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OTTO FRIEDRICH BOLLNOW
Die Sprache als Weltansicht

Die Dinge zeigen sich im Licht der im Wort gefallenen Entscheidungen.

Die Sprache ist das eigentliche Instrument menschlichen Weltverständnisses und menschlicher Weltbemächtigung. Um das zu verstehen, werfen wir einen kurzen Blick zurück in die Geschichte dieser Fragestellung. Schon HERDER hatte darauf aufmerksam gemacht, daß der Mensch nur durch die Sprache Vernunft habe, weil nur das Wort "in dem ganzen Ozean der Empfindungen" eine Welle abzusondern und anzuhalten imstande sei. Aber erst HUMBOLDT war in seiner Abhandlung "Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwickelung des Menschengeschlechts" diesem Einfluß im einzelnen nachgegangen. Schon der Titel enthält sein Programm. Auch HUMBOLDT betont: "Der Mensch ist nur Mensch durch die Sprache." "Der Mensch denkt nur vermittels der Sprache."

Aber was ihn beschäftigte, war mehr die Verschiedenheit der Sprachen und die durch sie bedingte Verschiedenheit des Denkens wie des gesamten geistigen Lebens. Die Sprache deutet nämlich von vornherein die Art und Weise, wie der Mensch die ihn umgebende Welt auffaßt, und er bleibt an die ihm vorgegebene Deutung gebunden. "Der Mensch", so sagt er, "lebt mit den Gegenständen ... so, wie die Sprache sie ihm zuführt." Er hat also keinen "unmittelbaren" Zugang zur Wirklichkeit, sondern immer nur vermittelt durch die Sprache, und das heißt für ihn notwendig zugleich, durch die jeweils besondre Sprache, in der er lebt. Und so fügt er hinzu:
"Durch denselben Akt, vermöge dessen er die Sprache aus sich herausspinnt, spinnt er sich in dieselbe ein, und jede zieht um das Volk, welchem sie angehört, einen Kreis, aus dem es nur insofern hinauszugehen möglich ist, als man zugleich in den Kreis einer anderen hinübertritt."
Diese Auffassungen HUMBOLDTs sind zwar im Kreise der sprachlich interessierten Liebhaber seitdem vielfach zitiert worden, aber niemand scheint bisher auf den Gedanken gekommen zu sein, sie in ihrer ganzen Tragweite philosophisch ernst zu nehmen. Denn da bedeuten sie, daß es für den Menschen grundsätzlich keine Möglichkeit gibt, die Wirklichkeit "an sich", in ihrer unberührten Reinheit zu erfassen, sondern immer nur in dem besondern Medium einer Sprache. Und weil jede Sprache, wie HUMBOLDT im einzelnen entwickelt, schon immer eine besondre, durch Wortwahl und Sprachform geleitete Interpretation der Wirklichkeit darstellt, weil sie, wie er es nennt, eine jeweils bestimmte "Weltansicht" oder auch "Weltanschauung" ausdrückt, so bedeutet das, daß schon unsre ersten Auffassungsakte, schon unsre ersten Wahrnehmungen der Welt und unsre eignen Gefühle, immer geleitet sind von einem sprachlichen Verständnis.

Diese HUMBOLDTschen Gedanken sind neuerdings von einer ganz andern Seite her aufgenommen worden, nämlich bei dem amerikanischen Linguisten WHORF. Diese Bestätigung ist um so erfreulicher, als sie den Verdacht zerstreut, der einen gelegentlich beschleichen mochte, als handle es sich bei HUMBOLDT nur um das Ergebnis einer romantisierenden deutschen Sonderentwicklung, dessen zu weit gezogene Folgerungen vor einem nüchternen Denken nicht standhalten würden.

Um so beweiskräftiger ist aber, daß hier aus einer ganz andern Überlieferung und von einem ausgebildeten Naturwissenschaftler ganz ähnliche Folgerungen gezogen werden. Auch WHORF wendet sich gegen die Anschauung, als gäbe es eine allgemeingültige "natürliche Logik" und betont demgegenüber, daß alles Denken schon immer im Medium einer bestimmten Sprache geschehe. Er bezeichnet seinen eignen Standpunkt (in bewußter Analogie zur EINSTEINschen Theorie) als das "linguistische Relativitätsprinzip" und betont:
"Jede Sprache ist ein eigenes riesiges Struktursystem, in dem die Formen und Kategorien kulturell vorbestimmt sind, auf Grund derer der einzelne sich nicht nur mitteilt, sondern auch die Natur aufgliedert, Phänomene und Zusammenhänge bemerkt oder übersieht, sein Nachdenken kanalisiert und das Gehäuse seines Bewußtseins baut."
Die in den verschiedenen Sprachen enthaltenen Auffassungen sind grundsätzlich gleichberechtigt. Die Sprachwissenschaft aber gibt uns die Möglichkeit, die Vielfalt der Auffassungen zu überblicken und die Relativität der eignen zu erkennen.

Insbesondre ein Ergebnis aus seiner Beschäftigung mit den außereuropäischen Sprachen (insbesondre der nordamerikanischen Hopi-Sprache) sei hier erwähnt: Die uns geläufige und gradezu selbstverständliche Auffassung, daß alles Geschehen immer als Veränderung von etwas begriffen werden müsse, das selber dem Wandel entzogen ist, ist selber nur die Folge der indogermanischen Satzstruktur, die durch den Dualismus von Subjekt und Prädikat bestimmt ist und von daher die Tendenz mitbringt, alles Geschehen zu verdinglichen. Die die ganze europäische Philosophie beherrschende Frage nach dem "Sein" (wie sie bei HEIDEGGER so leidenschaftlich hervorbricht) wäre unter dieser Perspektive in dieser Form auch noch die Folge des indogermanischen Satzschemas und unterstünde der linguistischen Relativität.

WHORF stellt in allem Ernst die Frage, ob nicht die begrifflichen Schwierigkeiten der gegenwärtigen Physik (ihr Feldbegriff z. B.) daher kämen, daß die moderne Fachsprache sich im Bereich des indogermanischen Denkens entwickelt habe, das für diese Zusammenhänge weniger geeignet sei, und ob man sie nicht mit den Mitteln einer andern Sprache angemessener bewältigen könne. So erscheinen ihm "die modernen Fachsprachen als Hindernis des wissenschaftlichen Fortschritts", und er fordert darum die "zunehmende Mitarbeit der Linguistik an der allgemeinen Philosophie der Naturwissenschaft". Das ist in der Tat etwas unerhört Neues und würde das lange abgenutzte Problem des Verhältnisses von Natur- und Geisteswissenschaften in ein völlig neues Licht rücken. Ins innerste Herz der exakten Naturwissenschaft, dort, wo die Forschung am brennendsten ist, dort bietet sich jetzt ein völlig neuer Weg von der Sprache her an.

Diese Einsicht in die sprachliche Bedingtheit alles Denkens greift bis ins Zentrum der gesamten Philosophie, denn sie zwingt zu einem radikalen Bruch mit den überlieferten Formen der Erkenntnistheorie; denn ob man diese nun empirisch oder rationalistisch zu begründen versuchte, immer beruhte sie auf dem Glauben, daß es möglich sein müsse, irgendwo einen archimedischen Punkt zu finden, bei dem man voraussetzungslos beginnen und von unten her schrittweise aufbauend ein gesichertes System der Erkenntnis errichten könne. Dieser Ansatz aber hat sich als grundsätzlich undurchführbar erwiesen; denn wenn alles Auffassen, selbst die einfachste Wahrnehmung, immer schon von der Sprache geleitet ist, dann gibt es keine Möglichkeit, aus dem in der Sprache schon immer vorhandenen Weltverständnis herauszutreten, man kann sich nur noch in diesem bewegen (oder in das einer andern Sprache hinübertreten, um sich dann in diesem andern zu befinden).

Das zwingt zu einem grundsätzlich andern Ansatz, der die zirkelhafte Vorbedingtheit aller Erkenntnis bewußt auf sich nimmt und die auf dem besondern Gebiet der Geisteswissenschaften entwickelten und von den andern Wissenschaften meist als minder wissenschaftlich betrachteten Methoden als Grundlage in eine umfassendere, auch für die Naturwissenschaften gültige, Erkenntnislehre hineinnimmt.


Pädagogische Folgerungen

Die Einsicht HUMBOLDTs, daß der Mensch den Zugang zur Welt nur so gewinnt, wie die Sprache sie ihm zuführt, hat zugleich weitgehende pädagogische Folgerungen, die bis heute, so weit ich sehe, noch nicht in ihrer Bedeutung erkannt sind. Der jahrhundertelange Streit zwischen den verba und den  res  zwischen den Wörtern und den Sachen, erweist sich von hier aus als fragwürdig. Während man bis in den Humanismus hinein geglaubt hatte, durch die Sprache und Literatur unmittelbar in die Welt selber einzuführen, macht sich seit Beginn des naturwissenschaftlichen Denkens eine ausgesprochene Sprachfeindschaft bemerkbar, die sich durch mancherlei Wandlungen hindurch bis in unsre Gegenwart auswirkt. Name ist bloßer "Schall und Rauch". Hinter den trügerischen Schein der Wörter müsse man zurückgreifen auf die Sachen selbst, auf die unmittelbare sinnliche Anschauung. "Deshalb müssen Dinge, nicht die Schatten von Dingen, der Jugend zum Kennenlernen geboten werden", so betont es schon COMENIUS in seiner "Großen Didaktik". "Dann erst, wenn die Sache gezeigt worden ist, sollte der Vortrag folgen, um die Sache weiter zu erläutern."

Insbesondre in der Generation des Sturm und Drang wird dieser Kampf gegen das "Wortwesen" mit neuer Leidenschaft aufgenommen. So spottet der "Götz von Berlichingen" über das angelernte Schulwissen seines kleinen Sohns: "Ich kannte alle Pfade, Weg und Furten, eh' ich wußt, wie Fluß, Dorf und Burg hieß", und PESTALOZZI wird nicht müde, gegen die Gefahren des "Wortwesens" anzukämpfen. Der Ausgangspunkt von der unmittelbaren Sachanschauung ist seitdem ein Grundaxiom der Pädagogik geworden, und während eine gewisse innere Tendenz oder, wenn wir so sagen wollen, eine zu ihrem Wesen gehörige Versuchung die Schulerziehung immer wieder in die Welt des gesprochenen Worts und des Buchs hineindrängt (denn der Unterricht lebt ja in diesem Medium), ist die Wendung gegen das Wort und die Rückkehr zur Sache der immer erneute Kampfruf jeder neu einsetzenden schulreformatorischen Bewegung. Der Anschauungsunterricht - und in andrer Weise wieder der Erlebnisunterricht - ist die immer neu erhobene, aber auch in der Routine des Unterrichts immer wieder vergessene Forderung.

Aber so begrüßenswert und so notwendig sogar dieser Rückgang auf die Anschauung war, so mußte er sich doch in einer Sackgasse verlieren, solange das Verhältnis von Wort und Sache nicht hinreichend geklärt war; denn die weit verbreitete Verachtung des Worts beruht auf einer Verkennung des Wesens der Sprache. Und aus dieser ergibt sich umgekehrt eine neue Rechtfertigung des Worts innerhalb des Unterrichts, wenn wir nicht lieber sagen wollen, daß dieser ganze Gegensatz durch eine tiefere Einsicht überholt ist. Schon COMENIUS hatte hier tiefer gesehen, indem er den notwendigen Parallelismus von Spracherlernung und Sacherkenntnis betonte. "Das Studium der Sprachen", so schreibt er, "muß parallel zu dem der Sachen fortschreiten." Daraus folgt nicht nur, "daß die Wörter nicht unabhängig von den Sachen gelernt werden sollen", wie es gegen das leere Wortlernen gesagt ist, sondern COMENIUS fügt bezeichnenderweise begründend hinzu, daß "die Sachen abgesondert weder existieren noch verstanden werden können, sondern nur in ihrer Verbindung (mit den Wörtern) hier und da vorkommen, dies und jenes bewirken". Dies würde bedeuten, daß auch eine der Sprache vorausgehende und von der Sprache unabhängige Sacherfahrung unmöglich ist.

Schon in einem unbefangen verstandenen Anschauungsunterricht ist diese Einheit ja auch immer vorhanden; denn das Vorzeigen eines neuen Dings ist zugleich immer ein Benennen, wenn es etwa heißt: seht her, dies ist ein Igel usw. Es wäre etwas völlig andres, wollte man mit der Bemerkung: "seht her, was dies für ein hübsches Tier ist" die Freude an der Natur im allgemeinen erwecken. Erst der Name erlaubt es, das betreffende Ding (das Wort in einem allgemeinen Sinn gebraucht, in diesem Fall also die Tierart) als etwas Bestimmtes und Identifizierbares festzuhalten.

Aber die Bedeutung des Worts greift tiefer. Schon beim bloßen Namen kommt hinzu, was an Sprachklang und Ausdruckswert das Verständnis des betreffenden Dings in eine bestimmte Richtung lenkt und ihm vor allem einen bestimmten Gefühlston verleiht. Aber man darf das Verständnis des Worts grundsätzlich nicht am bloßen Namen orientieren; denn die wenigsten Wörter sind Namen im eigentlichen Sinn, Bezeichnungen für eine gegebene Sache, die dann einfach so "heißt". Schon was die einfachen verbalen Grundbedeutungen sind wie "stehen" und "liegen" usw. oder was die verschiedenen geistigen Haltungen sind wie Liebe und Tugend und Ressentiment usw., alles das "heißt" nicht einfach so.

Es besteht in dieser Weise gar nicht vor der betreffenden sprachlichen Bezeichnung, sondern ein zunächst noch Vieldeutiges und Unbestimmtes wird erst durch die sprachliche Fassung zu dem geformt, was es dann ist. Darum versagt an diesen tieferen sprachlichen Leistungen auch der Gedanke des Anschauungsunterrichts; denn was diese Wörter bedeuten, das kann nicht einfach an einem vorgezeigten Exemplar gelehrt werden, sondern das Verständnis kann nur an immer neuen Beispielen allmählich geweckt werden?

An diesen Beispielen muß der Begreifende in das begrifflich unformulierbare Wortverständnis gleichsam hineinspringen, um es dann in immer neuem Gebrauch schrittweise zu befestigen. Wenn auch ein großer Teil dieser sprachlichen "Konzeptionen" (LIPPS) schon vor dem Einsetzen des eigentlichen Unterrichts in der frühen Kindheit auf eine weitgehend noch dunkle Weise angeeignet wird, so gehört der Erwerb dieser komplizierteren sprachlichen Leistungen auf höherer Ebene doch zugleich in den Bereich des Schulunterrichts und führt hier zu tiefliegenden und bisher noch kaum eingehender erforschten Problemen. Dabei liegen die Verhältnisse wiederum noch wesentlich verschieden, je nachdem es sich um das Sprechen-lernen im Rahmen der Muttersprache handelt oder um das Lernen einer Fremdsprache auf dem Boden der schon vorhandenen Muttersprache.

Wenn sich so, allgemein gesprochen, das Verständnis einer Erscheinung erst am Wort der Sprache konstituiert, dann bedeutet das für die Erziehung, daß sich das Verhältnis von Wort und Sache gradezu umkehrt: Erst das Verständnis des Worts vermittelt die Erfahrung des darin Bezeichneten. Die Sprache geht also voran und bahnt erst den Weg zur Sache; denn erst nachträglich können die im Wort vorgezeichneten Bahnen mit eigner Anschauung und allgemein mit eigner Erfahrung erfüllt werden.

Das gilt zugleich in einem allgemeineren Sinn: Es liegt im Wesen der Sprache, daß sie der wirklichen Erfahrung schon immer voraus ist. Schon der Umkreis der Wörter, die der Mensch gehört hat und vom Hören her auch versteht, ist größer als seine konkrete Erfahrung. Von vielem hat er eben nur gehört. Aber das gilt nicht nur vom Wortschatz; denn darüber hinaus entfaltet die Sprache ein Ganzes des Weltverständnisses, eine "Weltansicht" (HUMBOLDT), die dem die Sprache lernenden Menschen vorgegeben ist, in die er langsam hineinwächst und die er niemals vollständig erfüllen kann; denn immer ist der in der Sprache ausgebreitete Weltraum weiter als der aktuell erfüllte Lebensraum eines einzelnen, diese Sprache sprechenden Menschen.

Wenn aber so die ganze Welterfahrung sich erst im vorgezeichneten Rahmen der Sprache vollzieht, dann hängt die Entwicklung des Kindes nicht nur in einem allgemeinen Sinn von der Sprache ab, in die es hineinwächst und deren Weltansicht es übernimmt, sondern darüber hinaus auch von der besondren Art und Weise, wie ihm diese von seiner Umgebung übermittelt wird; denn innerhalb einer bestimmten Sprache sind wiederum noch sehr verschiedene Weisen ihrer Beherrschung und ihres Gebrauchs möglich. Ob diese nun bruchstückhaft und zufällig ist oder zum Ganzen gerundet, ob sie nachlässig gebraucht oder gepflegt ist , ob unbestimmt oder feiner gegliedert, so formt sich auch die Welt des betreffenden Menschen und so bildet er sich selber. Darum ist die Sprache eine so tief pädagogische Angelegenheit, die Sprache, die ein Kind sprechen lernt, aber schon die Sprache, in der es selbst angesprochen wird.

Darum ist dann weiter, wenn die Sprache seiner Umgebung mangelhaft ist, die Berichtigung dieser Sprache durch die Schule so wichtig. Es handelt sich dabei nicht um die sprachliche "Korrektheit", um die Beseitigung der Verstöße gegen die Grammatik und dergleichen. Das ist gar nicht so wichtig, sondern wichtig ist vor allem, daß das Welt und Lebensverständnis erweitert, vertieft und gegebenenfalls berichtigt wird. Darum sind Nachlässigkeiten in der Sprache und besonders jargonhafte Wendungen so gefährlich, weil sie die Wirklichkeit in einem "herabziehenden" Sinn behandeln; denn die Sprache, die mit einem Kind gesprochen wird, bestimmt nicht nur die Weise, wie dieses die Welt aufnimmt, sondern darüber hinaus die Weise, wie es sich selber in seinem Verhältnis zur Welt entwickelt.

Jede Nachlässigkeit in der Sprache bedeutet zugleich eine Nachlässigkeit der gesamten Lebenshaltung, und umgekehrt wirkt sich zugleich jede Disziplinierung der Sprache in einer Disziplinierung der gesamten Lebensführung aus. Darum ist das pädagogische Problem der Sprache nicht auf den eigentlichen Sprachunterricht beschränkt, sondern durchzieht in einer umfassenden Weise den gesamten Bereich der Erziehung. Das soll an einigen einzelnen Beispielen im folgenden noch etwas weiter verdeutlicht werden.


Die Kenntnis des Namens

Am besten gehe ich von einem Witz aus, den ich einmal (ich weiß nicht mehr wo) gelesen habe. Nach einem Vortrag eines Astronomen über die neusten Ergebnisse seiner Wissenschaft fragte eine alte Dame: Ja, Herr Professor, daß Sie die Entfernungen der Gestirne und ihre Geschwindigkeiten gemessen haben, das kann ich mir ja zur Not noch vorstellen, aber wie in aller Welt haben Sie herausgebracht, wie die Sterne heißen? Man pflegt in der Regel über diese maßlose Dummheit zu lachen; denn die Namen, das ist doch das einzig Unproblematische an dieser ganzen Wissenschaft. Die Namen sind den Sternen von den Astronomen willkürlich beigelegt worden. Dazu gehört also keine Forschung. In Wirklichkeit ist die Geschichte gar nicht so dumm, wie sie beim ersten Anhören erscheint; denn dahinter steckt das alte und berechtigte Bewußtsein, daß die Namen ganz und gar nicht willkürlich seien, sondern in einem tieferen Wesenszusammenhang mit dem in ihnen Benannten stünden.

Dafür gibt es eine Fülle von Zeugnissen aus dem Bereich des magischen Denkens, die ich hier nicht in ihrer Breite entwickeln kann. Ich erinnere nur als eine letzte Auswirkung solcher Anschauungen an das bekannte Märchen vom Rumpelstilzchen. "O wie gut, daß niemand weiß, daß ich Rumpelstilzchen heiß", so frohlockte das Männchen, aber seine Macht war gebrochen, als es dabei belauscht wurde und so sein Name bekannt wurde; denn Name und Träger waren in einer geheimnisvollen Weise verbunden, und die Kenntnis des Namens gab die Macht auch über den Träger. So betont von sprachwissenschaftlicher Seite AMMANN:
"Nach primitiver Anschauung ist der Name ja ein wesentlicher Bestandteil der Person ... das Wissen des Namens ist die erste Voraussetzung, um Macht über eine Person oder eine vorgestellte Wesenheit zu erlangen."
Entsprechend sagt LÈVY-BRUHL vom "Denken der Naturvölker": "Es ist eine magische Handlung, die sich beim Sprechen der Worte vollzieht." Darum ist es auch nach den christlichen Geboten so streng verboten, den Namen Gottes unnützlich zu führen. Darum fürchtet man sich auch in heute noch verbreitetem Aberglauben, den Namen des Teufels auszusprechen, und bedient sich der mannigfaltigsten Umschreibung, weil schon die bloße Erwähnung des Namens den Betreffenden herbeilockt.

Inwiefern kann uns das weiterführen? Uns interessieren im gegenwärtigen Zusammenhang nicht die Seltsamkeiten des magischen Denkens, und noch weniger werden wir annehmen können, daß wir selber magisch denken. Daß wir durch die Kenntnis seines Namens Macht über einen andern Menschen haben oder daß ein andrer eine eigentümliche Macht über uns hat, wenn er unsern Namen kennt, das werden wir im Ernst nicht annehmen können. Und trotzdem werden wir vermuten können, daß die Welt des magischen Denkens nicht schlechthinniger Unsinn gewesen ist, daß sie vielmehr die Zusammenhänge in einer Weise erfahren hat, die wir zwar nicht unmittelbar wiederholen können, die uns aber vielleicht einen Hinweis geben kann, indem sie uns auf Erscheinungen aufmerksam macht, die in einer analogen Weise auch in unserm (nicht mehr magischen) Denken wirksam sind, auf die wir nur in der Regel nicht achten.


Das Wort als Entscheidung

Man könnte zunächst davon ausgehen, daß im Akt der Namengebung überhaupt schon eine Form der Weltbemächtigung vorliegt. Indem wir den Dingen einen Namen geben, ordnen wir sie in unsre Welt, machen wir die Dinge für uns identifizierbar und dadurch erst eigentlich greifbar. Welches der Name ist, ist dabei zunächst noch gleichgültig; die Hauptsache ist, daß das Ding überhaupt einen ihm zugehörigen Namen hat. Aber nicht von diesem ursprünglichen Akt der Benennung soll hier die Rede sein; denn dieser ist, sofern wir in eine Sprache hineinwachsen, ja lange vor uns geschehen und gehört insofern in den allgemeineren Zusammenhang von der Funktion der Sprachen, die wir soeben beiseite gestellt haben.

Wir wollen gegenwärtig ja das konkret gesprochene einzelne Wort betrachten, das im einfachsten Fall ein Name sein kann. Dies geschieht, wenn ich in einer bestimmten Situation einer Sache (einem Ding oder einer Sachlage) gegenüberstehe und, diese erkennend, den Satz ausspreche: Dies ist ein ... - und dann folgt der bestimmte Name für, das, als das ich das betreffende Ding erkannt habe.

Nur müssen wir uns diese Situation auch konkret vorstellen, wenn wir nicht in die ausweglose Trivialität grammatischer Beispielsätze verfallen wollen, etwa: Dies ist ein Tisch, oder ähnlich; denn welchen Sinn sollte es haben, einen solchen Satz auszusprechen, wenn die Tatsache doch offen vor Augen liegt? Aber anders liegt der Fall, wenn etwa der Arzt am Krankenbett von einem undurchsichtigen und vielleicht nicht typischen Fall sagt: Das ist Scharlach, oder vielleicht noch deutlicher, wenn der Staatsanwalt die Anklage erhebt: Das war Mord. Was geschieht, wenn der Staatsanwalt diese Worte ausspricht? Wobei es zunächst noch gar nichts ausmacht, ob diese Anklage berechtigt ist oder nicht.

Auf jeden Fall ist es nicht so, daß einfach eine schon vorher bestehende und für jedermann klare Situation dann nachträglich auch auf Worte gebracht würde, sondern eine bis dahin vieldeutige Situation wird in eine bestimmte Perspektive gerückt. Etwas, was vorher unklar war (was etwa auch als Totschlag usw. hätte aufgefaßt werden können), wird durch das Aussprechen des Worts, durch die Art seiner Benennung klar und bestimmt, das heißt, die Situation selber wird verändert. Das ausgesprochene Wort verwandelt die Situation und bestimmt, was weiterhin zu tun ist. Unter seiner Direktive rücken die Dinge in einen bestimmten Zusammenhang. "Die Dinge zeigen sich", so sagt LIPPS, "im Licht der im Wort gefallenen Entscheidungen."

Selbst wenn die Anklage sich als falsch erweist, so würde trotzdem die ganze Situation durch sie verändert bleiben, für den Betreffenden sogar in einer sehr peinlichen Weise; denn er kann an der Behauptung nicht mehr vorbei, er muß sie entkräften, es bedarf erst einer ausdrücklichen Anstrengung, die Wirkung des einmal gesprochenen Worts wieder zu zerbrechen. Selbst wenn es vor Gericht zum Schuldspruch nicht ausreicht, ja selbst wenn seine Unschuld erwiesen ist, so bleibt doch immer "etwas hängen". In diesem unausbleiblichen Hängen-bleiben zeigt sich in besonders verhängnisvoller Weise die unheimliche Macht des einmal gesprochenen Worts.

Ähnlich ist es bei einer Verdächtigung. Es ist etwas völlig Verschiedenes, ob bei jemand ein Verdacht aufsteigt, sich regt, oder ob er ihn auch ausspricht; denn der aufsteigende Verdacht kann sich bei näherer Betrachtung auch wieder auflösen, aber mit dem Aussprechen ist etwas geschehen, was nicht wieder rückgängig gemacht werden kann. Auch hierfür gilt SCHILLERs vielzitierter Satz: "Schnell fertig ist die Jugend mit dem Wort, das schwer sich handhabt wie des Messers Schneide." Daher auch die unverhältnismäßige Schwere einer Beleidigung, die nicht durch einen einfachen Widerruf aus der Welt zu schaffen ist. Nicht nur das ausgesprochene Wort hat sich objektiviert, sondern es hat zugleich eine bleibende Veränderung in der Welt hervorgebracht.

Oder noch ein andres Beispiel: Wenn ich zu jemand sage: du bist ein Esel, und damit nicht einfach eine Grobheit sagen will, sondern sein Verhalten in einer bestimmten Situation beurteile, dann handelt es sich wiederum darum, daß erst durch diesen Ausspruch das Verhalten des Betreffenden zur Dummheit gestempelt wird, während es vorher auch noch etwas andres sein konnte, bloße Gutmütigkeit beispielsweise oder sogar aufopfernde Pflichterfüllung. Ist diese charakterisierende Benennung erst einmal ausgesprochen, möglicherweise noch vor Zuschauern, so ist damit der betreffende Mensch in einer nicht oder schwer wieder rückgängig zu machenden Weise festgelegt. Er hat selber Mühe, sich der suggestiven Macht dieser Deutung zu entziehen.

Im einzelnen bestehen zwischen den angeführten Beispielen wiederum noch große Unterschiede. Sie wurden zunächst mit Absicht so nebeneinandergestellt, um deutlich zu machen, daß die Art und Weise, wie die Situation durch das Aussprechen des Worts verändert wird, in den einzelnen Fällen noch wieder sehr verschieden sein kann. Bei der ärztlichen Diagnose war es eine bestimmte Krankheit, die nur richtig erkannt werden mußte. Hier gab es also bis zu einem gewissen Grade eine sprachunabhängige Wirklichkeit, und darum handelte es sich auch nur hier um einen Namen im eigentlichen Sinn. Was durch das Aussprechen verändert wurde, war nicht die Krankheit, sondern das menschliche Verhalten zur Krankheit, das durch die Diagnose eine bestimmte Richtung erhielt. Die anklagende Kennzeichnung als Mord (im Unterschied zum Totschlag usw.) greift schon tiefer, indem ein vorliegender Tatbestand hier in bestimmter Weise aufgefaßt und dadurch in bestimmter Richtung fixiert wird; es ist schon eine bestimmte Interpretation des Tatbestands, die nicht einfach an der Wirklichkeit abgelesen werden kann.

Wenn ich dagegen ein menschliches Verhalten als Dummheit charakterisiere und daraufhin den Betreffenden als Esel bezeichne, so greift das noch tiefer in die Wirklichkeit ein; denn der so Gescholtene wird, wenn er sich nicht innerlich dagegen wehrt, in der Weise, wie er sich selbst versteht, irritiert und beeinflußt, und er ändert sich gegebenenfalls unter dem Einfluß dieser Beurteilung. Wir haben also, ohne daß sich scharfe Grenzen ziehen lassen, doch verschiedene Grade des Tiefgangs: Eine Krankheit wird als diese bestimmte  erkannt , eine Tat wird als dieses bestimmte Verbrechen aufgefaßt, ein Verhalten wird auf eine bestimmte Eigenschaft hin  gedeutet .

In allen diesen Fällen aber ist die Veränderung der Situation durch die Macht des Worts kein beliebiger Übergang von einer Situation in eine beliebige andre, sondern Ausgangs- und Endsituation stehen zueinander in einem bestimmt gearteten Verhältnis: Es ist der Übergang vom Unbestimmten zum Bestimmten, vom Fließenden zum Festen, vom Verschwommenen zum Prägnanten, und darum ist dieser Vorgang auch wesensmäßig irreversibel: Die einmal durch das treffende Wort gewonnene Bestimmtheit löst sich nicht wieder von selbst, sie kann nur - was etwas ganz andres ist und eine besondre Anstrengung erfordert - durch ein neues, treffenderes und darum kräftigeres Wort zerbrochen werden.

Zur Verdeutlichung nehme ich noch ein andres Beispiel, an dem diese Veränderung der Situation besonders deutlich wird. Ich meine die Veränderung, die sich ergibt, wenn ein junger Mann zu einem Mädchen die unscheinbaren Worte spricht: "ich liebe dich". Ich brauche diese Situation kaum im einzelnen zu zeichnen, um sehen zu lassen: eine vorher noch vieldeutige, zwar dunkel spürbare, aber jeden Augenblick wechselnde Situation hat auf einmal Klarheit und Festigkeit bekommen. Wir verstehen, was HANS LIPPS meint, wenn er von dem Wort als Entscheidung spricht. Während er vorher noch jederzeit wieder zurück konnte, ist mit dem Aussprechen des Worts ein Rubikon überschritten.

Es führt kein Weg zurück, es sei der des Wortbruchs. Und das ist eine sehr schwerwiegende Angelegenheit, die nicht ohne empfindlichen Substanzverlust mehr möglich ist. Aus dem fließenden, jederzeit wechselnden, nie zu haltenden Leben ist durch das Wort etwas herausgehoben, was dem Wandel entzogen ist. Das Wort ist etwas Überzeitliches. Und indem der Mensch sich im Wort festlegt, erhebt er sich in die Sphäre des überzeitlichen, um nicht zu sagen, in die Sphäre des Ewigen.


Das Versprechen

Jedes ausgesprochene Wort klärt nicht nur die Situation, sondern bindet auch für die Zukunft. Darum kann man auch dem andern Menschen "sein Wort" geben als Gewähr dafür, daß man in der Zukunft etwas leisten wird, was man im gegenwärtigen Zustand noch nicht zu leisten imstande oder noch nicht zu leisten gewillt ist, und der andre kann sich dann an dieses Wort "halten". Das Wort wird zum Versprechen, und das Versprechen ist vielleicht das eindrucksvollste Beispiel für die in der Sprache liegende Macht über die Wirklichkeit. Darum hat LIPPS in seinen Betrachtungen über die "Potenz des Worts" auch an dieser Stelle mit Nachdruck eingesetzt.

Das Versprechen ist, wie LIPPS hier überzeugend entwickelt, keine bloße Willenskundgebung; denn mein heutiger Wille kann sich ja in der Zukunft ändern, und aus der bloßen Bekundung meines heutigen Willens würde nie die Verbindlichkeit abgeleitet werden können, die dem Versprechen zu eigen ist und die von allen Schwankungen meines inneren Zustands unabhängig ist. Das einmal gegebene Wort verlangt von dem, der es gegeben hat, "eingelöst" oder "erfüllt" zu werden, und zwar unabhängig davon, wie diesem im späteren Zeitpunkt zumute ist. Das Wort erhebt hier einen Anspruch darauf, "wahr gemacht" zu werden.

Darin ist besonders deutlich, daß das Wort nicht einfach eine vorhandene Wirklichkeit abbildet und einem andern mitteilt (wie es bei einer bloßen Willenskundgebung noch der Fall wäre), sondern seine Wirklichkeit erst schafft. Erst ist das Wort, und dann wird das Versprechen erfüllt, verwirklicht. "Erfüllt" ist hier eine gute Bezeichnung: eine vorher vorhandene Hohlform wird durch die Verwirklichung ausgefüllt. Das Wort geht voran, und die Wirklichkeit folgt. In diesem Sinne verwandelt das Wort die Wirklichkeit. So bemerkt auch LIPPS: "Das Wort ist das Primäre und erfährt schrittweise verwirklichende Auszeichnung."

Und doch ist es hier ganz anders als beim zuvor behandelten Aussprechen eines Tatbestands. Dort lag die verwandelnde Kraft schon im Aussprechen des Worts. Hier aber verlangt das Wort eine lange anhaltende Bemühung des Menschen. Seine Erfüllung erfolgt in der Regel erst zu einem ziemlich weit entfernten Zeitpunkt. Sie geschieht nicht schon im Geben des Worts - denn so manches Versprechen ist leichtsinnig genug gegeben und wieder gebrochen worden -, sondern erst im Halten des einmal gegebenen Versprechens.

Darin ist aber im Sinne des tieferen anthropologischen Verständnisses wichtig, daß nicht ein ein für allemal als gleich zu betrachtender Mensch etwas tut und darin eine Veränderung seiner äußeren Wirklichkeit hervorbringt, sondern daß er sich selber darin verändert und in einem gewissen Sinne erst selber schafft; denn indem der Mensch zu seinem einmal gegebenen Wort steht und es erfüllt, auch entgegen allen Versuchungen und andersartigen Neigungen, auch gegenüber allem Unvorhersehbaren, das sich inzwischen ereignet hat, erhebt sich der Mensch über die Wandelbarkeit seines in aller Unschuld doch amoralischen Lebens und wird zum Selbst im strengen eigentlichen Sinn. Der Mensch wird er selbst durch das von ihm verantwortete Wort.

Unter diesem Gesichtspunkt haben HANS LIPPS und GABRIEL MARCEL, beide unabhängig voneinander, das Versprechen in einer Weise analysiert, bei der es sich als Schlüssel zum Verständnis des menschlichen Selbstseins erwiesen hat." Denn die Untreue ist kein beliebiger Charakterfehler neben möglichen anderen, sondern bedeutet Selbstverlust. Der Mensch entgleitet sich und verliert seine Substanz in der Verschwommenheit eines nicht mehr sich selber verantwortenden Zustands. Er gewinnt sich selbst in der Treue." Die Treue aber verwirklicht sich in der Treue zum gegebenen Wort, und darum verschlingt sich hier unmittelbar die sprachphilosophische mit der grundlegenden ethischen Problematik: Die Selbst- werdung des Menschen ist an die Sprache gebunden.

Nur als ein über sein Wort verfügendes Wesen kann der Mensch im eigentlichen Sinn "er selbst" werden. Die erzieherische Bedeutung dieses Zusammenhangs bedarf kaum eines weiteren Hinweises. Der verantwortliche Umgang mit dem gegebenen Wort ist kein sittliches Einzelproblem neben manchen andern, sondern betrifft im innersten Kern die Selbstwerdung des Menschen. Sie hat eine Schlüsselstellung für die gesamte sittliche Entwicklung des Kindes und erfordert darum die höchste Aufmerksamkeit des Erziehers. Sie verlangt aber auch von ihm die gewissenhafteste Erfüllung des von ihm einmal gegebenen Worts; denn nur in einer Umgebung, in der das Kind erfährt, daß das gegebene Wort unbedingt ernst genommen wird, kann man auch von ihm verlangen, daß es in derselben Weise zu seinem eignen Wort steht.


Das Gerede

Die größte Gefahr der Sprache aber ist, daß die fixierte Aussage bei der Wiederholung im Gebrauch zu einem beliebig anwendbaren Schema wird und damit schließlich im Gerede entartet. Als Gerede, als leeres Gerede, bezeichnen wir es, wenn das einmal von jemand ursprünglich Erfahrene gedankenlos und ohne eigne Bestätigung weitergegeben wird. Das Gerede wird "bodenlos", weil es jede Begründung auf eigne Anschauung und eigne Erfahrung verliert. Aber grade im leeren Gerede zeigt sich mit besondrer Eindringlichkeit die Macht des Worts; denn auch ohne Bestätigung wird es geglaubt und weitergegeben und bestimmt das Handeln des Menschen. "Die Sache ist so, weil man es sagt." Das Gerede ebnet alles ein, zieht alles in seinen Bann, das Gerede kann sogar töten.

Die große Gefahr des Geredes beruht darauf, daß es nicht eine gelegentliche Entartung ist, die man bei vorsichtigerem Gebrauch auch hätte vermeiden können, sondern daß es zum Wesen der Sprache gehört und untrennbar mit ihr verbunden bleibt. Die Leistung der Sprache, die in der Ablösung von der gegenwärtigen Situation besteht, bedingt zugleich die Möglichkeit dieses bodenlos werdenden Gebrauchs. HEIDEGGER hat darüber hinaus darauf hingewiesen, daß der Mensch nicht erst nachträglich in die Welt des Geredes entgleitet, sondern sich von Haus aus, so wie er sich in der Welt vorfindet, schon immer in der Welt des Geredes befindet und sich erst in bewußter Anstrengung von seiner Macht befreien kann.

Diese Zusammenhänge sind wiederum von einer höchsten pädagogischen Bedeutung. Der Kampf gegen die dumpfe verschwommene Macht des Geredes und die Hinführung zu einem verantwortlichen Gebrauch der Sprache werden darum zum entscheidenden Kernproblem jeder Erziehung. Hier ist ursprünglich beheimatet, was PESTALOZZI und seine Zeitgenossen so sehr gegen das bloße "Wortwesen", gegen das häufig zitierte "Maulbrauchen" aufbrachte. Es geht hier nicht primär um das Verhältnis des Worts zu der darin bezeichneten Anschauung, sondern um das Verhältnis der klaren und verantworteten Aussage zum leeren Gerede.

Darum sind auch die tieferen Intentionen PESTALOZZIs verfehlt, wenn man sie auf dem Wege des Anschauungsunterrichts zu erfüllen sucht (trotz mancher Äußerungen, die bei PESTALOZZI selber eine solche Auslegung nahelegen). Die Verantwortung eines begründeten Sprechens gegenüber der Verantwortungslosigkeit des Geredes ist etwas andres und mehr als der Ausweis vor der fundierenden Anschauung. Es geht nicht nur um die theoretische Begründung des Wissens und dessen nachträgliche Formulierung, sondern um das "existentielle" Verhältnis, in dem der Mensch zu seinem Wort steht und dieses als verbindlich verantwortet. Erst in der angespanntesten Bemühung um die aller Verschwommenheit und Zweideutigkeit abgewonnene verbindliche Aussage gewinnt die Erkenntnis ihre Bestimmtheit, aber in dieser selben Bemühung, in diesem selben unteilbaren Vorgang gelangt zugleich der Mensch zu seiner sittlichen Substanz.

Und erst in diesem Zusammenhang bekommt zugleich die Bemühung um die äußere Richtigkeit und Geformtheit der Sprache ihr ganzes erzieherisches Gewicht. Es geht hier nicht um Äußerlichkeiten, sondern um die sittliche Erziehung in ihrem Kern. Und es ist darum auch nicht die Angelegenheit eines einzelnen Fachs, sondern der Erziehung im ganzen, zu der auch die Sachfächer, und diese im besonderen Maße, beizutragen haben, und für die es noch stärker darauf ankommt, wie im täglichen Umgang miteinander die Sprache gebraucht wird. Erst in der Zucht der Sprache geschieht zugleich die Selbstwerdung des Menschen. Daraus entspringt eine erzieherische Aufgabe, die bis in die Einzelheiten der unterrichtlichen Gestaltung hinein genau durchdacht werden muß.
LITERATUR - Otto Friedrich Bollnow, Die Macht des Wortes - Sprachphilosophische Überlegungen aus pädagogoscher Perspektive, Essen 1964