p-4ra-2R. GeijerA. DransfeldP. RéeL. KuhlenbeckJ. FriedmannF. Klein    
 
BERTRAM DAVID LEWIN
Zur Geschichte
der Gewissenspsychologie


"Aus diesen etymologischen Bemerkungen kann man folgendes ersehen: Der Begriff Bewußtsein ist aus dem Begriff Gewissen entstanden. Bewußtsein war zuerst ein entgöttertes Gewissen. Bis um 1700 diente die Introspektion zur Erforschung des Gewissens, erst später zu der des Bewußtseins. Der Keim des rationalistischen Bewußtseinsbegrifs war der moralische kirchliche Gewissensbegriff."

"Auf der niedrigsten Stufe des Bewußtseins, und folglich des Menschenlebens steht das Kind, der rohe Mensch, das rohe Volk. Es ist das Bewußtsein des bloß Äußeren, das Weltbewußtsein. Der Mensch selbst ist auf dieser Stufe noch bloß Welt, bloß Äußeres, bloß Objekt. Er ist ganz Sinn und sinnliches Wesen, seine Empfindungen, Gefühle und Triebe gehören dem Äußeren an, welches je nachdem es dem werdenden Menschen entweer freundlich oder feindselig entgegentritt, ihn mit Lust oder Schmerz erfüllt. Der Genuß ist sein Ziel, der Zufall ist seine Gottheit."


In der französischen Sprache des zwölften Jahrhunderts findet man das Wort "conscience" und zwar im moralischen Sinne: Gewissen, Schuldbewußtsein. Dieses Wort wurde ins Mittelenglische übertragen, wo es das ältere angelsächsische "inwit" ("Innewissen") vollkommen ersetzte. Was dieses "inwit" bedeutete, ist nicht ganz klar. Man sagt, daß es zugleich Bewußtsein und Gewissen bedeutete. Sicher ist, daß man sehr wenig zwischen diesen Begriffen unterschied. Nach den Philologen HARZFELD und DARMSTETER bedeutet das französische Wort "conscience" zuerst nur "Gewissen" und ist im Sinne "la connaissance immédiate et directe que l'âme a d'elle même" [das unmittelbare und direkte Wissen, das die Seele von sich hat - wp] erst seit 'MALEBRANCHE (gestorben 1715) zu finden. In der englischen Sprache finden wir bis zu der Zeit JOHN LOCKEs dieselbe Zweideutigkeit. Dieser Philosoph war es, der 1678 zuerst das Wort "consciousness" definierte als "the perception of what passes in a Man's own mind" [die Wahrnehmung dessen, was im Geist eines Menschen vorgeht - wp], und der 1690 zum erstenmal die Form "conscious" (bewußt) gebrauchte im Sinne "having internal perceptions of one's sensations, feelings, thoughts etc." [die innere Wahrnehmung von Empfindungen, Gefühlen und Gedanken - wp]. Nach dieser Zeit, also ungefähr am Ende des 17. Jahrhunderts, sind die zwei Begriffe Gewissen und Bewußtsein, "conscience" und "consciousness", ziemlich gut getrennt. - In der deutschen Sprache, über die ich mich zurückhaltender äußern muß, dürfte das Wort "Bewußtsein" eine ähnliche Geschichte haben. Man findet das Wort in der LUTHERischen Übersetzung der Bibel im Sinne von Schuldbewußtsein oder Gewissen; nach dem Philologen WEIGANDT wurde es in seiner jetzigen Bedeutung erst im Jahre 1720 von CHRISTIAN WOLFF benützt. GRIMM sagt in seinem Wörterbuch nur kurz: "Erst im 18. Jahrhundert gebildet und häufig gebraucht."

Aus diesen etymologischen Bemerkungen kann man folgendes ersehen: Der Begriff "Bewußtsein" ist aus dem Begriff "Gewissen" entstanden. Bewußtsein war zuerst ein entgöttertes Gewissen. Bis um 1700 diente die Introspektion zur Erforschung des Gewissens, erst später zu der des Bewußtseins. Der Keim des rationalistischen Bewußtseinsbegrifs war der moralische kirchliche Gewissensbegriff. Es ist kein Zufall, daß die Worte "Bewußtsein", "consciousness", gerade zu dieser Zeit entstanden sind. Es war die Zeit der großen rationalisierenden englischen und französischen Denker, die das menschliche Denken vom alten Scholastizismus und der Autorität befreien wollten. Kurz gesagt: um die Seele überhaupt zu studieren, mußte man sie den Priestern entziehen; man erinnert sich, in welche Verlegenheiten DESCARTES und HOBBES geraten sind, als sie verdächtigt wurde, nicht in toto an die Bibel zu glauben, man erinnert sich auch an die Geschehnisse anno 1925 zu Dayton, Tennessee. Also: Das "Gewissen" blieb den Priestern und Moralphilosophen überlassen, das "Bewußtsein" erhielt die Wissenschaft, die dafür zunächst auf das "Gewissen", später auf die "Seele" überhaupt verzichtete. In der englischen Wissenschaft spricht man heute gar nicht mehr von "soul" (Seele). Dieses Wort ist heute lediglich in theologischem Gebrauch. Man spricht nur von "mind", eher von "consciousness".

Die Ärzte des späteren 17. und des 18. Jahrhunderts, deren Denken sich in dieser Atmosphäre bewegte, mußten davon beeinflußt werden; es ist interessant, was in den medizinischen und besonders in den psychiatrischen Arbeiten davon zu merken ist. Man erkennt, daß die "Bewußtsein"epoche eine Zeit der virilen [männlichen - wp] Ansichten ist. Die gewöhnlichen Partialtriebe [nach Freud oral, anal, phallisch - wp] werden nicht erwähnt. Als sexuelle Perversitäten beschreiben die Ärzte am liebsten die Satyriasis [Schürzenjägerei - wp] und die Nymphomanie [gesteigertes Verlangen von Frauen nach einem Geschlechtsverkehr - wp], die bevorzugten Abnormitäten dieser zwei Jahrhunderte. Die Onanie wird von allen als Laster und als Ursache von allerlei Symptomen und Krankheiten von Anorexia [Magersuch] bis Epilepsie und Tabes dorsalis [Stadium der Syphillis - wp] betrachtet. Vielleicht das schärfste aller Bücher über die Schädlichkeit der Onanie ist das von TISSOT, geschrieben 1750. SAUVAGES (1768) kann das Wort "mastupratio" nicht schreiben, ohne gleich "infamum vitium" [schändliche Verfehlung - wp]. Die Impotenz wird von denselben Autoren sehr sorgfältig und mitleidig geschildert.

Ich möchte eine gewisse Beziehung zwischen der herrschenden Psychologie und dieser Einstellung zur Sexualität sehen. Man weiß, daß eine rationalistische Bewußtseinspsychologie das Unbewußte negiert und nur die die Daten des Bewußtseins betont. In diesen rationalistischen Jahrhunderten hat man den genitalen Trieb gefunden und überbetont. Dies zeigt sich nicht nur in der Medizin. Auch in der allgemeinen Literatur sieht man es. Es ist die Zeit von Casanova, von RÉTIF de la BRETONNE, von TOM JONES und von Don Juan. Es ist nicht die Zeit von RABELAIS oder PROUST.

Bis ungefähr zum Ende des 18. Jahrhunderts kann man von der Psychiatrie als einem selbständen medizinischen Fach kaum reden. Die Geisteskrankheiten bzw. Krankheitssymptome, denn man machte wenig Unterschied zwischen Krankheit und Symptom, wurden von den Ärzten unter dem gleichen Gesichtspunkt wie die sonstigen Krankheiten oder Symptome betrachtet und gewöhnlich mit derselben Materia medica behandelt, obwohl es, besonders in England, gewisse wirklich psychologische Ärzte gab. In Deutschland aber waren die Geisteskranken hauptsächlich den Geistlichen überlassen. KANT konnte sogar bestreiten, daß Ärzte überhaupt über Geisteskranke urteilen können; nach ihm war dies das Gebiet der philosophischen Fakultät. (Die Frage der Laienbehandlung ist also nicht so neu, wie man denken möchte.)

Um den Anfang des 19. Jahrhunderts trat zum erstenmal eine selbständige Psychiatrie auf. Sie schwankte, wie ja auch heute noch, zwischen Medizin und Philosophie; ARNOLD, der Engländer, teilte die Geisteskranken ein nach den "Vermögen" (faculties) LOCKEs; PINEL betitelte sein Buch "Traité médico-philosophique" usw. und zitierte reichlich LOCKE und CONDORCET. Im allgemeinen kann man von drei Richtungen sprechen: Erstens die praktische Irrenpflege, hauptsächlich von den Engländern vertreten; zweitens die somatische Richtung, hauptsächlich in Frankreich (PINEL, ESQUIROL, BAYLE); und drittens die moralisch-psychologische. Diese war besonders von einer wichtigen deutschen Schule zur Blüte gebracht worden. Ich will damit nicht sagen, daß die drei Richtungen scharf national waren, denn in allen Ländern gab es Vertreter aller Richtungen. In Deutschland waren nicht nur die Psychiker, wie sie sich nannten, sondern auch die Somatiker vertreten.

Die deutschen Somatiker NASSE, JACOBI, FRIEDRICH suchten die Ursachen aller Geistesstörungen im Körper; sogar JACOBI sah bestimmte Ursachen in bestimmten Organen und glaubte an eine Magenpsychose, eine Leberpsychose usw. Gegen diese Schule erhoben sich die Psychiker BENEKE, HEINROTH, IDELER u. a., von denen der hervorragendste HEINROTH war. Wie ich zu Anfang dieser Mitteilung erörterte, war der Bewußtseinsbegriff ein Abkömmling des Gewissensbegriffs. Man hatte von der Moralphilosophie (der Ethik) diesen Begriff entlehnt, entheiligt und rationalisiert. Jetzt greifen die Psychiater zurück: die Psychiker führen den alten Begriff "Gewissen" wieder in die praktische und theoretische Psychologie bzw. in die psychologische Medizin ein.

Ich kann hier all die verschiedenen Psychiker nicht erwähnen. Nur die Psychologie und die ätiologischen [Krankheiten betreffend - wp] Ideen HEINROTHs werde ich etwas ausführlicher darstellen, und zwar wegen ihrer vielen unverkennbaren Analogien zu den neuen psychoanalytischen Lehren.

Ich folge hier hauptsächlich dem Text von HEINROTHs "Lehrbuch der Seelenstörungen" (1818), das er während seiner Professur an der Leipziger Universität schrieb. Er beginnt mit einer psychologischen Darstellung: er bildet eine Ichtheorie. Das Bewußtsein sei dem Menschen eigentümlich, es unterscheidet ihn von Pflanzen und Tieren. Aber das Bewußtsein ist nichts Unzerlegbares. Es gibt drei Stufen des Bewußtseins. Ich zitiere:
    "Auf der niedrigsten Stufe des Bewußtseins, und folglich des Menschenlebens steht das Kind, der rohe Mensch, das rohe Volk. Es ist das Bewußtsein des bloß Äußeren, das Weltbewußtsein. Der Mensch selbst ist auf dieser Stufe noch bloß Welt, bloß Äußeres, bloß Objekt. Er ist ganz Sinn und sinnliches Wesen, seine Empfindungen, Gefühle und Triebe gehören dem Äußeren an, welches je nachdem es dem werdenden Menschen entweer freundlich oder feindselig entgegentritt, ihn mit Lust oder Schmerz erfüllt. Der Genuß ist sein Ziel, der Zufall ist seine Gottheit."
Ich brauche kaum die Ähnlichkeit dieser Schilderung mit der gewöhnlichen analytischen Darstellung des infantilen Bewußtseins zu betonen (Herrschaft des Lustprinzips).
    "Zur zweiten Stufe des Bewußtesins erhebt sich der Mensch, sobald, durch die allgemein entwickelte, mannigfalt geschäftige Sinnentätigkeit der Verstand geweckt wird und die Anschauungen zu Begriffen verklärt werden ... Dem Weltbewußtsein gegenüber bildet sich ein Selbstbewußtsein ... und dieses einzige unzertrennliche Ganze (ist) eben das Ich. So ist der Mensch Individuum."
Also auf dieser zweiten Stufe tritt das Realitätsprinzip und eine straffere Ichorganisation auf.
    "In Wenigen nur entwickelt sich des Bewußtseins höchste und letzte Stufe ... Wie das Selbstbewußtsein durch eine Entgegensetzung des Inneren gegen das Äußere entsteht: so entsteht auch das höchste Bewußtsein durch eine innere Entgegensetzung (siehe Konflikt - Hemmung) im Selbstbewußtsein selbst. Wir erfahren sämtlich diese Entgegensetzung bei guter Zeit, schon in der Kindheit. Gegen das Ich und sein Bestreben erhebt sich im Innern des sich selbstbewußten Wesens ein Widerspruch, der wiewohl im Ich, dennoch nicht vom Ich, sondern von einer höheren, in das Ich eintretenden Tätigkeit ausgeht, welche wir das Gewissen zu nennen pflegen."
Dieses Gewissen erscheint als ein "Gegner unseres Weltlebens und Selbstlebens". Es verlangt Opfer vom Ich. Aber dieses Opfer ist "nur ein Einsatz für einen höchsten Gewinn; und sind wir einmal zum Höheren hingeneigt, so gilt uns das Niedere für nichts".
    "Dieses Höhere aber, was wir nicht außerhalb von uns finden, in der Welt und nicht in uns, in unserem selbstischen Ich, ist notwendig ein Über-uns, welches sich uns kund tut im Gewissen und durch das Gewissen, so daß dieses ... zuletzt gänzlich dieses Bewußtsein erfüllt, und auf diese Weise verdrängend alles tiefere Bewußtsein, zu einem neuen, eigentümlichen Bewußtsein wird, nicht mehr als etwas Fremdes, als Gewissen, in uns erscheint ..."
Dieses höchste Bewußtsein ist die Vernunft. "Wir vernehmen durch die Vernunft das Höhere, das Über-uns."

Ich will den auffallenden Vergleich hier nicht weitertreiben: HEINROTHs dritte Stufe, das Über-uns, ist das Bewußtsein, das alles Tiefere verdrängt; es ist gleichzeitig etwas, das introjiziert sein muß. In diesen Sätzen schildert er eine Instanz, die mit dem analytischen Ichideal oder Über-Ich viel Gleiches hat.

Es wäre eine Übertreibung zu behaupten, daß man bei HEINROTH auch eine Libidotheorie findet. Und doch gibt es Analogien dazu in seinen Ideen über die Entstehung der Geistesstörungen. Zwar nennt er die Libido nicht, aber er behauptet, daß die Geistesstörungen aus Sünde und Laster entstehen, aus einer Hingabe der Seele zum Bösen. Die Seele ist ursprünglich frei; nur durch die Sünde wird sie unfrei. Das Wort Unfreiheit gebraucht er ohne weiteres als Synonym für Insania oder Vecordia, also Geisteskrankheit. Liest man statt "Sünde" "verpönte Wünsche" und statt "Unfreiheit" "durch das Verdrängte bedingt", ist man vielleicht auch nicht weit von seiner Meinung. Daß ein Über-uns durch Überstrenge auch die "Unfreiheit" bedingen könnte, bleibt von HEINROTHs moralischen Gedanken fern. HEINROTH findet überall die Bestätigung für seine Idee: "ohne Abfall von Gott gibt es keine Seelenstörung". Überall sieht er in seinen Fällen die Folgen von Verbrechen und Laster. Sogar wenn er hervorhebt, daß in einzelnen Fällen äußere Momente, wie Schreck, Kummer usw. Seelenstörungen erzeugen könnten, bleibt er bei seiner Theorie konsequent: diese Individuen waren "schon moralisch verwildert". Die einzige Vorbeugung des Irreseins ist der christliche Glaube.

Ich werde nur noch wenige Worte hinzufügen, um den Untergang dieser psychiatrischen Schule zu erklären, denn der Sieg gehörte den Somatikern. Erstens war diese psychologische Betrachtungsweise ansich zu moralisch, zu hart für unsere sündige Welt: der Standpunkt war zu übertrieben. Zweitens schwankte, wie schon erwähnt, die Psychiatrie zwischen Philosophie und Medizin und die neue medizinische Richtung des 19. Jahrhunderts war so stark und so fruchtbar (ich denke an LOUIS und LAENNEC und ihre Nachfolger), daß die Psychiatrie mitgehen mußte; mehr und mehr wollte sie die Geisteskrankheiten so betrachten, als ob sie von derselben Art wären wie Infektionskrankheiten oder irgendeine sonstige Krankheit der medizinischen Klinik. Erst heute sieht man den Anfang des Untergangs auch dieser somatischen Richtung.
LITERATUR - Bertram David Lewin, Zur Geschichte der Gewissenspsychologie, IMAGO - Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften, Bd. 14, Heft 4, Wien 1928