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FRIEDRICH NIETZSCHE
Zur Genealogie der Moral
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"Mir nun scheint es umgekehrt gar keine Dinge zu geben, die es mehr  lohnten, daß man sie ernst nimmt; zu welchem Lohn es zum Beispiel gehört, daß man eines Tages vielleicht die Erlaubnis erhält, sie  heiter zu nehmen. Die Heiterkeit nämlich oder, um es in meiner Sprache zu sagen,  die fröhliche Wissenschaft - ist ein Lohn: ein Lohn für einen langen, tapferen, arbeitsamen und unterirdischen Ernst, der freilich nicht jedermanns Sache ist. An dem Tage aber, wo wir aus vollem Herzen sagen: vorwärts! auch unsere alte Moral gehört  in die Komödie! ..."


Vorwort

1. Wir sind uns unbekannt, wir Erkennenden, wir selbst uns: das hat seinen guten Grund. Wir haben nie nach uns gesucht, - wie sollte es geschehen, daß wir eines Tages uns  fänden?  Mit Recht hat man gesagt: "wo euer Schatz ist, da ist auch euer Herz",  unser  Schatz ist, wo die Bienenkörbe unserer Erkenntnis stehen. Wir sind immer dazu unterwegs, als geborene Flügeltiere und Honigsammler des Geistes, wir kümmern uns von Herzen eigentlich nur um Eins - Etwas "heimzubringen". Was das Leben sonst, die sogenannten "Erlebnisse" angeht, - wer von uns hat dafür auch nur Ernst genug? Oder Zeit genug? Bei solchen Sachen waren wir, fürchte ich, nie recht "bei der Sache": wir haben eben unser Herz nicht dort - und nicht einmal unser Ohr! Vielmehr wie ein Göttlich-Zerstreuter und In-sich-Versenkter, dem die Glocke eben mit aller Macht ihre zwölf Schläge des Mittags ins Ohr gedröhnt hat, mit  einem  Male aufwacht und sich fragt "was hat es da eigentlich geschlagen?" so reiben auch wir uns mitunter  hinterher  die Ohren und fragen, ganz erstaunt, ganz betreten, "was haben wir da eigentlich erlebt? mehr noch: wer  sind  wir eigentlich?" und zählen nach, hinterher, wie gesagt, alle die zitternden zwölf Glockenschläge unseres Erlebnisses, unseres Lebens, unseres  Seins - ach! und verzählen uns dabei ... Wir bleiben uns eben notwendig fremd, wir verstehen uns nicht, wir  müssen  uns verwechseln, für uns heißt der Satz in alle Ewigkeit "Jeder ist sich selbst der Fernst", - für uns sind wir keine "Erkennenden" ...

2. - Meine Gedanken über die  Herkunft  unserer moralischen Vorurteile - denn um sie handelt es sich in dieser Streitschrift - haben ihren ersten, sparsamen und vorläufigen Ausdruck in jener Aphorismen-Sammlung erhalten, die den Titel trägt "Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister" und deren Niederschrift in Sorrent begonnen wurde, während eines Winters, welcher es mir erlaubte, Halt zu machen, wie ein Wanderer Halt macht, und das weite und gefährliche Land zu überschauen, durch das mein Geist bis dahin gewandert war. Dies geschah im Winter 1876-77; die Gedanken selbst sind älter. Es waren in der Hauptsache schon die gleichen Gedanken, die ich in den vorliegenden Abhandlungen wieder aufnehme: - hoffen wir, daß die lange Zwischenzeit ihnen gut getan hat, daß sie reifer, heller, stärker, vollkommener geworden sind!  Daß  ich aber heute noch an ihnen festhalte, daß sie sich selber inzwischen immer fester aneinander gehalten haben, ja ineinander gewachsen und verwachsen sind, das stärkt in mir die frohe Zuversichtlichkeit, sie möchten von Anfang an in mir nicht einzeln, nicht beliebig, nicht sporadisch entstanden sein, sondern aus einer gemeinsamen Wurzel heraus, aus einem in der Tiefe gebietenden, immer bestimmter redenden, immer Bestimmteres verlangenden  Grundwillen  der Erkenntnis. So allein nämlich geziemt es sich bei einem Philosophen. Wir haben kein Recht darauf, irgendworin  einzeln  zu sein: wir dürfen weder einzeln irren, noch einzeln die Wahrheit treffen. Vielmehr mit der Notwendigkeit, mit der ein Baum seine Früchte trägt, wachsen aus uns unsere Gedanken, unsere Werte, unsere  Ja  und  Nein  und  Wenn  und  Ob - verwandt und bezüglich allesamt untereinander und Zeugnisse  eines  Willens,  einer  Gesundheit,  eines  Erdreichs,  einer  Sonne. - Ob sie  euch  schmecken, diese unsere Früchte? - Aber was geht das die Bäume an! Was geht das  uns  an, uns Philosophen! ...

3. Bei einer mir eigenen Bedenklichkeit, die ich ungern eingestehe, - sie bezieht sich nämlich auf die  Moral,  auf alles, was bisher auf Erden als Moral gefeiert worden ist -, einer Bedenklichkeit, welche in meinem Leben so früh, so unaufgefordert, so unaufhaltsam, so in Widerspruch gegen Umgebung, Alter, Beispiel, Herkunft auftrat, daß ich beinahe das Recht hätte, sie mein  "A priori"  zu nennen, - mußte meine Neugierde ebenso wie mein Verdacht bei Zeiten an der Frage Halt machen,  welchen Ursprung  eigentlich unser Gut und Böse hat. In der Tat ging mir bereits als dreizehnjährigen Knaben das Problem vom Ursprung des Bösen nach: ihm widmete ich, in einem Alter, wo man "halb Kinderspiele, halb Gott im Herzen" hat, mein erstes literarisches Kinderspiel, meine erste philosophische Schreibübung - und was meine damalige "Lösung" des Problems anbetrifft, nun, so gab ich, wie es billig ist, Gott die Ehre und machte ihn zum  Vater  des Bösen. Wollte es gerade  s o mein  "A priori"  von mir? jenes neue, unmoralische, mindestens immortalistische  "A priori"  und der aus ihm redende ach! so anti-kantische, so rätselhafte "kategorische Imperativ", dem ich inzwischen immer mehr Gehör und nicht nur Gehör geschenkt habe? ... Glücklicherweise lernte ich bei Zeiten das theologische Vorurteil vom moralischen abscheiden und suchte nicht mehr den Ursprung des Bösen  hinter  der Welt. Etwas historische und philologische Schulung, eingerechnet ein angeborener wählerische Sinn im Hinblick auf psychologische Fragen überhaupt, verwandelte in Kürze mein Problem in das andere: unter welchen Bedingungen erfand sich der Mensch jene Werturteile gut und böse?  und welchen Wert haben sie selbst?  Hemmten oder förderten sie bisher das menschliche Gedeihen? Sind sie ein Zeichen für Notstand, von Verarmung, von Entartung des Lebens? Oder umgekehrt, verrät sich in ihnen die Fülle, die Kraft, der Wille des Lebens, sein Mut, seine Zuversicht, seine Zukunft? - Darauf fand und wagte ich bei mir mancherlei Antworten, ich unterschied Zeiten, Völker, Ranggrade der Individuen, ich spezialisierte mein Problem, aus den Antworten wurden neue Fragen, Forschungen, Vermutungen, Wahrscheinlichkeiten: bis ich endlich ein eigenes Land, einen eigenen Boden hatte, eine ganz verschwiegene wachsende blühende Welt, heimliche Gärten gleichsam, von denen niemand etwas ahnen durfte ... Oh wie wir  glücklich  sind, wir Erkennenden, vorausgesetzt daß wir nur lange genug zu schweigen wissen! ...

4. Den ersten Anstoß, von meinen Hypothesen über den Ursprung der Moral etwas zu verlautbaren, gab mir ein klares, sauberes und kluges, auch altkluges Büchlein, in welchem mir eine umgekehrte und perverse Art von genealogischen Hypothesen, ihre eigentlich  englische  Art, zum ersten Mal deutlich entgegentrat, und das mich anzog - mich jener Anziehungskraft, alles Entgegengesetzte, alles Antipodische hat. Der Titel des Büchleins war "Der Ursprung der moralischen Empfindungen"; sein Verfasser Dr. PAUL RÉE; das Jahr seines Erscheinens 1877. Vielleicht habe ich niemals etwas gelesen, zu dem ich dermaßen, Satz für Satz, Schluß für Schluß, bei mir Nein gesagt hätte wie zu diesem Buch: doch ganz ohne Verdruß und Ungeduld. In dem vorher bezeichneten Werk, an dem ich damals arbeitete, nahm ich gelegentlich und ungelegentlich auf die Sätze jenes Buchs Bezug, nicht indem ich sie widerlegte - was habe ich mit Widerlegungen zu schaffen! - sondern, wie es einem positiven Geist zukommt, anstelle des Unwahrscheinlichen das Wahrscheinlichere setzend, unter Umständen anstelle eines Irrtums einen andern. Damals brachte ich, wie gesagt, zum ersten Mal jene Herkunfts-Hypothesen ans Tageslicht, denen diese Abhandlungen gewidmet sind, mit Ungeschick, wie ich mir selbst am letzten verbergen möchte, noch unfrei, noch ohne eine eigene Sprache für diese eigenen Dinge und mit mancherlei Rückfälligkeit und Schwankung. Im Einzelnen vergleiche man, was ich  Menschliches, Allzumenschliches (Seite 68) über die doppelte Vorgeschichte von Gut und Böse sage (nämlich aus der Sphäre der Vornehmen und der der Sklaven); desgleichen Seite 141f über Wert und Herkunft der asketischen Moral; desgleichen Seite 78, 82 und II, 35 über die "Sittlichkeit der Sitte", jene viel ältere und ursprünglichere Art Moral welche  toto coelo [völlig - wp] von der altruistischen Wertungsweise abliegt (in der Dr. RÉE, gleich allen englischen Moralgenealogen, die moralische Wertungsweise  ansich  sieht); desgleichen Seite 74  Wanderer,  Seite 29  Morgenröte,  Seite 99 über die Herkunft der Gerechtigkeit als eines Ausgleichs zwischen ungefähr Gleich-Mächtigen (Gleichgewicht als Voraussetzung aller Verträge, folglich allen Rechts); desgleichen über die Herkunft der Strafe  (Wanderer,  Seite 25 und 34, für die der terroristische Zweck weder essentiell, noch ursprünglich ist (wie Dr. RÉE meint: - er ist ihr vielmehr erst eingelegt, unter bestimmten Umständen, und immer als ein Nebenbei, als etwas Hinzukommendes).

5. Im Grunde lag mir gerade damals etwas viel Wichtigeres am Herzen als eigenes oder fremdes Hypothesenwesen über den Ursprung der Moral (oder, genauer: letzteres allein um eines Zweckes willen, zu dem es eins unter vielen Mitteln ist). Es handelte sich für mich um den  Wert  der Moral, - und darüber hatte ich mich fast allein mit meinem großen Lehren SCHOPENHAUER auseinanderzusetzen, an den sich wie an einen Gegenwärtigen jenes Buch, die Leidenschaft und der geheime Widerspruch jenes Buch wendet (- denn auch jenes Buch war eine "Streitschrift"). Es handelte sich in Sonderheit um den Wert des "Unegoistischen", der Mitleids-, Selbstverleugnungs-, Selbstopferungs-Instinkte, welche gerade SCHOPENHAUER so lange vergoldet, vergöttlicht und verjenseitigt hatte, bis sie ihm schließlich als die "Werte ansich" übrig blieben, aufgrund deren er zum Leben, auch zu sich selbst,  Nein sagte.  Aber gerade gegen  diese  Instinkte redete aus mir ein immer grundsätzlicherer Argwohn, eine immer tiefer grabende Skepsis! Gerade hier sah ich die  große  Gefahr der Menschheit, ihre sublimste Lockung und Verführung - wohin doch? ins Nichts? - gerade hier sah ich den Anfang vom Ende, das Stehenbleiben, die zurückblickende Müdigkeit, den Willen  gegen  das Leben sich wendend, die letzte Krankheit sich zärtlich und schwermütig ankündigend: ich verstand die immer mehr um sich greifende Mitleids-Moral, welche selbst die Philosophen ergriff und krank machte, als das unheimlichste Symptom unserer unheimlich gewordenen europäischen Kultur, als ihren Umweg zu einem neuen Buddhismus? zu einem Europäer-Buddhismus? zum -  Nihilismus? ... Diese moderne Philosophen-Bevorzugung und Überschätzung des Mitleidens ist nämlich etwas Neues: gerade über den  Unwert  des Mitleidens waren bisher die Philosophen übereingekommen. Ich nenne nur PLATO, SPINOZA, La ROCHEFOUCAULD und KANT, vier Geister so verschieden voneinander wie möglich, aber in  einem  Eins: in der Geringschätzung des Mitleidens. -

6. Dieses Problem vom  Wert  des Mitleids und der Mitleidsmoral (- ich bin ein Gegner der schändlichen modernen Gefühlsverweichlichung -) scheint zunächst nur etwas Vereinzeltes, ein Fragezeichen für sich; wer aber einmal hier hängen bleibt, hier fragen  lernt,  dem wird es gehen, wie es mir ergangen ist: - eine ungeheure neue Aussicht tut sich ihm auf, eine Möglichkeit faßt ihn wie ein Schwindel, jede Art Mißtrauen, Argwohn, Furcht springt hervor, der Glaube an die Moral, an alle Moral wankt, - endlich wird eine neue Forderung laut. Sprechen wir sie aus, diese  neue Forderung:  wir haben eine  Kritik  der moralischen Werte nötig,  der Wert dieser Werte ist selbst erst einmal in Frage zu stellen  - und dazu tut eine Kenntnis der Bedingungen und Umstände not, aus denen sie gewachsen, unter denen sie sich entwickelt und verschoben haben (Moral als Folge, als Symptom, als Maske, als Tartüfferie [Heuchelei - wp], als Krankheit, als Mißverständnis; aber auch Moral als Ursache, als Heilmittel, als Stimulans, als Hemmung, als Gift), wie eine solche Kenntnis weder bis jetzt da war, noch auch nur begehrt worden ist. Man nahm den  Wert  dieser "Werte" als gegeben, als tatsächlich, als jenseits aller In-Frage-Stellung; man hat bisher auch nicht im Entferntesten daran gezweifelt und geschwankt, "den Guten" für höherwertig als "den Bösen" anzusetzen, höherwertig im Sinne der Förderung, Nützlichkeit, Gedeihlichkeit im Hinblick auf  den  Menschen überhaupt (die Zukunft des Menschen eingerechnet). Wie? wenn das Umgekehrte die Wahrheit wäre? Wie? wenn im "Guten" auch ein Rückgangssymptom läge, desgleichen eine Gefahr, eine Verführung, ein Gift, ein Narcoticum, durch das etwa die Gegenwart  auf Kosten der Zukunft  lebte? Vielleicht behaglicher, ungefährlicher, aber auch in kleinerem Stil, niedriger? ... So daß gerade die Moral daran Schuld wäre, wenn eine ansich mögliche  höchste Mächtigkeit und Pracht  des Typus Mensch niemals erreicht würde? So daß gerade die Moral die Gefahr der Gefahren wäre? ...

7. Genug, daß ich selbst, seitdem sich mir dieser Ausblick öffnete, Gründe hatte, mich nach gelehrten, kühnen und arbeitsamen Genossen umzusehen (ich tue es heute noch). Es gilt, das ungeheure, ferne und so versteckte Land der Moral - der wirklich dagewesenen, wirklich gelebten Moral - mit lauter neuen Fragen und gleichsam mit neuen Augen zu bereisen: und heißt dies nicht beinahe so viel wie dieses Land erst  entdecken? ...

Wenn ich dabei, unter Anderen, auch an den genannten Dr. RÉE dachte, so geschah es, so geschah es, weil ich gar nicht zweifelte, daß er von der Natur seiner Fragen selbst auf eine richtigere Methodik, um zu Antworten zu gelangen, gedrängt werden würde. Habe ich mich darin betrogen? Mein Wunsch war es jedenfalls, einem so scharfen und unbeteiligten Auge eine bessere Richtung, die Richtung zur wirklichen  Historie der Moral  zu geben und ihn vor einem solchen englischen Hypothesenwesen  ins Blaue  noch zur rechten Zeit zu warnen. Es liegt ja auf der Hand, welche Farbe für einen Moral-Genealogen hundert Mal wichtiger sein muß als gerade das Blaue: nämlich  das Graue,  will sagen, das Urkundliche, das Wirklich-Feststellbare, das Wirklich-Dagewesene, kurz: die ganze lange, schwer zu entziffernde Hieroglyphenschrift der menschlichen Moral-Vergangenheit! - Diese  war dem Dr. RÉE unbekannt; aber er hatte DARWIN gelesen: - und so reichen sich in seinen Hypothesen auf eine Weise, die zumindest unterhaltend ist, die DARWINsche Bestie und der allermodernste bescheidene Moral-Zärtling, der "nicht mehr beißt", artig die Hand, letzterer mit dem Ausdruck einer gewissen gutmütigen und feinen Indolenz im Gesicht, in die selbst ein Gran von Pessimismus, von Ermüdung eingemischt ist: als ob es sich eigentlich gar nicht lohnt, alle diese Dinge - die Probleme der Moral - so ernst zu nehmen. Mir nun scheint es umgekehrt gar keine Dinge zu geben, die es mehr  lohnten,  daß man sie ernst nimmt; zu welchem Lohn es zum Beispiel gehört, daß man eines Tages vielleicht die Erlaubnis erhält, sie  heiter  zu nehmen. Die Heiterkeit nämlich oder, um es in meiner Sprache zu sagen,  die fröhliche Wissenschaft - ist ein Lohn: ein Lohn für einen langen, tapferen, arbeitsamen und unterirdischen Ernst, der freilich nicht jedermanns Sache ist. An dem Tage aber, wo wir aus vollem Herzen sagen: "vorwärts! auch unsere alte Moral gehört  in die Komödie!"  haben wir für das dionysische Drama vom "Schicksal der Seele" eine neue Verwicklung und Möglichkeit entdeckt - und er wird sie sich schon zunutze machen, darauf darf man wetten, er, der große alte ewige Komödiendichter unseres Daseins! ...

8. - Wenn diese Schrift irgendjemandem unverständlich ist und schlecht zu Ohren geht, so liegt die Schuld, wie mich dünkt, nicht notwendig an mir. Sie ist deutlich genug, vorausgesetzt, was ich voraussetze, daß man zuerst meine früheren Schriften gelesen und einige Mühe dabei nicht gespart hat: diese sind in der Tat nicht leicht zugänglich. Was zum Beispiel meinen "Zarathustra" anbetrifft, so lasse ich niemanden als dessen Kenner gelten, den nicht jedes seiner Worte irgendwann einmal tief verwundet und irgendwann einmal tief entzückt hat: erst dann nämlich darf er des Vorrechts genießen, an dem halkyonischen Element, aus dem jenes Werk geboren ist, an seiner sonnigen Helle, Ferne, Weite und Gewißheit ehrfürchtig Anteil zu haben. In anderen Fällen macht die aphoristische Form Schwierigkeit: sie liegt darin, daß man diese Form heute  nicht schwer genug  nimmt. Ein Aphorismus, rechtschaffen geprägt und ausgegossen, ist damit, daß er abgelesen ist, noch nicht "entziffert"; vielmehr hat nun erst dessen  Auslegung  zu beginnen, zu der es einer Kunst der Auslegung bedarf. Ich habe in der dritten Abhandlung dieses Buchs ein Muster von dem dargeboten, was ich in einem solchen Fall "Auslegung" nenne: - dieser Abhandlung ist ein Aphorismus vorangestellt, sie selbst ist dessen Kommentar. Freilich tut, um dergestalt das Lesen als  Kunst  zu üben, Eins vor allem not, was heutzutage gerade am besten verlernt worden ist - und darum hat es noch Zeit bis zur "Lesbarkeit" meiner Schriften -, zu dem man beinahe Kuh und jedenfalls  nicht  "moderner Mensch" sein muß: das  Wiederkäuen ...

Sils-Maria, Oberengadin
im Juli 1887
LITERATUR - Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, Nietzsches Werke, Bd. VII, Stuttgart 1921