p-4cr-4G. LindnerE. MeumannCondillacG. StörringH. EngCondillac    
 
ETIENNE BONNOT de CONDILLAC
Allgemeine
philosophische Sprachlehre


"Es kommt nicht darauf an, einem Kind alle die Kenntnisse beizubringen, die ihm dereinst nützlich sein werden; es ist genug, wenn man ihm die Mittel an die Hand gibt, sie zu erlangen. Es liegt wenig daran, daß es seinen Geist an einer Sache übe, bis es sie ergründet hat oder an mehreren Gegenständen, ohne irgendeinen davon zu ergründen: es ist genug, wenn es denselben übt, wenn es ein Vergnügen daran findet ihn zu üben und wenn es sich immer richtige Begriffe macht. Mit einem Wort: es kommt darauf an, es denken zu lehren."

"Die Verknüpfung der Ideen ist der Grund des Gedächtnisses ist: sie ist so zu reden, die einzige Triebfeder der Gedanken. Sie ist es, die ihnen eine Behendigkeit gibt, worüber wir uns erstaunen; und durch sie macht die Einbildungskraft in wenigen Augenblicken eine Menge Kombinationen."


Vorerinnerung

Die Methode, die ich beim Unterricht des Prinzen beobachtet habe, wird neu scheinen, obwohl sie im Grund ebenso alt ist wie die ersten Kenntnisse des Menschen. Es ist wahr, sie ist der Art, wie man gemeinhin Unterricht gibt, nicht ähnlich: allein sie ist die Art und Weise selbst, nach der sich die Menschen gerichtet haben, um die Künster und Wissenschaften zu bilden. Hiervon wird man durch den Vernunftschlüssen gegründeten Plan, wovon ich sogleich Rechenschaft geben will, überzeugt werden.

Man nimmt als eine ausgemachte Wahrheit an, daß die Kinder, der Kenntnisse die einiges Nachdenken erfordern, unfähig sein, und man wartet, ehe man ihnen diese Kenntnisse beibringt, bis sie ein gewisses Alter, das man Alter der Vernunft nennt, und das man nicht bestimmt, erreicht haben. Es scheint nach der Meinung dieser Personen, es gebe im Leben einen Augenblick, wo die Vernunft, die wir im vorhergehenden Augenblick nicht hatten, uns auf einmal eingegossen wird. Laßt uns sehen, was die Ursache dieses Vorurteils sein mag.

Beim Ursprung der Gesellschaften gab es weder Künste noch Wissenschaften. Alle Kenntnisse schränkten sich auf einige Beobachtungen ein, zu denen das Bedürfnis Anlaß gegeben hatte, und deren Anzahl zu klein war, als daß man die Notwendigkeit hätte fühlen sollen, sie in verschiedene Klassen einzuteilen.

Nachdem die Beobachtungen von allen Arten sich vervielfältigt hatten, so war es nötig sie in Ordnung zu bringen. Von nun an teilte von den Beobachtungen, die zum Ackerbau, eine andere von denen, die zur Sternkunde usw. gehörten.

Um in diesen Sammlungen nichts zu vermengen, brachte man die Beobachtungen, die man gemacht hatte, auf allgemeine Grundsätze. Durch dieses Mittel fanden sich alle Kenntnisse auf eine abgekürzte Art ausgedrückt, und es war leicht, sie zu durchlaufen, indem man von den allgemeinsten zu den weniger allgemeinen Kenntnissen herabstieg.

Diejenige, welche die menschliche Kenntnis also ordneten, schienen die Schöpfer der Wissenschaften zu sein Ihre Methode war gut für sie und für alle Personen, die sie als unterrichtet voraussetzten. Allein es ist augenscheinlich, daß diese Methode die Kenntnisse in einer Ordnung darstellte, die derjenigen, in welcher man sie erlangt hatte, entgegengesetzt war. Denn gewiß hatte man nicht mit allgemeinen Ideen, man hatte mit Beobachtungen den Anfang gemacht.

Dessen ungeachtet, da diese Methode etwas Klares an sich hatte, da sie sogar für diejenigen, die beobachtet hatten, die simpelste War; so urteilte man, daß sie auch zum Unterricht die schicklichste sein muß und man vergaß, daß man sich durch eine andere Methode unterrichtet hatte. Anstatt also die Kinder von Beobachtung zu Beobachtung zu führen, wie Unwissende, die man unterrichten will, fing man mit ihnen an, als wenn sie schon unterrichtet gewesen wären, und als wenn man nichts weiter zu tun hätte, als ihre Kenntnisse in Ordnung zu bringen. Sie konnten von den allgemeinen Grundsätzen nichts begreifen, weil diese Grundsätze Beobachtungen voraussetzten, die man nicht mit ihnen gemacht hatte; alsdann sagt man: sie sind keiner Kenntnisse fähig; man muß warten, bis sie in die Verstandesjahre gekommen sind. Allein es gibt kein Alter, wo man die allgemeinen Wahrheiten einer Wissenschaft begreifen kann, wenn man nicht die Beobachtungen, die zu diesen allgemeinen Wahrheiten führen, gemacht hat. Die Verstandesjahre sind also diejenigen, wo man beobachtet hat; mithin wird der Verstand frühzeitig kommen, wenn wir die Kinder anhalten Beobachtungen zu machen.

Wollen wir wissen, wie wir mit ihnen verfahren sollen, so müssen wir vor allen Dingen darauf aufmerksam sein, wie wir die Dinge, die wir gelernt haben, begreifen. Wir müssen den menschlichen Geist analysieren, das ist die Wirkungen des Verstandes, die Fertigkeiten der Seele und die Erzeugung der Ideen beobachten.

Sobald diese Analyse gemacht ist, so ist der Plan des Unterrichts gefunden: man weiß wenigstens, womit man anfangen muß, und mehr braucht es nicht. Man wir sehen, daß die wahre und einzige Methode darin besteht, den Zögling vom Bekannten zum Unbekannten zu führen; daß es sogleich hinreichend ist, mit dem was er weiß, anzufangen, um ihn etwas, das er noch nicht weiß, zu lehren; und daß, wenn man immer Kenntnisse an Kenntnisse knüpft, man mit ihm, ohne seine Kräfte sonderlich anzustrengen, zu einer neuen Kenntnis schreiten kann. Nur muß man Acht haben, daß man keine von den Zwischenideen überspringt; wiewohl auch diese Vorsicht unnütz ist, wenn sein geübter Geist im Stande sein wird, die Lücken auszufüllen.

Dieser Plan ist simpel. Er verurteilt den Lehrmeister nicht, die Wissenschaften in den aufgeführten Lehrgebäuden zu studieren. Im Gegentei muß er alle Lehrgebäude vergessen, und, indem er sich das Ansehen gibt, darin ebenso unwissend wie sein Zögling zu sein, mit ihm ein Anfänger werden, und mit ihm von Beobachtung zu Beobachtung schreiten, als wenn sie beide miteinander eben dieselben Entdeckungen machen. Auf diese Art haben sich die Völker aufgeklärt: warum sollten wir eine andere Methode suchen, um uns selbst aufzuklären?

Allein, wird man sagen, die Völker haben sich durch weit langsamere Mittel unterrichtet, und ihre Kindheit hat mehrere Jahrhunderte lang gedauert. Wie sollte man eine Methode, welche den Fortgang ihres Geistes verzögert zu haben scheint, bei einer Auferziehung anwenden können, die nach einigen Jahren zuende gehen soll?

Ich antworte, daß die Natur den ersten Menschen die einzige Methode der Entdeckungen angezeigt hat, indem sie dieselben in die Notwendigkeit gesetzt hat zu beobachten: und daß wenn sie Anfangs nur sehr langsame Schritte getan haben, man daraus nicht schließen kann, daß diese Methode ansich langsam ist, sondern daß es vielmehr daher kam, weil ihnen das Werkzeug, womit sie beobachteten, nicht hinlänglich bekannt war.

Sie würden sich ihres Geistes mit eben der Leichtigkeit als ihrer Arme bedient haben, wenn sie gleich zu Anfang die Kräfte ihres Verstaandes ebenso gut wie die Kräfte ihres Körpers gekannt hätten. Wären sie fähig gewesen, allen Wirkungen des denkenden Wesens die gehörige Richtung zu geben, so würden sie bald gelernt haben, es mit neuen Kräften auszurüsten. Sie würden Methoden erfunden haben, wie sie Hebel erfanden, und wir würden sie, so oft sie das Bedürfnis gefühlt hätten, die Kräfte ihres Geistes zu gebrauchen, ebenso schnelle Schritte tun sehen, wie die, wofür sie das Bedürfnis fühlten, die Kräfte ihres Körpers anzuwenden.

Der Fortgang der menschlichen Kenntnisse ist also nur darum verzögert worden, weil die Menschen weder ihren Geist genug gekannt, noch das Bedürfnis ihn zu üben, hinlänglich gefühlt haben. Um daher bei der Auferziehung von der einzigen Methode, der wir alles was wir bisher gelernt haben, zu danken haben, Gebrauch zu machen, muß man zuvörderst ein Kind mit den Kräften seiner Seele bekannt machen, und es das Bedürfnis fühlen lassen, sich derselben zu bedienen. Wenn dem Lehrer das eine oder das andere gelingt, so wird alles leicht werden: denn anstatt ebensoviel Grundsätze, ebensoviel Regeln, ebensoviel Methoden, wie man in den Künsten und Wissenschaften unterscheidet, auszusinnen, wird er mit seinem Zögling nur beobachten dürfen.

Es ist nicht unmöglich diesen Plan auszuführen. Denn wenn die Kräfte des Verstandes in einem Kind eben dieselben sind, wie in einem erwachsenen Menschen, warum sollte es unfähig sein, dieselben zu beobachten? Es ist wahr, es hat sie an weniger Gegenständen geübt: allein es hat sie eben doch geübt, und öfters mit gutem Erfolg. Warum sollte man es nicht auf dasjenige aufmerksam machen können, was in ihm vorging, als es urteilte und Vernunftschlüsse machte, als es Begierden fühlte, als es Fertigkeiten erwarb? Warum sollte man ihm nicht die Fälle zeigen können, in denen ihm der Gebrauch seiner Kräfte gelungen oder mißlungen ist und es durch seine eigene Erfahrung lehren, dieselben immer besser anzuwenden? Wenn man mit ihm diese ersten Beobachtungen gemacht haben wird, so wird es seine Seelenkräfte mit mehr Kenntnis üben: von nun an wird es aus einer natürlichen Wißbegierde sie noch weiter üben, und bei diesen Wiederholungen wird ihm diese Übung unmerklich zur Fertigkeit werden.

Wenn aber ein Kind den Gebrauch seiner Seelenkräfte einmal kennen wird, so bedarf es weiter nichts als gut geleitet zu werden, um den Faden der menschlichen Kenntnisse zu fassen, ihnen in ihrem Fortgang von den ersten bis zu den letzten zu folgen, und in wenigen Jahren zu lernen, was die Menschen nur in mehreren Jahrhunderten gelernt haben. Es wird hinlänglich sein, Beobachtungen mit ihm zu machen, wann sich ihm die Gegenstände darbieten werden; und wenn es nicht selbst wird beobachten können, so wird es genug sein, ihm die Geschichte der von anderen gemachten Beobachtungen mitzuteilen.

Diese Methode hat mehrere Vorteile. Sie entledigt unser Studieren von einer Menge unnützem Zeugs, das uns aufhält ohne uns zu unterrichten. Sie verbannt jene eitlen Wissenschaften, die sich nur mit Wörtern oder mit unbestimmten Begriffen beschäftigen, und die man Grund- oder Elementarwissenschaften nennt, gerade als wenn man eine gewisse Zeit mit Nichtslernen verlieren müßte, um sich vorzubereiten eines Tages mit Frucht zu studieren. Sie kommt dem Ekel zuvor, den ein Kind notwendig fühlen muß, wenn es gleich Anfangs auf Hindernisse stößt, die es nicht übersteigen kann; und, nachdem es verurteilt worden ist, sein Gedächtnis mit Wörtern zu beladen, die es nicht verstand, gestraft wird, weil es nicht behalten hat was es nicht begriff, oder weil es nicht gelernt hat, was es zu lernen keine Notwendigkeit fühlte. Sie bringt im Gegenteil, und zwar ohne Verzug, Licht in seinen Geist, weil sie, von der ersten Lehrstunde an, es von dem was es weiß, zu dem, was es nicht wußte, führt. Sie reizt seine Wißbegierde, weil es aus den Kenntnissen, die es erlangt, auf die Leichtigkeit schließt noch andere zu erlangen, und weil seine durch den ersten guten Erfolg geschmeichelte Eigenliebe ihm die Begierde einhaucht noch größere Schritte zu tun. Sie unterweist es beinahe ohne daß es ihm einige Anstrengung kostet, weil sie, anstatt Universalideen und Grundsätze auszuräumen, die Wissenschaften auf die Geschichte der Beobachtungen, der Experimente und der Entdeckungen reduziert. Schließlich, da sie sich niemals ändert, und, was man auch studiert, immer eben dieselbe ist, so wird das Kind alle Tage vertrauter mit ihr: je mehr es sich unterrichtet; und wenn die Zeit seiner Auferstehung zu kurz gewesen ist, so kann es allein ohne Hilfe und durch sich selbst die Kenntnisse erwerben, die man ihm nicht mitgeteilt hat.

Ich gestehe es, daß die Auferziehung, die bloß das Gedächtnis anbaut, Wunder vollbringen kann, und wirdklich hervorgebracht hat. Allein diese Wunder dauern nicht länger als die Zeit der Kindheit. Überdies sind die Kinder, bei denen diese Methode am besten anschlägt, nicht diejenigen, die mit einer glückllichen Anlage geboren sind. Diese haben im Gegenteil eine natürliche Abneigung gegen die Studien wo das Nachdenken nichts zu tun hat und wo sich das Gedächtnis nur mit Wörtern anfüllt. Daher kommt es auch daß sie wenig Talente erblicken lassen; und wenn sie sich in der Folgezeit auszeichnen, so ist der Grund davon weil sie ihre Auferziehung selbst wieder angefangen haben. Allein wieviel unnütze Dinge haben sie zu vergessen! wieviele Vorurteile abzulegen! wieviele falsche Begriffe zu verbessern! was für eine Arbeit, um sich der Fesseln zu entledigen, in denen man ihre Seelenkräfte geschlossen hielt! und welche Hindernisse für die Entwicklung und den Fortgang der Vernunft!

Damit behaupte ich nicht, daß man das Gedächtnis vernachlässigen soll: allein wenn die Auferziehung, bei der man sich die Anbauung desselben vorzüglich angelegen sein ließe, umso schlimmer ist, je mehr man bloß diese Seelenkraft anbauen würde; so würde man hingegen, wenn man sich auch bloß mit dem Nachdenken zu beschäftigen und das Gedächtnis zu vernachlässigen schiene, dasselbe noch hinlänglich üben. Wer viel nachgedacht hat, der hat vieles behalten. Entwischt ihm etwas, so kann er es wiederfinden, weil die Reflexionen, die ihm geläufig geworden sind, aneinander hängen, und ihn allezeit wieder dahin führen können, wo sie ihn schon hingeführt haben. Derjenige hingegen, der die Dinge bloß weiß, weil er sie auswendig gelernt hat, weiß einigermaßen nichts und kann, was er vergessen hat, nicht mehr finden, zumindest nicht gewiß sein, daß er es wieder finden wird.

Dem Nachdenken kommt es also zu, die Materialien unserer Kenntnisse zuzubereiten, sie im Gedächtnis in Ordnung zu bringen, alle ihre Verhältnisse gegeneinander zu bestimmen; und derjenige, der nicht nachzudenken gelernt hat, ist gar nicht - oder was noch schlimmer ist, schlecht unterrichtet.

Dennoch ruft man verwunderungsvoll aus, wenn ein Kind lange Stücke aus der Geschichte ohne Verstand hersagt, ohne noch zu wissen was es in irgendeiner dieser Sprachen sagt. Dies sind keine Kenntnisse; man ist gezwungen es zu gestehen: allein man glaubt, daß die Kindheit keiner besseren Studien fähig ist. Daher urteilt man, daß um eine so kostbare Zeit nicht zu verlieren, man eilen müsse sein Gedächtnis mit irgendetwas, was auch immer es sei, anzufüllen; und man schmeichelt sich, daß allezeit etwas hängenbleiben wird, weil allezeit Worte hängen bleiben werden: gerade als wenn Ideen nicht vielleicht eingedrückter blieben, und als wenn es nicht für jedes Alter solche Ideen gäbe, die der menschliche Geist fassen kann.

Man wird vielleicht fragen, was für ein Ziel man sich beim Unterricht eines Kindes vorsetzen soll? Ich antworte, daß wenn man nicht versäumen will, es zu unterweisen, man sich auf der anderen Seite nicht vornehmen soll, es in allen Dingen, die man ihm beibringen will, tiefgelehrt zu machen. Dieses Vorhaben würde chimärisch [trugbildhaft - wp] und sogar schädlich sein. Da sein Alter keiner hinlänglich dauerhaften Anstrengung fähig ist, um den Wissenschaften bis in ihre letzten Gründe nachzuspüren, so wird es genug sein, ihm den Eingang dazu zu öffnen und durch die Wegräumung aller Hindernisse seine ersten Schritte zu befestigen. Seine Auferziehung wird vollendet sein, wenn es über die Dinge, die ihm sein Stand zu wissen auflegt, gute Elementarbegriffe haben wird. Hat es Talente, so wird es in der Folgezeit von selbst und zwar mit schnellen Schritten weiter gehen. Ich sage, wenn es Talente hat, denn die Talente lassen sich nicht geben.

Es kommt also nicht darauf an, einem Kind alle die Kenntnisse beizubringen, die ihm dereinst nützlich sein werden; es ist genug, wenn man ihm die Mittel an die Hand gibt, sie zu erlangen. Es liegt wenig daran, daß es seinen Geist an einer Sache übe, bis es sie ergründet hat oder an mehreren Gegenständen, ohne irgendeinen davon zu ergründen: es ist genug, wenn es denselben übt, wenn es ein Vergnügen daran findet ihn zu üben und wenn es sich immer richtige Begriffe macht. Mit einem Wort: es kommt darauf an, es denken zu lehren.

Um ihm dergleichen Lektionen zu geben, muß man wissen, wie wir selbst denken.

Die Seele denkt entweder aus Fertigkeit oder mit Reflektion. Sie denkt aus Fertigkeit, wenn sie ihre Urteile nach einer Art zu urteilen, mit der sie vertraut geworden ist, abfaßt, und ihre Urteile sind alsdann so behende, daß sie in dem Augenblick nicht imstande ist, alle Beweggründe, die auf sie wirken, und alle Ideen, die sich ihr darbieten, zu bemerken. Auf diese Art urteilen wir, zum Exempel, beim ersten Anblick von der Schönheit eines Gemäldes. Die Seele denkt mit Reflexion, so oft sie Gegenstände beobachtet, die neu für sie sind. Alsdann leitet sie die Wirkungen ihres Verstandes mit einer Langsamkeit, die ihr gestattet, die Ideen, die sie sich macht, und die Urteile, die sie abfaßt, eines nach dem andern zu bemerken. So studieren wir die Künste und die Wissenschaften.

Im ersten Augenblick, wenn ein Maler bei der Anschauung eines Gemäldes sich der Bewunderung überläßt, entwickelt er noch nicht alle die Urteile, die seine Bewunderung bestimmen. Dies kommt daher, weil sie sich ihm alle auf einmal darbieten, und weil er sie nur, insofern er sie, eins nach dem andern, ausspricht, entwickeln kann.

Aus Fertigkeit urteilen und urteilen mit Reflexion sind also so unterschieden, daß man im ersten Fall die Urteile nicht bemerkt, weil sie alle beisammen sind; im zweiten aber bemerkt man sie, weil sie aufeinander folgen.

Alle Fertigkeiten des Körpers haben Fertigkeitsurteile zum Grund. Wenn ich einem Stein, mit dem ich bedroht bin, ausweiche, so urteile ich aus seiner Richtung von dem Übel, das er mir tun wird, wenn er mich trifft, und von der Bewegung, die ich machen muß um ihm auszuweichen. Alle diese Urteile gehen in mir vor, und wenn ich sie nicht bemerke, so kommt es daher, weil sie sich meinem Geist alle auf einmal darbieten.

Diese Fertikeiten wachen über unsere Erhaltung: sie sind eine plötzliche Hilfe. Es ist augenscheinlich, daß das Nachdenken zu langsam sein würde, uns beizuspringen.

Wenn man nicht begreift, daß man hat vergleichen, urteilen und Vernunftschlüsse machen müssen um dieselben zu erlangen, so kommt dies daher, weil wir uns der Zeit, in der wir sie noch nicht hatten, nicht erinnern können. Allein wir müssen davon nach anderen Fertigkeiten urteilen, die wir uns erinnern erlangt zu haben, und die uns ein langes Studieren gekostet hat. Dergleichen ist, zum Beispiel, die Fertigkeit zu lesen.

Es ist zu bemerken, daß bei den Fertigkeiten, die die Seele erwirbt, die Ideen sich untereinander auf zweierlei Arten verknüpfen. Wenn sie sich so zusammengesellen, daß sie sich immer, alle zu gleicher Zeit, uns darbieten, so haben wir Mühe, sie besonders, eine nach der andern, zu beobachten. Wenn sie sich im Gegenteil so verbinden, daß sie Reihen formieren, so sehen wir sie aufeinander folgen; und eine einzige ist hinreichend, uns mehrere, der Ordnung nach, ins Gedächtnis zu rufen. Diese Verknüpfungen, wann wir mit ihnen vertraut geworden sind, sind ebenso viele Fertigkeiten, denen die Seele gehorcht, ohne darauf Acht zu geben.

Man sieht hieraus, daß die Verknüpfung der Ideen der Grund des Gedächtnisses ist: sie ist so zu reden, die einzige Triebfeder der Gedanken. Sie ist es, die ihnen eine Behendigkeit gibt, worüber wir uns erstaunen; und durch sie macht die Einbildungskraft in wenigen Augenblicken eine Menge Kombinationen.

So, wie der Körper, indem er seinen Fertigkeitsbewegungen gehorcht, sich aus Instinkt zu bewegen scheint, so scheint die Seele aus Eingebung zu denken, wenn sie den Verknüpfungen ihrer Ideen gehorcht. Beide haben ihren Fertigkeiten alle Grazien und alle Talente, deren sie fähig sind, zu danken.

So bildet sich, zum Exempel, nach den Fertigkeiten, die wir erworben haben, der Geschmack. Er ist bloß das Resultat mehrerer Idenn, die wir miteinander verknüpft haben; und diese Verknüpfungen prägen sich unserer Seele als Muster ein, die wir nicht mehr prüfen, und nach denen wir schnell, und ohne uns zu besinnen, vom Schönen urteilen.

Allein, ob wir wohl die Fertigkeiten durch eine Reihe von Vergleichungen und Beurteilungen erlangt haben, so folgt doch hieraus nicht, daß wir, ehe wir sie erlangten, allezeit hinlänglich darüber nachgedacht haben: die Leichtigkeit, mit der wir sie erlangen, gestattete es nicht. Dies ist der Grund, warum sie gut und schlimm sind. Wenn sie der Grund aller Grazien und aller Talente sind, so sind sie auch die Quelle aller unserer Irrtümer. LOCKE hat bemerkt, daß der Wahnwitz einzig und allein von irgendeiner Zusammengesellung von Ideen, das ist, von einigen falschen Urteilen herrührt, nach denen wir eine Fertigkeit angenommen haben zu urteilen. Dergleichen Zusammengesellungen sind es, die uns einen schlimmen Geschmack und einen unrichtigen Verstand bilden.

Nach diesen Betrachtungen war überhaupt mein Zweck, dem Geist des Prinzen gute Fertigkeiten beizubringen, folglich ihm Begriffe von vielen Gattungen zu geben, ihn an die Verknüpfung derselben zu gewöhnen und ihn vor unrichtigen Verknüpfungen zu bewahren.

Allein, womit sollte ich anfangen? Um mich dessen zu versichern, überlegte ich, womit die Völker, die sich unterrichtet haben, selbst den Anfang machten.

Ich sah beim Ursprung der Gesellschaften einige Gesetze oder Gebräuche, die ihre Stelle vertraten; einige rohe Künste, einige astronomische Kenntnisse, einen Anfang von Ackerbau und einen Anfang von Handel. Man tat in jeder Gattung sehr langsame Schritte, weil die Menschen, die sich noch keine Bedürfnisse erkünstelten, und mit den ersten Mitteln, die sich ihnen darboten, zufrieden waren, die Notwendigkeit zu beobachten noch nicht so sehr empfanden und vom Zufall neue Entdeckungen erwarteten.

Nun aber waren die ersten Kenntnisse der Völker, die anfangen, sich aus der Unwissenheit herauszuwinden, gewiß der Fähigkeit eines Kindes, das über sich selbst nachzudenken gelernt hat, angemessen. Der Prinz hatte schon die Entwicklung seiner Seelenkräfte und die Erzeugung seine Ideen beobachtet; er konnte mit noch größerer Leichtigkeit die Gesellschaften in ihrem Ursprung und in ihren ersten Schritten beobachten.

Indem ich ihn diese Dinge studieren ließ, gab ich ihm eine Menge Kenntnisse, die alle aneinander hingen. Die Verknüpfungen waren gemacht und seine Seele konnte ohne sonderliche Anstrengung eine Fertigkeit bekommen, die ganze Reihe der Ideen, die sie erlangt hatte, mit einem Blick zu übersehen.

Wenn ich ihm auf der einen Seite wies, wie die Beobachtungen zu den Entdeckungen geführt haben, so ließt ich ihn im Gegenteil bemerken, wie, indem man sie vernachlässigte, indem man sie unrecht machte oder sich in seinen Urteilen übereilte, man in den Irrtum geraten ist; und wie man sich aufgeklärt, sowie man besser und mit weniger Übereilung beobachtet hat.

Die Menschen haben sich selten betrogen, wenn es auf die Erfindung der Mittel ankam, ihre dringendsten Bedürfnisse zu befriedigen. Wenn sie geurteilt haben, ehe sie genug Beobachtungen angestellt oder nachdem sie dieselben unrichtig gemacht hatten, so ird sie die Erfahrung bald ihres Fehlers überführt haben.

Ganz anders war es mit spekulativen Dingen. Wann sie unrichtig davon urteilten, so belehrte sie die Erfahrung entweder gar nicht oder mit Mühe und sie mußten Jahrhunderte lan in ihren Irrtümern stecken bleiben.

Die Gesellschaften, in ihrem Ursprung beobachtet, waren also eine Gelegenheit, den Prinzen bemerken zu lassen, daß es Studien gibt worin man sehr leicht genaue Kenntnisse erlangen kann; und daß es andere gibt, wo es sehr schwer ist, den Irrtum zu vermeiden. Nun aber ist es ebenso schmeichelhaft für die Wißbegierde als wahrhaftig-unterrichtend, wenn man die Zusammenstellungen der Ideen beobachtet, die, indem sie den Völkern verschiedene Gedenkungsarten, verschiedene Gebräuche und Sitten geben, den Fortgang der menschlichen Kenntnisse entweder befördern oder verzögern und bisweilen sogar die aufgeklärtesten Jahrhunderte mit den Resten der ersten Barbaren entstellen.

Alle Menschen haben in ihrer Kindheit das Vorurteil, daß sie glauben, die Sachen seien immer so gewesen, ie sie sind: denn es scheint, wir seien in dem Alter, wo unser Dasein anfängt, geneigt zu glauben, daß Nichts angefangen hat. Daher meinte auch der Prinz, daß die Gebräuche, die Gewohnheiten und die Meinungen allezeit eben dieselben gewesen sind, und es fiel ihm nicht ein, daß die Künste einen Anfang gehabt haben.

Allein je stärker seine vorgefaßte Meinung, daß die Sachen immer so gewesen sind, wie er sie sah, umso begieriger war er zu wissen, was sie in ihrem Ursprung und in ihrem Fortgang gewesen waren. Er beschäftigte sich damit, wenn er mit mir arbeitete, und selbst in seinen Erholungsstunden ging er damit um, indem er sich eine Ergötzung daraus machte, die erfindsame Emsigkeit der ersten Menschen nachzuahmen und indem er die aufkeimenden Künste als Spiele seiner Kindheit ansah. Alsdann ließ ihn der Herr von KERALIO in einem Garten, der an sein Zimmer stieß, einen kleinen Kursus vom Ackerbau anfangen. Der Prinz grub seinen Acker um, säte Korn, sah es wachsen, sah es reifen, und erntete es ein. Sein Garten fing an, interessanter für ihn zu werden, seitdem man die Blumen herausgerissen hatte: er verlangte noch andere Samen zu säen und war begierig zu beobachten wie Bäume von allerlei Gattungen aufkeimen und wachsen würden. Er war damals ungefähr zu eben dem Punkt gekommen, wo sich die ersten Menschen befanden, nachdem sie für ihre ersten und wesentlichsten Bedürfnisse gesorgt hatten.

Die Menschen haben nur darum nach Entdeckungen gestrebt, weil sie die Notwendigkeit derselben gefühlt haben; und die Kenntnisse, die Anfangs in geringer Anzahl waren, weil man wenig Bedürfnisse hatte, haben sich in der Folgezeit vervielfältigt, so, wie neue Bedürfnisse zu neuen Untersuchungen gereizt haben.

Es mußt also eine Zeit kommen, da die Gesellschaften, nachdem sie ihres Unterhalts versichert waren, diejenigen Dinge, die zu den Bequemlichkeiten und Vergnügungen des Lebens dienen, ausfindig zu machen suchten. Dies war die Epoche, wo die schönen Künste anfingen und mit ihnen fing der Geschmack an.

Der Geschmack vervollkommnete sich, weil man über die Dinge, die der Gegenstand davon sind, räsonnierte [argumentierte - wp], wie man über die ersten unentbehrlichsten Bedürfnisse räsonniert hatte. In eben dem Maß wie man glaubte zum räsonnieren fähig zu sein, wandte man das Räsonnieren auf neue Studien an. Nach und nach räsonnierte man über alles: die Menschen, die nach Kenntnissen immer begieriger wurden, übten ihren forschenden Geist an bloß spekulativen Dingen und man bekam Philosophen wie man Poeten gehabt hatte.

Dies ist also die Ordnung der Studien, worin die Völker durch ihre Bedürfnisse eingeleitet worden sind: sie haben mit Beobachtungen über die unentbehrlichsten Dinge angefangen; alsdann haben sie ihren Geschmack zu befriedigen gesucht; schließlich habe sie über bloß spekulative Dinge räsonniert.

Die Geschichte des menschlichen Geistes zeigte mir folglich die Ordnung nach der auch ich beim Unterricht des Prinzen mich zu richten hatte. Sie lehrte mich, daß nachdem ich ihn über den Anfang der Gesellschaften hatte nachdenken lassen, meine erste Sorge sein müßte, ihm den Geschmack zu bilden, und daß ich die Untersuchungen, womit sich die Philosophen beschäftigen, auf eine andere Zeit aufsparen müßte. Allein, was für einer Methode sollte ich folgen? Auch das lehrte mich die Geschichte des menschlichen Geistes.

In der Tat hatte man die Künste und die Wissenschaften nicht gebildet, als die Völker anfingen sich zu unterrichten. Ein Kind muß sich also unterrichten, noch ehe es weiß, daß es Künste und Wissenschaften gibt. Es muß das, was die Völker getan haben, für sich selbst von neuem tun, das ist, es muß seine Ideen, nach dem Maß, wie es sie erlangt, generalisieren. Wenn es wahrnehmen wird, wie aus der Menge der Kenntnisse, die sich in seinem Geist anhäufen, und aus der Menge der Verhältnisse, die dieselben untereinander haben, allgemeine Grundsätze und allgemeine Regeln entspringen; alsdann kann man ihm zu bemerken geben, daß diese Grundsätze und diese Regeln, die zu seinem Unterricht vorher unnütz waren, ihm nunmehr notwendig werden, um in seine Kenntnisse Ordnung zu bringen. Wenn man es nach dieser Methode leitet, so wird es selbst von den Dingen, die es gelernt haben wird, verschiedene Einteilungen machen, und es wird das Ansehen haben, daß es auch seinerseits der Schöpfer der Künste und Wissenschaften geworden ist.

Man hat, zum Beispiel, über die Kunst zu reden nur dann Untersuchungen gemacht, nadem man die Wendungen, welche der Gebrauch eingeführ hat, hat beobachten können: diese Wendungen hat man nur dann beobachtet, nachdem die großen Schriftsteller die Sprachen damit bereichert hatten; und es gab Dichter und Redner, ehe man sichs einfallen ließ, eine Grammatik, eine Poetik und eine Rhetorik zu machen. Es würde also unnütz uns sogar unvernünftig sein, diese Künste ein Kind zu lehren, das den Gebrauch seiner Sprache eigenen Wendungen noch nicht gelernt hat, und das folglich bei seiner Unfähigkeit das Schöne zu fühlen, gewiß nicht fähig ist zu urteilen, ob das Schöne Regeln hat.

Diesen Betrachtungen zufolge glaubte ich, daß um den Geschmack des Prinzen zu bilden, ich ihm Muster des Schönen vorlegen und insbesondere darauf bedacht sein müßte, ihn damit vertraut zu machen. Zu diesem Ende mußte er die besten Schriftsteller lesen und wiederlesen. Ich wählte die dramatischen Dichter. Wie konnte ich, da alle Völker gegen die Dichtkunst empfindlich gewesen sind, glauben, daß mein junger Prinz dagegen unempfindlich sein würde? Er fand ein Vergnügen in der Lesung der Dichter, er lernte seine Sprache, indem er nicht sowohl zu studieren als sich die Zeit zu vertreiben schien.

Indem der Prinz sich die besten Schriftsteller bekannt machte, so beobachtete er, was er bei seinen Lesungen empfunden hatte, und seine Beobachtungen führten ihn natürlicherweise zur Entdeckung der Regeln der Kunst. Um ihm diese Untersuchungen zu erleichtern, verfertigte ich eine Grammatik und eine Abhandlung über die Kunst. Bei Verfertigung dieser Werke war meine Absicht sowohl ihn seine Sprache zu lehren, als vielmehr ihn über das, was er schon davon wußte, nachdenken zu machen. Ich wollte auf eine deutlichere und ausgedehntere Art die Beobachtungen, die er bei seinen Lesungen gemacht hatte, entwickeln, und ihn dadurch in der Fertigkeit bestätigen, von den Schönheiten des Stils zu urteilen.

Sein Geschmack bildete sich: ich glaubte, daß ich nunmehr versuchen könnte, ihm philosophische Kenntnisse mitzuteilen. Da er sich schon geübt hatte über seine Seelenkräfte, über den Ursprung der Gesellschaften und über die Sprache Beobachtungen zu machen, so zweifelte ich nicht, er würde auch fähig sein, mit den Philosophen zu beobachten und ihnen in ihren Entdeckungen zu folgen. Denn wenn man einen Geist, der nachzudenken weiß, von Wahrheit zu Wahrheit führt, so sehe ich nicht ab, warum es Kenntnisse geben sollte, die außerhalb seiner Sphäre liegen.

Bei dem Werk, dem ich den Titel gebe "Die Kunst Schlüsse zu machen", war mein Zweck, dem Prinzen einen Teil von den Entdeckungen der Philosophen vor Augen zu legen. Ich setze mir nicht vor, nach der Lehrart der Logiker die Regeln der Vernunftschlüsse zu lehren, ohne über irgendetwas Vernunftschlüsse zu machen; weil ich nicht begreife, von was für einem Nutzen das räsonnieren sein kann, wenn man nicht darauf denkt, Entdeckungen zu machen, oder sich der Entdeckungen anderer zu versichern. Ich glaube also, daß die Kunst Vernunftschlüsse zu machen im Grund nichts anderes ist, als die Kunst, gut zu beobachten und gut zu urteilen.

Der Prinz kannte bereits diese Kunst. Es kam nicht darauf an, ihn die Regeln derselben zu lehren: es war genug, daß ich ihm zeigte, wie er sie auf neue Gegenstände anwenden sollte. Ich sage noch mehr: er wußte zu räsonnieren, ehe ich nach Parma kam: denn hätte er nicht Vernunftschlüsse zu machen gewußt, so gestehe ich, daß er von mir nichts würde gelernt haben. Was hatte ich also zu tun, um ihn zu unterrichten? Ich hatte ihn in den Weg geleitet, den er von sich selbst nicht würde eingeschlagen haben; ich hatte ihn mit mir so studieren lassen, wie er allein studierte, wenn sein Studieren gut war.

Die Kunst zu räsonnieren lehrt also keine neuen Regeln. Wir haben ihr sogar den Anfang der Künste und Wissenschaft zu verdanken: allein die Menschen haben nicht allezeit Gebrauch davon zu machen gewußt. Es sind Jahrhunderte verflossen, ehe die Philosophen, welche über die Gegenstände des Geschmacks gut räsonnierten, über die Gegenstände ihrer Untersuchungen gut zu räsonnieren wußten; so daß die Kunst, das Räsonnieren auf die Philosophie anzuwenden, eine ganz neue Kunst ist.

Auch wenn wir anfangen, mit der Kunst zu denken bekannt zu werden, wenn wir anfangen, von unseren Sinnen Gebrauch zu machen, so kann man doch diese Kunst nicht in ihremm ganzen Umfang kennen, ehe die drei andern zu ihrer Vollkommenheit gebracht sind. Sie ist bloß die letzte Entwicklung der Beobachtungen, die man gemacht hat, indem man dieselben studierte. Diese Entwicklung gebe ich in einem Werk, das der Kunst Schlüsse zu machen angehängt ist.

Übrigens sind die Kunst zu reden, die Kunst zu schreiben, die Kunst zu räsonnieren und die Kunst zu denken, im Grund ein und dieselbe Kunst. In der Tat, wenn man zu denken weiß, so weiß man auch Vernunftschlüsse zu machen; um vollends auch gut zu reden und gut schreiben zu lernen, darf man nur reden wie man denkt und schreiben, wie man redet.

Wenn man überdies bedenkt, wie sehr wir ohne den Gebrauch der Zeichen in unseren Kenntnissen eingeschränkt sein würden, so wird man urteilen, daß, wenn wir weniger Worte hätten, wir auch weniger Ideen haben würden, folglich weniger fähig sein würden, zu denken und zu räsonnieren. Die Kunst zu reden ist also nichts anderes, als die Kunst zu denken und die Kunst zu räsonnieren, die sich nach dem Maß wie sich die Sprachen vervollkommnen, entwickelt; und sie wird die Kunst zu schreiben, wenn sie all die Genauigkeit und alle Präzision bekommt, deren sie fähig ist. Allein obgleich alle diese Künste im Grund auf eine einzige hinauslaufen, und es sogar nützlich ist, sie unter diesem Gesichtspunkt zu betrachten, um sie auf einerlei Grundsätze zu bringen; so ist es dennoch notwendig, sie besonders abzuhandeln, wenn man der Entwicklung unserer Seelenkräfte und dem Fortgang unserer Kenntnisse nachspüren will.

Ich habe gewiesen, daß alle diese Künste sich in einer einzigen vereinigen. Ich sage noch mehr und behaupte, daß sie alle auf die Kunst zu reden hinauslaufen.

Ich würde ein Urteil nicht mit Worten auszudrücken wissen, wenn ich in eben dem Augenblick, da ich die erste Silbe aussprechen will, nicht schon alle Ideen, aus denen mein Urteil gebildet ist, vor mir liegen sähe. Wenn sie nicht alle auf einmal vor mir schwebten, so würde ich nicht wissen, womit ich anfangen soll, indem ich nicht wüßte, was ich sagen sollte. Ebenso geht es, wenn ich Schlüsse mache: ich würde einen Vernunftschluß entweder nicht anfangen oder nicht beenden, wenn die Reihe der Urteile, aus denen er besteht, meinem Geist nicht zu gleicher Zeit gegenwärtig wäre.

Ich urteile und räsonniere also nicht, indem ich rede. Ich habe schon geurteilt und räsonniert und diese Wirkungen meines Geistes gehen notwendigerweise vor der Rede her.

In der Tat, lernen wir reden, weil wir lernen, die Ideen, die wir haben, und die Verhältnisse, die wir zwischen denselben wahrnehmen, durch Zeichen auszudrücken. Ein Kind würde also nicht reden lernen, wenn es nicht bereits Ideen hätte, und wenn es nicht schon Verhältnisse faßte. Es urteilt also und macht Schlüsse, ehe es ein Wort von irgendeiner Sprache weiß.

Sein Betragen ist ein Beweis hiervon, indem es zufolge der von ihm gefällten Urteile handelt. Allein, weil sein Gedanke die Wirkung eines Augenblicks ist, weil keine Sukzession [Aufeinanderfolge - wp] dabei stattfindet, und weil es kein Mittel hat, denselben zu zergliedern, so denkt es ohne zu wissen, was es denkend tut; und das Denken ist ihm noch nicht zur Kunst geworden.

Wenn ein Gedanke ohne Sukzession im Geist ist, so hat er eine Sukzession in der Rede, wo er sich in ebenso viele Teile auflöst, als er Ideen enthält. Alsdann können wir das, was wir denkend tun, beobachten, wir können uns Rechenschaft davon geben: wir können folglich lernen, unser Nachdenken zu regieren. Das Denken wird also eine Kunst und diese Kunst ist die Kunst zu reden.

Um sich davon zu überzeugen, darf man nur erwägen, daß die Kunst unsere Gedanken durch die Hilfe einer Reihe von Zeichen, die ihre Teile, einen nach dem andern, vorstellen, zu zergliedern, daß diese Kunst, sage ich, eine Analyse ist, die, wie alle analytischen Methoden, den Geist von Entdeckung zu Entdeckung, von Gedanken zu Gedanken führt.

Denn so sehr das Vermögen zu denken in demjenigen eingeschränkt ist, der seine Gedanken nicht analysiert und der folglich auch nicht alles, was er denkend tut, beobachtet; so sehr muß dieses Vermögen sich in demjenigen ausbreiten, der seine Gedanken analysiert und sie bis auf ihre kleinsten Teile beobachtet. Ein Kind, das noch nicht redet, ist also insofern sehr eingeschränkt. Allein indem es seine Urteile durch Worte ausdrücken lernt, so lernt es dieselben zu analysieren, weil es lernt, sie stückweise zu beobachten. Es lernt also was es tut, wenn es urteilt, und es erlangt dadurch eine größere Fähigkeit zu urteilen. Die Kunst zu denken ist folglich für dasselbe nichts anderes als die Kunst zu reden, und dieser Kunst wird es die Entwicklung seiner Seelenkräfte und den Fortgang seiner Kenntnisse zu verdanken haben.

Dies ist der Grund, warum ich die Kunst zu reden als eine analytische Methode ansehe, die uns von Idee zu Idee, von Urteil zu Urteil, von Kenntnis zu Kenntnis führt; und man würde den ersten Vorteil davon verkennen, wenn man sie bloß als ein Mittel ansehen wollte, unsere Gedanken mitzuteilen.

Die Sprachen sind also mehr oder weniger vollkommen, je nachdem sie zu den Analysen mehr oder weniger tauglich sind. Je mehr sie dieselben erleichtern, umso mehr Hilfe leisten sie dem Geist. In der Tat, wir urteilen und räsonnieren mit den Wörtern, wie wir mit den Ziffern rechnen; und die Sprachen sind für die Völker was die Algebra für die Geometer ist. Mit einem Wort, die Sprachen sind nichts anderes als Methoden, und die Methoden sind nichts anderes als Sprachen. Folglich, wenn die Geometer in ihrer Wissenschaft nur insofern Schritte getan haben, als sie ihre Methode vervollkommneten, so wird der Geist eines Volks in seinen Kenntnissen nur insofern Schritte tun, als er seine Sprache vervollkommnen wird: und auf eben die Art, wie die Unvollkommenheit der Methoden der Kunst zu kalkulieren Grenzen setzt, so wird auch die Kunst zu denken von der Unvollkommenheit der Sprache beschränkt. Die Völker haben also nicht zu allen Zeiten eben denselben Geschmack, eben dasselbe Verständnis, eben dieselbe Ausdehnung des Geistes, aus eben dem Grund, weil die Geometer nicht in allen Jahrhunderten fähig gewesen sind, eben dieselben Aufgabe aufzulösen. Man sieht hieraus, daß die Kunst zu schreiben, die Kunst zu räsonnieren und die Kunst zu denken auf die Kunst zu reden hinauslaufen, so wie die ganze Geometrie am Ende nichts anderes ist, als die Kunst mit Methode zu rechnen.

Sobald einmal alles, was der Prinz bis dahin studiert hatte, im Grund weiter nichts als ein und dieselbe Kunst war; so ist augenscheinlich, daß alle seine Studien miteinander darauf abzielten, ihn mit eben denselben Ideen vertraut zu machen, und folglich seinem Geist eben dieselben Fertigkeiten beizubringen. Eine Beschäftigung wurde nicht von der anderen verdrungen: alle gingen auf eben den Zweck hin, das ist: alle zielten darauf ab, ihn denken zu lehren.

Wenn wir in unseren Palästen auf die Größe und die Pracht sehen, so begnügen wir uns, in unseren Häusern Bequemlichkeiten zu finden; und wenn wir bloß einen Schirm zu haben, bauen können, so bauen wir Stohhütten.

Dies ist ein Bild von den verschiedenen Auferziehungen, die man den Bürgern geben soll. Da sie nicht alle bestimmt sind, auf einerlei Art das Ihrige zu den Vorteilen der Gesellschaft beizutragen, so ist klar, daß der Unterricht, wie der Stand, dem man sie widmet, verschieden sein muß. Für die untersten Klassen ist es genug, daß sie von ihrer Arbeit leben können: allein die Kenntnisse werden immer notwendiger, in dem Maß, wie die Stände steigen.

Die Schwierigkeit besteht darin, die Gemüter dazu vorzubereiten, so wie es bisweilen am schwersten ist, die Örter, wo man hinbauen will, zum Bauen geschickt zu machen. Es gibt undankbare Lagen: es gibt Boden, wo man nicht anders als mit großen Kosten einen Grund legen kann: man könnte sich sogar dabei betrügen, und das Gebäude würde von allen Seiten einstürzen. Und doch sollte ein Prinz, der bestimmt ist zu herrschen, sich mitten unter seinem Volk erheben, wie ein regelmäßiger und fester Palast mitten aus einer Ebene, wovon er die Zierde ist, emporsteigt.

Alles, was ich den Prinzen hatte studieren lassen, schränkte sich auf die Kunst zu reden ein, insofern sie als die Kunst, die denken lehrt, betrachtet wird. Diese Studien hatten seinen Geist gebildet und sie bereiteten ihn zu anderen Kenntnissen vor. Und nun war die Zeit gekommen, da ich ihn die Geschichte studieren ließ.

Ich betrachte die Geschichte als eine Sammlung von Beobachtungen, welche den Beobachtungen, welche den Bürgern von allen Klassen Wahrheiten darbieten, die sich auf ihren Stand beziehen. Wenn wir darin die Dinge schöpfen, die uns nützlich sind, so werden wir durch die Erfahrung der vergangenen Jahrhunderte weiser. Es kommt also nicht darauf an, alle Begebenheiten zusammenzuraffen und damit sein Gedächtnis zu beladen. Man muß eine Auswahl treffen.

Ein Prinz soll lernen sein Volk zu regieren.. Er muß sich folglich unterrichten, indem er beobachtet, was die Personen, welche regiert haben, gutes, und das, was sie Böses getan haben. Er muß ihre Tugenden mit Ehrfurcht bewundern, ihre Talente teuer schätzen, ihre Fehler bedauern und ihre Laster hassen. Mit einem Wort: er muß die Geschichte behandeln, als wenn er die Sittenlehre und die Gesetzgebung studiert hätte.

Dieses Studium umfaßt folglich alles, was zum Heil oder Unheil der Völker dienen kann, das ist: die Staatsverfassungen, die Sitten, die Meinungen, die Mißbräuche, die Künste, die Wissenschaften, die Staatsveränderunen, ihre Ursachen, das Wachstum der großen Reiche und ihren Zerfall, in seinem Anfang, in seiner Beschleunigung und in seiner letzten Periode betrachtet. Es begreift mit einem Wort all die Dinge, durch deren vereinigte Einflüsse die bürgerlichen Gesellschaften gebildet, vervollkommnet, verteidigt, verderbt und schließlich zugrunde gerichtet worden sind.

So glaubte ich überhaupt, daß ich die Geschichte ansehen mußte. Wenn wir die geschehenen Dinge nur darum zu wissen nötig haben, um dem Faden der Begebenheiten folgen zu können, so begnüge ich mich dieselben anzuzeigen: allein ich entwickle sie mit allen Umständen, die bis auf uns gekommen sind, wenn es Keime sind, in denen sich die Revolutionen vorbereiten, die mit der Zeit ausbrechen sollen. Um die Geschichte auf diese Art abzuhandeln, teile ich sie in eine Menge Perioden ein, die eine verschiedene Länge haben und wovon jede mit einer Revolution endet. So ist jedes historische Stück ein Ganzes. Die letzte Periode, worauf sich alles bezieht, entscheidet die Wahl der Begebenheiten und ich mache die Vorbereitung zur Entwicklung einer ganzen Periode, indem ich sie, ehe ich sie anfange, in einem kurzen Inbegriff darstelle. Ich halte es für notwendig, gleich Anfangs einen Standpunkt zu wählen, wo man mit einem Blick die Schauspieler und den Ort der Szene übersehen kann und ich tue es so oft ich kann. Allein es wäre zu weitläufig, dies mit der erforderlichen Genauigkeit auszuführen. Ich will nur bemerken, daß, da ich es mir zum Gesetz gemacht hatte, dem Prinzen zu weisen, wo ich ihn hinführen will und auf was für eine Art ich ihn führe, ich bei jeder hervorbrechenden Epoche den Gegenstand anzeige, den ich mir zum Zweck gesetzt habe.

Hieraus sieht man, daß der Prinz zur Geschichte mit einem geübten Geist trat. Er kannte seine Seelenkräfte: er hatte die Gesellschaften in ihrem Ursprung beobachtet: sein Geschmack hatte sich durch die Lesung gebildet, und die Entdeckungen der Philosophen hatten seine Vernunft vollends entwickelt. Ungeachtet der Verschiedenheit, welche die Sprachlehre, die Kunst zu schreiben, die Kunst, Vernunftschlüsse zu machen und die Kunst zu denken in seine Studien gebracht hatten, fand er doch in allen einerlei Methoden und einerlei Grundsätzen, weil alle diese Künste in einer einzigen zusammen fließen. Er wurde folglich mit den Kenntnissen, die er erlangt hatte, vertraut und es wurde ihm leicht, noch andere zu erlangen.


Unterricht für den
Prinzen von Parma

Was der Verfasser für einen Beweggrund gehabt hat, dem Prinzen die Vorbereitungslektionen zu geben.

Wir wissen nur dasjenige, was wir gelernt haben (1). Wir urteilen zum Beispiel von den Gegenständen durch das Gefühl nur darum, weil wir gelernt haben, davon zu urteilen. In der Tat, da eine Größe bloß durch die Verhältnisse, die sie mit anderen hat, bestimmt ist; so kann man sich nicht anders einen Begriff davon machen, als indem man sie mit anderen, die man beobachtet, vergleicht, und urteilt, daß sie mehr oder weniger davon unterschieden ist. Es ist also, so behende wir auch immer dergleichen Ideen erlangen mögen, augenscheinlich, daß, da sie sich auf Beziehungen gründen, wir nicht anders dazu gekommen sind, als weil wir verglichen und geurteilt haben. Ebenso verhält es sich mit den Begriffen von der Entfernung, von der Figur, von der Schwere: mit einem Wort, alle Begriffe, die wir durch das Befühlen erhalten, setzen Vergleichungen und Urteile voraus.

Kaum ist der Fühlungssinn unterrichtet, so wird er der Lehrmeister der übrigen Sinne. Von ihm lernen die Augen, die durch sich selbst bloß von Licht und Farbe Empfindungen haben würden, von den Größen von den Figuren und von den Entfernungen zu urteilen, und sie unterrichten sich so schnell, daß es scheint, sie sehen ohne es gelernt zu haben. Es ist also bewiesen, daß das Vermögen Vernunftschlüsse zu machen anfängt, sobald unsere Sinne anfangen, sich zu entwickeln; und daß wir von unseren Sinnen nur darum frühzeitig Gebrauch machen können, weil wir frühzeitig Vernunftschlüsse gemacht haben.

Allein, wenn man räsonnieren muß, um sogar die ersten Begriffe zu erlangen, die uns von den Sinnen zugeführt werden, so wird man ohne Zweifel auch räsonnieren müssen, um die Kunst zu lernen, unsere Gedanken mitzuteilen.

Die Natur hat in unsere Organisation die ersten Bestandteile dieser Kunst gelegt. Indem sie uns nach einerlei Urbild formierte, hat sie uns körperliche Werkzeuge gegeben, die eben dieselben Wirkungen äußern, wenn wir eben dieselben Empfindungen haben: diese Wirkungen werden also natrlicherweise Ausdrücke der Empfindungen, die wir haben; und wir müssen sie nur beobachten, um von den Empfindungen, welche die andern haben, zu urteilen.

Nun hat ein Kind noch ehe es reden gelernt hat, schon einige Kenntnis von dieser Handlungssprache. Es hat also das, was in den körperlichen Werkzeugen Anderer etwas ähnliches bemerkt. Es kann sich dabei betrügen oder vielmehr es betrügt sich oft dabei: allein, selbst seine Irrtümer beweisen, daß es beobachtet, daß es verglichen, daß es geurteilt hat.

Seine Bedürfnisse sind der Beweggrund, der es antreibt zu beobachten. Deswegen lernt es bald, seine Begierden und seine Besorgnisse zu erkennen zu geben, sich zu versichern, was andere in Anbetracht seiner für Gesinnungen haben, und sich die Hilfsmittel, die ihm notwendig sind, zu verschaffen.

Die zwischen die Linien des Grundtextes eingeschaltete Übersetzung, die von Herrn du MARSAIS ersonnen wurden, ist ohne Zweifel die beste Methode, eine Sprache zu lehren. Nun ist das gerade die Methode, deren ein Kind folgt, das die Sprache seiner Väter lernt. In der Tat, man spreche den Namen einer Sache aus, wenn es durch seine Bewegungen andeutet, daß es dieselbe verlangt; so wird es alsbald urteilen, daß dieser Name das Zeichen der Sache selbst ist, und es wird daraus schließen, daß es denselben an die Stelle seiner Handbewegungen setzen könnte. Seine Handlung wird also einigermaßen die zwischen die Linien eingeschaltete Version der Wörter, die es hört: sie ist die Übersetzung der Sprache, die man es lehrt.

Man sage zu einem Kind: "man wird dich strafen, wenn du nicht weise bist", so wird es antworten können: "aber man wird mich belohnen, wenn ich weise bin", denn es wird urteilen, daß, weil man aus strafen "man wird strafen" macht, so muß man auch aus belohnen "man wird belohnen" machen.

Wir sehen, daß die Kinder beizeiten anfangen, die Analogien des Sprechens zu fassen. Wenn sie sich bisweilen dabei irren, so ist es nichtsdestoweniger wahr, daß sie räsonniert haben: allein der Gebrauch folgt den Regeln nicht immer so richtig wie sie. Oft geschieht es sogar, daß wir ihrem Witz auch dann, wenn sie Fehlern machen, unseren Beifall nicht verweigern können: darum weil diese Fehler selbst Vernunftschlüsse voraussetzen, deren wir sie nicht fähig glaubten. Ungeachtet dieser Erfahrungen, die uns die Augen öffnen sollten, wollen wir uns schlechterdings nicht den Wahn nehmen lassen, daß sie noch nicht in einem Alter sind, wo man räsonnieren kann. Wir verblenden uns so sehr, daß wir einen Vernunftschluß nicht bemerken, weil er nicht mit allen Sätzen, womit wir ihn gemeinhin ausdrücken, entwickelt ist. Und doch ist der Vernunftschluß ganz im Geist gemacht, ehe er noch ausgesprochen wird. Der Ausdruck gibt ihm nicht sein Dasein, er setzt ihn voraus, und man würde ihn nicht ausdrücken, wenn er nicht schon gemacht wäre. Ein Kind hat also einen Vernunftschluß im Geist gehabt, so oft wir daselbst eine Idee wahrnehmen, die es nur durchs Räsonnieren hat erlangen können.

Allein, wird man fragen, wenn ein Kind sagt: "aus strafen macht man er wird strafen, aus belohnen macht man folglich er wird belohnen, heit das Räsonnieren?" Ich antworte, daß das ganze Wesen des Räsonnierens in dieser Folgerung besteht, die wir durch ein folglich ausdrücken.

In der Tat, als NEWTON, indem er die auf der Oberfläche der Erde befindlichen Körper beobachtete, bei sich selbst sagte: sie haben eine Schwere gegen den Mittelpunkt der Erde, folglich hat der Mond eine Schwere gegen eben diesen Mittelpunkt; der Mond hat eine Schwere gegen den Mittelpunkt der Erde, folglich haben die Trabanten eine Schwere gegen den Mittelpunkt ihres Hauptplaneten; die Trabanten haben eine Schwere gegen den Mittelpunkt ihres Hauptplaneten, folglich haben alle Planeten eine Schwere gegen den Mittelpunkt der Sonne: was enthalten diese Folgerungen weiter als diesen Schluß: "man sagt er wird strafen, folglich sagt man auch er wird belohnen."

Der NEWTON, der das System des Weltgebäudes entfaltete, räsonnierte also nicht anders als der NEWTON, der betasten, sehen, reden lernte: er räsonnierte nicht anders als der NEWTON, der seine eigenen Empfindungen entwickelte. Beide beobachten, beide verglichen, beide urteilten; beide machten Folgerungen. Das Alter hat bloß die Gegenstände ihrer Studien verändert: allein ihr Geist der immer räsonnierte, hat immer auf eben dieselbe Art gewirkt.

Man muß das Räsonnieren nicht mit den Dingen worüber man räsonniert vermengen. Es gibt Sachen, worüber es schwer ist zu räsonnieren, weil es schwer ist, sie gut zu beobachten, sich bestimmte Begriffe davon zu machen, gut davon zu urteilen; und weil man überdies, um sie gut zu studieren, vorher andere Dinge studiert haben muß. Dies sind durchwegs Dinge, worüber die Kinder noch nicht räsonnieren können: muß man aber daraus schließen, daß sie auch nicht über andere Dinge räsonnieren?

Sie räsonnieren nicht allein; sondern von der Natur geleitet, wählen sie ihre Schritte besser als die Philosophen gemeiniglich die ihrigen: die Methode der sie folgen, ist diejenige Methode, die wir uns rühmen gefunden zu haben, und die erst nach vielen Jahrhunderten von uns gefunden worden ist; denn sie schreiten vom Bekannten zum Unbekannten, indem sie beobachten, nach ihren Beobachtungen urteilen und einen Scharfsinn beweisen, der sogar die Hindernisse übersteigt, die wir der Entwicklung ihrer Vernunft entgegensetzen. Sie sind schon weit gekommen, wenn sie anfangen zu reden: sie würden ohne Zweifel noch weiter kommen, wenn wir bei der ersten Anbauung ihres Geistes damit anfingen, sie auf die Art und Weise, wie sie sich ganz allein unterrichtet haben, aufmerksam zu machen; und wenn, nachdem wir sie haben fühlen lassen, daß die Methode, wodurch sie Kenntnisse erlangt haben, ihnen noch andere Kenntnisse verschaffen kann, wir sie von Beobachtung zu Beobachtung, von Urteil zu Urteil, von Folge zu Folge führten. Allein bloß darum, weil wir uns nicht zu ihrer Fassungskraft herablassen können, klagen wir sie an, daß sie eines Vernunftschlusses unfähig sind, während unsere Unwissenheit allein an ihrer Unfähigkeit Schuld ist.

Von dieser Wahrheit überzeugt, urteilte ich, daß der Prinz, dessen Unterricht man mir anvertraut hatte, mich leicht verstehen würde, wenn, indem ich ihn auf die Ideen, mit denen er vertraut war, aufmerksam machte, ich ihn bemerken ließ, durch welch eine Reihe von Vernunftschlüssen er dazu gekommen war. Diese Methode, die geschickt war, in seinem Geist Licht zu verbreiten, mußte überdies seine Neugierde rege machen, weil sie ihm zeigte, daß er, um zu neuen Kenntnissen zu gelangen, mit mir nur so fortschreiten mußte, wie er allein fortgeschritten war. Diese Betrachtung allein räumte alle Schwierigkeiten aus dem Weg, kam dem Ekel zuvor und flößte Zuversicht ein.

Dieser Plan schien mir simpel zu sein. Dennoch gestehe ich, daß ich nicht wagte, mir einen sicheren Erfolg zu versprechen. Denn ich sah, daß es allezeit meine Schuld sein würde, wenn mich der Prinz nicht versteht; und die Erfahrung allein konnte mich belehren, ob ich fähig sein würde, mich immer verständlich zu machen.

Das Schwerste war der Anfang: aber alle Schwierigkeit lief darauf hinaus, gut anzufangen. Ich mußte folglich gleich beim ersten Versuch meine Methode und mich beurteilen. Die ganze Gefahr, der ich mich aussetzte, war, einige Tage zu verlieren.

Man begreift, daß um meinen Plan auszuführen, ich mich meinem Zögling nhern und mich gänzlich an seine Stelle setzen mußte: ich mußte vielmehr Kind als Lehrmeister sein. Ich ließ ihn also spielen und spielte mit ihm: allein ich ließ ihn alles was er tat, und wie er es zu tun gelernt hatte, bemerken; und diese kleine Beobachtungen über seine Spiele waren ein neues Spiel für ihn. Er erkannte bald, daß er nicht allezeit der Bewegungen, die er bisher für natürlich gehalten hate, fähig gewesen war: er sah, wie man die Fertigkeiten erhält: er lernte wie man gute Fertigkeiten erlangen und die schlimmsten verbessern kann.

Sobald er wußte, daß der Körper nur insofern seine Bewegungen ordnen kann, als er sich Fertigkeiten erworben hat, so mußte, als ich ihm sagte, daß auch die Seele nur insofern denkt als sie denken gelernt und sich das Denken zur Fertigkeit gemacht hat, seine Neugierde hierdurch erstaunt und gereizt werden. Denn konnte er mutmaßen, daß er nicht allezeit eben dieselben Ideen gehabt hatte, die er nunmehr hatte, und daß er nicht allezeit gedacht hatte, wie er nunmehr denkt? Dieses Paradox, das seine Aufmerksamkeit rege machte, zog ihn ein wenig von seinen Spielen ab und das Kind, das anfing seinen Spielen weniger nachzuhängen, näherte sich dem Lehrmeister, so wie sich der Lehrmeister anfangs dem Kind genähert hatte.

Unter den Kenntnissen die der Prinz damals hatte, konnte ich leicht einige finden, die er sich erinnerte nicht immer gehabt zu haben; und diese einzige Beobachtung war hinreichend ihn mutmaßen zu machen, daß er sie vielleicht alle erlangt hatte. Außerdem war es genug, ihn bemerken zu lassen, daß er ohne die sinnlichen Empfindungen von den körperlichen Gegenständen keinen Begriff und ohne die Sinne keine Empfindungen würde gehabt haben: es blieb nichts übrig, als ihm die Erzeugung einiger seiner Begriffe zu erklären, das ist, ihm zu zeigen, wie er sie hervorgebracht hatte; und alsbald mußte er wahrnehmen, wie sie alle das Werk seines Geistes sein konnten.

Ich glaubte, daß, eh ich die erste Lektion schrieb, ich sie mit dem Prinzen selbst machen sollte. Ich beobachtete ihn daher einige Tage lang, ich unterhielt mich mit ihm, ich fand, daß er einen offenen Verstand hatte und lernte, wie ich mich ausdrücken mußte. Alsdann schrieb ich die erste Lektion, die weiter nichts als das Resultat war von dem, was wir gesprochen hatten. Der Prinz verstand sie bei der ersten Lesung.

Ich hatte wieder ein Gespräch mit ihm, eh ich die zweite schrieb; ich tat das Gleiche, eh ich die dritte zu Papier brachte; und mit dieser Vorsicht sind die Vorbereitungslektionen gemacht worden. Diejenigen, die von der Methode, der ich gefolgt bin, nur oberflächlich urteilen, werden Mühe haben zu begreifen, daß ein Kind von sieben Jahren in weniger als einem Monat sich allen Ideen, die sie enthalten, hat vertraut machen können.


Kurzer Inbegriff der
Vorbereitungslektionen

Die Hauptgegenstände der Vorbereitungslektionen waren die Ideen, die Wirkungen der Seele, die Fertigkeiten, der Unterschied der Seele und des Körpers und das Dasein eines höchsten Wesens. Ich will hiervon einen kurzen Inbegriff in fünf Artikeln geben.

Es ist unnütz, die Lektionen selbst hierher zu setzen, indem sie einzig und allein für den Prinzen, und zwar nach den Unterredungen, die ich mit ihm gehabt hatte, gemacht worden sind. Oft kam ich in der folgenden Lektion wieder zu den Ideen zurück, die ich ihm in der vorhergehenden mitgeteilt hatte, und, um ihn recht vertraut damit zu machen, hielt ich sie seinem Geist auf eine neue Art vor. Bisweilen machte ich in der geschriebenen Lektion Digressionen [Abweichungen - wp] von meinem Gegenstand, weil mich die Neugierde meines Zöglings in einem Gespräch zu Digressionen verleitet hatte. So notwendig diese Digressionen und diese Wiederholungen zwischen dem Prinzen und mir waren, so unnütz würde es sein, sie hier dem Publikum vorzulegen Man würde darin nichts als Unordnung finden und sie als einen Fehler tadeln, weil man nicht beurteilen kann, wie nützlich sie zu meinem Zweck gewesen sind.
LITERATUR - Etienne de Condillac, Allgemeine philosophische Sprachlehre, Bern 1793
    Anmerkungen
    1) Ich will noch einmal beweisen, daß die Kinder fähig sind Vernunftschlüsse zu machen. Wenn man ein Vorurteil bestreitet, so ist man genötigt, es zum wiederholten Mal anzugreifen.