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Wirklichkeit und Macht [Individuum und Allgemeinheit in Wissenschaft und Politik] [3/4] II. Teil Die Wirklichkeit der Macht Realisierung und Wille Die Notwendigkeit zu handeln reicht weiter, als die Notwendigkeit zu erkennen. Damit hat die Realisierung Vorrang vor der Realität. Erkennen heißt handeln. In der Erkenntnis bilden Theorie und Praxis eine Einheit. Erkenntnis bewirkt nichts, wenn sie nicht mit dem Willen zu handeln verbunden ist. Wirklich wollen ist dasselbe, wie tun. Ein Wille, der nichts beschließt, ist kein wirklicher Wille. Mit Absichten, die nicht zu Handlungen führen, zerstören wir uns selbst. In diesem Sinne ist der Weg in die Hölle mit guten Vorsätzen gepflastert. Der Wille ist, neben der Liebe und der Vernunft, die eigentliche Grundwurzel im menschlichen Wesen. Der Wille ist die letzte Neigung beim Überlegen und "übersetzt das Denken ins Dasein". (1) Er ist aber auch ein Punkt, zu dem das Denken allein nicht unbedingt gelangen muß. Zwischen dem Denken und dem Willen liegt eine irrationale Grenzlinie, die nur durch einen Sprung überwunden werden kann. Von der unendlichen Welt der Gedanken in eine Welt der konkreten Wirklichkeit gelangt nur der ganzheitliche Mensch, d. h. der Mensch, der der Rationalität seines Verstandes keine besondere Vorrangstellung einräumt. Letztlich steht der Verstand im Dienst des Willens. Aus dem Wollen entstehen die Widersprüche. Wonach es den Willen drängt, ist die Freiheit zur Verwirklichung. Weil der Mensch einen Willen hat, ist der Widerspruch das Prinzip der Individualität. Jede Seele hat ihre eigenen Bedingungen und ist etwas Einmaliges und Unwiederholbares. Deshalb kann es außerhalb der Freiheit des Wollens nichts Menschliches geben. Das wollende Ich muß im Grund seines Wesens als frei verstanden werden. Nur mit einem freien Willen ist ein Mensch frei, weil nur so seine einzigartige Individualität zum Tragen kommt. Freiheit muß im individuellen Sosein liegen. Unabhängigkeit existiert nur im Individuum, in der Einzahl. Dem Willen die Freiheit nehmen bedeutet einem Menschen den Willen nehmen und damit nimmt man gleichzeitig allen seinen Handlungen die Sittlichkeit. Ein Mensch, der zu einer bestimmten Handlung gezwungen wird, büßt seine Verantwortlichkeit ein. Es kann kaum etwas Entsetzlicheres geben, als Handlungen eines Menschen, die unter einem fremden Willen stehen. Ein ohne sein Wissen und seine Zustimmung hypnotisierter Mensch z. B. ist kein Mensch mehr. Konflikte, Streit, Kampf und Krieg sind letztlich nichts anderes, als die Folge davon, daß Menschen ihren Willen und die damit verbundenen Interessen durchsetzen wollen. Das bewußte Erkennen des eigenen Willens ist einzig Sache des Individuums und beruth letztlich auf der individuellen Wahl zwischen Gut und Böse oder Lust und Unlust, je nach der Ebene, auf der der einzelne Mensch seine Entscheidungskriterien findet. Auf der Autonomie des Gewissens beruht die innere Freiheit des Menschen. Das Grundverhältnis des Selbstseins ist sich entschließen. Der moralische Standpunkt ist das Recht des subjektiven Willens. Die persönliche Gewissensentscheidung steht über jedem gesetztem Recht. Es ist eine allesbedeutende Tatsache, daß jeder Einzelne von uns mit einem einzigartigen Gewissen und Eigenverantwortlichkeit ausgezeichnet ist. Der Mensch und das Individuum existiert überhaupt erst durch seine ethische Subjektivität. Mensch ist eine moralische Kategorie. Wir können den Menschen gar nicht anders, als moralisch definieren. Moralische Praxis ist also eine Leistung, die jeder Mensch selbst zu erbringen hat. Jeder Mensch hat sein eigenes Leben zu leben und kann sich dabei von niemandem vertreten lassen. Im Gewissen haben wir das Instrument, das uns befähigt, unsere Wahrheit zu erkennen. Die Erkenntnis des Gewissens fordert, daß wir in tiefster Seele wahr gegen uns selbst sind. Erkenne dich selbst! ist überhaupt der Ausgangspunkt jeder wahren Erkenntnis. In der echten Selbstschau entwickeln wir unser Wertempfinden und gründen unsere Normen. Normen und Werte beruhen so letztlich auf subjektiven Gefühlen, auch wenn diese Gefühle in der Vernunft mit unserer Verstandestätigkeit in Einklang gebracht werden müssen. Die Sittlichkeit ist nur am subjektiven Grund der Handlung interessiert und kennt keine objektiven Gründe. Das Wollen des Guten entscheidet über die Sittlichkeit, nicht, daß etwas gern gewollt oder getan wird. Das Kennzeichen des menschlich Guten ist, daß es um seiner selbst willen erstrebt werden muß. Wahre Moral kann sich nur in Freiheit verwirklichen und muß die Möglichkeit bewußt böse zu handeln beinhalten. Die Autonomie des Gewissens und die Freiheit der Wahl bedeuten auch, daß ich die Möglichkeit habe, das Böse zu wählen. Da es kein objektiv Gutes oder Schlechtes gibt, sind Gut und Böse auf den Betrachter bezogen und haben keine allgemeine Gültigkeit. Für das Gewissen kann es keine systematische Regel geben, nach der zu handeln wäre, weil wir nicht handeln, wenn wir eine Regel befolgen. Allgemeine moralische Regeln aufzustellen ist weder möglich, noch wünschenswert. Ethik sagt nicht, was das Gute ist, sondern wie man dazu kommt, etwas als gut zu beurteilen. Alle müssen das und das tun kann nur falsch sein. Es kann keinen allgemeingültigen Maßstab geben, nachdem sich Handlungen allgemeinverbindlich moralisch beurteilen lassen. Moralische Prinzipien können nie mehr als Faustregeln sein und grobe Richtlinien, die dazu dienen, die individuelle Bedeutung einer Situation herauszuarbeiten. Es gibt kein Gesetz, das mit Sicherheit und von vornherein für jede ausdenkbare Situation gilt. Wenn neue Fälle auftreten, erweisen sich bestehende Gesetze immer als ungenügend, so daß man ständig versucht ist, neue Gesetze zu machen. Wenn es keine objektiven Probleme gibt, kann es auch keine allgemeingültigen Lösungen geben. Freiheit ist Maxime und Zielbegriff der Moral. Ohne Freiheit bleibt das Phänomen des moralischen Gewissens unerklärbar. Die Frage, ob der Mensch die Freiheit der Wahl hat oder nicht, erübrigt sich, weil sonst Moral und Recht, bzw. Unrecht sinnlos wären. Ohne freien Willen könnte es kein Recht und keine Moral geben. Wenn der Mensch nicht die Wahl hat zwischen gut und böse, gibt es kein Gut und Böse mehr und weder Laster noch Tugend, noch Verdienst. Freiheit muß Freiheit sein und nicht das Gute. Das Böse hat seine Bedeutung als Böses nur, weil es ein Werk der Freiheit ist. Deshalb daraf auch unter keinen Umständen der Versuch gemacht werden, moralische Macht auszuüben. Sittlich ist nur, was aus Freiheit geschieht, deshalb wird wahre Sittlichkeit nur im Kampf mit dem eigenen Ich errungen. Ein äußerlich aufgezwungenes Gut ist nicht mehr gut, sondern schlecht. Das Gute, das erzwungen wird, treibt das Böse in uns erst hervor. In der Natur selbst gibt es kein Gut und Böse. In der Welt ist alles so, wie es ist, es gibt in ihr keinen Wert. Wert entsteht durch menschliches Interesse. Gut und Böse sind ideelle Verlängerungen unseres Handelns. Erst der Gedanke macht die Dinge gut oder schlecht. Die psychologische Wirklichkeitswelt kennt nur ein Wollen, in der verallgemeinernden Logik des Begriffs wird sie zu einem Sollen. Die Logik lenkt den Verstand, die Moral den Willen. In der Logik schaffen wir eine Welt der identischen Fälle und versuchen sie unseren Wirklichkeitszwecken anzupassen. Das Böse folgt dann quasi aus der Definition der Realität. Aus der Welt lassen sich aber keine Normen und Pflichten ableiten. Fakten schaffen kein Recht. Es ist unmöglich, das, was sein sollte, von dem abzuleiten, was ist. Die Wirklichkeit ist in ständigem Fluß. Das sollte zu großer Vorsicht bei der Formulierung allgemeiner Aussagen führen. Jede moralische Situation ist einzigartig. Es hängt von unseren Interessen ab, was wir wahrnehmen, so daß Tatsachen nicht von Wertungen zu trennen sind. Deshalb ist der sittliche Konflikt logisch nicht lösbar. Die moralische Entscheidung ist eine ausschließlich individuelle und spezielle Angelegenheit, die Logik hat es aber nur mit Allgemeinplätzen zu tun. Der Versuch, allgemeine Regeln festzulegen, geht auf Kosten der Menschlichkeit. Reine Logik und menschliches Vertrauen vertragen sich nicht. Die Erscheinungswelt ist das Bedingte und Gegebene. Die Moral ist eine unbedingte Forderung im Bedingten. Böse ist das Leben eines Menschen, das im Bedingten bleibt. Man kann deshalb ohne weiteres von Schuld sprechen, wenn jemand sein Leben bei gewöhnlicher Lohnarbeit in Büros und Fabriken erschöpft. "Es ist höchst verwerflich, die Gesetze über das, was ich tun soll, von demjenigen herzunehmen, oder durch das einzuschränken, was getan wird." (2) Gesellschaft heißt, daß Normen das Verhalten der Menschen regeln. Wenn jedes Individuum fortwährend seine persönlichen Vorteile ausnützen würde, wäre kein gesellschaftliches Leben möglich. Deshalb ist das Grundschema der Moral immer die Unterordnung der partikularen Bedürfnisse, Wünsche und Bestrebungen unter gesellschaftliche Anforderungen der Gerechtigkeit und *Gleichheit. Das Gleichheitsprinzip ist der Grund der Assoziation. Ohne Gleichheit gibt es keine Gesellschaft. Die Freiheit des Einzelnen muß da aufhören, wo sie durch ihre Übergriffe die moralische Gleichheit und das gleiche Recht verletzt. Die moralische Gleichheit aller Menschen ist deshalb eine unumstößliche Tatsache und ein absolutes gesellschaftliches Recht. Die Gleichheit ist die Grenze der Freiheit. Moralische Werte sind gesellschaftliche Werte. Ein Mensch allein kann nicht frei sein. Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit geben für einen einzelnen Menschen allein keinen Sinn. Das Paradox der Freiheit besteht z. B. darin, daß absolut uneingeschränkte Freiheit mit Notwendigkeit zum Verschwinden der Freiheit führt. Schrankenlose Freiheit würde bedeuten, daß es dem Stärkeren freisteht, den Schwächeren zu tyrannisieren. Freiheit kann deshalb nichts anderes sein, als die vorrechtslose und gleiche Freiheit aller Menschen. Gleich sind sich Menschen insofern,, als sie ein Zweck in sich sind und niemals Mittel für andere. Das Interesse der gesellschaftlichen Allgemeinheit muß Vorrechtslosigkeit sein, denn nur als solche kann sie existieren. Der Gesellschaft muß daran gelegen sein, gerecht zu sein. Das Wesen der Gerechtigkeit ist aber individueller Natur und heißt Verhältnismäßigkeit. Gerechtigkeit besteht darin, jedem das Seine zu geben und nicht jedem das Gleiche. Jeder Fall ist ein Gesetz für sich. Gleiches muß gleich und Ungleiches ungleich behandelt werden. Das wirklich strenge Gesetz verzichtet auf jede systematische Festlegung. Solange einige Menschen Anderen Gewalt antun möchten, kann es keine völlige Freiheit geben. Nehme ich das, was ich brauche, einem Anderen mit Gewalt, so muß ich ihn beherrschen. Freiheit kann sich darum nur durch die Überwindung der Gewalt durch das Recht verwirklichen. Wo Gewalt ist, gilt kein Recht und wo Recht ist, richtet es sich gegen Willkür. Der Schutz vor Unfreiheit existiert dadurch, daß ein Recht die persönliche Freiheit zur Gewißheit macht. Im Rechtszustand wird eine, über die Notwehr als Ausnahmesituation hinausgehende Gewalt, als Mittel individueller Konfliktbewältigung abgelehnt. Die Konstitution des Rechts, als Zusammenfassung der allgemeinen Gleichheit, wird zum Ausgangspunkt obrigkeitlicher Macht. Souveränität entsteht als Recht der Allgemeinheit gegen die Privilegien der Einzelnen. Nun ist eine schützende Macht zugleich immer eine beherrschende. Überall, wo Schutz gewährt wird, entsteht Herrschaft über den Beschützten. Problematisch ist aber nicht die Herrschaft als solche, sondern ihre Legitimation. Es darf nicht die Macht sein, die die Maßstäbe des Rechts bestimmt. Gewalt als Macht ist weder legitimationsbedürftig, noch legitimationsfähig. Gewalt läßt sich nicht rechtfertigen, sei es nun institutionelle, oder etwa revolutionäre, außer eben wieder durch Gewalt. Legitim ist eine Rechtsprechung und Exekutive erst dann, wenn sie eine Zustimmung genießen, die jeden einschließt. Fehlt diese absolut allgemeine Zustimmung, dann handelt es sich um einen Zwangs- oder Gewaltstaat. Wo im Recht die Möglichkeit der Zustimmung aufhört, da verkehrt sich Recht in Unrecht und rechtlicher Zwang in Gewalt. Der Staat wird so zu einem unfreiwilligen Rechtsverhältnis und die Rechtsordnung eine despotische. Gesellschaftliche Ordnung muß auf einem Vertrag beruhen und die Ausübung von Macht kann nur die Folge eben dieses Rechtsvertrages sein. Dabei liegt zwischen Recht und Gesetz ein weiter Abstand. Beides sind eigentlich Gegensätze. Das Gesetz ist wie eine Fessel, das Recht bedeutet Freiheit. Der Unterschied von Recht und Gesetz ist der gleiche wie der zwischen Legitimität und Legalität. Legitimität ist nicht legalisierbar. Legitimität ist ein ethisches Problem und kein juristisches. Die menschliche Vernunft ist die Quelle aller Rechte und steht über dem geschriebenen Gesetz. Ein Gesetz darf niemals der Vernunft widersprechen. Entscheidend ist deshalb nicht der Respekt vor dem Gesetz, sondern der Respekt vor der Gerechtigkeit. Nicht der Buchstabe, bzw. der Wortlaut macht das Gesetz, sondern die Absicht des Gesetzgebers, die sich als der Sinn der Gesetze verdeutlicht. Das Wesensmerkmal des allgemeinen Gesetzes ist die Gleichgültigkeit gegenüber individuellen Unterschieden. Das Gesetz behandelt die "Untertanen" in ihrer Gesamtheit und ihre Handlungen als abstrakte, nie die konkrete Einzelhandlung. Die Herrschaft des Gesetzes bezieht sich auf die allgemeine Person und die Merkmale, die allen Menschen gemeinsam sind, ohne die einmalige, individuelle Persönlichkeit zu berücksichtigen. Für ein allgemeines Gesetz muß es einen allgemeinen Menschen geben. Jedes Recht birgt deshalb die Gefahr, als Realisierung des Allgemeinen das Partikulare zum Verschwinden zu bringen. Bezieht sich der Allgemeinwille auf Einzelnes, so wird er notwendigerweise ungerecht. Juristisches Denken scheut strittige Punkte und stützt sich gern auf das, was gesellschaftlich allgemein gebilligt wird und unverfänglich ist. Gesetze sind wie Spinnweben: fällt etwas Leichtes hinein, so wird es festgehalten, wenn aber etwas Größeres hineinfällt, schlägt es durch und kommt heil davon. Organisation überhaupt wirft das Problem der Macht auf. Jede Gruppierung von Personen, die sich zu einem bestimmten Zweck zusammengetan haben, verfällt der Herrschaft einer Autorität, wenn die einzelnen Mitglieder nicht jederzeit ein klares Bewußtsein darüber haben, was sie wollen. Die Entwicklung der menschlichen Freiheit kann deshalb nur in der Eingrenzung und gleichmäßigen Verteilung von Macht liegen. Die rechtliche Ordnung ist maßgeblich für die Verteilung von Macht. "Die Teilung der Gewalten ist identisch mit der Verfassung und macht ihren Begriff aus." (3) Wenn die gesetzgebende Gewalt mit der vollziehenden identisch ist, gibt es keine Freiheit mehr.
Wo Gewalt ist, da ist immer Ungerechtigkeit. Durch das Recht nimmt der Staat der Macht seines Gewaltmonopols die negative Seite des Zwangs und konstituiert seine Souveränität. Letztendlich jedoch beruth die gesellschaftliche Hierarchie auf der Gewalt, wie sehr sie auch legalistisch verhüllt sein mag. Gewalt bedeutet immer, daß eine bestimmte Gruppe ihren eigenen Standpunkt als richtig verabsolutiert. "Wer (aber) der Gewalt bedarf, um seiner Wahrheit zum Sieg zu verhelfen, wird sie schwerlich entbehren können, um neue Wahrheiten zu unterdrücken" (5) Wie sich Macht und Freiheit vereinbaren lassen ist das Grundproblem jeder Staatstheorie. Autorität und Freiheit sind die beiden sich widersprechenden Prinzipien der politischen Ordnung, die nicht auf andere zurückgeführt werden können, aber jeweils voneinander Anleihen nehmen. Es gibt keine Freiheit ohne Autorität, weil Recht, ohne die Macht es durchzusetzen, machtlos ist. Es gibt aber auch keine Autorität ohne Recht und kein Recht ohne Freiheit, weil sich Recht dadurch konstituiert, daß Freiheit anerkannt wird. Der Konflikt zwischen Autorität und Freiheit läßt sich nur da vermeiden, wo Freiheit zur Autorität wird und das ist im Recht. Der Widerspruch zwischen allgemeinem und besonderem Interesse dient dem Staat als Grundlage. Die miteinander konkurrierenden individuellen Interessen wären außerstande, den Fortbestand eines rechtlichen Systems zu garantieren. So besteht zwischen der Autonomie des Individuums und der Autorität des Staates ein unüberwindbarer Gegensatz. Die Freiheit des Einzelnen ist die Grenze der Macht, die der Staat rechtmäßig über das Individuum ausüben kann. Der Staat tritt seine Herrschaft dem Einzelnen gegenüber als das Allgemeine an, da keine Freiheit möglich ist, ohne die Macht, sie zu verteidigen oder zu erhalten. Diese Macht muß aber zum überwiegenden Teil beim Einzelnen liegen und der Staat darf keine andere Aufgabe haben, als dies zu gewährleisten. Letztendlich ist das gleichberechtigte Individuum die Einheit, auf die es ankommt. Wichtig ist der Einzelmensch und nicht der Staat. Ein wirklich freies Gemeinwesen kann es nicht geben, wenn nicht das Individuum als höhere und unabhängigere Macht anerkannt wird, von dem sich alle staatliche Macht und Autorität ableitet. Subjekt aller moralischen und politischen Bestrebungen ist allein der Mensch, das menschliche Individuum, nicht der Staat und nicht die Gesellschaft und keine Geschichte und keine Ideen. Die Unterordnung des Einzelmenschen unter die Gesamtheit darf nie und nimmer das Ziel der Menschheit werden. Gesetze regeln das Verhalten des Bürgers, die Moral regelt das Verhalten des Menschen. Vom Staat kann man keine Verwirklichung der Sittlichkeit erwarten, weil es unmöglich ist, die Freiheit mit Mitteln zu verwirklichen, die selbst unfreiheitlich sind. Niemand kann gezwungen werden frei zu handeln. Das Sittliche verwirklichen kann und darf nur der individuelle Mensch in seinem Beziehungen zu seinen Mitmenschen. Die Angelegenheit des Staates ist einzig die Sicherung von Leben und Besitz. Er darf nie mehr sein, als ein Notinstitut zur Sicherung des Rechts. Wäre die Menschheit sittlich vollendet, bräuchte sie keine Staaten. Gesetze dürfen allenfalls das äußere Verhalten regeln aber keine Gesinnung vorschreiben. Nur äußere Handlungen dürfen gegebenenfalls mit Strafe belegt werden. Legalität ist eine äußere Forderung, ein Müssen. Die Anforderungen der Moral dagegen ist eine innere, ein Sollen. Die öffentliche Gewlt wurde von Menschen geschaffen, um sich gegen die Verbrechen Einzelner zu schützen. Heute aber sind die Verbrechen der öffentlichen Gewalt weit gefährlicher, als es die Verbrechen Einzelner je sein können. Der Staat mach so viele Gesetze, wie er Interessen antrifft, und weil diese Interessen unzählig sind, muß die Gesetzgebungsmaschinerie ohne Unterlaß arbeiten.
Das Prinzip der Herrschaft ist die Wurzel aller Probleme und der Gebrauch der Macht ihr schlimmster Mißbrauch. Alle politische Gewalt schafft unausweichlich für die Menschen, die sie ausüben, eine privilegierte Situation. Macht gebrauchen heißt immer Gewalt anwenden, auch wenn es im Dienst der Gerechtigkeit sein sollte. Wenn die Notwendigkeit des Machtgebrauchs besteht heißt das, daß ein Mensch von sich aus nicht in der Lage ist, aus freien Stücken mit den jeweilig Beteiligten einen Interessenkonflikt zu regeln und deshab einer übergeordneten Instanz bedarf. In einem Gemeinwesen, das seine Angelegenheiten an der Basis der Gesellschaft regelt, bräuchte es keine oder nur wenig institutionelle Macht. Das Herrschenwollen ist einer der wichtigsten Faktoren in den menschlichen Beziehungen.
Wo nach Macht gestrebt wird, werden immer die Starken die Schwachen unterjochen. Es ist nicht möglich, Macht anzuwenden, ohne den einen zu schaden und die anderen zu begünstigen.
Der Herr ist Herr über das Gute, genauso, wie er Herr über das Böse ist. Die Macht Gutes zu tun ist zugleich die Macht Böses zu tun, relativ zur jeweiligen Ideologie von Gut und Böse. Der Mächtige steht jenseits von Gut und Böse. Ein Gut aber, das sich gleichzeitig dazu verwenden läßt Böses zu tun, ist kein Gut mehr, sondern etwas Böses. Für TOLSTOI ist der Staat die bis aufs Äußerste gesteigerte Herrschaft der Schlechten und der Kampf gegen das Böse ist der Kampf gegen die Macht. Jeder Mensch, der Macht hat, wird dazu getrieben sie zu mißbrauchen. Das lehrt eine uralte Erfahung der Menschheit. So besteht die Dämonie der Macht darin, daß derjenige, der Macht besitzt, von ihr besessen wird. Die wahre Sünde des Menschen ist seine Unterwerfung unter die Macht. Vertretbarkeit ist das Maß der Herrschaft und jeder, der sich über ein unbedingt notwendiges Maß hinaus vertreten läßt, ist für die Ansammlung und Konzentration von Macht und Gewalt und die daraus folgenden Unmenschlichkeiten verantwortlich. Schuldlos kann man sich nicht regieren lassen. Keine Autorität kann einem die moralische Verantwortung abnehmen. Seine Verantwortung abgeben bedeutet für einen Menschen, daß er seine menschlichen Qualitäten verliert. Das Befolgen eines Befehls befreit nicht von Schuld. Schuldgefühle können durch keine Unterwerfung gesühnt werden. Es gibt keinen Akt der Unterwerfung, durch den ein Mensch seinen Status als frei Handelnder aufgeben und sich zum Sklaven machen könnte, denn dadurch würde er sein Menschsein verlieren. KANT spricht von der Sünde der freiwilligen Unterwerfung unter ein fremdes Gesetz. Die Methode der Macht heißt Transformation des Einen ins Ganze. Die allgemeine Gleichheit ist die Form der Macht, ja sie ist die Macht selbst. Die Macht des Staates ergibt sich aus der Konzentration und Verwandlung der Selbständigkeit ins System seiner Herrschaft. In der Praxis der Herrschaft wird der konkrete Einzelmensch abstrakt, isoliert und unverbunden mit der Welt angesehen. Herrschaft beruth auf einer Vorstellung von Andersartigkeit. Um die Herrschaft über die Welt zu sichern, muß von der Welt und den Menschen alles abgetrennt werden, was sich dieser Herrschaft entzieht, also alles, was nicht in das Reich der Quantität gehört. In der Verallgemeinerung des Individuellen kommt es zu einer Vermächtigung der gesamten Wirklichkeit. Durch die allgemeine Gleichheit steht dann jede Individualität einer einheitlichen Gesamtheit isoliert gegenüber und man braucht dann nur mehr wenig Machtmittel, um sie zum Gehorsam zu zwingen. Eine wirkliche Systemveränderung muß diese prinzipielle Art der Machtbeziehung erfassen. Was in der Herrschaft überwunden werden muß, ist das Prinzip der Macht. Macht ist immer Kampf um eine Vormachtstellung und das beste Mittel, die Macht zu erhalten, ist immer der Kampf um die Macht. Der Zwang der Macht besteht in ihrer progressiven Ausübung, der sie fortwährend Gegner produzieren läßt. So liegt es im Wesen der Macht sich materiell und ideell immer stärker zu machen, bis Ausdehnung und Kräftigung zum einzigen Inhalt werden. In der Macht wird das Mittel zum Zweck. Alle Macht verlangt Ausbreitung und Wachstum, die an keiner bestimmten Grenze Halt macht. Der Wille zur Macht kann niemals zur Ruhe kommen, weil er ein Durst ist, der von keinem anderen Streben als dem nach Macht gelenkt wird, muß sich immer weiter steigern und damit übersteigern. Der Teufelskreis des Mächtesystems besteht darin, daß die Automatik der Macht immer zum Streit tendiert, der sich dann zum kriegerischen Austrag steigert. Macht ist im Wesentlichen tragisch, weil ihre rationale Steigerung im Endeffekt die Gefahr erhöht. Jede Konkurrenz tendiert dazu sich selbst aufzuheben, indem sie alle Konkurrenten aus dem Rennen wirft und im Monopol konkurrenzlos dasteht. Gibt es aber keinen äußeren Konkurrenten mehr, so kehrt sich die Dynamik der Macht ins Innere und richtet sich letztlich gegen den einzelnen Machthaber, was schließlich zum Zusammenbruch der Macht und zur psychischen Entstrukturierung der Innenwelt und damit zum Wahnsinn des Machtmenschen führt. Für einen Menschen, der Macht überseinesgleichen hat, ist es auf die Dauer unmöglich, ein normaler Mensch zu bleiben. Es ist einfacher zu erobern, als zu herrschen. Die Macht, die durch Gewalt erlangt wird, dauert nur so lange, wie die Stärke der Gebietenden die Stärke der Gehorchenden übertrifft. Der Bezwingung mit der Waffe muß eine zweite Unterwerfung folgen. Der Geist und das Bewußtsein der Menschen muß zusätzlich mit Ideologien und Theorien überwunden werden. Die Arglist tritt dann an die Stelle der Gewalttätigkeit. Nie ist der Stärkste stark genug, immer der Herr zu sein, wenn es ihm nicht gelingt, aus der Gewalt ein Recht zu machen und aus dem Gehorsam eine Pflicht. "Da man dem Recht nicht zur Macht verhelfen konnte, hat man die Macht für rechtens erklärt." (10) Physischer Gewalt kommt keine Permanenz zu, physische Gewalt kann immer nur Durchgangspunkt sein. So hat jedes Herrschaftssystem ein Interesse, brutale Gewalt durch bessere, demokratischere Mittel zu ersetzen. "Die Robe verhüllt das Maschinengewehr", wie es bei ERNST BLOCH heißt. Auf die Dauer ist bloße Gewalt als Festigung und Erhaltung von Macht und Recht sinnlos, deshalb ist es das Bestreben der Macht, sich in Gesetz und Ordnung zu verwandeln. Der Gewalt ist es unmöglich, irgendetwas wirklich zu organisieren, deshalb muß sie früher oder später dem Geist weichen. Machtgelüste siegen nie auf Dauer. Auf die Dauer siegt nur der Gedanke, die Idee und das Ideal. Die älteste und klügste Ausübung von Macht ist die Leugnung ihrer Existenz. Der Ideologe setzt dann Macht mit Realität gleich. Die Realität wird dann zu einer Macht, die man nicht mehr explizit einsetzen muß. In diesem Zusammenhang ist dann das wirkliche Ausmaß der Macht ein Geheimnis und Mysterium. Als Realität wird die Macht zum Beziehungsgeflecht und zur Struktur, wo es kein Subjekt der Macht mehr gibt.
Das vorherrschende Prinzip des Staates ist Einheit, nicht Mannigfaltigkeit und Vielfalt. Der Staat ist der Inbegriff der Macht, die Einheit und damit Eingrenzung gewährleistet. Die Einheit oder das Ganze ist aber niemals mehr, als eine Idee. "Die Macht hängt von der Organisation des Scheins ab. Der Schein des Ganzen ist der falsche Glanz der Macht." (12) Die Vorspiegelung seiner Einheit nährt den Glauben an die allgegenwärtige Existenz des Staates. Die Bildung einer festen und dauerhaften Gesellschaft verlangt den vereinten Einfluß gemeinsamer Ansichten, die dem Auseinanderfallen der Meinungen Einzelner in Grundfragen Einhalt gebieten.
Der Staat, als die Zusammenfassung des Allgemeinen, behält sich dem Besonderen gegenüber das Recht der Gesetzgebung vor. Er maßt sich das Recht auf Herrschaft über das Verstandlose und Unvernünftige an. Der Staat empfindet seine Aufgabe darin, die Zersetzung der Interessen, Gefühle und Ideen zu verhindern. Die geistige Gesundheit wird als genaue Entsprechung zwischen der Struktur der Wirklichkeit und der Logik der gedachten Sprache angenommen und die Postulierung der "Wahrheit" wird zu einer gewaltigen Legitimationsbasis. Richtig denken wird zum Recht haben. Unter einem rationalen Gedankensystems sind alle Geister gezwungen, sich wissenschaftlichen Gesetzen zu unterwerfen. Objektiven Ergebnissen muß sich jedermann beugen. Wer sich nicht unterwirft, zeigt, daß er nicht denken kann. Der wissenschaftliche Beweis fordert der Recht, daß an erwiesene Tatsachen geglaubt wird. Die Gründe des Wirklichen werden zur Macht über alles Wirkliche.
Die gesellschaftlichen Institutionen bieten sich dem verwirrten Menschen als feste und etablierte Regelmäßigkeiten und Wiederholungen inmitten eines Chaos von Einzelheiten, Zufälligkeiten und Einmaligkeiten dar. In einer Institution paßt sich jeder fortwährend an und wird in Schablonen gezwängt, die seine Individualität beeinträchtigen. Die Institution ist eine ganz bestimmte Form der Gleichförmigkeit in der die Individualität zurücktritt und sich in der Anonymität auflöst. Die Einheit der Auffassung von Realität ist von grundlegender Wichtigkeit für die politische Ordnung. Die Annahme einer Inkommensurabilität [incommensurabilis = nicht vergleichbar, prinzipiell verschieden, ohne gemeinsames Maß] der verschiedenen Weltanschauungen hat eine Zersplitterung dieser unserer einzigen Realität zur Folge. Irrationalität und die Neigung zum Dogmatismus entsteht dann dadurch, daß ohne gemeinsame Argumentierung nichts anderes übrig bleibt, als etwas entweder abzulehnen oder anzunehmen, ohne die jeweiligen Gründe mitteilbar machen zu können. Wo die Vernunft nur eine von mehreren verschiedenen Denkweisen ist, besteht die Gefahr, daß Gefühle und Leidenschaften für die Hauptquellen menschlicher Handlungen gehalten werden. Die konservative Ideologie sieht in diesem Sinne die Welt durchsetzt mit Irrationalismen. Ihr gelten Gefühle als gerade beispielhaft für Unbeständigkeit, Unberechenbarkeit und Widersprüchlichkeit. Demzufolge besteht ein Hang zu ordnender Autorität. Ordnung geht vor Gerechtigkeit und Freiheit. So verzichtet etwa der Faschist darauf Gründe anzugeben und Recht zu haben, zeigt sich aber entschlossen, seine Meinung durchzusetzen. Ein Standpunkt der befindet, daß nichts klar erkannt werden kann, hält jede Handlung für willkürlich, sodaß am Schluß die Gewalt regiert. Vernunft wird zwar gebraucht, allerdings ohne ein Gefühl der Verpflichtung und ohne daraus Rechte abzuleiten. Mit dem Recht irrational zu sein geht dann praktisch der Verlust des Rechts auf Kritik einher. Der Faschist sucht das Gute im Willen und in der Empfindung, nicht aber im rationalen Gefühl und im Erkennen. Er wertet die Macht höher, als das Glück. Das Individuum gilt ledigliich als unwirkliches Phänomen und die Gesellschaft ist alles, nur sie hat Realität. Das Bestehende wird als vernünftig betrachtet und die Macht zum Recht erklärt, was jedem Diktator den Weg für seine Machenschaften frei macht. Im totalitären Herrschaftssystem wird der einzelne Mensch nur als Element der Menge betrachtet. Das Individuum wird den höheren Bedürfnissen des Ganzen untergeordnet. Das Individuum hat keinerlei Unabhängigkeit und existiert nur in der Zusammengehörigkeit und Gemeinschaft. Im Faschismus besteht die Freiheit des Einzelnen in seinem Gehorsam dem Gemeinwillen gegenüber. "Du bist nichts, dein Volk ist alles." (18) Herrschaft verlangt Konformität und Diktaturen stützen sich auf die Massen. Menschen versuchen hier nicht mehr eine moralische Position zu beziehen, sondern sich anzupassen. Konformität entsteht gewissermaßen aus der Schuld ein Ungleicher zu sein. In der faschistischen Ideologie hat der Staat den größtmöglichen Nutzen der Allgemeinheit und nicht den des Einzelnen zum Ziel. Ohne Skrupel und Bedenken kann die Einzelperon einem fiktiven Gemeinwohl geopfert werden. Der Anspruch des Allgemeinen läßt dann für die private Negativität keinen Raum mehr. Je freier das Volk, desto gebundener der Einzelne. ![]()
1) G. W. F. Hegel in Rosenkranz, "Hegels Leben", Berlin 1844, Seite 414. 2) Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Stuttgart 1974, Seite 82. 3) Carl Schmitt, Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, Berlin 1979, Seite 52. 4) John Locke, Versuch über den menschlichen Verstand, Bd. 1, Hamburg 1981, Seite 447. 5) Mahatma Gandhi, in "Ghandi", hg. Heimo von Rau, Reinbek 1970, Seite 12. 6) Baruch Spinoza, Ethik, Stuttgart 1981, Seite 355. 7) Bertrand Russell, Philosophische Aufsätze, Stuttgart 1977, Seite 159. 8) T. S. Eliot, The Cocktailparty, New York 1950, Seite 111. 9) Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, Stuttgart 1978, Seite 36. 10) Blaise Pascal, "Pensées", Heidelberg 1978, Seite 151 11) Johan Galtung, Strukturelle Gewalt, Reinbek 1980, Seite 23. 12) Raoul Vaneigem, Handbuch der Lebenskunst für die junge Generation, Hamburg 1977, Seite 125. 13) Emile Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Erlebens, Ffm 1981, Seite 38. 14) Klages, a. a. O., Seite 204. 15) Paul Feyerabend, Wider den Methodenzwang, Ffm 1979, Seite 172 16) Ortega y Gasset, Der Mensch und die Leute, München 1961, Seite 30 17) Ludwig Börne, in Ludwig Marcuse, "Ludwig Börne", Zürich 1977, Seite 118. 18) Adolf Hitler, Mein Kampf, 1939 |