tb-2p-4J. VolkeltR. EuckenTh. AchelisA. Meinong    
 
CARL GÖRING
Über den Begriff der Erfahrung
[ 1 / 2 ]

"Aus der Einsicht in die faktische Ungleichheit der direkten Erkenntnisse ging das materiale Kriterium der Wahrheit hervor als  Übereinstimmung der Vorstellung mit dem Gegenstand, die erst seit Kant aufgegebene Definition der Wahrheit;  Gegenstand bedeutet hier im Bereich der sinnlichen Erkenntnis dasjenige, was bei genauer Beobachtung alle wahrnehmen  müssen, woraus sich die Heranziehung der Allgemeinheit und Notwendigkeit als formaler Kriterien der Wahrheit erklärt, die nun freilich auch umgekehrt als zureichender Grund der Wahrheit nicht weiter verbürgter Annahmen angesehen wurden."

"Ohne alle Untersuchung steht fest, daß die Seele, wie sie ohne den Leib existieren kann, so auch in vollkommener Unabhängigkeit von ihm funktioniert, Vorstellungen, Begriffe, Bewußtsein, Denken aus sich selbst erzeugt, ohne der auf körperlichen Prozessen beruhenden Sinneswahrnehmungen irgendwie zu bedürfen. Hiermit ist der erforderte Gegensatz zwischen leiblichen und geistigen Funktionen geschaffen, welcher sich zugleich vollständig mit dem zwischen empirischer und nichtempirischer Erkenntnis deckt; empirische Erkenntnis oder Erfahrung ist die  einzelne direkte Sinneswahrnehmung, jedes andere psychische Gebilde stammt  nicht aus der Erfahrung."


Aus dem häufigen Gebrauch des Wortes Erfahrung, der ihm wie allem Gewohnten den täuschenden Schein der vollkommensten Klarheit verleiht, erklärt es sich hinlänglich, daß man meist ohne alle nähere Untersuchung über seinen Inhalt genügend orientiert zu sein glaubt. Das Material zur Bestimmung des Begriffs liefern die gewöhnlich sehr  per abusum  [durch Mißbrauch - wp] sogenannten Erfahrungen des täglichen Lebens, von welchen jeder nach seiner Facon eine größere Quantität zu machen pflegt und welche daher eine unbefangene, rein sachliche Auffassung und Würdigung der wissenschaftlichen Erfahrung sehr erschweren. Diese wird mit demselben Wort, wie die alltägliche Erfahrung bezeichnet, also, schließt man unter dem Einfluß der Sprache auf das Denken, ist es auch dieselbe Sache. Durch einige Überlegung gelingt es nun zwar, die nötige Unterscheidung zu machen; indessen fehlt dazu oft die Veranlassung, während es mannigfache Ursachen gibt, welche die sachlich gebotene Unterscheidung verhindern. So kann es nicht weiter befremden, daß seit PLATO und ARISTOTELES alle Nichtempiriker die gemeine und die wissenschaftliche Erfahrung identifizieren, wonach sich dann auch ihre Beurteilung der Vertreter des philosophischen Empirismus richtet; diese erscheinen ihnen als mehr oder weniger routinierte Naturalisten und Praktiker, welchen die göttliche Theorie, nach manchen Neueren die Vernunft oder irgend ein anderes Organ aus dem Reich der Gnade fehlt. So heißt es z. B. bei LEIBNIZ in den "Nouveaux essais: "Die Folgerungen, welche die Tiere machen, haben sehr viel Ähnlichkeit mit denen, welche ein bloßer Empiriker macht, wenn er glaubt, das, was in einigen Fällen geschieht, werde in allen geschehen, ohne daß er beurteilen kann, ob auch im letzteren Fall dieselben Ursachen vorhanden sind, welche im vorhergehenden stattfinden ... Die Empiriker scheinen es außer Acht zu lassen, daß sich die Welt von Tag zu Tag ändert ... Die Vernunft allein kann sichere und gewisse Regeln erteilen;  sie macht die nötigen Ausnahmen."  Sachlich hat LEIBNIZ ganz Recht; nur hat es ihm gefallen, die Rollen zu vertauschen und den als Empiriker zu qualifizieren, der  ohne  Erfahrung, etwa auf Grund der apriorischen Kausalität, urteilt.

Diese mehr als naive Manier, den "armen empirischen Teufel" in das Reich der Natur zu versetzen, auf welchen man aus dem Reich der Gnade herabsieht, hat begreiflicherweise viel Nachahmung gefunden; nicht nur SCHELLING und HEGEL, wie in geringerem Maße auch HERBART und SCHOPENHAUER nebst ihren Anhängern sind überzeugt, daß die Erkenntnisse der wissenschaftlichen Erfahrung weit hinter dem Wert der spekulativen Entdeckungen zurückbleiben, sondern das alte Vorurteil übt auch gegenwärtig noch seine Wirkung aus. Zwar ist es die Erfahrung allein in Verbindung mit der empirischen Methode, deren immer größerer Ausdehnung über alle Wissensgebiet wir die Fortschritte und die Sicherheit der wissenschaftlichen Forschung verdanken; und die verschiedenartigen Gegner des philosophischen Empirismus, welche viele Jahrhunderte lang die unbestrittene Herrschaft hatten, sind allmählich Schritt für Schritt aus ihren Positionen verdrängt worden. Indessen wiederholt sich auch jetzt wieder das Schauspiel, welches die Geschichte der Philosophie so oft darbietet; vom einst allumfassenden absoluten apriorischen Wissen sind nur noch unbedeutende Bruchstücke übrig, aber sie genügen vielen Aprioristen zu der Ansicht, daß die nie ruhende wissenschaftliche Entwicklung mit ihnen ihren definitiven Abschluß erreicht habe und die wahre Philosophie entdeckt sei, gegen welche der "einseitige, flache, oberflächliche, nackte, rohe Empirismus", in concreto der "bornierte Empiriephilister" vergebens ankämpfe. Zur mehreren Bekräftigung dieser wohlwollenden Ansicht konstruieren sie sich zuweilen ein Gemisch von möglichst unhaltbaren Meinungen, welches sie mit dem Namen des Empirismus versehen und mittels des ihnen eigentümlichen Tiefsinns gründlich vernichten. Auch erscheint ab und zu eine Art von Beweisversuchen, nach welchen das Verfahren des LEIBNIZschen "Empirikers" mit dem der wissenschaftlichen Forschung und des philosophischen Empirismus prinzipiell auf gleicher Stufe, jedenfalls aber weit unter dem Apriorismus steht. Dieser Grundirrtum erhält sich vornehmlich durch die sehr mangelhafte Kenntnis der "Erfahrung" des natürlichen Denkens wie des Wege, auf welchem es zu ihr gelangt und wird daher am besten durch eine Darlegung beseitigt, welche die Natur und Entstehung der gemeinen Erfahrung und zugleich die Entwicklung des Apriorismus aus jener aufzeigt.

Die spekulative Psychologie hatte den auch von KANT noch beibehaltenen Satz aufgestellt, daß die Sinne verschiedener Subjekte dem Inhalt nach verschiedene Wahrnehmungen ein und desselben Objektes liefern, was nebst den Sinnestäuschungen dazu führte, den Sinneswahrnehmungen alle Wahrheit abzusprechen und diese mit ihrem formalen Kriterium der Allgemeinheit und Notwendigkeit nur in den Produkten des Denkens, in den Begriffen des Verstandes zu suchen. An der Richtigkeit jener Tatsache ist nicht zu zweifeln, nur hat sie Ursachen, welche außerhalb der Sinne liegen und kann daher nicht als Grundlage für das aus ihr abgeleitete Funamentaldogma der dogmatischen Psychologie dienen. Die Ungleichheit der Wahrnehmungen, weclhe das nämliche Objekt bei verschiedenen normal organisierten Subjekten hervorruft, rührt von der Ungleichheit der Aufmerksamkeit her, von den im Bewußtsein vorhandenen oder auch den latenten Assoziationen, wie von der Verschiedenheit des geistigen Gesamtzustandes überhaupt, mit welchem ein Objekt apperzipiert wird. Das ergibt sich daraus, daß, sobald es gelingt, alle zur andauernden aufmerksamen Beobachtung zu bringen, die Verschiedenheit allmählich schwindet und endlich unvollkommene Übereinstimmung eintritt, wie ja Subjete von annähernd gleichen geistigen Anlagen und Antezedenzien [Vorhergehendem - wp] von vornherein etwa gleiche Wahrnehmungen erhalten, ohne dabei irgendwie begrifflich zu denken.

Aus der Einsicht in die faktische Ungleichheit der direkten Erkenntnisse ging das materiale Kriterium der Wahrheit hervor als "Übereinstimmung der Vorstellung mit dem Gegenstand", die erst seit KANT aufgegebene Definition der Wahrheit; Gegenstand bedeutet hier im Bereich der sinnlichen Erkenntnis dasjenige, was bei genauer Beobachtung alle wahrnehmen "müssen", woraus sich die Heranziehung der Allgemeinheit und Notwendigkeit als formaler Kriterien der Wahrheit erklärt, die nun freilich auch umgekehrt als zureichender Grund der Wahrheit nicht weiter verbürgter Annahmen angesehen wurden.

Der entscheidende Einfluß der Aufmerksamkeit auf die Wahrnehmungen ist längst allgemein anerkannt; nun entzieht sich aber dieselbe zunächst der willkürlichen Bestimmung des Subjekts in natürlichen Zustand und wird durch Ursachen hervorgerufen und abgelenkt, welche vom rein theoretischen Interesse weit abliegen. Daher kann es für diesen Standpunkt als Regel gelten, daß sie nur im Dienst der Praxis angewandt wird, von allen Objekten dagegen, die ein praktisches Interesse nicht bieten, gänzlich fern bleibt, daher diese stets nur wahrgenommen, niemals betrachtet und beobachtet werden. Der flüchtige Eindruck nur die oberflächlichste Kenntnis der Objekte, ohne über ihre Eigenschaften zu belehren; ebensowenig wird der Zusammenhang, in welchem sie mit ihrer Umgebung stehen, näher ins Auge faßt.

Nach der Beschaffenheit der Wahrnehmung richtet sich nun die der Vorstellung, d. h. zunächst die der direkten innerlichen Reproduktion eines durch die direkte Erkenntnis als räumliches Kontinuum, daher als "Einheit" gegebenen Objektes: auch das Erinnerungsbild der oberflächlichen Wahrnehmung bietet keinen Komplex von zusammenhängenden Merkmalen und Eigenschaften, sondern nur einen sehr ungenügenden Totaleindruck der gesehenen Umrisse und stellt daher der willkürlichen Verarbeitung durch die "produktive Phantasie" kein Hindernis entgegen. Das Subjekt trennt die in der Wahrnehmung verbundenen Elemente mehrerer einheitlicher Objekte und verbindet jene ohne Rücksicht auf ihren objektiven Zusammenhang in ganz beliebiger lediglich vom Zusammentreffen in der Erinnerung bestimmter Weise, wobei es auch über Raum und Zeit willkürlich verfügt.

Diese Kombination der unbewußten Ideenassoziation fallen unter den Begriff des Denkens, welchen die empiristische Psychologie aufstellt: Denken ist Vereinen, Trennen, Beziehen etc. irgendwelcher gegebener Elemente der äußeren wie der inneren Wahrnehmung, ebenso auch Verbindung bloßer Worte und abstrakter Begriffe; die Verschiedenheit des Materials kommt den Operationen der  rein formalen  Denktätigkeit gegenüber nicht in Betracht. Jede "schöpferische" Tätigkeit des Denkens, im Sinne einer Erschaffung aus Nichts, ohne einen durch direkte Wahrnehmung gegebenen Stoff, ist dadurch ausgeschlossen; alle Vorstellungen, Begriffe und Gedanken ohne Ausnahme sind Produkte aus Kombinationen sinnlicher Faktoren.

Wenn sich dies nun so verhält, so entsteht die Frage: Woher kommt das Un- oder Übersinnliche? ist es "a priori", unabhängig von der direkten Wahrnehmung, gegeben oder entsteht es erst allmählich als Produkt des unbewußten Denkens durch die willkürliche Verarbeitung des Inhalts der unmittelbaren Erkenntnis? Je nachdem man diese Frage spekulativ, durch Hypothesen oder Konstruktionen irgendwelcher Art oder empirisch nach Maßgabe der durch Beobachtung eruierten Tatsachen beantwortet, gelangt man zu entgegengesetzten Resultaten. Gegen die ausschließliche Anwendung der letzteren Methode wird ein sachlicher Einwand wohl nicht vorgebracht werden können.

Die vergleichende Anthropologie gibt uns über die allmähliche Entstehung der Annahme "unsinnlicher Wesen" genügenden Aufschluß. Die direkte Wahrnehmung selbst bietet beträchtliche Unterschiede der wahrgenommenen Objekte dar; Traumbilder, Visionen und Halluzinationen, Spiegelungen im Wasser etc. sind rein sinnlicher Natur, ermangeln aber der Solidität und Greifbarkeit der sogenannten körperlichen Objekte, welche natürlich gewohnter und bekannter als jene sind; sie rufen daher das philosophische  thaumazein  [Staunen - wp] hervor, welches durch praktisch sehr fühlbare unliebsame Unterbrechungen des gewohnten Laufs der Dinge beträchtlich gesteigert wird und so endlich auch zum rein theoretischen Nachdenken führt. Hierdurch entwickelt und befestigt sich um der "Erklärung" des Andersseins wie der Veränderungen willen eine Theorie, welche TYLOR in seinem ausgezeichneten Werk "Die Anfänge der Kultur" als  Animismus  bezeichnet (Seite 411f). Derselbe dient nach TYLOR zur Erklärung vornehmlich zweier biologischer Problemgruppen, indem er Antwort auf die folgenden zwei Fragen gibt:
    1. Was macht den Unterschied zwischen einem lebenden Körper und einem toten? Was ist die Ursache von Wachen, Schlaf, Verzückung, Krankheit, Tod?

    2. Was sind jene menschlichen Gestalten, die uns in Träumen und Visionen erscheinen?

    "Der wilde Philosoph, der diese Erscheinungen sah, hat praktisch die eine zur Erklärung der anderen benutzt, indem er  beide in einen Begriff vereinigte,  den wir  Gespenstseele  oder  Geistseele  nennen können: ein dünnes körperloses Menschenbild, eine Art Dampf, Häutchen oder Schatten, die Ursache des Lebens und Denkens im Individuum, das es bewohnt; es besitzt unabhängig das persönliche Bewußtsein und den Willens seines körperlichen, früheren oder jetzigen Besitzers; es vermag den Körper weit hinter sich zu lassen, um schnell von Ort zu Ort zu eilen; es ist meist ungreifbar und unsichtbar, doch offenbart es auch physische Kraft und erscheint besonders den Menschen im wachenden oder schlafenden Zustand als ein von dem Leib, dem es ähnlich ist, getrenntes Phantasma; endlich kann es in den Körper anderer Menschen, Tiere und selbst Dinge eindringen, sie in Besitz nehmen und beeinflussen."

    "Der Geist oder das Gespenst, das der Träumende oder Visionär sieht, gleicht einem Schatten und so wird  Schatten  zu einem Ausdruck für die Seele,  skia  und  umbra." 
Die Seele verläßt den Leib im Tod, Schlaf, Ohnmacht, Irrsinn; durch Zauberei kann sie gehen und kommen, Besuche machen, welche dem Besuchten als Träume erscheinen.

Der Animismus enthält Annahmen, welche manchen theosophischen und metaphysischen Spekulationen sehr nahe kommen: "Alle, welche an die wirkliche, objektive Gegenwart der Erscheinungen glauben, nehmen es als implizit gegeben an, daß die ihnen erscheinende menschliche Seele ihrem fleischlichen Leib ähnlich ist." Bei SWEDENBORG heißt es: "Des Menschen Geist ist sein Gemüt, das nach dem Tod in vollkommen menschlicher Gestalt fortlebt." Auch nach der animistischen Theorie kommen die Toten in der anderen Welt in derselben Gestalt an, in welcher sie diese Welt verlassen. "Verstümmelung des Körpers ist zugleich Verstümmelung der Seele" - wer würde hierdurch nicht an die prästabilisierte Harmonie erinnert?

Der Naivität der Wilden fehlt die Wertschätzung des eigenen Ich, welche allmählich die Annahme einer Seele auf den Menschen allein reduziert hat:
    "Die Empfindung eines absoluten physischen Unterschiedes zwischen Mensch und Tier, die in der zivilisierten Welt so verbreitet ist, fehlt den niederen Rassen fast gänzlich. Die niedere Psychologie muß an den Tieren dieselben Charaktere erkennen, die sie den menschlichen Seelen beilegt, nämlich die Erscheinungen von Leben und Tod, Willen und Urteil und das in Visionen und Träumen sichtbare Phantom."

    "Auch den Pflanzen, die so gut wie die Tiere die Erscheinungen des Lebens und des Todes, der Gesundheit und Krankheit zeigen, hat man naturgemäß eine Art von Seele zugeschrieben."

    "Manche verhältnismäßig hochstehende wilde Rassen, denen sich andere wilde und barbarische Rassen mehr oder minder eng anschließen, geben auch Stöcken und Steinen, Waffen, Booten, Nahrungsmitteln, Kleidern, Schmucksachen und anderen Gegenständen, die für uns nicht nur seelenlos, sondern auch leblos sind, trennbare und den Leib überlebende Seelen und Geister. Dies erklärt sich einfach daraus, daß die Wilden wie die Kinder allen diesen Dingen  Persönlichkeit  beilegen, wie ja in Träumen und Visionen ihnen die Phantome nicht nur von Personen, sondern auch von Gegenständen erscheinen. Es ist daher nur konsequent, auch Gegenständen Geist und Seele beizulegen. Der moderne Haufen, der vom Begriff der Gegenstandsgeister nichts weiß oder nichts wissen will, ist in einen Bastardzustand geraten, der weder die Logik des wilden, noch die des zivilisierten Philosophen besitzt."

    "Die Definition der Seele ist von Anfang an die einer lebenden, lostrennbaren, den Körper überdauernden Wesenheit, das Vehikel der individuellen, persönlichen Existenz geblieben. Die Theorie der Seele ist ein Hauptbestandteil eines Systems der Religionsphilosophie, das in ununterbrochener Linie des geistigen Zusammenhangs den wilden Fetischanbeter mit dem zivilisierten Christen verknüpft."

    "Es scheint, als ob die Vorstellung von einer menschlichen Seele, einmal vom Menschen ergriffen, als Typus oder Vorbild gedient hat, nach welchem er nicht nur seine Ideen von anderen Seelen niedrigeren Grades, sondern auch von geistigen Wesen im Allgemeinen gestaltet hat, vom winzigsten Elfen, der sich im hohen Gras tummelt, bis hinauf zum großen Geist, dem himmlischen Schöpfer und Lenker der Welt. Nichts kann die ähnliche Natur der Seelen und der anderen geistigen Wesen klarer zur Anschauung bringen, als die Existenz einer vollständigen Übergangsreihe von Vorstellungen und in der Tat betrachtet man die Seelen Verstorbener als eine der wichtigsten Klassen von Dämonen und Gottheiten."
Diese empirische Kenntnis des Ausgangs- und Mittelpunktes, von dem aus der Mensch sich allmählich seine unsinnlichen Wesenheiten erschafft, berechtigt vollkommen zur Aufstellung des schon von ARISTOTELES auf die platonische Ideenlehre angewandten Satzes:  "Das Unsinnliche ist das Sinnliche noch einmal".  Nur wenn man, was allerdings oft geschieht, aber methodologisch ganz und gar unzulässig ist, die beiden Extreme, die unterste und die oberste Stufe derselben Entwicklungsreihe einander entgegenstellt, erhält man einen Gegensatz, dessen beide Glieder für sich betrachtet freilich so wenig Ähnlichkeit miteinander zeigen, daß es unmöglich scheint, die höhere Stufe aus der niederen herzuleiten. Kennt man dagegen die Zwischenstufen, welche mit ihren, einzeln genommen, sehr unbedeutend erscheinende Veränderungen in stetiger Reihe immer weiter führen, so verschwindet zunächst der Gegensatz und mit ihm die vermeintliche Unmöglichkeit und "Unbegreiflichkeit" der Zurückführung des Unsinnlichen auf das Sinnliche.

Die subjektive Unbegreiflichkeit, welche auch jetzt noch vielfach als genügender Beweis für die objektive Unmöglichkeit angesehen wird, hat nebst ihrem Gegenteil, der Begreiflichkeit, eine lange Entwicklung durchgemacht, deren Hauptphysen mit genügender Sicherheit ihre Identität von den ersten naiven Anfängen bis zu ihrer höchsten Ausbildung in der spekulativen Philosophie feststellen lassen, wodurch denn auch ihr prinzipiell gleicher Erkenntniswert gegenüber der wissenschaftlichen Erfahrung charakterisiert ist.

Der Gegensatz zwischen Wissen und Begreifen ist ein künstlich geschaffener, welcher ebensowenig ursprünglich existiert, wie mit sachlichen Gründen aufrecht erhalten werden kann. Die menschliche Erkenntnis beginnt tatsächlich nicht mit dem Wissen, sondern mit dem Begreifen, dessen charakteristisches Merkmal seine unerschütterliche  subjektive  Gewißheit ist, so daß man das eine nie ohne das andere findet; nur was begriffen ist, führt subjektive Gewißheit mit sich und nur, was subjektiv gewiß ist, wird begriffen. Zu dieser Gewißheit des Begreifens führt die häufige Wiederholung, sei es der direkten Wahrnehmung oder der Reproduktion einzelner Wahrnehmungen oder auch der Ideenassoziationen; alles Bekannte und Gewohnte ist an und durch sich vollkommen begreiflich. Nun hat der Mnesch im primitiven Zustand überhaupt nur bekannte und gewohnte Objekte, d. h. was dabei oft ignoriert wird, sie  werden  ihm im Verlauf seines Lebens bald bekannt und gewohnt, daher begriffen. In die Lücken seines Begreifens, welche durch ungewohnte Ereignisse und Veränderungen bekannter Objekte hervorgerufen werden, schiebt er zunächst dasjenige ein, was ihm durch die immerwährend Sorge für die Erhaltung seines Lebens das Bekannteste geworden ist, seine Person und sein Tun; später die ihm allmählich bekannt werdenden Gegenstände seiner Umgebung nebst ihren wechselnden Zuständen, endlich auch seine eigenen "apriorischen" Gedanken. Innerhalb seines engen Kreises bewegt sich sein theoretisches Denken, das in der unbewußten Ideenassoziation fast ganz aufgeht, mit der größten Sicherheit und mit ebenderselben Unfehlbarkeit überträgt er den hier gesammelten Stoff auf alles andere und begreift dadurch auch dieses, wie es überhaupt nichts für ihn gibt, was er nicht wüßte und begriffe. Daß er das zum großen Teil "a priori", d. h. ohne Erfahrung erreicht, ahnt er selbst nicht im Mindesten; das Übergewicht der Sinne läßt es nicht zur Annahme irgendwelcher nichtsinnlichen Erkenntnisse kommen, wie die religiösen Offenbarungen aller Art genügend beweisen. Er macht daher keinen Unterschied zwischen direkter und indirekter Erkenntnis, da er die letztere überhaupt nicht kennt und sonach alles für "Erfahrung" hält, welche auch "seiner Vernunft vollkommen Genüge tut."

In der absoluten Gewißheit seiner Erfahrung wird das natürliche Denken wesentlich befestigt durch die immer wiederkehrenden Bestätigungen der von vornherein angenommenen Richtigkeit seiner Wahrnehmungen und Gedanken; denn da die Flüchtigkeit seiner Wahrnehmungen stets etwa dieselbe bleibt und der Erkenntniswert der unbewußten Ideenassoziation ohne wirkliche Erfahrung den der krankhaften Ideenflucht nicht sehr übertrifft, so sieht und denkt er immer wieder dasselbe, was er früher gesehen und auch jetzt zu sehen erwartet hatte. Dies überzeugt ihn natürlich, wenn möglich, noch mehr von der Unfehlbarkeit seines Denkens und dadurch wird er wieder an genauerer Beobachtung verhindert - ein circulus vitiosus [Teufelskreis - wp], in welchem er selbst sich sehr behaglich fühlt; daher wird er durch kritische Störungsversuche zwar gereizt, aber nicht zur Änderung seines gewohnten Verfahrens, sondern nur zur Abwehr der Störungen und so hat es gewöhnlich bei ihm sein Bewenden mit dem zweiten Teil des geistreichen FECHNERschen Apercus [geistreiche Bemerkungen - wp]: "Der Naturforscher glaubt nur, was er sieht; der Philosoph sieht nur, was er glaubt." Wenn dies den Philosophen machte, so wären alle Menschen geborene Philosophen.

Damit steht es in engstem Zusammenhang, daß das natürliche Denken sich kaum einmal von seinen Irrtümern überzeugt und selbst, wenn es in einzelnen Fällen sich dieser Einsicht nicht entziehen kann, ihr doch keine praktische Folge gibt. Es sucht für seine Irrtümer teils äußere Ursachen, teils entschuldigt es dieselben als Versehen, Flüchtigkeiten etc., die das nächste Mal gewiß vermieden werden und der Fülle seiner richtigen Einsichten gegenüber überhaupt nicht in Betracht kommen. Daß das gewohnte Verfahren selbst es ist, welches nicht zu einzelnen Irrungen führt, sondern als die allgemeine Ursache der konstant wiederkehrenden Irrtümer betrachtet werden muß, daß also die menschliche Naturanlage selbst den Irrtum hervorbringt - zu dieser Erkenntnis kommt es sehr spät, denn sie ist nur durch eine richtige Ansicht über das Verhältnis des Denkens zur Wahrnehmung und über den Erkenntniswert des unbewußten Denkens möglich.

Der natürliche Verlauf der Ideenassoziation und der objektiv bedingte Zusammenhang der Wahrnehmungen stehen zueinander im Verhältnis des "relativen Zufalls", d. h. sie bilden zwei voneinander unabhängige Kausalreihen, von denen sich jede unbeeinflußt durch die andere nach ihren eigenen Gesetzen abwickelt. Daher ist es "zufällig" zu nennen, wenn sich die Produkte der unbewußten Ideenverknüpfung einmal mit der objektiven Verbindung der Dinge in Übereinstimmung befinden, wenn z. B. in einem Fall der bloßen gedanklichen Assoziation von Ursache und Wirkung die erforderliche Grundlage in der Erfahrung gegeben ist. Nennt man mit ARISTOTELES auch dasjenige, was meistenteils geschieht, "notwendig", so führt, wie die tägliche Beobachtung lehrt, das unbewußte Denken notwendig zum Widerspruch mit der direkten Erkenntnis, also zum Irrtum. Weil das natürliche Denken fast ganz in der unbewußten Ideenassoziation aufgeht, deshalb ist es weit entfernt, diesen Sachverhalt zu ahnen; es hält vielmehr alle seine Gedanken schon durch ihre bloße Existenz für sachlich begründet, für Erkenntnisse.

Zur Überlegung über die Art, wie es zu seinen Gedanken gelangt und über das Verhältnis des Denkens zur Wahrnehmung hat das naive Bewußtsein weder Veranlassung noch Fähigkeit und bleibt daher über den objektiven Tatbestand in der vollständigsten Unwissenheit, wiewohl es sich natürlich über denselben, wie über alle Objekte seines Bereichs, seine unfehlbare Meinung gebildet hat. Diese ist, dem allgemeinen Standpunkt entsprechend, höchst primitiv: in chaotischer Ungeschiedenheit liegen alle Elemente, Wahrnehmung, Erinnerung, Denken und Erkennen bei und durch einander. Wegen des fast gänzlichen Mangels an Beobachtung identifiziert man auf dieser Stufe direkte und indirekte Erkenntnis, die sinnliche Wahrnehmung und ihre gedankliche Verarbeitung und kennt demgemäß auch keinen Unterschie in der Gewißheit beider; Tatsache und Vermutung, Wirklichkeit und Möglichkeit erscheinen hier durchaus gleichwertig. Die Idee der Entwicklung ist diesem Standpunkt ebenfalls gänzlich fremd; unter dem Druck der Sinnlichkeit, welche ihm nur fertig und abgeschlossen erscheinende Objekte überliefert, erkennt das naive Bewußtsein nicht einmal die Tätigkeit wieder, welche es in den Kombinationen seiner Ideen selbst übt - es hält alle Gedanken für fertiges Wissen und dessen gedächtnismäßige Reproduktion. So seltsam dies denjenigen klingen mag, welchen diese Unterscheidungen geläufig und die Meinungen der Menschen nur aus Handbüchern bekannt sind, so findet man es doch durch die Beobachtung sofort bestätigt, ohne daß man deswegen genötigt wäre, große Entdeckungsreisen zu wilden Völkern zu machen. Auch ist jedermann in den Stand gesetzt, diesen Tatbestand nicht nur zu wissen, sondern auch zu "begreifen"; denn die Selbstbeobachtung lehrt täglich, daß da, wo man nicht bewußt und methodisch denkt, sich mit dem natürlichen Verfahren auch die natürlichen Irrtümer einstellen. Natürlich erkennt man diese erst als solche und die unbewußte Ideenassoziation als ihre Quelle, wenn man das streng methodische Verfahren der Wissenschaft kennen gelernt und angewandt hat. -

Das natürliche Denken mach, abgesehen von dem, was es zur materiellen Befriedigung braucht, so wenig Erfahrungen, welche diesen Namen verdienen, daß es vielmehr sich über die Wirklichkeit in einer fast vollständigen Unkenntnis befindet. Von ihm gilt in der Tat nicht nur, was LEIBNIZ vom Empiriker behauptete: "Er beachtet nicht, daß die Welt sich von Tag zu Tag ändert;" sondern es weiß nicht einmal, wie die ihm direkt gegenwärtige Welt beschaffen ist, da es zur Beobachtung keine Befähigung hat. Alles in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erscheint ihm so, wie es jetzt ist und auch an den direkt gegebenen Objekten erkennt es fast keine Unterschiede. Hierzu kommt es erst nachdem der Gesichtskreis sich erweitert hat und verschiedenartige Verhältnisse direkt wahrgenommen werden, wodurch die Vergleichung und Überlegung allmählich hervorgerufen wird. Dies bezeichnet einen wesentlichen Fortschritt in der Geschichte des menschlichen Denkens, welcher, wie natürlich, sich zunächst auf praktischem Gebiet vollzieht. Es ist die Erkenntnis des Unterschieds von Gut und Schlecht, welche den Wendepunkt bildet und welcher daher stets eine große Bedeutung beigelegt wurde: Eritis sicut deus, scientes bonum et malum. [Ihr werdet sein wie Gott und das Gute und Böse erkennen. - wp] Die mythisch-theologischen Ausbildungen und Hypostasierungen [einem Gedanken gegenständliche Realität unterschieben - wp] dieser Gegensätze sind hinlänglich bekannt; für unseren Zweck kommt hier hauptsächlich ihre erkenntnistheoretische Verwertung seitens der spekulativen Philosophie in Betracht.

Die platonische Spekulation, welche für den Entwicklungsgang der späteren Philosophie maßgeben wurde, ging von dem durch die Volksreligion geschaffenen Dualismus aus, welchen sie durch Aufhebung der diesseitigen Wirklichkeit zu überwinden suchte. Die Wirklichkeit ist schlecht, das Gute existiert als höchste Idee. Dieser alles beherrschende Gegensatz wird vom Sein auf das Denken, von der Erkenntnis auf die Erkenntnistheorie übertragen: die Erkenntnis des Guten ist selbst gut, die Erkenntnis des Schlechten schlecht, ebenso die verschiedenen Erkenntnisarten, welche zu beiden führen. Hieraus entstand das Dogma, daß die Erfahrung zur Erreichung des Wissens unbrauchbar sei, welches durch das theologische Interesse der christlichen Philosophie natürlich sich immer mehr befestigte. Bei PLATO findet sich zuerst das "apriorische" Wissen als  anamnesis  [Erinnerung - wp] aus der Präexistenz der Seele und von diesem Dogma aus, dessen spätere theologische Umwandlung seinen Einfluß auf die Erkenntnistheorie weder beseitigte, noch wesentlich änderte, wurde der Gegensatz zwischen Erfahrungs- und Vernunfterkenntnis oder aposteriorischer und apriorischer Erkenntnis geschaffen und ausgebildet. Da die letztere auf einen nicht in der Erfahrung gegebenen Inhalt hinführte, wie man annahm, so konnte sie selbst nicht aus der Erfahrung stammen; denn das Richtige zu sehen, verhinderten die noch in der neueren Philosophie herrschenden psychologischen und erkenntnistheoretischen Dogmen.

Den üblichen Annahmen eines "schöpferischen" Denkens gegenüber hat zuerst LOCKE nachdrücklich darauf hingewiesen, daß wir im Denken genau dieselbe Macht über die Objekte besitzen wie im Handeln: wir können weder etwas erschaffen noch etwas vernichten, nur den uns durch die Erfahrung gegebenen Stoff beliebig verarbeiten, die willkürlichsten Kombinationen mit ihm vornehmen; alle Gedanken ohne Ausnahme, der Inhalt selbst der ausschweifendsten Phantasiegebilde, jede Offenbarung und jedes "Apriori" lassen sich daher aus der Erfahrung herleiten. Den Weg zu dieser Einsicht der empirischen Psychologie hatten sich die Metaphysiker durch den Teil ihrer Konstruktionen, welchen sie Psychologie nannten, selbst verschlossen, indem sie den Dualismus von Körper und Geist, dessen natürliche Entstehung jetzt hinlänglich feststeht, als ihr Fundamentaldogma zum alleinigen Kanon aller übrigen psychologischen Bestimmungen erhoben. Alle Bemühungen der spekulativen Psychologie gipfeln darin, den dogmatisch angenommenen schroffen Gegensatz zwischen Leib und Seele dadurch zu befestigen und womöglich zu verstärken, daß sie nach Maßgabe desselben eine Anzahl von weiteren Gegensätzen innerhalb der geistigen Funktionen schafft und die einen Glieder dieser Gegensätze dem Leib, die anderen der Seele zuteilt, wobei natürlich die tatsächlichen Verhältnisse nicht weiter berücksichtigt werden und deshalb kein Hindernis bilden. Ohne alle Untersuchung steht fest, daß die Seele, wie sie ohne den Leib existieren kann, so auch in vollkommener Unabhängigkeit von ihm funktioniert, Vorstellungen, Begriffe, Bewußtsein, Denken aus sich selbst erzeugt, ohne der auf körperlichen Prozessen beruhenden Sinneswahrnehmungen irgendwie zu bedürfen. Hiermit ist der erforderte Gegensatz zwischen leiblichen und geistigen Funktionen geschaffen, welcher sich zugleich vollständig mit dem zwischen empirischer und nichtempirischer Erkenntnis deckt; empirische Erkenntnis oder Erfahrung ist die  einzelne  direkte Sinneswahrnehmung, jedes andere psychische Gebilde stammt  nicht  aus der Erfahrung. Dieser kontradiktorische Gegensatz ist es, welcher vor allem hergestellt wird, daher man sich über die Beschaffenheit der positiven nichtempirischen Erkenntnisquelle zunächst wenig Sorgen macht oder sie aus der Metaphysik deduziert. Aus jenem Begriff der Erfahrung kann man nun leicht die Notwendigkeit der Annahme von nichtempirischen Erkenntnisquellen erweisen, sogar aufgrund der Tatsachen: denn es gibt Vorstellungen, Begriffe, Gedanken, welche in der  einzelnen  direkten Wahrnehmung nicht aufgezeigt werden können; also entspringen nicht alle psychischen Gebilde aus der Erfahrung. Dieser Schluß ist logisch vollkommen richtig, aber aus falschen Prämissen abgeleitet.

Die Reflexion der spekulativen Psychologie über den Ursprung der abstrakten Begriffe, Gedanken, wie überhaupt alle psychischen Gebilde, die nicht eine direkte Reproduktion einzelner Sinneseindrücke sind, reichte gerade so weit, um zu erkennen, daß dieselben nicht in der  einzelnen  Wahrnehmung, für diesen Standpunkt also nicht in der "Erfahrung" gegeben sind. Woher sie nun wirklich stammen, das zu ermitteln war gewöhnlich cura posterior [ein späteres Bedenken - wp] und konnte außerdem der spekulativen Psychologie auch nicht gelingen. In dem Eifer, den Gegensatz zwischen der sinnlichen Wahrnehmung als einem körperlichen Prozeß und den seelischen Funktionen des Bewußtseins, Vorstellens und Denkens zu befestigen, übersah man die Unterschiede zwischen den letzteren und identifizierte sie nahezu miteinander: Vorstellen und Denken sind noch bei KANT und vielen Späteren identische Begriffe, was ja auch in den gewöhnlichen Sprachgebrauch übergegangen ist, der beide promisk [freizügig - wp] anwendet.

Das Verhältnis des Bewußtseins zum Denken aber wurde auf andere Weise verfälscht; man meinte, weil der Mensch im normalen, wachen Zustand stets Bewußtsein  habe,  deshalb  denke  er auch stets mit Bewußtsein und konnte darüber nicht hinauskommen, weil man wieder das Denken der  einzelnen  Vorstellung gleichsetzte. Da man nun im Allgemeinen dieser stets Bewußtsein zuteilte, so übertrug man dies ohne weiteres auch auf das Denken, wodurch dies  eo ipso  [ansich - wp] zum bewußten Denken wurde. Hierdurch aber wurde die Erkenntnis gerade desjenigen Gegensatzes verhindert, welcher in Rücksicht auf Wahrheit und Irrtum, also auch für die Erfahrung im wissenschaftlichen Sinn, allein in Betracht kommt, der Gegensatz zwischen bewußtem und unbewußtem Denken, zwischen dem "oberen und dem unteren Gedankenlauf", zwischen dem Denken nach logischen und erkenntnistheoretischen Normalgesetzen und der nach psychologischen Naturgesetzen verlaufenden Ideenassoziation. Denn es stand von vornherein fest und galt als über jeden Zweifel erhaben, daß das Denken als das "Attribut der Seele" ansich unfehlbar zur Wahrheit führen müsse, etwaige Irrtümer desselben daher durch äußere Störungen verursacht seien, zu welchen sich natürlich die Erfahrung am besten verwenden ließ. Daher wird Erfahrung prinzipielle die Quelle des Irrtums wie des Nichtwissens; nur in Bezug auf die gleichgültigen Objekte des Diesseits gestand man ihr allmählich richtige Erkenntnis zu; die Vernunfterkenntnis, das reine, apriorische, von aller Erfahrung befreite Denken ist Organon der Wahrheit, des Wissens.

In der konsequenten Verfolgung dieser erkenntnistheoretischen Ansichten mußte es allmählich zum absoluten apriorischen Wissen der HEGELschen Philosophie kommen, welche sich daher selbst mit Recht als den definitiven Abschluß  dieser  Art zu philosophieren bezeichnete. HEGEL hatte kein praktisches Interesse, welches ihn hätte veranlassen können, den theologischen Dualismus eines Diesseits und Jenseits beizubehalten; er beseitigte daher mit dem Gegensatz des Inhalts auch die erkenntnistheoretischen Gegensätze, indem er die Erfahrung einfach aufhob und nur das absolute "Wissen" des reinen Gedankens, richtiger das alte platonische Begreifen übrig ließ. Damit war das Idol aller rein im theoretischen Interesse spekulierenden aprioristischen Philosophie hergestellt, alles positive Wissen aus ihr verbannt, soweit es nicht durch ein, bei HEGEL allerdings seltene, Inkonsequenz zurückblieb. Auf dieser Höhe schlug der Apriorismus in sein Gegenteil um und seitdem gelangt allmählich die Erfahrung immer mehr zu ihrem guten Recht. In Bezug auf den  Inhalt  der Erfahrung einigt man sich endlich dahin, daß man durch die sinnreichsten und kühnsten Kombinationen "reiner Gedanken" zwar über die Wahrheit, aber nicht aüber die Erfahrung hinaus gelangen kann; auf welche Weise aber die letztere ihrer "Form" nach zustande komme, darüber besteht noch eine prinzipielle Verschiedenheit der Ansichten, welche von KANT ihren Ausgang genommen hat. Die moderne Reaktion gegen das absolutistische dogmatistische Wissen zeigt sich bei der neueren kantischen Schule in der eigentümlichen Weise, daß sie diesem ein absolutes kritisches Nichtwissen entgegenstellt, von dessen Höhe auf die konsequenten Empiristen herabzusehen sie ebenso geneigt ist, wie einst die Hegelianer. Durch eine Verbindung sehr verschiedenartiger Momente ist der wieder in den Vordergrund getretene kantische Kritizismus in den Ruf gekommen, daß er eine den Ansprüchen der heutigen Wissenschaft ebenso vollkommen genügende wie philosphisch allein zulässige "Theorie der Erfahrung" aufgestellt habe.

JACOBI, dessen Polemik stets mit auf die Wirkung beim großen Publikum berechnet war, suchte ein ungünstiges Vorurteil gegen den Kantischen Kritizismus dadurch zu erweckn, daß er ihn als "vollendeten Empirismus" bezeichnete. gegen andere Klassifikationen protestierte KANT energisch, zuweilen heftig, diese nahm er ruhig hin; denn er war, nachdem er sich vom LEIBNIZ-WOLFFischen Dogmatismus befreit hatte, bis in sein reiferes Alter allerdings vollendeter Empiriker gewesen, soweit es sich um die Erkenntnis der Objekte im Diesseits und die zu ihnen führende Erkenntnistheorie handelte, und hob die Überlegenheit dieses Standpunktes gegenüber dem Dogmatismus in rein theoretischer Beziehung noch oft in seinen Schriften aus der kritizistischen Periode nachdrücklich hervor. Auch über das Verhältnis des philosophischen Empirismus zum natürlichen Denken hat er eine Ansicht ausgesprochen, welche Vielen seiner modernen Anhänger in das Gedächtnis zurückzurufen nicht unnütz erscheint:
    "Es ist überaus befremdlich, daß der Empirismus aller Popularität gänzlich zuwider ist, ob man gleich glauben sollte, der gemeine Verstand werde einen Entwurf begierig aufnehmen, der ihn durch nichts als Erfahrungserkenntnisse und deren vernunftmäßigen Zusammenhang zu befriedigen verspricht, daß die transzendentale Dogmatik ihn nötigt, zu Begriffen hinauszusteigen, welche die Einsicht und das Vernunftvermögen der im Denken geübtesten Köpfe weit übersteigen. Aber eben dieses ist sein Bewegungsgrund. Denn er befindet sich alsdann in einem Zustand, in welchem sich auch der Gelehrteste über ihn nichts herausnehmen kann. Wenn er wenig oder nichts davon versteht, so kann sich doch auch niemand rühmen, viel mehr davon zu verstehen, und, ob er gleich hierüber nicht so schulgerecht, als andere sprechen kann, so kann er doch darüber unendlich mehr vernünfteln, weil er unter lauter Ideen herumwandelt, über die man eben darum am beredtsten ist, weil man  davon nichts weiß ...  Zuletzt aber verschwindet alles spekulative Interesse bei ihm vor dem praktischen, und er bildet sich ein, das einzusehen und zu wissen, was anzunehmen oder zu glauben ihn seine Besorgnisse oder Hoffnungen antreiben" (Kritik der reinen Vernunft, Edition KEHRBACH, Seite 389).
Nun wird zwar der Empirismus selbst von KANT zum Dogmatismus gestempelt durch die Behauptung, daß beide mehr lehrten, als sie wüßten; indessen ist dies eine durchaus unzulässige und willkürliche Parallelisierung zweier entgegengesetzter Standpunkte. Denn der Empirismus HUMEs, welcher hiermit von KANT bekämpft wird, lehrt, daß von allen jenseits "möglicher Erfahrung" gelegenen Objekten es unmöglich sei etwas zu wissen; KANT aber wollte die Möglichkeit gerade dieses Wissens retten und schuf im praktischen Interesse willkürliche Grenzen, um alle über diese hinausgehenden negativen und positiven Behauptungen für Dogmatismus erklären zu können.

Der Kantische Kritizismus ist der äußerliche Mittelpunkt der gegenwärtigen deutschen Philosophie, daher diese meist ihn unwillkürlich sub specie prasesentiae [im Licht der Gegenwart - wp] auffaßt, ihre wesentlichsten Gedanken und Interessen zu den seinigen macht, und nun auch natürlich dieselben immer in ihm wiederfindet. Statt den historisch vorliegenden Zusammenhang der Kantischen Philosophie als Ganzes im Auge zu behalten und von ihm aus ihre bei KANT zunächst nur als Mittel zum Zweck dienende Erkenntnistheorie aufzufassen und zu beurteilen, reißt man diese aus ihrer Verbindung mit dem Zweck KANTs heraus und ist daher geneigt, die Annahme einer praktischen Absicht und ihres bestimmenden Einflusses auf die Theorie ohne nähere Prüfung als Paradoxie oder tendentiöse Erfindung zu verwerfen, während doch diese Annahme allein den Tatsachen entspricht.

Gegenwärtig haben wir es glücklicherweise zu der Einsicht gebracht, daß von allen rein theoretischen Untersuchungen jedes praktische Interesse irgendwelcher Art durchaus fern gehalten werden muß, und suchen der konsequenten Durchführung dieses obersten und wichtigsten methodologischen Grundsatzes wenigstens immer näher zu kommen - "du kannst, denn du sollst." Für KANT aber stand in beiden Beziehungen das direkte Gegenteil dieses wissenschaftlichen Ideals fest. Zwar wies er alle egoistische Furcht und Hoffnung von der Theorie ab, nahm es aber als geradezu selbstverständlich an, daß das moralische Interesse, welches für ihn ohne die Stütze der religiösen Hauptdogmen nicht befriedigt werden konnte, in Kollisionsfällen zwischen Theorie und Praxis die Entscheidung jederzeit nach der letzteren Seite hin bewirken müsse. Diese oberste Maxime seines eigenen Philosophierens setzte er auch bei allen anderen voraus; nach seiner Ansicht kann nie jemand sich über das praktische Interesse soweit erheben, daß er auf bloß theoretische Gründe hin sein Weltanschauung zu bilden imstande wäre; und selbst wenn er dies könnte, so würde er doch im höchsten allgemeinen Interesse der Menschheit die letzten Konsequenzen nicht ziehen dürfen. HUME bedachte nicht den "schrecklichen Umsturz", welchen sein "Skeptizismus", radikal durchgeführt, bewirken müßte, wiewohl dieser nach KANTs eigener Auffassung nur lehrte, daß man über die höchsten Interessen der Vernunft nichts wissen könne. Es muß daher die Metaphysik, da sie leider nicht "Grundveste der Religion" sein kann, doch jederzeit als die "Schutzwehr derselben stehen bleiben", oder wie KANT, um seinen Zeitgenossen endlich seine eigentliche Absicht verständlich zu machen, in der Vorrede zur 2. Auflage der Kritik erklärte: "Ich mußte das  Wissen  aufheben, um zum  Glauben  Platz zu bekommen." Dieser Versicherung schenkte man früher Glauben, hielt jedoch durch die Kritik das praktische Interesse für gefährdet; gegenwärtig aber ist in dieser Beziehung ein solcher Umschwung eingetreten, daß es Mühe kostet, sich ernstlich in KANTs Hauptzweck hineinzudenken. Daß dieser letztere bei einem KANT, welcher "Konsequenz für eine jedes Philosophen würdige Sache" erklärte, auf seine Theorie der Erfahrung entscheidenden Einfluß gewann, ist von vornherein anzunehmen und wird durch die Tatsachen bestätigt.

Bis zum Kantischen Kritizismus kannte die Wissenschaft wie die Philosophie nur eine einzige Art der Erfahrung, nämlich die durch direkte Wahrnehmung und die auf dieser beruhenden Schlußfolgerungen; ihr prinzipieller Gegensatz war die Erkenntnis aus reiner Vernunft. Die Ergebnisse der Erfahrung ließ man offiziell von Seiten der Metaphysik nicht als Wissen gelten, welches zu erreichen man allein der reinen Vernunfterkenntnis vorbehielt. Indessen standen sich zu KANTs Zeiten beide Erkenntnisarten tatsächlich ganz und gar nicht mehr so schroff gegenüber, als es in den geistreichen Antithesen der Geschichtsschreiber der Philosophie oft dargestellt wird; man räumte den Erfahrungserkenntnissen stillschweigend den Rang des Wissens ein, wie die bei WOLFF ganz besonders deutlich hervortritt. Überhaupt handelte es sich in der Hauptsache nicht um den Gegensatz der Erkenntnis theorien,  da der Schwerpunkt ausschließlich in ganz bestimmten Erkenntnissen lag, die noch KANT oft genug als die einzigen Objekte der Metaphysik bezeichnet: Gott, Freiheit, Unsterblichkeit. Um zu diesen auf rationellem Weg gelangen zu können, hatte man die Vernunftwahrheiten, die allgemeinen und notwendigen Erkenntnisse prinzipiell als das Wissen fixiert, welches im engeren Sinne allein dieses Namens würdig war; für die Feststellung irdischer Tatsachen bediente sich dagegen auch der Dogmatismus ohne Bedenken der "zufälligen" Erfahrung. So kam es, daß Rationalismus und Empirismus lange Zeit friedlich beieinander wohnten, da der oft in ihnen gesuchte Gegensatz tatsächlich auf einem ganz anderen Gebiet lag. KANT selbst hat hinreichend dafür gesorgt, daß die eigentliche Natur des Gegensatzes, den er zu beseitigen versuchte, außer Zweifel gesetzt werden kann, indem er an vielen Stellen dem Dogmatismus den  Skeptizismus  entgegenstellt: der erstere bewies die Hauptdogmen der Theologie durch seine Erkenntnistheorie als unumstößlich sicheres Wissen, der andere leugnete die Möglichkeit, von jenen Dogmen überhaupt etwas zu wissen, und diese Leugnung allein ist das spezifische Merkmal des Skeptizismus für die vorkantischen Philosophen wie für KANT selbst. Keineswegs aber wurde der Empiriker als solcher des Skeptizismus beschuldigt, wenn er nur jenen Dogmen gegenüber sich der herrschenden Ansicht anschloß; es kam niemandem in den Sinn, LOCKE und BERKELEY wegen ihrer empiristischen Auffassung der Kausalität für Skeptiker zu halten, so wenig dies dem vorkritischen Kant widerfuhr, wiewohl er in diesem Punkt ganz so radikal dachte, wie der gewöhnlich als Skeptiker par excellence bezeichnet HUME. Erst dieser ermöglichte es durch die Verbindung seiner empiristischen Erkenntnistheorie mit dem Zweifel an der Theologie seinen Gegnern in alter und neuer Zeit, Empirismus und Skeptizismus zu identifizieren, wobei freilich die früheren Gegner ausschließlich seine theologische, die modernen meist seine philosophische "Skepsis" im Auge haben. Denn die theologische Skepsis HUMEs rief einen Umschwung in der Philosophie hervor, der die bisherigen Gegensätze vollständig verschob, indem er den Schwerpunkt von den Objekten der Erkenntnis in die Erkenntnistheorie verlegte. Diese gestaltete sich nun bei KANT durch die Rücksicht auf den Glauben sehr eigentümlich.

Der Schwerpunkt aller Metaphysik lag für KANT im Glauben; daher beherrschte der Gegensatz zwischen Glaube und Unglaube bei ihm auch alle erkenntnistheoretischen Unterschiede in dem Grad, daß es ihm passierte, HUME zum Dogmatiker und Skeptiker in einer Person zu machen. Hierdurch gelang ihm wirklich, wenn auch in anderer Weise, das Kunststück, dessen Ausführung man seinem berühmten Tiefsinn oft zuschreibt, nämlich das logisch Unmögliche möglich gemacht und zwei an sich unvereinbare Gegensätze vereinigt zu haben: die WOLFFische Philosophie ist dogmatisch, weil sie über die Grenzen möglicher Erfahrung hinaus ein Wissen zu haben glaubt, HUMEs "Skepsis" dagegen ist dogmatisch, weil sie lehrt, daß es über alle mögliche Erfahrung hinaus nichts zu wissen gibt - ein "Unglaube, der jederzeit gar sehr dogmatisch ist." Oder, was dem positiven Inhalt des Kritizismus näher kommt, der Dogmatismus lehrte die  Notwendigkeit,  der Skeptizismus die  Unmöglichkeit  des Wissens von den Objekten des Glaubens; zwischen beiden schlug KANT den einzigen "Mittelweg" ein, der noch übrig blieb, nämlich den, die  Möglichkeit,  zwar nicht des Wissens, wohl aber des von diesem getrennten  Inhalts  des Wissens, also die  Möglichkeit der Existenz  der betreffenden Objekte sicher zu stellen. Dies war freilich nur ein scheinbarer Mittelweg, weil er nur durch die Umbildung der vorhandenen Gegensätze möglich war: das konträre Gegenteil des Dogmatismus, die HUMEsche Skepsis, wurde von KANT in das kontradiktorische Gegenteil ledigilich der  Form  des Nichtwissens nach verwandelt, dagegen der  Inhalt  des Dogmatismus in der Form des Glaubens einfach beibehalten; zwischen dem Wissen des Einen und dem Unglauben des Anderen liegt der Glaube des Kritizismus in der Mitte: der Unglaube ist dogmatisch, der Glaube ist kritisch. Von einer positiven Theorie der Erfahrung weiß die 1. Auflage der Kritik nichts. -

Der Kantianer J. BONA-MEYER hat in seinem Buch "Kants Psychologie" 1870 auf den schwankenden Gebrauch des Wortes Erfahrung bei KANT aufmerksam gemacht, wovon jedoch die späteren Kommentatoren KANTs meist keine Notiz zu nehmen beliebten; von ihnen wird der Kantische Begriff der Erfahrung gewöhnlich so dargestellt, also ob der vollkommen feststünde und keinerlei Schwierigkeiten darböte. Dieser Praxis gegenüber erscheint es nötig, die verschiedenen Bedeutungen des Wortes Erfahrung bei KANT einmal auf engem Raum nebeneinander zu stellen. Erfahrung bedeutet zunächst einzelne wie auch wiederholte Wahrnehmung, ist aber zugleich auch notwendige Verknüpfung der Wahrnehmungen; empirische Anschauung oder empirische Erkenntnis ist Erfahrung, Erfahrung enthält außer der Anschauung noch einen Begriff; nicht alle empirische Erkenntnis ist Erfahrung, wirkliche Erfahrung ist jederzeit empirisch. Erfahrung gibt nur komparative Allgemeinheit, lehrt  nur,  wie und was, nicht aber, daß es gar nicht anders sein könne; Erfahrungsurteile sind von strenger Allgemeinheit und Notwendigkeit; "was die Erfahrung unter gewissen Umständen mich lehrt, muß sie mich jederzeit und auch jedermann lehren. Erfahrung gibt den Fall, der unter der Regel steht; Erfahrung gibt die allgemeine Regel, die aber noch keine strenge, ausnahmslose Gültigkeit hat; Erfahrung bedarf durchgängig und notwendig gültiger Regeln.

Es ist nur  eine  Erfahrung, in welcher aller Wahrnehmungen als im durchgängigen und gesetzmäßigen Zusammenhange vorgestellt werden;" sie beruth auf der "durchgängigen Einheit des Selbstbewußtseins"; "ist nur möglich durch das stehende und bleibende Ich der reinen Apperzeption." - "Das absolute Ganze aller möglichen Erfahrungen ist keine Erfahrung;" Erfahrung begrenzt sich nicht selbst, sie gelangt immer wieder zu einem Bedingten und weist dadurch über sich hinaus zu einem Unbedingten, welches zwar selbst niemals Gegenstand, aber doch der oberste Grund der Erfahrung ist, nämlich zu einem "möglichen Urwesen." Endlich erfahren wir noch in der Methodenlehre, daß "mögliche Erfahrung etwas ganz  Zufälliges"  ist.

In dieses Gemisch von widersprechenden Äußerungen fällt einiges Licht dadurch, daß man sie mit dem obersten Zweck KANTs in Verbindung bringt, der, wie es scheint, bei der Abfassung der Vernunftkritik ursprünglich sein einziger war. In der ersten Auflage derselben ist die Erfahrung niemals etwas anderes als das Gegenteil der apriorischen Erkenntnis in jeder Beziehung, und nimmt so durch die Abhängigkeit von diesem selbst mehrdeutigen Begriff verschiedenartige Bedeutungen an, ohne daß sie jedoch ein einziges Mal in dem Sinne gebraucht wird, der sie später in so schroffen Gegensatz zur Wahrnehmung setzt. Denn KANTs Absicht war nicht, eine  Theorie  der Erfahrung zu geben, sondern vielmehr, wie auch COHEN sagt, eine  "Kritik  der Erfahrung", aber in der Weise, daß von der Erfahrung nichts übrig blieb, als der subjektive Faktor derselben, die Anschauung, ohne allen objektiven Inhalt. Demgemäß wurde die Erfahrung ganz und gar auf die  Erscheinungen  sind; in der 1. Auflage ist
    "Natur nichts als ein Inbegriff von Erscheinungen, mithin kein Ding-ansich, sondern bloß eine Menge von Vorstellungen unseres Gemütes." Seite 232: "Erscheinungen sind nichts als Vorstellungen, die vom Verstande auf ein Etwas bezogen werden, als den Gegenstand der sinnlichen Anschauung; aber dieses Etwas ist insofern nur das transzendentale. ... Dieses transzendentale Objekt läßt sich gar nicht von den sinnlichen Datis absondern,  weil alsdann nichts übrig bleibt,  wodurch es gedacht würde. Es ist also kein Gegenstand der Erkenntnis an sich selbst, sondern nur die Vorstellung der Erscheinungen".
Freilich finden sich neben diesen unzweideutigen Erklärungen andere mehrdeutige. Die scharfsinnige Folgerung WINDELBANDs (siehe Heft II dieser Zeitschrift) daß KANT in der "3. Phase" das "Ding-ansich" ganz aufgegeben habe, wird durch diese Erörterungen der 1. Auflage vollkommen bestätigt, dürfte aber wohl auf die  dieseitigen  Dinge-ansich die Körperwelt, zu beschränken sein; das Objekt des  Verstandes  enthält allerdings nichts anderes als die Erscheinung, und diese ist nichts anderes als bloße Vorstellung. Aber KANT hatte schon 1770 die Unterscheidung gemacht, welche "unser Skeptiker" HUME,  wie auch KANT selbst früher "unterlassen"  hatte, nämlich die zwischen Verstand und Vernunft, um mit letzterer über die Schranken der Erfahrung hinauszugelangen. Wenn er daher die alte dogmatische Unterscheidung zwischen Phaenomena und Noumena für das Wissen im Diesseits beseitigte, so hat er doch niemals die "Möglichkeit" der Noumena im theologischen Sinn aufgegeben. Denn er hat sie auch schon in der ersten Auflage zu dem Zweck verwandt, die "Anmassungen des Empirismus einschränken", und dessen Lehren für "transzendent und dogmatisch" erklären zu können; Seite 326: "Der Begriff eines Noumeni, bloß problematisch genommen, bleibt demungeachtet nicht allein zulässig, sondern auch  als ein die Sinnlichkeit in Schranken setzender Begriff, unvermeidlich".  Freilich bestimmt ihn KANT weiter als einen problematischen Begriff eines problematischen Verstandes, was aber ganz im Geiste seines Zweckes überhaupt ist, sich auf die Möglichkeit zu beschränken und mit ihr zu seinem Ziel zu gelangen.

So wurde KANT durch seine Absicht, den Empirismus dadurch unschädlich zu machen, daß er ihn auf Erscheinungen beschränkte, um ihm alles Wissen abzusprechen, zu dem oft hervorgehobenen Idealismus der 1. Auflage geführt, welcher nur das übrig ließ, was sein Begründer für das praktische Interesse nötig hatte:  Denkende Wesen und ihre Vorstellungen.  Als er nun aber darauf aufmerksam gemacht wurde, daß schon BERKELEY ganz dasselbe gelehrt habe, regte sich in ihm das Bewußtsein der Überlegenheit, welches ihn dem Dogmatismus gegenüber nie verließ. er beeilte sich zu versichern, daß sein kritischer Idealismus vom dogmatischen BERKELEYs sehr verschieden sei; damit aber diese Versicherung Glauben fand, mußte er die Verschiedenheit erst herstellen. Daher gab er nunmehr dem positiven Teil seines Kritizismus eine andere Wendung, indem er statt der früheren Möglichkeit überall die Wirklichkeit einsetzte. Statt der bloß möglichen synthetischen Urteile a priori der Metaphysik (das synthetische Urteil 7 + 5 der Arithmetik nebst dem geometrischen kommt in der 1. Auflage nur beiläufg vor) treten in den Prolegomenen und in der 2. Auflage der Vernunftkeit die  wirklichen  synthetischen Urteile a priori stark in de Vordergrund; denn "glücklicherweise trifft es sich, daß Mathematik und reine Naturwissenschaft solche enthalten": Hiermit verbindet sich der Hinweis darauf, daß KANT diesen Disziplinen zuerst ihre prinzipielle Begründung gegeben habe; während vorher es nur erwähnt wurde, daß auch die Mathematik sich a priori erweitere, wird später überall die Metaphysik in "die gute Gesellschaft der Mathematik" gebracht. Die mögliche Erfahrung, "etwas ganz Zufälliges", verwandelt sich in wirkliche Erfahrung von "objektiver Gültigkeit", mit Allgemeinheit und Notwendigkeit, womit sich zugleich die Bedeutung der Kategorien verändert. Vorher haben diese objektive Gültigkeit, nur weil und sofern sie auf mögliche Erfahrung angewendet werden können; jetzt verleiht die Einsetzung der Kategorie umgekehrt der Anschauung objektive Gültigkeit, nur weil und sofern sie auf mögliche Erfahrung angewendet werden können; jetzt verleiht die Einsetzung der Kategorie umgekehrt der Anschauung objektive Gültigkeit. Hierdurch verschiebt sich auch der Schwerpunkt des Erkenntniswertes der synthetischen Urteile a priori; während früher eingeschärft wird, daß Existenzialsätze jederzeit synthetisch seien, kehrt sich dies nunmehr sachlich durchaus um: synthetische Urteile erhalten als solche den Rang von Existenzialsätzen, die synthetischen Urteile a priori sind allgemeine und notwendige Erkenntnisse. Die analytischen Urteile verschwinden sogar aus der Erfahrung wie aus der Metaphysik; Prolegomena, Ed. HARTENSTEIN, Seite 179: "Erfahrungsurteile sind jederzeit synthetisch"; Seite 185: "Eigentlich metaphysische Urteile sind insgesamt synthetisch:"

In der 1. Auflage der Kritik werden die allgemeinen und notwendigen Erkenntnisse der Geometrie herangezogen, um der Lehre von der Apriorität von Raum und Zeit "apodiktische Gewißheit" zu verschaffen, und dienen mithin der Begründung des Apriori; erst in den Prolegomena und der 2. Auflage kehrt sich auch dieses Verhältnisses um. Wenn man daher oft behauptet hat, daß KANT die Allgemeinheit und Notwendigkeit der Mathematik durch das Apriori habe retten wollen so tritt diese Absicht ursprünglich wenigstens gänzlich zurück. Überhaupt macht die 1. Auflage von den allgemeinen und notwendigen Erkenntnissen nur einen negativen Gebrauch, indem sie zeigt, daß Etwas vorhanden sei, was nicht aus der Erfahrung stamme. Besonders aber fehlt ihr noch die spätere Sicherheit hinsichtlich der  Wahrheit  der allgemeinen und notwendigen Urteile; diese bewirken in der 1. Auflage, "daß man von den Gegenständen, die den Sinnen erscheinen, mehr sagen kann,  wenigstens es sagen zu können glaubt,  als bloße Erfahrung lehren würde." Diese vorsichtige Restriktion ist später weggelassen worden, da sie derjenigen Theorie der Erfahrung, welche in einem Kapitel der Prolegomena entwickelt wird, nicht mehr angemessen.

Hier tritt plötzlich ein Unterschied von Wahrnehmungs- und Erfahrungsurteilen auf, der vorher, auch in den Prolegomena selbst, nirgends auch nur angedeutet ist und später auch gelegentlich wieder von KANT ignoriert wird.  Wahrnehmungen  sind nur "subjektiv gültig" und bedürfen keines reinen Verstandesbegriffes, sondern nur der logischen Verknüpfung der Wahrnehmung in einem denkenden Subjekt; Erfahrungsurteile aber haben "objektive Gültigkeit", und erfordern jederzeit, über die Vorstellungen der sinnlichen Anschauung hinaus, noch besondere im Verstand ursprünglich erzeugte Begriffe, welche es eben machen, daß das Erfahrungsurteil objektiv gültig ist; Beispiel:
    "Wenn die Sonne den Stein bescheint, so wird er warm." "Dieses Urteil ist ein bloßes Wahrnehmungsurteil und enthält keine Notwendigkeit, ich mag dieses noch so oft und andere auch noch so oft wahrgenommen haben; die Wahrnehmungen finden sich gewöhnlich nur so verbunden. Sage ich aber: die Sonne  erwärmt  den Stein, so kommt über die Wahrnehmung noch der Verstandesbegriff der Ursache hinzu, der mit dem Begriff des Sonnenscheins den der Wärme  notwendig  verknüpft, und das synthetische Urteil wird notwendig allgemeingültig, folglich objektiv und aus einer Wahrnehmung in Erfahrung verwandelt."
Vorher waren bei KANT die Verstandesbegriffe "objektiv gültig" durch Beziehung auf mögliche Erfahrung, d. h. Anschauung, wie unzählige Male mit dem größten Nachdruck eingeschärft wird; jetzt aber macht der Verstandesbegriff der Ursache die an sich nur subjektiv gültige Wahrnehmung zur objektiv gültigen Erfahrung mit Allgemeinheit und Notwendigkeit, welche letzteren eben nur auf dem Verstandesbegriff beruhen. Später ändert sich dies wieder; z. B. heißt es im VII. Abschnitt der Kritik der Urteilskraft:
    "Ein einzelnes Erfahrungsurteil, z. B. von dem, der in einem Bergkristall einen beweglichen Tropfen Wasser wahrnimmt, verlangt mit Recht, daß ein jeder Andere es ebenso finden müsse, weil er dieses Urteil, nach den allgemeinen Bedingungen der bestimmenden Urteilskraft, unter den Gesetzen einer möglichen Erfahrung überhaupt gefällt hat."
Es ist daher einzig und allein das erwähnte Kapitel aus den Prolegomenen nebst den Änderungen, die aus ihm in die 2. Auflage der Kritik übergegangen sind, worauf sich die Ansicht berufen kann, daß KANT in erster Linie eine Theorie der Erfahrung habe aufstellen wollen. Hierüber spricht er sich so deutlich aus, daß über seine eigentliche Absicht kein Zweifel bleiben kann, indem er Prolegomena § 44 die unzweideutige Erklärung abgibt:
    "Indessen würde doch unsere mühsame Analytik des Verstandes, wenn unsere Absicht auf nichts anderes, als bloße Naturerkenntnis, so wie sie in der Erfahrung gegeben werden kann, gerichtet wäre, auch ganz überflüssig sein; denn Vernunft verrichtet ihr Geschäft sowohl in der Mathematik als Naturwissenschaft, auch ohne alle diese subtile Deduktion, ganz sicher gut; also vereinigt sich unsere Kritik des Verstandes mit den Ideen der reinen Vernunft zu einer  Absicht,  welche über den Erfahrungsgebrauch des Verstandes hinausgesetzt ist."
Das Nähere über diese Absicht findet sich ebenfalls in vielen Äußerungen KANTs unmißverständlich auseinandergesetzt; es handelt sich für ihn darum, die "Anmaßungen der Sinnilchkeit einzuschränken", wozu der Begriff des Noumenon notwendig ist. Denn HUMEs Empirismus wird von KANT ausdrücklich als "transzendent" bezeichnet, weil er die Schranken der menschlichen Erkenntnis für Schranken des Erkennens überhaupt gehalten habe. Diesem "Skeptizismus" gegenüber sucht KANT zu erweisen, daß wir gerade durch unsere Erfahrungserkenntnis zur Annahme von Dingen geführt würden, welche über jede mögliche Erfahrung hinausgehen: "Erfahrung, welche Alles, was zur Sinnenwelt gehört, enthält begrenzt sich nicht selbst; sie gelangt von jedem Bedingten immer nur auf ein anderes Bedingtes. Das, was sie begrenzen soll, muß gänzlich außer ihr liegen, und dieses ist das Feld der reinen Verstandeswesen." In diesem Zusammenhang tritt auch der Grund der Unterscheidung zwischen Erscheinungen und den Dingen ansich deutlich genug hervor.
    "Die Sinnenwelt ist nichts, als eine Kette nach allgemeinen Gesetzen verknüpfter Erscheinungen, sie hat also kein Bestehen für sich, sie ist eigentlich nicht das Ding an sich selbst, und bezieht sich also notwendig auf das, was den Grund dieser Erscheinung enthält, auf Wesen, die nicht bloß als Erscheinung, sondern als Dinge an sich selbst erkannt werden können." "Wir sollen uns denn also ein immaterielles Wesen, eine Verstandeswelt, und ein höchstes aller Wesen denken"; dieses letztere muß "selbst nicht Gegenstand der Erfahrung, aber doch der oberste Grund aller Erfahrung sein", daher die Vernunft von demselben "nicht etwas an sich, sondern nur in Beziehung auf ihren eigenen vollständigen Gebrauch und auf die höchsten Zwecke im Feld möglicher Erfahrung lehrt. Dieses ist aber auch aller Nutzen, den man vernünftigerweise hierbei auch nur wünschen kann und mit welchem man Ursache hat zufrieden zu sein." Denn "auf solche Weise verschwinden die Schwierigkeiten, die dem Theismus zu widerstehen scheinen"; die "frechen und das Feld der Vernunft verengenen Behauptungen des Materialismus, Naturalismus und Fatalismus"
werden aufgehoben, das Ziel aller Metaphysik ist erreicht, ihre Objekte: Gott, Freiheit, Unsterblichkeit können zwar theoretisch nicht bewiesen, aber auch nicht geleugnet, sie dürfen daher und  müssen  aus praktischen Gründen  geglaubt  werden.

Beim heutign Stand der Wissenschaft richtet das, was man KANTs "Theorie der Erfahrung" nennt, sich selbst. Wenn der Ausdruck eines menschlichen Bedauerns in der Philosophie irgendwo am Platz ist, so ist er es hier angesichts der Tatsache, daß auch ein KANT dem Schicksal verfallen konnte, durch die bloße Veränderung des sprachlichen Ausdrucks einen über alle Erfahrung hinausgehenden Erkenntnisinhalt und Erkenntniswert hervorzaubern zu wollen. Er selbst hat dafür gesorgt, daß keinerlei Rettungsversuche gläubiger Jünger auch nur mit einigem Schein angestellt werden können; zwischen Erfahrung im üblichen Sinn und den apriorischen Verstandesbegriffen existiert nichts Mittleres, weshalb alle Berufungen auf "Besinnung", "Selbstbesinnung" oder eine ähnliche  vox media,  welche die Einsetzung der Kategorie rechtfertigen sollen, nichts als leere Worte enthalten; vgl. § 29 der Prolegomena.

Es bleibt übrig zu untersuchen, wie KANT zu dieser Konstruktion der Allgemeinheit und Notwendigkeit gelangen konnte. Eine wissenschaftliche Methode führte ihn nicht dazu, wie seine Erörterungen in der Methodenlehre beweisen; es müßte denn sein, daß er auch in Bezug auf die Methode nur von den Kantianern richtig verstanden würde. Indessen bietet sein Verständnis im Allgemeinen eben keine großen Schwierigkeiten.

KANT ist bei alten und neuen Gegnern seines Kritizismus im Ganzen sehr mit Unrecht in den Ruf eines schlechten Stilisten geraten; diejenigen Partien auch der Kritik der reinen Vernunft, welche seinem Hauptzweck, der Aufhebung des Wissens, dienen, sind in Bezug auf Inhalt und Form sehr sorgfältig ausgearbeitet, nämlich die transzendentale Ästhetik und Dialektik, sowie die Methodenlehre. Hier sucht man vergebens dasjenige, was je nach dem Standpunkt des Beurteilenden entweder Dunkelheit und Unklarheit des Ausdrucks, oder Tiefsinn und Schwierigkeit der Gedanken genannt wird; ebensowenig finden sich handgreifliche Widersprüche. Vielmehr begegnen wir da durchweg logisch untadelhaft verbundenen Gedankenreihen, die klar und energisch ausgedrückt sind; hieraus ergibt sich, daß KANT das, was ihm wirklich am Herzen lag, reiflich nach allen Seiten hin erwog, wie auch auf dessen "Vortrag viel Fleiß" verwandte. Wenn daher die modernen Kantianer auf die überlegte und präzise Ausdrucksweise ihres Meisters oft sehr nachdrücklich hinweisen, so muß man ihnen hinsichtlich des überwiegend größeren Teiles der Vernunftkritik durchaus beistimmen, auch anerkennen, daß derselbe, nur als subjektive Leistung betrachtet, sich in die Reihe der Gesamtleistungen des großen Denkers würdig einfügt; nur dar das nicht für die Beurteilung des übrigen Teils in dem Grad präjudizierlich werden, daß man hier mit allen Mitteln den Tatbestand in Abrede stellt oder zu verdunkeln sucht, der für jede unbefangene Auffassung klar zutage liegt, wenn es sich auch gerade um diejenige Partie handelt, welche gegenwärtig fast ausschließlich Gegenstand der Diskussion ist. -

Statt näherer Erklärungen über die positiven Vorzuüge der vielgerühmten Methode KANTs erfährt man meist nur, daß sie nicht die psychologische, sondern die erkenntnistheoretische, jedenfalls aber unter allen möglichen die  beste  Methode sei. Worin sie nun wirklich besteht, das ermittelt man am ersten, wenn man die Ansichten zweier gründlicher Kenner KANTs RIEHLs und STADLERs, miteinander verbindet: RIEHL findet, daß KANT nur die  mögliche  Erfahrung erklären will, und das entspricht vollkommen der ursprünglichen Absicht KANTs, die diesseitige Wirklichkeit und mit ihr die wirkliche Erfahrung aufzuheben; STADLER sagt, KANT habe die "Erfahrung überhaupt" ohne Rücksicht auf ihre speziellen Unterschiede untersucht, dies erscheint insofern begründet, als KANT um die Wahrheit oder Nichtwahrheit der "Erfahrung" sich nicht kümmert, daher keinen Unterschied zwischen der scheinbaren Erfahrung des unmethodischen Verfahrens und der wirklichen Erfahrung der Wissenschaft macht. Aus KANTs eigenen ausführlichen Erklärungen in der transzendentalen Methodenlehre geht hervor, daß er selbst von einer positiven Methode nichts wußte, sondern sich damit begnügte, die Möglichkeit der Glaubensobjekte sicher gestellt zu haben. Welche Gründe ihn zu seiner wiederholten Abweisung der psychologischen Methode geführt haben, ist von WINDELBAND a. a. O. auseinandergesetzt worde; hinsichtlich des Übrigen entscheiden KANTs eigene Angaben.

"Der transzendentalen Methodenlehre erstes Hauptstück, die Disziplin der reinen Vernunft" beginnt mit einer Rechtfertigung der  "negativen  Urteile" gegenüber dem allgemeinen Vorurteil, welches sie als "neidische Feinde unseres unablässig zur Erweiterung strebenden Erkenntnistriebes" von vornherein abweist. Darauf folgt die nachdrückliche Warnung, im dogmatischen Gebrauch der reinen Vernunft sich nicht durch das Beispiel der Mathematik zum Dogmatismus verleiten zu lassen, sodann eine sehr ausführliche Erörterung über den polemischen Gebrauch der reinen Vernunft. Hierunter versteht KANT die Verteidigung ihrer Sätze gegen die dogmatischen Verneinungen derselben; hier kommt es nun nicht darauf an, ob ihre Behauptungen, nicht vielleicht auch falsch sein möchten, sondern nur,
    "daß niemand das Gegenteil jemals mit apodiktischer Gewißheit (ja auch nur mit größerem Schein) behaupten könne. Die zwei Kardinalsätze unserer reinen Vernunft: es ist ein Gott, es ist kein künftiges Leben, werden zwar niemals durch evidente Demonstrationen bewiesen werden können, aber es ist auch apodiktisch gewiß, daß niemals irgendein Mensch auftreten werde, der das  Gegenteil  mit dem mindesten Schein, geschweige dogmatisch behaupten könne."
Für den Gegner (der hier nicht bloß als Kritiker betrachtet werden muß) haben wir unser  non liquet  [es ist nicht klar - wp] in Bereitschaft, welches ihn unfehlbar verwirren muß. Jene durch Kritik der Vernunft selbst allein mögliche  Erkenntnis seiner Unwissenheit ist also Wissenschaft.  Diese macht das Feld frei für Hypothesen;
    "Wo nicht etwa Einbildungskraft  schwärmen,  sondern, unter der strengen Aufsicht der Vernunft,  dichten  soll, so muß immer vorher etwas völlig gewiß und nicht erdichtet oder bloße Meinung sein, und das ist die  Möglichkei t des Gegenstandes selbst."
Für den praktischen Vernunftgebrauch gilt der Satz:  melior est conditio possidentis  [der Besitzer ist zu bevorzugen - wp]; also muß der Gegner beweisen, der "dreist verneinende". In der Verteidigung gegen ihn darf man alles "Mögliche" behaupten, natürlich ohne selbst daran zu glauben; man gibt diese Möglichkeiten wieder auf, sobald man den "dogmatischen Eigendünkel" des Gegners abgefertigt hat. Dies ist das "vernunftgemäße" Verfahren.

Welchen Weg man einschlagen muß, um nicht zum Skeptizismus, sondern zum Kritizismus zu gelangen, hat KANT sehr deutlich angegeben: man hat "nicht die Fakta der Vernunft, sondern die Vernunft selbst, nach ihrem ganzen Vermögen und Tauglichkeit zu reinen Erkenntnissen a priori, der Schätzung zu unterwerfen." Der Skeptizismus wird "niedergeschlagen, indem seine Einwürfe nur auf Faktis, welche zufällig sind, nicht aber auf Prinzipien beruhen." Auf diese Umkehrung des faktischen Verhältnisses zwischen der Gewißheit von Tatsachen und der von Hypothesen genügt es einfach hinzuweisen.

Wie KANT von seiner anfänglich negativen Absicht dazu kam, seine positive Theorie der Erfahrung aufzustellen, läßt sich mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit nachweisen. In der Methodenlehre wie in der Vorrede zur 2. Auflage der Kritik zieht er die Summe seines Kritizismus und erklärt, daß hinsichtlich der höchsten Angelegenheiten aller Menschen die Philosophie nichts entdecken könne, was den gemeinen Verstand übersteigt. Dies ist sogar
    "die beste Bestätigung der Richtigkeit der bisherigen Behauptungen, da es das, was man anfangs nicht vorhersehen konnte, entdeckt, nämlich, daß die Natur in dem, was Menschen ohne Unterschied angelegen ist, keiner parteiischen Austeilung ihrer Gaben zu beschuldigen sei, und die höchste Philosophie in Ansehung der wesentlichen Zwecke der menschlichen Natur, es nicht weiter bringen könne, als die Leitung, welche sie auch dem gemeinsten Verstand hat angedeihen lassen."
Da nun die Vernunftwahrheiten allen Menschen a priori gegeben sind, und "alles Apriori apodiktisch gewiß ist", so ergibt sich für KANT ein Kriterium der Wahrheit, welches dem "quod semper, quod ubique, quod ab omnibus creditum est" [was immer und überall von jedem geglaubt wird - wp], sachlich durchaus gleichkommt - die "Allgemeinheit und Notwendigkeit" des matismus. Der Metaphysik aber fällt die Aufgabe zu, die Vernunftwahrheiten gegen alle "frechen" Anmaßungen zu sichern, und um dies leisten zu können, konstruiert KANT mit freier Verfügung über Psychologie und Erkenntnistheorie eine Doktrin, deren einzelne Elemente ursprünglich nur durch diesen Zweck bestimmt sind und daher zunächst auch nur der Unschädlichmachung des Empirismus und der Beseitigung des Dogmatismus dienen. Als nun aber die positivere Wendung der Prolegomena eintrat, wurde auch der Gebrauch des dem Dogmatismus entlehnten kritizistischen Elementes, der reinen Verstandesbegriffe, ein ganz anderer, ohne daß jedoch der Hauptzweck KANTs dadurch irgendwie zurückgedrängt worden wäre. Vielmehr liegt es nahe, anzunehmen, daß die Rücksicht auf diesen die neue "Theorie der Erfahrung" zum guten Teil mit hervorgerufen habe.

Offenbar hat hier KANT das antizipiert und zu verhüten gesucht, was später oft behauptet worden ist, daß man nämlich mittels der apriorischen Kausalität die  Erfahrung abschließen  könne; da es ihm dem Empirismus HUMEs gegenüber gerade darauf ankam, das Gegenteil darzutun, so benutzt er die Kausalität zum entgegengesetzten Zweck und beweist, daß sie vielmehr jeden Abschluß der Erfahrung verhindere. Vorher aber dient sie ihm dazu, die "reine Naturwissenschaft" zu begründen, Wahrnehmungsurteile in Erfahrungsurteile mit Allgemeinheit und Notwendigkeit zu verwandeln: und dies konnte sie ebendeshalb, weil sie zum  "Unbedingten"  führte, daher als das Epagogikon [das Herbeiführende - wp] der Vernunftwahrheiten selbst wieder zum integrierenden Bestandteil derselben wird, als welchen wir sie im ganzen Dogmatismus ausnahmslos vorfinden. Daher hängt schon in der 1. Auflage "der Synthesis der Ursache und Wirkung eine Dignität an, die man gar nicht empirisch ausdrücken kann, nämlich, daß die Wirkung nicht bloß zur Ursache hinzukomme, sondern  durch  dieselbe gesetzt sei, und  aus  ihr erfolge"; ganz wie im Dogmatismus das Bedingte durch das Unbedingte gesetzt ist und aus ihm erfolgt, nur daß die Dogmatisten dieses Verhältnis nicht als Synthesis, sondern sachlich richtiger als Analysis bezeichneten. Da nun die Kausalität das ungleich Wichtigere leistete, zum Unbedingten zu führen, so konnte KANT ihr auch die für ihn nebensächliche Leistung zumuten, Allgemeinheit und Notwendigkeit durch ihre nichtempirische Dignität zu begründen.
LITERATUR - Carl Göring, Über den Begriff der Erfahrung, Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie, Bd. 1, Leipzig 1877