechtsgrund gerichtet, dann ist er im ethischen Sinn richtig, also sittlich. In der Sittlichkeit gehen also Zweck und Motiv eine konkrete Verbindung ein. Aber die Glieder der Verbindung werden darum nicht identisch. Die Darstellung oder Erfüllung der Gerichtheit des subjektiven Motivs im Wollen nach dem Zweck heißt: Pflicht. Das Motiv in des Gesetzes Richtung richten, heißt: im vernünftigen Bewußtsein sich das Gesetz zum Richtmaß der Plicht machen. In dem so sich richtenden Willensmotiv gewinnt das Gesetz also Achtung im Subjekt. Das Motiv nach dem Zweck richten heißt: das Gesetz achten, heißt: das Bewußtsein der Pflicht zum Beweggrund, weil das Gesetz zum Rechtsgrund haben. Die Achtung oder das Bewußtsein der Pflicht ist darum die spezifisch ethisch determinierte Triebfeder oder das sittliche Motiv. Und in seiner Korrelation auf dieses angesehen besagt das sittliche Grundgesetz als Zweck: "Handle aus Achtung  für  das Gesetz" in der kantischen oder: "Handle aus dem Bewußtsein der Pflicht" in der FICHTEschen Formulierung.
LITERATUR - Bruno Bauch, Ethik in Paul Hinneberg (Hg) - Kultur der Gegenwart / Systematische Philosophie, Berlin 1921