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JOHANN GOTTFRIED HERDER
Vom Erkennen und Empfinden
der menschlichen Seele


"Was wir wissen, wissen wir nur aus Analogie, von der Kreatur zu uns und von uns zum Schöpfer. Soll ich also dem nicht trauen, der mich in diesen Kreis von Empfindungen und Ähnlichkeit setzte, mit keinen anderen Schlüssel, in das Innere der Dinge einzudringen, gab, als mein Gepräge oder vielmehr das wiederglänzende Bild seines in meinem Geist; wem soll ich denn trauen und glauben?"

"Syllogismen können mich nichts lehren, wo es auf die äußerste Empfängnis der Wahrheit ankommt, die da jene nur entwickeln, nachdem sie empfangen ist; mithin ist das Geschwätz von Worterklärungen und Beweisen meistens nur ein Brettspiel, das auf angenommenen Regeln und Hypothesen ruht."

"Vor einem Abgrund dunkler Empfindungen, Kräfte und Reize graut unserer hellen und klaren Philosophie am meisten: sie segnet sich davor, wie vor der Hölle unterster Seelenkräfte und mag lieber auf  Leibniz'  Schachbrett mit einigen tauben Wörtern und Klassifikationen von dunklen und klaren, deutlichen und verworrenen Ideen spielen. Diese Methode ist so leicht und lieblich, daß man es schon zum Grundsatz erhoben hat, lauter taube Wörter in die Philosophie einzuführen, bei denen man so wenig denken darf, wie der Rechnende bei seinen Zahlen: das wird der Philosophie zur Vollkommenheit der Mathematik verhelfen, daß man immerfort schließen kann, ohne zu denken - eine Philosophie, vor der uns alle Musen bewahren mögen!"


Erster Versuch
Vom Erkennen und Empfinden
in ihrem menschlichen Ursprung
und den Gesetzen ihrer Wirkung

In allem, was wir tote Natur nennen, kennen wir keinen inneren Zustand. Wir sprechen täglich das Wort  Schwere, Stoß, Fall, Bewegung, Ruhe, Kraft sogar  Kraft der Trägheit  aus, und wer weiß, was es, inwendig der Sache selbst, bedeutet?

Je mehr wir jedoch das große Schauspiel wirkender Kräfte in der Natur sinnend ansehen, desto weniger können wir umhin, überall Ähnlichkeit mit uns zu fühlen, alles mit unserer Empfindung zu beleben. Wir sprechen von Wirksamkeit und Ruhe, von eigener oder empfangener, von bleibender oder sich fortpflanzender, toter oder lebendiger Kraft völlig aus unserer Seele. Schwere scheint uns ein Sehnen zum Mittelpunkt, zum Ziel und Ort der Ruhe: Trägheit die kleine Teilruhe auf seinem eigenen Mittelpunkt, durch Zusammenhang mit sich selbst: Bewegung ein fremder Trieb, ein mitgeteiltes fortwirkendes Streben, das die Ruhe überwindet, fremder Dinge Ruhe stört, bis es die Seinige wiederfindet. Welche wunderbare Erscheinung ist die Elastizität? schon eine Art Automat, der sich zwar nicht Bewegung geben, aber wieder herstellen kann: der erste scheinbare Funke zur Tätigkeit in edlen Naturen. Jener griechische Weise, der das System NEWTONs im Traum ahnte, sprach von Liebe und Haß der Körper: der große Magnetismus in der Natur, der anzieht und fortstößt, ist lange als Seele der Welt betrachtet worden. So auch Wärme und Kälte, und die feinste edelste Wärme, der elektrische Strom, diese sonderbare Erscheinung des großen, allgegenwärtigen Lebensgeistes. So das große Geheimnis der Fortbildung, Verjüngung, Verfeinerung aller Wesen, dieser Abgrund von Haß und Liebe, Anziehung und Verwandlung in sich und aus sich: - der empfindende Mensch fühlt sich in Alles, fühlt Alles aus sich heraus, und druckt darauf sein Bild, sein Gepräge. So wurde NEWTON in seinem Weltgebäude wider Willen ein Dichter, wie BUFFON in seiner Kosmogonie, und LEIBNIZ in seiner prästabilierten Harmonie und Monadenlehre. Wie unsere ganze Psychologie aus Bildwörtern besteht, so war es meistens  ein  neues Bild,  eine  Analogie,  ein  auffallendes Gleichnis, das die größten und kühnsten Theorien geboren hat. Die Weltweisen, die gegen die Bildersprache deklamieren, und selbst lauter alten, oft unverstandenen Bildgötzen dienen, sind wenigstens mit sich selbst sehr uneinig. Sie wollen nicht, daß neues Gold geprägt wird, da sie doch nichts tun, als aus eben solchem oft viel schlechterem Gold ewig und ewig dieselben Fäden zu spinnen.

Aber wie? ist in dieser "Analogie zum Menschen" auch Wahrheit? Menschliche Wahrheit gewiß, und von einer höheren habe ich, solange ich Mensch bin, keine Kunde. Mich kümmert die überirdische Abstraktion sehr wenig, die sich aus allem, was "Kreis unseres Denkens und Empfindens" heißt, ich weiß nicht auf welchen Thron der Gottheit setzt, da Wortwelten schafft und über alles Mögliche und Wirkliche richtet. Was wir wissen, wissen wir nur aus Analogie, von der Kreatur zu uns und von uns zum Schöpfer. Soll ich also dem nicht trauen, der mich in diesen Kreis von Empfindungen und Ähnlichkeit setzte, mit keinen anderen Schlüssel, in das Innere der Dinge einzudringen, gab, als mein Gepräge oder vielmehr das wiederglänzende Bild seines in meinem Geist; wem soll ich denn trauen und glauben? Syllogismen können mich nichts lehren, wo es auf die äußerste Empfängnis der Wahrheit ankommt, die da jene nur entwickeln, nachdem sie empfangen ist; mithin ist das Geschwätz von Worterklärungen und Beweisen meistens nur ein Brettspiel, das auf angenommenen Regeln und Hypothesen ruht. Die stille Ähnlichkeit, die ich im Ganzen meiner Schöpfung, meiner Seele und meines Lebens empfinde und ahne: der große Geist, der mich anweht und mir im Kleinen und Großen, in der sichtbaren und unsichtbaren Welt  einen  Gang,  einerlei  Gesetze zeigt: der ist mein Siegel der Wahrheit. Glücklich, wenn es auch diese Schrift auf sich hätte, und stille, züchtige Leser, (weil ich für andere nicht schreibe), eben dieselbe Analogie, das Gefühl von dem  Einen,  der in aller Mannigfaltigkeit herrscht, empfänden! Ich schäme mich nicht, an den Brüsten dieser großen Mutter Natur nur als ein Kind zu saugen, laufe nach Bildern, nach Ähnlichkeiten, nach Gesetzen der Übereinstimmung zu Einem, weil ich kein anderes Spiel meiner denkenden Kräfte (wenn ja gedacht werden muß) kenne, und glaube übrigens, daß HOMER und SOPHOKLES, DANTE, SHAKESPEARE und KLOPSTOCK der Psychologie und Menschenkenntnis mehr Stoff geliefert haben, als selbst die ARISTOTELES und LEIBNIZe aller Völker und Zeiten.


1. Vom Reiz

Leider können wir wohl die Empfindung in ihrem Werden nicht hinabbegleiten, als zu dem sonderbaren Phänomen, das HALLER "Reiz" genannt hat. Das gereizte Faserchen zieht sich zusammen und breitet sich wieder aus; vielleicht ein  Stamen  [Staubgefäß - wp], das erste glimmende Fünklein zur Empfindung, zu dem sich die tote Materie durch viele Gänge und Stufen des Mechanismus und der Organisation hinaufgeläutert hat. - So klein und dunkel dieser Anfang des edlen Vermögens, das wir Empfinden nennen, scheint; so wichtig muß er sein, so viel wird durch ihn ausgerichtet. Ohne Samenkörner ist keine Ernte, kein Gewächs ohne zarte Wurzeln und Staubfäden, und vielleicht wären unsere göttlichsten Kräfte nicht ohne diese Aussaat dunkler Regungen und Reize.

Schon in der tierischen Natur, was für Lasten sind auf die Kraft und Wirksamkeit eines Muskels gebürdet! Wie mehr ziehen diese kleinen dünnen Faserchen, als es nach den Gesetzen des Mechanismus grobe Stricke tun würden! Woher nun diese so höhere Kraft, als vielleicht eben durch Triebfedern des inneren Reizes? Die Natur hat tausend kleine lebendige Stricke in einem tausendfachen Kampf, in ein so vielfaches Berühren und Widerstreben verflochten: sie kürzen und längen sich mit innerer Kraft, nehmen am Spiel des Muskels, jeder auf seine Weise, Teil, dadurch trägt und zieht jener. Hat man je etwas Wunderbareres gesehen als ein schlagendes Herz mit seinem unerschöpflichen Reiz? Ein Abgrund innerer dunkler Kräfte, das wahre Bild der organischen Allmacht, die vielleicht inniger ist, als der Schwung der Sonnen und Erden. - Und nun breitet sich aus diesem unerschöpflichen Brunnen und Abgrund der Reiz durch unser ganzes Ich aus, belebt jede kleine spielende Fiber - alles nach  einartigem  einfachem Gesetz. Wenn wir uns wohl befinden, ist unsere Brust weit, das Herz schlägt gesund, jede Fiber verrichtet ihr Amt im Spiel. Da fährt ein Schrecken auf uns zu; und siehe als erste Bewegung, noch ohne Gedanken von Furcht und Widerstand, tritt unser reizbares Ich auf seinen Mittelpunkt zurück, das Blut zum Herzen, die Fiber, selbst das Haar, starrt empor; gleichsam ein organischer Bote zur Gegenwehr, die Wache steht fertig. Zorn im ersten Anfall, ein zum Widerstand sich regendes Kriegsheer, wir rüttelt er das Herz, treibt das Blut in Grenzen, auf Wangen, in Adern, Flamme in die Augen -

Die Hände streben, sind kräftiger und stärker. Mut hebt die Brust, Lebensodem die wehende Nase, das Geschöpf kennt keine Gefahr. Lauter Phänomene des  Aufregens  unserer Reize beim Schrecken, des gewaltsamen  Fortdrangs  beim Zorn. Hingegen die  Liebe wie sänftigt sie und mildert! Das Herz wallt, aber nicht zu zerstören, das Feuer fließt, aber nur, daß es hinüber wallt und seine sanfte Glut verhaucht. Das Geschöpf sucht Vereinigung, Auflösung, Zerschmelzung: der Fibernbau weitet sich, ist wie im Umfassen eines Andern und kommt nur dann wieder, wenn sich das hinüberwallende Geschöpf wieder allein, ein abgetrenntes isoliertes Eins, fühlt. Noch also in den verflochtensten Empfindungen und Leidenschaften unserer so zusammengesetzten Maschine wird das  eine  Gesetz sichtbar, das die kleine Fiber mit ihrem glimmenden Fünklein von Reiz regte, nämlich:  Schmerz Berührung eines Fremden zieht zusammen: da sammelt sich die Kraft, vermehrt sich zum Widerstand und stellt sich wieder her. Wohlsein und liebliche Wärme breitet sich aus, macht Ruhe, sanften Genuß und Auflösung. Was in der toten Natur Ausbreitung und Zurückziehung, Wärme und Kälte ist: das scheinen hier diese dunklen  Stamina  des Reizes zur Empfindung: eine Ebbe und Flut, in der sich, wie das Weltall, so die ganze empfindende Natur der Menschen, Tiere, und wo sie sich weiter hinab erstreckt, bewegt und regt.

Wie zu allem gehört auch hierzu  Modulation, Maß,  sanfte  Mischung  und  Fortschreitung.  Furcht und Freude, Schrecken und Zorn - was plötzlich wie ein Blitzstrahl triff, kann auch wie ein Blitzstrahl töten. Die Fiber (mechanisch zu reden) die sich ausbreitete, kann nicht zurück; die sich zurückzog, kann sich nicht wieder verlängern: Todesschlag hemmte ihr Spiel. Jeder treffende Affekt, selbst die sanfte Scham, kann plötzlich töten.

Sanfte Empfindungen sinf freilich nicht so gewaltsam, aber ununterbrochen zerstören sie gleichfalls. Sie ermatten, machen stumpf und kraftlos. So mancher  Sybarit  [Bewohner von Sybaris, bekannt für Luxus und Völlerei - wp] ist unter Kitzeln und Rosendüften, gewiß nicht eines sanften Todes, bei lebendigem Leib verblichen.

Sind wir ganz ohne Reiz; - grausame Krankheit, sie heißt Wüste, Langeweile, Kloster. Die Faser zehrt gleichsam an sich selbst, der Rost frißt das müßige Schwert. Daher jener verhaltene Haß, der nicht Zorn werden kann, der elende Neid, der nicht Tat werden kann, Reue, Traurigkeit, Verzweiflung, die weder zurückrufen noch bessern - grausame Schlangen, die am Herzen des Menschen nagen. Stille Wut, Ekel, Verdruß mit Ohnmacht, ist der Höllenwolf, der an sich selbst frißt.

Zum Empfangen und Geben ist der Mensch geschaffen, zu Wirksamkeit und Freude, zum Tun und Leiden. Im Wohlsein saugt sein Körper und duftet, empfängt leicht und wird ihm leicht zu geben: die Natur tut ihm, er der Natur sanfte Gewalt an. In dieser Anziehung und Ausbreitung, Tätigkeit und Ruhe liegt Gesundheit und Glück des Lebens. Ich bin auf die Preisfrage begierig: "Was das Atemholen eigentlich für Wirkungen im lebendigen Körper hervorbringt?" Zu meinem Zweck betrachte ich es hier nur ebenmäßig als den harmonischen Takt, mit dem die Natur unsere Maschine schweingen und mit Lebensgeist anhauchen wollte. So ist sie, bis auf die feinsten Werkezeuge der Empfindungen und Gedanken in ewiger Anstrengung und Erholung, alles arbeitet, wie jene Steine, zur Leier AMPHIONs. Durchs Atemholen wird das Kind, das Pflanze gewesen war, Tier. Bei einem Kranken, bei einem Ächzenden, wie gibt das Atemholen Mut, wogegen jeder Seufzer gleichsam Kräfte verhaucht. "Lob sei dem Allmächtigen," sagt der persische Dichter SADI, "für jeden Lebensatem. Ein Atem, den man in sich zeugt, stärkt, ein Atem, den man von sich läßt, erfreut das Leben: in jedem Atemzug sind zweierlei Gnaden." - Wie jede Pulsader schlägt, wie nur durch Zusammenziehung das Herz Kraft bekommt, den Lebensstrom, ausbreitend, fortzuschießen; so muß auch von außen der Lufthauch kommen, es in Modulationen erquicken und zu beleben. Alles scheint nach einerlei Gesetzen geordnet. - Doch, ich würde nicht fertig werden, dieses große Phänomen von Wirkung und Ruhe, Zusammenziehung und Ausbreitung durch alle seine Wege zu verfolgen; laßt uns weiter eilen.

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Ein mechanisches oder übermechanisches Spiel von Ausbreiten und Zusammenziehen sagt weniger oder nichts, wenn nicht von innen und außen schon die Ursache desselben vorausgesetzt würde,  "Reiz, Leben".  Der Schöpfer muß ein geistiges Band geknüpft haben, daß gewisse Dinge diesem empfindenden Teil ähnlich, andere widrig sind; ein Band, das von keiner Mechanik abhängt, das sich nicht weiter erklären läßt, jedoch geglaubt werden muß, weil es  da  ist, weil es sich in hunderttausend Erscheinungen  zeigt.  Siehe jene Pflanze, den schönen Bau organischer Fibern! Wie kehrt, wie wendet sie ihre Blätter, den Tau zu trinken, der sie erquickt! Sie senkt und dreht ihre Wurzel, bis sie steht: jede Staude, jedes Bäumchen beugt sich nach frischer Luft, so viel es kann: die Blume öffnet sich der Ankunft ihres Bräutigams, der Sonne. Wie fliehen manche Wurzeln unter der Erde ihren Feind, wie spähen und suchen sie sich Raum und Nahrung! Wie wunderbar emsig läutert eine Pflanze fremden Saft zu Teilen ihres feineren Selbst, wächst, liebt, gibt und empfängt Samen auf den Fittichen des Zephirs, treibt lebende Abdrücke von sich, Blätter, Keime, Blüten, Früchte; jedoch sie altert, verliert allmählich ihre Reize zu empfangen und ihre Kraft, erneut zu geben, stirbt - ein wahres Wunder von der Macht des Lebens und seiner Wirkung in einem organischen Pflanzenkörper.

Durchschauten wir den unendlich feineren und verflochteneren Tierkörper, würden wir nicht ebenfalls jede Fiber, jeden Muskel, jeden reizbaren Teil in demselben Amt, und in derselben Kraft finden, sich Saft des Lebens zu suchen nach seiner Weise? Blut und Milchsaft, werden sie nicht von allen Fasern und Drüsen beraubt? jede sucht, was ihr nottut, gewiß nicht ohne entsprechende innere Befriediung. Hunger und Durst in der ganzen Maschinerie eines tierischen Körpers - welche mächtigen Stacheln und Triebe! und warum sind sie so mächtig? Weil sie ein Aggregat sind all der dunklen Wünsche, der verlangenden Sehnsucht, mit der jeder kleine Lebensbusch unseres Körpers nach Befriedigung und Erhaltung seiner dürstet. Es ist die Stimme des Meers von Wellen, deren Schall sich dunkler und lauter ineinander verliert: ein nach Saft und Leben dürstender Blumengarten. Jede Blume will ihr Werk treiben, empfangen, genießen, fortläutern [sich entwickeln - wp], geben. Das Kraut zehrt Wasser und Erde und läutert sie zu Teilen von sich hinauf: das Tier macht unedlere Kräuter zu edlerem Tiersaft: der Mensch verwandelt Kräuter und Tiere in organische Teile seines Lebens, bringt sie in die Bearbeitung höherer, feinerer Reize. So läutert sich alles hinauf: höheres Leben muß von geringerem, durch Aufopferung und Zerstörung werden.

Schließlich der tiefste Reiz, so wie der mächtigste: Hunger und Durst, die Liebe! Daß sich zwei Wesen paaren, sich in ihrem Bedürfnis und Verlangen Eins fühlen; daß ihre gemeinschaftliche Regung, der ganze Bronn organischer Kräfte wechselseitig Eins ist und ein Drittes wird in beider Bild - welche Wirkung des Reizes im ganzen lebenden Ich animalischer Wesen! Tiere haben sich noch ohne Haupt begatten können, wie ein ausgerissenes Herz noch lange reizbar fortschlägt. Der Abgrund aller organischen Reize und Kräfte scheint im wechselseitigen Überstrom: der Funke der Schöpfung zündet und es wird ein neues Ich, die Triebfeder neuer Empfindungen und Reize, ein Drittes Herz schlägt.

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Man hat "über den Ursprung der Menschenseelen" so sonderbar mechanische Träume gehabt, als ob sie wahrlich von Leim und Kot gemacht wären. Sie lagen geformt im Mond, im Limbus und warteten, ohne Zweifel nackt und kalt, auf ihre prästabilierten Scheiden, oder Uhren, oder Kleider, die noch ungebildeten Leiber; nun ist Gehäuse, Kleid, Uhr fertig und der arme, so lang müßige Einwohner, wird mechanisch hinzugeführt, daß er - bei Leibe! nicht in sie wirkt, sondern nur mit ihr prästabiliert harmonisch, Gedanken aus sich spinnt, wie er sie auch dort im Limbus spann, und sie, die Uhr des Körpers, ihm gleich schlägt. Es ist wohl über die unnatürliche Dürftigkeit des Systems nichts zu sagen; aber, was dazu Anlaß geben kann, gibt mir schwer zu denken. Ist Kraft da in der Natur, die aus zwei Körpern, bloß durch organischen Reiz, einen dritten bildet, der die ganze geistige Natur seiner Eltern hat, wie wir es an jeder Blume und Pflanze sehen: ist Kraft da in der Natur, daß zwei reizbare Fibern, auf gewisse Weise verflochten, einen Reiz geben, der aus  einer  nicht entstehen konnte und jetzt von neuer Art ist, wie uns, dünkt mich, jeder Sinn, ja jeder Muskel analogisch zeigt; ist schließlich Kraft da, aus zwei Körpern, die uns tot dünken, aus der Vermischung zweier Elemente, wenns die Natur tut, einen Dritten darzustellen, der den vorigen ähnliche, aber ein neues Ding ist und durch Kunst in jene aufgelöst, all seine Kraft verliert; ist dies alles, so unbegreiflich es sein mag, da und nicht zu leugnen; wer ist nun, der den Gang der Analogie, den großen Gang der Schöpfung mit seinem Federmesserchen hier plötzlich abschneidet und sagt, daß der eröffnete Abgrund des Reizes zweier durch und durch organischer, lebenden Wesen, ohne den ja beide nichts als tote Erdklumpen wären, jetzt in größter Innigkeit des Fortstrebens und der Vereinigung, keinen Abdruck von sich darstellen kann, in dem alle seine Kräfte leben. Hat das Herz Macht, Empfindungen, die um dasselbe gelagert sind, so zu einen, daß  ein  Trieb,  eine  Begierde wird: hat der Kopf Macht, Empfindungen, die den Körper durchwallen, in  eine  Vorstellung zu fassen, und jene durch diese, die so anderer Natur scheint, zu lenken; wie, daß nicht aus der Flamme aller vereinigten Reize und Leben  ein  Lebensfunke, gleichsam im schnellen Flug und also über den kriechend langsamen Gang mechanischer Stock- und Triebwerke weit hinaus, zu einer neuen höheren Stufe seiner Läuterung wallt, und als Abguß aller Kräfte zweier für einander geschaffener Wesen, erstes Prinzipium eines Lebens höherer Ordnung wird? Keimt nicht alles Leben weiter? läutert sich nicht jeder Funke der Schöpfung durch Kanäle zu feinerer Flamme hinauf? und hier sprang ja der beseelteste Funke des Reizes und der Schöpfungskraft zweier durch und durch beseelter Wesen.

Ich sage nicht, daß ich hiermit etwas erkläre; ich habe noch keine Philosophie gekannt, die, was Kraft ist, erklärt, es regt sich Kraft in einem oder in zwei Wesen. Was Philosophie tut, ist bemerken, untereinander ordnen, erläutern, nachdem sie Kraft, Reiz, Wirkung schon immer voraussetzt. Nun begreife ich nicht, warum man, wenn sich in jedem Einzelnen nichts erklären läßt, die Wirkung des Einen ins Andere leugnen und Erscheinungen der Natur in der Vereinigung Zweier Hohn sprechen müßte, die man bei jedem Einzelnen unerklärt annimmt. Wer mir sagt, was Kraft in der Seele ist und wie sie in ihr wirkt, dem will ich gleich erklären, wie sie außer sich, auch auf andere Seelen, auch auf Körper wirkt, die vielleicht nicht in der Natur durch solche Bretterwände von der Seele (psyche) geschieden sind, als sie die Klammern unserer Metaphysik scheiden. Überhaupt ist in der Natur nichts geschieden, alles fließt durch unmerkliche Übergänge auf- und ineinander; und gewiß, was Leben in der Schöpfung ist, ist in allen Gestalten, Formen und Kanälen nur  ein  Geist,  eine  Flamme.

Ganz besonders dünkt mir, hätte dem großen Erfinder des Monadenpoems das System prästabilierter Harmonie fremd sein dürfen, den mir scheint es, beide bestehen nicht wohl beeinander. Niemand sagte es besser, als LEIBNIZ, daß Körper, als solche, nur Phänomene von Substanzen sind, wie die Milchstraße von Sternen und die Wolke von Tropfen. Selbst die Bewegung suchte LEIBNIZ ja, als Erscheinung eines inneren Zustandes zu erklären, den wir nicht kennen, der aber Vorstellung sein könnte, weil uns sonst kein innerer Zustand bekannt ist. Wie, und auf diesen inneren Zustand der Kräfte und Substanzen ihres Körpers könnte die Seele, als solche, nicht wirken? sie, die ja von der Natur jener und selbst innigste wirkende Kraft ist. Sie herrschte also nur im Gebiet ihrer Schwestern, lauter ihr ähnlichen Wesen; und könnte sie da nicht herrschen?

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Doch es ist zu früh, einzelnen Folgerungen Raum zu geben: wir bleiben noch bei Erscheinungen der ganzen Maschine. Der innere Mensch mit all seinen dunklen Kräften, Reizen und Trieben ist nur  einer.  Alle Leidenschaften, ums Herz gelagert, und mancherlei Werkzeuge regend, hängen durch unsichtbre Bande zusammen und schlagen Wurzel im feinsten Bau unserer beseelten Fibern. Jedes Faserchen, wenn wir es einehen könnten, gehört ohne Zweifel mit dazu, jedes engere und weitere Gefäß, jede stärker und schwächer wallende Blutkugel. Der Mut des Löwen, wie die Furchtsamkeit des Hasen, liegt in seinem beseelten inneren Bau. Durch die engeren Pulsadern des Löwen dringt das wärmere Blut mit Gewalt dahin: der Hirsch hat ein Herz mit weiten, offenen Gefäßen, ein scheuer König des Waldes, trotz seiner Krone. Zur Zeit der Brunst ist jedoch auch der scheue Hirsch kühn; es ist die Zeit seiner erregten Reize und vermehrten inneren Wärme.

Im Abgrund des Reizes uns solcher dunkler Kräfte liegt in Menschen und Tieren der Same zu aller Leidenschaft und Unternehmung. Ein mehr oder minderer Reiz des Herzens und seiner Diener macht Helden oder Feige, Helden in der Liebe oder im Zorn. Das Herz des ACHILLES wurde in seinen Netzen vom schwarzen Zorn gerüttelt, es gehörte die Reizbarkeit dazu, ein ACHILLES zu werden. Der satte Löwe hat seinen Mut verloren, ein Weib kann ihn jagen; ein hungriger Wolf aber, Geier, Löwe - wie mächtige Geschöpfe!

Die Tapfersten waren meistens die fröhlichsten Menschen, Männer von offener, weiter Brust: oft Helden in der Liebe, wie im Leben. Ein Verschnittener ist wie an Stimme so an Handlung ein stehen gebliebener Jüngling ohne Kraft und tiefen Ausdruck. - Die Innigkeit, Tiefe und Ausbreitung mit der wir Leidenschaft empfangen, verarbeiten und fortpflanzen, macht uns zu den flachen oder tiefen Gefäßen, die wir sind. Oft liegen unter dem Zwerchfell Ursachen, die wir sehr unrichtig und mühsam im Kopf suchen, die wir sehr unrichtig und mühsam im Kopf suchen; der Gedanke kann dahin nicht kommen, wenn nicht die Empfindung vorher an ihrem Ort war. Wie fern wir an dem, was uns umgibt, teilnehmen, wie tief Liebe und Haß, Ekel und Abscheu, Verdruß und Wollust ihre Wurzeln in uns schlagen; das stimmt das Saitenspiel unserer Gedanken, das macht uns zu den Menschen, die wir sind.

Vor einem solchen Abgrund dunkler Empfindungen, Kräfte und Reize graut nun unserer hellen und klaren Philosophie am meisten: sie segnet sich davor, wie vor der Hölle unterster Seelenkräfte und mag lieber auf LEIBNIZ' Schachbrett mit einigen tauben Wörtern und Klassifikationen von dunklen und klaren, deutlichen und verworrenen Ideen, vom Erkennen in und außer sich, mit sich und ohne sich selbst und dgl. spielen. Diese Methode ist so leicht und lieblich, daß man es schon zum Grundsatz erhoben hat, lauter taube Wörter in die Philosophie einzuführen, bei denen man so wenig denken darf, wie der Rechnende bei seinen Zahlen: das wird der Philosophie zur Vollkommenheit der Mathematik verhelfen, daß man immerfort schließen kann, ohne zu denken - eine Philosophie, vor uns alle Musen bewahren mögen! Was machts eben, daß auch die gute wahre Philosophie so tief herunter gekommen ist, als, weil man bei ihr durch ganze Kapitel und Lehren über lauter Allgemeinworte nichts gedacht hat? Notwenndig wirft eine solche jeder gesunde Kopf beiseite und spricht: "Ich will bei jedem Wort etwas Bestimmtes zu denken haben, auch an jeder neuen Stelle, wo es nur vorkommt." Und wie mangelhaft sind unsere metaphysischen Begriffe und Wörter! Welche Sorgsamkeit hat man also nötig, jeden Augenblick den Begriff festzuhalten, genau zuzusehen, ob es noch in diesem Fall derselbe oder nur noch sein leeres Phantom ist? Meines geringen Erachtens ist keine Psychologie, die nicht in jedem Schritt eine bestimmte Physiologie ist, möglich. HALLERs physiologisches Werk zur Psychologie erhoben und wie  Pygmalions  Statur mit Geist belebt - so können wir nun etwas über das Denken und Empfinden sagen.

Drei Wege weiß ich nur, die hierzu führen mögen. Lebensbeschreibungen: Bemerkungen der Ärzte und Freunde: Weissagungen der Dichter - sie allein können uns Stoff zu wahren Seelenlehre schaffen. Lebensbeschreibungen, am meisten von sich selbst, wenn sie treu und scharfsinnig sind, welche tiefe Besonderheiten würden sie liefern! Sind keine zwei Dinge auf der Welt gleich, hat kein Zergliederer noch je zwei gleiche Adern, Drüsen, Muskeln und Kanäle gefunden; man verfolge diese Verschiedenheit durch ein ganzes Menschengebäude, bis zu jedem kleinen Rad, jedem Reiz und Duft des geistigen Lebensstroms - welche Unendlichkeit, welcher Abgrund! Ein Meer von Tiefen, wo Welle über Welle sich regen, und wo alle Abstraktionen von Ähnlichkeit, Klasse, allgemeiner Ordnung nur bretterne Wände des Bedürfnisses oder bunte Kartenhäuser zum Spiel sind.

Hätte ein einzelner Mensch nun die Aufrichtigkeit und Treue, sich selbst zu zeichnen, ganz, wie er sich kennt und fühlt: hätte er Mut genug, in den tiefen Abgrund platonischer Erinnerung hineinzuschauen, und sich nichts zu verschweigen: Mut genug, sich durch seinen ganzen belebten Bau, durch sein ganzes Leben zu verfolgen, mit allem, was ihm jeder Zeigefinger auf sein inneres Ich zuwinkt; welche lebendige Physiognomik würde daraus werden, ohne Zweifel tiefer, als aus dem Umriß von Stirn und Nase. Kein Teil, glaube ich, kein Glied wäre ohne Beitrag und Deutung. Er würde uns sagen können: "Hier schlägt das Herz matt: hier ist die Brust platt und ungewölbt: dort der Arm kraftlos: hier keucht die Lunge, dort dumpft der Geruch: hier fehlt lebendiger Atem, Gesicht, Ohr dämmert - der Körper diktiert mir hier schwach und verworren; so muß also auch hie und da meine Seele schreiben. Das fehlt mir; da ich jenes, und aus solchem Grund habe." - Verfolgte der treue Geschichtsschreibe sein selbst sodann durch alle Folgen, zeigte, daß kein Mangel und keine Kraft an  einem  Ort bleibt, sondern fortwirkt, und daß die Seele nach solchen gegebenen Formeln unvermutet fortschließt: zeigte, wie jede Schiefheit und Kälte, jede falsche Kombination und fehlende Regung notwendig immer vorkommen und in jeder Wirkung man den Abdruck seines ganzen Ich mit Kraft und Mangel liefern muß - welche lehrenden Exempel wären Beschreibungen von der Art! Das werden philosophische Zeiten sein, wenn man solche schreibt; nicht, da man sich und alle Menschengeschichte in allgemeine Formeln und Wortnebel einhüllt. Wenn der Stoiker LIPSIUS und andere seines Gelichters sich also hätten zeichnen wollen, wie anders erschienen sie, als sie aus den dämmernden Wortproduktionen ihres oberen Stockwerks jetzt erscheinen!

Wir sind keine Lebensbeschreibungen einzelner Menschen von sich selbst bekannt, die nicht immer, so einseitig und flach manchmal ihr Gesichtspunkt war, viel Merkwürdiges gehabt hätten. Außer dem, was AUGUSTIN, PETRARCA, MONTAIGNE in ihre Schriften von sich selbst eingestreut haben, will ich nur CARDAN und einen weichen Selbstmärtyrer (1) nennen, bei dessen äußerster Schwäche, ewigem Hin- und Wegbeben vom Selbstmord man schaudert. Einige sonderbare Phänomene, wie ein Geschöpf so blindlings in die Gefahr rennen oder so geschwind, furchtsam und feige ewig vor seinem Schatten fliehen kann, haben nicht grausamer erörtert werden können, als aus dem weichen Mark seiner eigenen Empfindung. Es ist sonderbar, wie eine eigenen Lebensbeschreibung den ganzen Mann auch von Seiten zeigt, von denen er sich eben nicht zeigen will, und man sieht aus Fällen der Art, daß alles in der Natur ein Ganzes ist, daß man sich, gerade eben in dunklen Anzeigungen und Proben, vor sich selbst am wenigsten verleugnen kann.

Da wir jedoch noch lange auf Lebensbeschreibungen der Art werden warten müssen, und es vielleicht nicht einmal gut und nützlich wäre, das tiefste Heiligtum in uns, das nur Gott und wir kennen sollen, jedem Toren zu verraten; so treten Fremde an unsere Stelle, und was bei Kranken der Arzt ist, sollte bei merkwürdigen Personen ihr Freund werden. Daß unter den vielen Bemerkungen der Ärzte alter und neuer Zeiten nicht auch eine Menge sein müßte, die diese dunklen Reize und Kräfte ins Licht setzen, ist gar kein Zweifel; die verflochtenste Pathologie der Seele und der Leidenschaften hängt von ihnen und nicht von der Spekulation ab; aber meines Wissens sind sie ungeordnet, ungesammelt, und nicht jeder hat dazu Lust oder Muße. Mit ihnen kämen gewiß die sonderbarsten Anomalien und Analogien menschlicher Abenteuerlichkeit zum Vorschein und der Vorsteher eines Toll- und Siechhauses gäbe die frappantesten Beiträge zur Geschichte der Genies aller Zeiten und Länder. - Wenn ich die Freunde zu den Ärzten zähle, tue ich nicht Unrecht. Sie haben eben die Absicht, die jene haben, dazu noch in den Umständen mehrerer Vertraulichkeit und Handlung. Es ist unbegreiflich, was oft  eine  menschliche Seele in die andere für eine dunkle Wirkung, Ahnung und Zug hat, wie mans oft an den sonderbarsten Proben einstimmiger Gemüter, Lüste und Kräfte sieht. Sympathie und Liebe, Wollust und Ehrgeiz, Neid und Eifersucht enträtseln durch Blicke, durch geheime Winke, was unter sieben Decken hinter der Brust verborgen liegt, wittern gleichsam, aus lauter kleinen sichtbaren Anzeigen, das tief verborgene Geheimnis. - Dies sind kleine verzerrte Proben von dem, was eine reine menschliche Seele mit Fleiß, Liebe und Wartung über den andern und wie weit sie in ihn hinein zu dringen vermag! - eine Tiefe, von der man noch bisher weder Grund hat, noch zum Grund zu kokmmen ein Senkblei weiß. Der reinste Mensch auf Erden kannte sie alle, bedurfte keines Zeugnisses von außen; denn er wußte wohl, was im Menschen war, und es wird dem Menschengeist in einer besonders herrlichen Analogie mit dem Geist der Gottheit zugeschrieben, daß nur der Geist des Menschen, was im Menschen ist, weiß, gleichsam auf sich selbst ruht und in seinen Tiefen forscht.

Wenn niemand anders, so haben dies die Weissagungen und geheimen Ahnungen der Dichter bewiesen. Ein Charakter, von SHAKESPEARE geschaffen, geführt, gehalten, ist oft ein ganzes Menschenleben in seinen verborgenen Quellen: ohne daß er es weiß, malt er die Leidenschaft bis auf die tiefsten Abgründe und Fasern, aus denen sie sproß. Wenn neulich jemand behauptet hat, daß SHAKESPEARE kein Physiognomist sei aus dem Profil der Nase, so gebe ich es ihm gerne zu, denn zu einem Detail dieser Art hat er wenig Zeit, außer wo es, wie bei  Richard III.  die offenbarste Not fordert; aber daß er kein Physiologe ist, mit allem, wie sich Physiologie auch von außen zeigt, das müßte niemand sagen, der  Hamlet  und  Lear, Ophelia  oder  Othello  nur im Traum gesehen hätte: unvermerkt malt er HAMLET bis auf seine Haare. Da alles Äußere nur Abglanz der inneren Seele ist: wie tief ist nicht der barbarische gothische SHAKESPEARE durch Erdlagen und Erdschichten überall zu den Grundzügen gekommen, aus denen ein Mensch wächst, so wie KLOPSTOCK zu den geheimsten Wellen und Schwingungen einer reinen himmlischen Seele! Das Studium der Dichter zu diesem Zweck haben meistens nur die Engländer (versteht sich, nur an ihren Dichtern: denn was wird ein Engländer außer England Gutes finden?) versucht; uns Deutschen ist, statt unnützer Lobreden und kindischer Rezensionen, hier noch ein großes Feld von Zeiten und Völkern übrig.

Und bis dahin, daß dies drei Aufgaben erschöpft sind, mag die Antwort aufgeschoben werden, "unter welchen Bedingungen etwas reizt?" Ich könnte in tauben und unsteten Ausdrücken zehn Formeln zur Auflösung geben, sagen: daß uns etwas reizt, wenn wir nicht umhin können, daß es uns nicht reizt, wenn der Gegenstand uns so nah liegt, daß er sich an uns reibt, und uns regt. Oder ich könnte sagen: er reizt, wenn er uns so ähnlich, so analog ist - aber was hieße dies alles? Im Grunde immer nur: er reizt, wenn er reizt, und das glaubt ein jeder. Es muß auch geglaubt, d. h. erfahren, empfunden werden, und flieht jede allgemeine Wortkrämerei und abstraktes Vorhersehen. Wenn ein Gegenstand, von dem wir nicht träumten, nichts hofften, sich plötzlich so nahe unsere Ich zeigt, daß, wie der Wind die Grasspitzen, der Magnet den Feilstaub regt, ihm die geheimsten Triebe unseres Herzens willig folgen: - was ist da zu grübeln, zu argumentieren? es ist neue Erfahrung, die wohl aus dem System der besten Welt folgen mag, aber nicht eben aus unserem System jetzt folgt. Es ist ein neuer weissagender Trieb, der uns Genu zusagt, dunkel ihn ahnen läßt, Raum und Zeit überspringt, und uns einen Vorgeschmack gibt in die Zukunft. Vielleicht ist es so mit dem Instinkt der Tiere. Sie sind wie Saiten, die ein gewisser Klang des Weltalls regt, auf denen der Weltgeist mit einem seiner Finger spielt. Sie hängen mit dem Element, mit dem Geschöpf, mit den Jungen, mit der unbekannten Weltgegend zusammen, wohin sie eilen: unsichtbare Bande ziehen sie dahin, sie mögen dahin kommen, oder nicht, es mag ein Ei sein oder Kreide, worauf die Henne brütet. Die Seiten der Schöpfung sind so vielartig, und da jede Seite sollte gefühlt, geahnt, empfunden werden, so mußten die Instinkte, Reize und Wurzeln der Empfindung so mancherlei sein, daß sie oft kein anderes Wesen, als sie selbst empfand, begreift oder ahnt.

Trefflich auch, daß die tiefste Tiefe unserer Seele mit Nacht bedeckt ist! Unsere arme Denkerin war gewiß nicht imstande, jeden Reiz, das Samenkorn jeglicher Empfindung, in seinen ersten Bestandteilen zu fassen: sie war nicht imstande, ein rauschendes Weltmeer so dunkler Wogen laut zu hören, ohne daß sie es mit Schauer und Angst, mit der Vorsorge aller Furcht und Kleinmütigkeit umfängt und das Steuer ihrer Hand entfiele. Die mütterliche Natur entfernte also von ihr, was von ihrem klaren Bewußtsein nicht abhängen konnte, wog jeden Eindruck ab, den sie davon bekam und sparte jeden Kanal aus, der zu ihr führte. Nun trennt sie nicht Wurzeln, sondern genießt Blüte. Düfte wehen ihr aus dunklen Büschen zu, die sie nicht pflanzte, nicht erzog: sie steht auf einem Abgrund von Unendlichkeit und weiß nicht, daß sie darauf steht; durch diese glückliche Unwissenheit steht sie fest und sicher. Nicht minder gut für die dunklen Kräfte und Reize, die auf einem so subalternen Standort mitwirken müssen: sie wissen nicht wozu? können und sollen es nicht wissen: der Grad ihrer Dunkelheit ist Güte und Weisheit. Ein Erdklos, durchhaucht vom Lebensatem des Schöpfers, ist unser Leimgebäude.


2. Sinne

Unterlag unsere Seele dem Meer kommender Wellen von Reiz und Gefühl von außen: so ga uns die Gottheit Sinne; von innen, so webte sie uns ein Nervengebäude.

Der Nerv beweist sich, war dort von den Fibern des Reizes allgemein gesagt wurde, er zieht sich zusammen oder tritt hervor nach Art des Gegenstandes, der zu ihm gelangt. Jetzt wallt er entgegen, und die Spitzen seiner äußersten Büsche richten sich empor. Die Zunge schmeck zum voraus: die Geruchbüschlein tun sich auf, dem kommenden Duft: selbst Ohr und Auge öffnen sich dem Schall und dem Licht und insbesondere bei den gröberen Sinnen eilen die Lebensgeister mit Macht dazu, ihren neuen Gast zu empfangen. - Gegenteils, wo Schmerz naht, fleucht der Nerv und graust. Wir schauern zusammen bei einem äußerst disharmonischen Schall: unsere Zunge widert bei üblem Geschmack, wie der Geruch bei widrigem Duft. Das Ohr, sagt der Lateiner, entsetzt sich zu hören, das Auge zu sehen; könnte sie, so schlösse sich die Gefühlsknospe, wie die Blume dem kalten Abendhauch. Grausen, Schauer, Erbrechen, beim Geruch das Niesen, sind lauter solche Phänomene des Zurücktritts, des Widerstandes, der Stemmung, als ein sanftes Hinwallen und Zerschmelzen bei angenehmen Gegenständen Übergang und Übergabe zeigt. Im Grunde sind es also noch jene Gesetze und Phänomene, die wir bei jeder Reizesfiber bemerkten, und daß auch noch bei den geistigen Empfindungen des Schönen und Erhabenen nämlich mit einem Zurücktritt auf sich, mit Selbstgefühl, und jede Empfindung des Schönen mit Hinwallen aus sich, mit Mitgefühl und Mitteilung verbunden ist, hat der vortreffliche Verfasser einer sehr bekannten Abhandlung (2) gut ausgeführt - eine Theorie, über die ich ihn, obgleich sie unter edlen Geschäften und Gesinnungen nur Spiel, nur Erholung für ihn war, fast beneide.

Vielleicht wird mir bald günstige Muße, Aufsätze zu sammeln, die ich über die Empfindungsart einiger einzelner Sinne hingeworfen habe; hier geht mein Zweck nur auf das Allgemeine. Und bemerke, was ich dort beim Reiz und seinem Gegenstand sagte, daß auch hier bei den Sinnen ein Medium, ein gewisses geistiges Band stattfindet, ohne welches der Sinn weder zum Gegenstand, noch der Gegenstand zum Sinn innig gelangen könnte, dem wir also bei allen sinnlichen Kenntnissen trauen, glauben müssen. Ohne Licht wäre unser Auge und unsere sehende Seelenkraft müßig, ohne Schall das Ohr leer: es mußte also ein eigenes Meer geschaffen werden, das in beide Sinne fließt und die Gegenstände in dieselbe bringt; oder mit anderen Worten, "daß so viel von den Geschöpfen abreißt, wie diese Pforte empfangen kann, alles übrige, ihren ganzen unendlichen Abgrund, ihnen aber läßt." Wunderbares Organ des Wesens, in dem alles lebt und empfindet! Der Lichtstrahl ist sein Wink, sein Finger oder Stab in unsere Seele: Schall ist sein Hauch, das wunderbare Wort seiner Geschöpfe und Diener.

Wie mächtig hat der Schöpfer hiermit seine Welt für uns geweitet! Alle groben Sinne, Fasern und Reize können nur  in sich  empfinden, der Gegenstand muß hinzu kommen, sie berühren und mit ihnen gewissermaßen selbst Eins werden. Hier wird schon dem Erkennen außer uns ein Weg gebahnt. (3) Unser Ohr hört über Meilen hin: der Lichtstrahl wird Stab, mit dem wir bis zum Sirius hinaufreichen. Unmittelbar vor meinem Auge hat das große Auge der Welt ein allgemeines Organ ausgebreitet, das tausend Geschöpfe in mich bringt, das tausend Wesen mit einem Kleid für mich bekleidet. Um mein Ohr fließt ein Meer von Wellen, das seine Hand ausgoß, damit eine Welt von Gegenständen in mich dringt, die mir sonst ewig ein dunkles stilles Totengrab bleiben müßte. Da gebraucht mein Sinn all die Kunstgriffe und Feinheiten, die ein Bliner mit dem Stab gebraucht, zu tasten, zu fühlen, Entfernung, Verschiedenheit, Maß zu lernen, und am Ende wissen wir ohne dieses Medium nichts, ihm müssen wir glauben. Betrügt mich der Schall, das Licht, der Duft, die Würze; ist mein Sinn falsch, oder habe ich ihn nur falsch zu brauchen mich gewöhnt, so bin ich mit all meiner Kenntnis und Spekulation verloren. Auch kann der Gegenstand für tausend andere Sinne in tausend anderen Medien ganz etwas anderes, vollends in sich selbst ein Abgrund sein, von dem ich nicht wittere und ahne; für mich ist er nur das, was mir der Sinn und sein Medium, jenes die Pforte, dies der Zeigefinger der Gottheit für unsere Seele, dargibt. Innig wissen wir außer uns nichts; ohne Sinne wäre uns das Weltgebäude ein zusammengeflochtener Knäuel dunkler Reize: der Schöpfer mußte scheiden, trennen, für und in uns buchstabieren.

Nun muß ich nochmals bemerken, daß den Beitrag genau zu untersuchen, den jeder Sinn der Seele liefert, ein angenehmenr und äußerst merkwürdiger Lustweg sein müßte, den wir uns für eine andere zeit ersparen. Daß aber nicht bei zwei Menschen dieser Sinnenbeitrag an Art und Stärke, Tiefe und Ausbreitung einerlei sein kann, bezeugen viele Proben. Gesicht und Gehör, die den meisten Stoff zum Denken geben, sind selten bei einem Menschen im gleichen Grad der Ausbildung und natürlichen Stärke. Die Klarheit des Auges haßt oft die Innigkeit des Ohrs (um geistig zu reden), die beiden Rosse sind also ungleich, die zunächst am Wagen der Psyche ziehen. Die drei größten epischen Dicher in aller Welt, HOMER, OSSIAN und MILTON waren blind, als ob diese stille Dunkelheit dazu gehört, daß alle Bilder, die sie gesehen und erfaßt hatten, nun Schall, Wort, süße Melodie werden können. Ein blindgeborener Dichter und ein taubgeborener Philosophe müßten sonderbare Eigenheiten geben, so wie der blinde SAUNDERSON mit dem Gehör, Geruch und Gefühl liebte. Wenn eine allgemeine philosophische Sprache je erfunden würde, wäre es vielleicht von einem Taub- und Stummgeborenen, der gleichsam ganz Gesicht, ganz Zeichen der Abstraktion wäre. Keine zwei Dichter haben je ein Silbenmaß gleich gebraucht und wahrscheinlich auch gleich gefühlt. Eine sapphische Ode bei der Griechin, bei KATULL und HORAZ ist fast nicht dasselbe: welch mittelmäßiges Ohr wird nicht einen Hexameter von KLOPSTOCK, KLEIST, BODMER oder von LUKREZ, VIRGIL und OVIDIUS beinah auf den ersten Klang unterscheiden? Dem einen Dichter ist seine Muse Gesicht, Bild, dem andern Stimme, dem dritten Handlung: ein Prophet wurde durch ein Saitenspiel geweckt, der andere durch Gesichte: keine zwei Maler und Dichter haben  einen  Gegenstand, wenn auch nur  ein  Gleichnis, gleich gesehen, gefaßt, geschildert.

Eine Unendlichkeit müßte es werden, wenn man diese Verschiedenheit des Beitrags verschiedener Sinne über Länder, Zeiten und Völker verfolgen könnte: was z. B. daran Ursache ist, daß Franzose und Italiener sich bei Musik, Italiener und Niederländer sich bei Malerei so ein anderes Ding denken? Denn offenbar werden die Künste auf dieser Wegscheide von Nationen mit anderen Geistessinnen empfunden, mit anderen Geistessinnen vollendet. Hier jedoch fahren wir fort, daß, so verschieden dieser Beitrag verschiedener Sinne zum Denken und Empfinden auch sein mag, in unserem inneren Menschen alles zusammenfließt und Eins wird. Wir nennen die Tiefe dieses Zusammenflusses meistens Einbildung: sie besteht aber nicht bloß aus Bildern, sondern auch aus Tönen, Worten, Zeichen und Gefühlen, für die oft die Sprache keinen Namen hätte. Das Gesicht borgt vom Gefühl, und glaubt zu sehen, was es nur fühlte. Gesicht und Gehör entziffern einander wechselseitig: der Geruch scheint der Geist des Geschmacks, oder ist ihm zumindest ein naher Bruder. Aus all dem webt und wirkt sich die Seele nun ihr Kleid, ihr sinnliches Universum.

Auch hier sind oft Blendwerke und Visionen, Krankheiten und Träume die sonderbarsten Verräter dessen, was in uns schläft. Der Riesenmann PASCAL, dessen Seele immer Felsen abreißt und flammende Abgründe daneben zeigt, kam so weit, daß er zuletzt den dunklen, brennenden Abgrund immer neben sich sah. Mehr als  ein  Schwärmer sanfterer Art glaubte sich immer von hellem Licht umgeben, und selbst der große Denker TSCHIRNHAUS (4), dessen Art zu studieren zumindest romantisch genug war, fand sich nicht eher im wahren Gedankenstrom, wenn er nicht Funken und Strahlen um sich herum sah. Das Exempel eines anderen Philosophen ist mir bekannt, der beim Anfang seiner Krankheit, in einer Art sonderbaren Ohnmacht Worte hörte, die letzten Worte von dem, was er gelesen hatte. Ein Mensch besitzt die Kunst zu sehen ungleich mehr, als die Kunst zu hören: nach dem wird sich, er sei Dichter oder Philosoph, gewiß seine Erkenntnis, sein Vortrag, sein Stil, seine Zusammensetzung richten. Wie viele heißen Dichter und sind nur Witzlinge oder Verstandmänner, weil ihnen ganz die dichterische Einbildung an Gesicht und Gehör fehlt, und wie manche, die, wie PLATO, nur einige Gleichnisse ausmalen, und die Gleichnisse bleiben ewig. Doch ich komme zu weit.

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Wenn also aus unseren Sinnen in die Einbildungskraft, oder wie wir dieses Meer innerer Sinnlichkeit nennen wollen, alles zusammenfließt und darauf unsere Gedanken, Empfindungen und Triebe schwimmen und wallen: hat die Natur abermals nichts gewebt, das sie einigt, das sie leitet? Allerdings, und dies ist das Nervengebäude. Zarte Silberbande, dadurch der Schöpfer die innere und äußere Welt, und in uns Herz und Kopf, Denken und Wollen, Sinne und alle Glieder knüpft. Wirklich ein solches Medium der Empfindung für den geistigen Menschen, als es das Licht fürs Auge, der Schall für das Ohr von außen sein konnte.

Wir empfinden nur, was unsere Nerven uns geben; danach und daraus können wir auch nur denken. Nenne man nun diesen lebendigen Geist, der uns durchwallt, Flamme oder Äther; genug, er ist das unbegreifliche himmlische Wesen, das alles zu mir bringt und in mir eint. Was hat der Gegenstand, den ich sehe, mit meinem Hirn, das Hirn mit meinem wallenden Herzen gemein, daß jenes Bild, daß dies Leidenschaft wird? Siehe, da ist ein Etwas, das von sonderbarer Natur sein muß, weil es so sonderbaren Verschiedenheiten dient. Das Licht konnte nur Eins: den ganzen dunklen Abgrund der Welt zum Bild machen, dem Auge alles veräugen: der Schall konnte nur eins: hörbar machen, was sonst nur für andere Sinne da wäre. So weiter. Dieser innere Äther muß nicht Licht, Schall, Duft sein, aber er muß alles empfangen und in sich verwandeln können. er kann dem Kopf Licht, dem Herzen Reiz werden: er muß also ihrer Natur sein, oder zunächst an sie grenzen. Ein Gedanke, und Flammenstrom gießt sich vom Kopf zum Herzen. Ein Reiz, eine Empfindung und es blitzt ein Gedanke, es wird Wille, Entwurf, Tat, Handlung: alles durch ein und denselben Boten. Wahrlich, wenn dies nicht Saitenspiel der Gottheit heißt: was sollte so heißen?

Hätte ich nun Macht und Kenntnis genug, dieses edle Saitenspiel in seinem Bau, in seiner Führung und Knotung, Verschlingung und Verfeinerung darzustellen, zu zeigen, daß kein Ast, kein Band, kein Knötchen umsonst ist, und daß in dem Maße, wie es bindet und sich leitet, auch unsere Empfindungen, Glieder und Triebe (freilich nicht mechanisch durch Hieb und Stoß!) einander binden, anregen und stärken - O welch ein Werk von sonderbar feinen Entwicklungen und Bemerkungen aus dem Grund unserer Seele müßte es werden! Ich weiß nicht, ob es schon da ist; ob ein denkender und fühlender Physiologe es im Besonderen zu dem Zweck, zu dem ich es wünsche, geschrieben hat. Mich dünkt, es müßte die schönste Buchstabenschrift des Schöpfers enthalten, wie er Glieder band und teilte, sie mehr oder minder beseelte, Gefühle ableitete, unterdrückte, knotete, stärkte, so daß das Auge nur sehen darf und die Eingeweide wallen, das Ohr hört und unser Arm schlägt, der Mund küßt und Feuer fließt durch alle Glieer - Wunder über Wunder! eine wahre, seine Flammenschrift des Schöpfers. -

Aber wir bleiben wieder nur bei allgemeinen Phänomenen: z. B. den sogenannten "Wirkungen der Einbildungskraft im Mutterleib". Viele haben sie, weil ihr System sie nicht ertrug, gerade geleugnet, da doch beinahe jedermann frappante Beispiele davon bekannt sein können; was hülfe es also, Erfahrungen gegen die Sonne leugnen? Wäre in unserem Körper und besonders im Körper der Mutter, zu der Zeit, da sie den Ungeborenen träg, von einem plumpen Mechanismus, einem hölzernen Druck und Stoß die Rede: säße die Seele mit ihrer Einbildungskraft in der Zirbeldrüse und sollte nun mit Stangen und Leitern zum Kind gelangen müssen: freilich so könnte man das weise Haupt schütteln. Nun aber, da nach allen Erfahrungen alles voll Reiz ist und Leben, da diese Leben auf so wunderbare Art ein Eins in uns sind, ein Seelenmensch (anthropos psychekos) dem alle mechanischen Triebwerke und Glieder willig dienen; und da nun eben dieses zusammengeströmte beseelte Eins in uns Einbildung heißt, wenn wir das Wort in seinem wahren Umfang nehmen; was ist Ungereimtes darin, daß diese Seelenwelt, in deren Mitte gleichsam das Kind schwebt, dieser ganze psychische Mensch, der es in seinen Armen hält, ihm auch alle Eindrücke, alle Reize von sich mitteilt? In einem Zusammenhang geistiger Kräfte verschwindet Raum und Zeit, die nur für die grobe Körperwelt da zu sein scheinen. Wir werden gebildet, sagt die alte morgendländische Weisheit, im Schoß der Lebensmutter, wie im Mittelpunkt der Erde, wohin alle Einflüsse und Eindrücke zusammenströmen. Hierin sind Weiber unsere Philosophen, wir nicht die ihren.

Mit dem sogenannten "Einfluß der Seele auf den Körper und des Körpers auf die Seele" hat es eben die Bewandtnis. Sollte hier etwas durch die Zirbeldrüse, durch elastisch gespannte Nerven, Hieb und Stoß erklärt werden, so steht man immer an und leugnet. Nun aber, da unser Gebäude nichts von einem solchen hölzernen Webstuhl weiß, da aller Reiz und Duft und Kraft und in einem ätherischen Strom schwimmt, da unser ganzer Körper in seinen mancherlei Teilen so mannigfaltig beseelt, nur  ein Reich unsichtbarer inniger, aber minder heller und dunkler Kräfte  zu sein scheint, das im genauesten Bund ist mit der Monarchin, die in uns denkt und will, so daß ihr alles zu Gebote steht, und in diesen innig verknüpften Reich Raum und Zeit verschwindet: was wäre natürlicher, als daß sie über die herrscht, ohne die sie nicht das wäre, was sie ist? denn nur durch dieses Reich, in diesem Zusammenhang wurde und ist sie  menschliche  Seele. Ihr Denken wird nur aus Empfindung: ihre Diener und Engel, Luft- und Flammenboten strömen ihr ihre Speise zu, so wie diese nur in ihrem Willen leben. Sie herrscht, mit LEIBNIZ zu reden, in einem Reich schlummernder, aber umson inniger wirkender Wesen.

Ich kann mir überhaupt nicht denken, wie meine Seele etwas aus sich spinnt und aus sich eine Welt träumt? ja nicht einmal denken, wie sie etwas außer sich empfindet, wovon kein Analogon in ihr und ihrem Körper ist. Wäre in diesem Körper kein Licht, kein Schall: so hätten wir auf aller weiten Welt von nichts, was Schall und Licht ist, Empfindung: und wäre in ihr selbst oder um sie, nichts dem Schall, dem Licht Analoges, noch wäre kein Begriff aber zeigen alle Tritte, die wir bisher zurückgelegt haben, daß die Gottheit uns das alles durch Wege und Kanäle schaffte, die immer empfangen, sich entwickeln, fortschwemmen, mehr einigen, der Seele ähnlicher machen, was ihr vorher noch so unähnlich war. Ich fürchte micht also gar nicht vor dem alten Ausdruck, daß der Mensch eine kleine Welt ist, daß unser Körper ein Auszug aus diesem Körperreich, wie unsere Seele ein Reich aller geistigen Kräfte, die zu uns gelangen, sein muß, und daß schlechthin, was wir nicht sind, wir auch nicht erkennen und empfinden können. Die Formular-Philosophie, die alles aus sich, aus einer inneren Vorstellungskraft der Monade herauswindet, hat freilich all das nicht nötig, weil sie alles in sich hat; ich weiß aber nicht, wie es dahin gekommen ist, und sie weiß es selbst nicht.

"Aber so wäre ja die Seele materiell? oder wir hätten gar viele immaterielle Seelen?" So weit sind wir noch nicht, mein Leser; ich weiß noch nicht, was Material oder Immaterial ist? ich glaube aber nicht, daß die Natur zwischen beiden eisernen Bretter in der Natur nirgends sehe und gewiß da am wenigsten vermuten kann, wo die Natur so innig vereint. Genug, wir gehen jetzt zuerste zum Erkennen und Wollen über. Alle Empfindungen, die zu einer gewisen Helle steigen, (der innere Zustand dabei ist unnennbar) werden Apperzeption, Gedanke; die Seele erkennt, daß sie empfindet.
LITERATUR, Johann Gottfried Herder, Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele, Riga 1778
    Anmerkungen
    1) M. BERNDs eigene Lebensbeschreibung samt einer aufrichtigen Entdeckung einer der größten, obwohl großenteils noch unbekannten Leibes- und Gemütsplage, Leipzig 1738, besonders Seite 257 - 372.
    2) EDMUND BURKE, Über den Ursprung unserer Begriffe vom Erhabenen und Schönen, Riga 1773.
    3) SULZERs vortreffliche Abhandlung vom Denken und Empfinden, in seinen vermischten philosophischen Schriften, Abhandlung VII und Hist. de l'Acad. Royal de Berlin, Bd. 19, Seite 407 - 420.
    4) BERNARD le BOVIER de FONTENELLE, Eloge des Tschirnhaus