tb-2   
 
FRIEDRICH WAISMANN
(1896-1959)

Sprachspiele und Vagheit der Sprache

Über den Begriff der Identität In der Tat, der Philosoph ist ein Mensch, der die versteckten Risse im Aufbau unserer Begriffe spürt, dort, wo andere nur den ausgetretenen Pfad der Alltäglichkeit vor sich sehen.

Schon das gewöhnliche Leben kennt Klagen über die Ungenauigkeit und Vieldeutigkeit der Sprache. Wie sehr steigert sich dies in der Philosophie, wo das Dämmerlicht, in das die meisten Wortbedeutungen getaucht sind, das Vorsichgehen jener Verwechslungen begünstigt, welche die Quelle fast aller unserer philosophischen Beunruhigungen sind.

Wir denken hier indes nicht an jene Klasse typisch unscharfer Begriffe, die unter dem Titel "Wieviel Körner machen einen Sandhaufen aus?" seit alters her ein Thema skeptischer Einwürfe bilden. Die Vagheit, die wir im Auge haben, ist von etwas anderer, weniger in die Augen fallender Natur. Versuchen wir dies zunächst an einem Beispiele auszuführen.

Welche Bedeutung hat das Wort "Moses"? RUSSELL sagt, dieser Name stehe für eine Beschreibung. Aber für welche? Findet sich eine Definition des Namens "Moses" irgendwo? Wären wir imstande, auf Befragen gleich eine anzugeben? Man könnte da verschiedenes vorschlagen: Moses soll den Mann bedeuten, welcher zu der und der Zeit in Ägypten lebte, von der Königstochter aus dem Nil gefischt wurde und von den Menschen damals Moses genannt wurde. Dann ist der Satz, daß Moses aus dem Nil gefischt wurde, sinnleer (tautologisch), der Satz hingegen, daß Moses die Isrealiten aus Ägypten geführt hat, sinnvoll (wahr oder falsch).

Zweitens kann man Moses den Mann nennen, von dem all das gilt, was in der Bibel von ihm erzählt wird, der aber nicht unbedingt Moses geheißen haben muß. In diesem Fall würde der Satz "Moses hieß Moses" eine Tatsache berichten, während er im ersten Fall nichtssagend ist. Solcher Definitionen gibt es natürliche eine Unzahl, und je nachdem, für welche man sich entscheidet haben Sätze Sinn oder nicht.

Fragt man nun einen Menschen "Was meinst Du eigentlich mit dem Wort Moses?", so wird er nicht nur nicht imstande sein, eine Definition zu geben, sondern er wird, wenn wir ihm verschiedene Definitionen vorlegen, auch nicht definitiv unter ihnen wählen können. Er würde über den Gebrauch dieses Wortes unschlüssig sein.

Was soll nun eine Grammatik von solchen Worten sagen? Soll sie sie verbieten oder verlangen, daß zuerste eine unzweideutige Erklärung gegeben werde? Ich glaube, alles, was wir über das Wort zu sagen haben, ist, daß wir uns über das Wort unschlüssig sind, daß wir uns aber unter Umständen für die eine oder andere Definition entscheiden würden.

Es wäre z.B. die Frage möglich: "Würdest Du auch dann sagen, daß Moses existiert habe, wenn so gut wie alles, was die Bibel von Moses berichtet, sich als wahr erwiese, der Mann aber nicht Moses geheißen hat?" Diese Frage würde wohl jeder bejahen. Dagegen würde wahrscheinlich jedermann die Existenz des biblischen Moses leugnen, wenn es zwar einen Mann dieses Namens gegeben hätte, der zu jener Zeit gelebt hat, wenn aber sonst nichts wahr wäre, was die Bibel von Moses erzählt.

Jeder beliebige Fall zwischen diesen beiden ist nun möglich, und wir würden die Frage, ob Moses wirklich gelebt habe, je nach der Definition, für die wir uns entscheiden, mit ja oder nein beantworten. Wichtig ist aber, daß wir eine Definition im allgemeinen nicht geben, sondern uns die Definition gewissermaßen offenlassen.

Vielleicht wendet man ein: Aber wir gebrauchen doch das Wort Moses, und wenn wir es gebrauchen, so müssen wir doch etwas Bestimmtes mit ihm meinen. Aber weiß der, der das sagt, was er mit dem Wort meint? Offenbar nicht, sonst könnte er es ja sagen. Hat er also nichts gemeint? Das auch nicht; es schwebt ihm vielleicht allerlei vor, was er sagen könnte, nur entscheidet er sich nicht.

Aber bezeichnet das Wort Moses nicht eine bestimmte Person, muß es daher nicht eine bestimmte Bedeutung haben? - Nein; denn die Bedeutung des Namens ist für uns das, was in der Erklärung seiner Bedeutung erklärt wird; wird der Name auf verschiedene Weise erklärt, so hat er verschiedene Bedeutungen.

Wenn wir also die Meinung oder die Bedeutung des Wortes "Moses" das nennen, was auf die Frage nach dieser Bedeutung zur Antwort kommt, so können wir gmit gewissem Recht die Bedeutung des Wortes "Moses" eine schwankende nennen. Wir können wahrheitsgemäß nur sagen: Genaue Regeln sind hier nicht festgesetzt.

Nun könnte einer denken, die Vielheit der Bedeutungen liege daran, daß jede der Definitionen unvollständig ist, weil sie nur diese oder jene Begebenheit aus dem Leben des Moses hervorhebt; die wahre Definition müsse alle diese Begebenheiten ohne Unterschied umfassen, also eigentlich in der gesamten Schilderung seines Lebens bestehen. - Aber wenn ich alles, was sich im Leben des Moses abgespielt hat, zur Definition des Namens verbrauche - was soll ich dann noch über ihn aussagen? Wie immer man die Sache drehen und wenden mag, es bleibt dabei, daß das Wort "Moses" in typischer Weise vage ist.

Von dieser Vagheit der Sprache kann man sich nicht leicht einen zu hohen Begriff machen. Sie spielt um die Worte wie die Luft um die Dinge. Sie ist das Zwielicht, das um unsere meisten Begriffe schwebt. Um diesen unsichtbaren und doch überall vorhandenen Faktor vor das Auge stellen, möchte man sich in Bildern und Gleichnissen erschöpfen. Eines wenigstens mögen uns auch die zugute halten, die uns längst verstanden haben.

Man denke sich auf einem ebenen Platz Menschen damit beschäftigt, einander Bälle zuzuwerfen. Einige mögen ein bekanntes Spiel spielen, sagen wir Tennis; andere haben eine Zeitlang Tennis gespielt, hören dann auf und fangen ein neues Spiel an; andere wieder werfen sich regellos Bälle zu. Wenn wir sagten, jedes Spiel müsse nach bestimmten Regeln vor sich gehen, so sprächen wir die Unwahrheit. Wahrheitsgemäß können wir nur sagen, daß die Menschen manchmal nach bestimmten Regeln spielen, manchmal nicht. So wollen wir uns auch gestehen, daß die Menschen in der Sprache nur in gewissen Fällen das eine oder andere ausgesprochene Spiel spielen und in einer Reihe von Fällen halb planlos Worte gebrauchen.

Wie sollen wir uns nun dieser Vagheit gegenüber verhalten? Sollen wir den tatsächlichen Gebrauch eines Wortes, schwankend und unregelmäßig, wie er ist, aufzeichnen? Das gäbe höchstens eine Geschichte des Wortgebrauchs, die uns bei unseren Problemen nicht hilft. Oder sollen wir eine bestimmte Verwendungsart zum Paradigma erheben? Sollen wir sagen: Nur diese gilt, und alles andere ist ein Abweg? Das wäre ein tyrannisches Urteil. Wenn wir aber alles dies nicht tun, dann scheint sich wieder die Aufgabe der Philosophie zu verflüchtigen.

Wenn der Sprache keine genauen Regeln zugrunde liegen, so erscheint uns nun die Tätigkeit der Philosophie nur in sehr speziellen Fällen nützlich oder bedeutsam. Man möchte meinen: Also behandeln wir ja nur gewisse Ausnahmsfälle der Benutzung der Sprache; die Philosophie scheint sich nun auf ein spezielles Gebiet zurückzuziehen und ihre allgemeine Bedeutung zu verlieren.


Sprachspiele

Wir wollen ein Beispiel betrachten, das Licht auf die Methode wirft, nach der wir da vorgehen. FREGE hat die Anschauung kritisiert, nach der die Arithmetik ein bloßes Spiel mit Zeichen ist. Nun ist an dieser Kritik ist etwas richtig und etwas unrichtig, und es hätte einen eigenen Reiz, dieser Frage nachzugehen. Wir könnten aber auch einen ganz anderen Standpunkt einnehmen. Wir könnten sagen: Lassen wir die Frage ganz beiseite, ob die Arithmetik ein Spiel ist oder nicht! Eines ist klar: Eine gewisse Verwandtschaft muß hier bestehen, denn sonst wäre wohl niemand auf die Idee verfallen.

Untersuchen wir daher einmal das Spiel! Setzen wir die Untersuchung des Spiels neben die Untersuchung der Arithmetik und lassen wir das eine ein Licht auf das andere werfen! Seien wir ganz gerecht, behaupten wir nichts, sondern lassen wir die Dinge für sich selber reden!

Das ist der Gesichtspunkt, in dem wir die Sprache betrachten wollen. Wir wollen nicht dogmatisieren, sondern wir lassen die Sprache, wie sie ist, und stellen ihr ein grammatisches Bild an die Seite, dessen Eigenschaften wir völlig in unserer Gewalt haben, in welchem wir also auch genaue Regeln aufstellen können. Wir konstruieren gleichsam einen idealen Fall, aber ohne die Prätention, daß er mit etwas übereinstimmt; sondern wir konstruieren ihn nur, um ein übersichtliches Schema zu gewinnen, mit dem wir die Sprache vergleichen; gleichsam als einen Aspekt, der noch nichts behauptet, also auch nicht falsch sein kann.

Ein Beispiel soll das Gesagte deutlich machen. In vielen philosophischen Untersuchungen seit LOCKE und BERKELEY spielt die Frage eine Rolle, ob ein Körper ein Komplex von Wahrnehmungen sei. Wir würden die Frage heute wohl nicht mehr in dieser Form stellen, sondern wir würden den Kern des Problems eher so formulieren: Lassen sich die Aussagen über Körper so aussprechen, daß sie nur von Wahrnehmungen handeln?

Zur Entscheidung dieser Frage ist es zunächst einmal nötig, den Sinn solcher Aussagen genauer ins Auge zu fassen. Was meinen wir also damit, wenn wir sagen, hier auf dem Tisch liegt ein Würfel? Das ist gar nicht so leicht zu sagen. Wenn man etwa erklären wollte, da befinde sich eben ein Körper in Würfelform, so hat man damit nur den Satz wiederholt. Es fragt sich aber gerade, was das heißt. Wir werden jetzt ein Modell beschreiben, ein künstliches Spiel, und uns nachher überlegen, wieviel Ähnlichkeit es mit dem wirklichen Sinn des Satzes hat.

Denken wir uns von einem Punkt des Raumes zu den Kanten und Ecken des Würfels Visierlinien gezogen und diese auf einer Ebene aufgefangen, dann entsteht auf ihr das, was man den Umriß des Würfels nennen kann. Dieser Umriß wird von dem Ort des Beobachters abhängen und sich mit ihm ändern. D.h., wenn der Beobachter im Raum stetig wandert, so wird sich auch das Bild stetig ändern, das ihm der Würfel darbietet. Oder, mathematisch gesprochen: Das Bild wird eine Funktion des Ortes sein.

Denken wir uns nun, daß man die Gleichung berechnet hätte, nach der die Gestalt des Bildes vom Ort abhängt. Es wäre das eine Gleichung, die den Beobachtungspunkt als Parameter enthält und den Körper dadurch bestimmt, daß sie für je drei Koordinaten eine geschlossene Linie ergibt, welche der Aspekt (Umriß) des Körpers ist. So wie man aus der Form des Körpers durch bloße Regeln den Aspekt konstruieren kann, den er an irgendeiner Stelle bietet, so kann man aus einem Gesetz, das uns den Wechsel der Aspekte gibt, zu der gewöhnlichen Beschreibung des Körpers übergehen. Es ist damit nichts weiter gezeigt, als daß es Transformationen in der Grammatik gibt, die von der einen Beschreibung zu der anderen führen.

Nehmen wir nun an, die Form des Körpers wäre beschrieben worden, aber nicht in Form einer Aspektbeschreibung, sondern etwa dadurch, daß gesagt wird, er sei ein Würfel von der und der Größe und Lage. Man habe dann gleichsam auf Vorrat Bilder gezeichnet von einer Menge Aspekte, wobei auf jedem Aspekt die Raumkoordinaten des Punktes vermerkt sind, von welchem der Aspekt genommen ist. Wir können uns dann denken, daß wir, mit einem Pack solcher Aspektzeichnungen ausgerüstet, im Raum herumreisen und den Körper von verschiedenen Punkten aus betrachten, wobei uns zugleich die besondere Karte aus unserem Pack mit Aspekten vorliegt. Wir können nun das, was wir sehen, einfach dadurch beschreiben, daß wir ein "ja" oder "nein" auf eine solche Karte notieren. Dieses Ja oder Nein bedeutet dann die Verifikation oder Falsifikation jener Aspektbeschreibung.

Haben wir damit den Sinn des Satzes "Dort liegt ein Würfel" richtig wiedergegeben? Es ist unnütz zu sagen, daß sich die Verifikation in Wirklichkeit nicht so abspielt. Von den Faktoren, die das körperliche Sehen des Würfels bedingen, gibt unser Modell nicht Rechenschaft, ebensowenig von den Tast- und Bewegungsempfindungen, die bei der Überprüfung eine Rolle spielen. Andererseits verliert unsere Darstellung ihren Wert nicht. Was wir beschrieben haben, ist ein Spiel in seiner ausgebildeten Form. Es dient uns dazu, das, was in Wirklichkeit geschieht, klarer zu machen; denn eine gewisse Ähnlichkeit ist jedenfalls vorhanden.

Wir konstruieren mit Absicht eine Hypothese, in der es ganz genaue Vorhersagen und eine ganz genaue Kontrolle dieser Vorhersagen gibt. Wir wollen nur den Vorgang der wirklichen Verwendung des Satzes unter dem Aspekt der Ähnlichkeit mit dem von uns konstruierten Fall betrachten. Dadurch, daß wir hier nur von einem Aspekt reden, treten wir der Wirklichkeit nicht zu nahe.

Wenn wir der wirklichen Verwendung des Satzes nachgehen, so kommen wir bald an die Grenze der Wort- und auch der Bildersprache. Dies geschieht z.B., wenn wir jemandem erklären, was ein Sessel ist, indem wir ihn den Sessel betasten und ihn sich etwa darauf setzen lassen. Der Sitzeindruck läßt sich nicht in einem gezeichneten Bild festhalten, dagegen wohl der Gesichtseindruck, etwa in einer Photographie. Andererseits spielt der Sitzeindruck bei der Verifikation eine Rolle. Man kann etwa sagen: "Ja, ich hatte diese Empfindung wieder, als ich dort saß, als war es ein Sessel." Aber diese Empfindung läßt sich nur ungenau, vage beschreiben, wenn man nicht zu physikalischen Methoden die Zuflucht nimmt; aber dann beschreibt man nicht den wirklichen Vorgang, sondern wieder nur ein Modell.

Wenn man also fragt: "Kennen wir den alle grammatischen Regeln, die sich auf die Verwendung so eines Satzes beziehen? Oder alle grammatischen Regeln, die ein bestimmtes Wort betreffen?", so ist es schwer, eine richtige Antwort zu geben. Man kann nur sagen: Wenn wir ein Regelverzeichnis aufstellen, so kennen wir alle Regeln, die in diesem Verzeichnis stehen. Ob das alle Regeln sind, denen der Satz oder das Wort gehorcht, ist schon darum eine komplizierte Frage, weil der Begriff der Regel selbst in Unbestimmte verschwimmt. (Sollen wir die Erklärung des Wortes "Sessel", wobei man einem den Sitzeindruck verschafft, noch als Regel bezeichnen? Hier z.B. sieht man das Undeutlichwerden dieses Begriffs.)

Man könnte also sagen: Wir stellen Regelverzeichnisse auf, die mit der wirklichen Sprache gleichsam stückweise parallel laufen und die dazu dienen, Schwierigkeiten zu beseitigen, die durch Aufstellen von Regeln zu beseitigen sind. Wir brauchen daher keinerlei Behauptungen zu machen und etwa zu sagen: Das ist der eigentliche Sinn des Satzes. In solchen Redensarten steckt eine große Gefahr, man ist dann immer versucht, die Wirklichkeit nach einem Schema wenn nicht ändern zu wollen, so doch auf dieses Schema aufzuspannen. Wir brauchen nichts dergleichen, wir stellen das Schema neben die Wirklichkeit und lassen es so viel Licht darauf werfen, als es wirft.

Zum Teil ist die hier dargelegte Methode der ähnlich, die BOLTZMANN vorgeschlagen hat: ein physikalisches Modell zu beschreiben, z.B ein Modell für die Maxwellschen Gleichungen, und zwar ohne die Prätention, daß es mit irgend etwas übereinstimmt. Sondern es wird einfach beschrieben, und dann wird sich die Ähnlichkeit schon von selbst ergeben. Das Modell leidet darunter nicht. Es ist eine eigene Sache und dient einem Zweck, so gut es ihm dienen kann. Was Boltzmann dadurch bewirkte, ist eine Reinlichhaltung seiner Erklärungen. Es fehlt die Versuchung, die Wirklichkeit zu fälschen, sondern das Modell ist sozusagen ein für allemal da, und es wird sich schon zeigen, wie weit es stimmt. Und stimmt es nicht mehr, so verliert es dadurch seinen Wert auch nicht.

Das ist der Sinn, in welchem man sagen kann: Wir haben kein System. D.h., es kann niemand mit uns übereinstimmen; denn wir geben eigentlich nur eine Methode an. Es ist gleichsam so, als wäre das Boltzmannsche Modell einfach neben die Erscheinung der Elektrizität gestellt und man würde sagen: Schaut euch das doch einmal an!

Dadurch wird nun zum Teil der Ton unserer Untersuchung geändert. Diese Änderung zeigt sich am deutlichsten darin, daß wir gar nicht mehr darauf ausgehen, den wahren Sinn solcher Worte wie "die Wirklichkeit", "die Welt", "die Wahrheit" u.a. zu ergründen. Worte wie diese haben immer einen Zauber auf das Denken der Philosophen ausgeübt. Es ist uns, als ob sich in dem schwankenden und zufälligen Sprachgebrauch undeutlich die Konturen eines Ewigen abzeichnen.

Es ist nun sehr wichtig zu fragen: Haben wir es hier mit ausgezeichneten Wörtern zu tun, die in irgendeinem Sinn über den anderen Wörtern der Sprache stehen? Ist etwa das Wort "die Wahrheit" ein metalogisches Wort? Ganz und gar nicht! Die Worte "Wahrheit", "Sinn" etc. sind, wenn sie überhaupt korrekt gebraucht werden, wieder nur Worte wie andere Ausdrücke der Sprache. Sie sind in keinerlei Weise bevorzugte Wörter. (Später werden wir das Enstehen des Nimbus um diese Worte verfolgen.) Wir würden nicht mehr daran denken zu sagen, was "das Wesen der Wahrheit" ist, sondern einfach verschiedene Verwendungen dieses Wortes beschreiben.

Das heißt nichts anderes, als daß es die Philosophie nicht mit bestimmten Begriffen zu tun hat, etwa mit dem Begriff der Wahrheit. Wir könnten sagen: Es gibt gar nicht das Problem der Philosophie wohl aber gibt es Probleme der Philosophie, d.h. sprachliche Verwechslungen, die ich aufklären kann. Es ist durch die Bemerkung, welche die Worte "Welt", "Sinn", "Wahrheit" etc. von ihren Thronen absetzt, die Philosophie nicht zerstört; vielmehr ist diese Bemerkung selbst eine philosophische Bemerkung. Auch das Wort "Philosophie" ist kein metalogisches Wort. Die Philosophie bezieht ihr Pathos von dem Pathos der Sätze, welche sie zerstört. Sie stürzt die Götzen, und die Bedeutung dieser Götzen ist es, welche ihr die Bedeutung gibt.

Ja, wir können noch einen Schritt weitergehen. Da nichts darüber bestimmt ist, welche Art der Verwendung von Zeichen wir noch Sprache nennen, so können wir uns von der Wirklichkeit ganz ablösen und frei Verwendungsweisen ersinnen, die wir der Sprache an die Seite stellen. Auch wenn die nichteuklidische Geometrie keinen Anwendung auf die Natur gefunden hätte, so wäre die Entdeckung dieses Gedankensystems als bloßer Möglichkeit auch von der größten Bedeutung gewesen. Denn sie läßt uns die Geometrie in einer Umgebung ähnlicher und verwandter Kalküle erblicken und nimmt ihr dadurch das Einzigartige, Unvergleichbare, das uns beunruhigt.

Auch wenn es kein Volk gäbe, dessen Zahlenreihe "1,2,3,4,5, viele" lautet, so wäre die Fiktion einer solchen Arithmetik sehr interessant. Wir müssen nur noch verstehen, daß jene Zahlenreihe durchaus nicht unkomlett ist und wir nicht im Besitz einer kompletteren sind, sondern nur im Besitze einer anderen und komplizierteren Arithmetik, neben der jene primitive zu Recht besteht.

Es entstünde nun die Frage: Sollen wir das noch Arithmetik nennen? Wie wir wollen! Eine Ähnlichkeit mit unserer Arithmetik besteht jedenfalls, und die meisten würden es so nennen. Wir könnten uns unzählig viele andere Systeme von Symbolen und Verwendungsweisen ausdenken, und es entstünde dann immer die Frage, ob wir sie noch zur Arithmetik rechnen wollen. Durch solche Betrachtungen sehen wir, daß sich die scheinbar festen Grenzen der Arithmetik auflockern, daß unsere Reihe der natürlichen Zahlen in keiner Weise ein ausgezeichnetes und uns gleichsam von Gott gegebenes Gebilde ist, und wir kommen zu einer freieren und richtigeren Ansicht von diesen Dingen.

Diese Beispiele weisen unserer Betrachtung den Weg. Wenn die Sprache ein Begriff wäre im Sinn der elementaren Arithmetik der Kardinalzahlen, so könnte man sagen, es gehören gewisse grammatische Spiele zu ihre und sie sei ohne diese nicht komplett, wie man sagen kann, die elementare Arithmetik sei ohne den Kalkül der Multiplikation nicht vollständig. Man könnte hier von festen Grenzen des Begriffs reden, obgleich es z.B. keine endliche Anzahl aller Multiplikationen gibt. Der Begriff "Rechnung der elementaren Kardinalarithmetik" kann festbegrenzt heißen, im Gegensatz zu dem der Arithmetik oder auch der Mathematik. Was zur Mathematik gehört, ist nicht bestimmt worden. Ihr Begriff, so wie der Begriff des Kalküls, ist ein fließender. Und ebenso ist es der Begriff der Sprache.

Aber erlaubt uns das, unsere Freiheit auf die Spitze zu treiben, gleichsam zu sagen: Wenn du das und das Sprache nennst, warum auch nicht das? Wir könnten Sprachspiele erfinden und uns etwa vorstellen, ein Volksstamm könne nur dieses oder jenes Sprachspiel oder nur eine bestimmte Kombination von ihnen. Und so beleuchten wir das unübersehbare wogende Ganze unserer Sprache dadurch, daß wir ihm festumschriebene Gebilde gegenüber- oder an die Seite stellen, welche wir nicht gut umhinkönnen, Sprache zu nennen.

Solange wir nur unsere tatsächliche Sprache vor Augen haben, sind wir zu allerlei dogmatischen Behauptungen geneigt: daß in jeder Sprache die aristotelische Logik herrsche, daß jede Sprache den Gegensatz von "wahr und falsch" kennen müsse, daß in jeder Sprache der Satz aus Worten zusammengesetzt sei, etc. Es ist dann gut, nicht viel zu diskutieren, sondern einfach Sprachspiele zu beschreiben, für die das Gesagte nicht zutrifft.

Die Vorstellung, es gäbe einen Volksstamm, dessen Sprache etwa nur aus Befehlen bestünde, und zwar aus Befehlen einer scharf umrissenen Art (durch die etwa Menschen an verschiedene Orte dirigiert werden), das Ausmalen der Funktion einer solchen Sprache im Leben jener Menschen wäre ein gutes Mittel, solche Auffassungen zu beleuchten. Das Bemühen um den Aufbau verschiedener nichtaristotelischer Logiksysteme in der gegenwärtigen Literatur zeigt wieder nach anderer Richtung hin, welche Möglichkeiten vor uns liegen.

Wenn wir von der metaphysischen Ausnahmsstellung des Ich beunruhigt werden, ist es aufklärend, eine Sprache zu ersinnen und mögliche Situationen für ihre Anwendung, die ohne diesen Begriff auskommt; eine Sprache, der der Begriff des Ich nicht etwa abgeht, sondern die für diesen Begriff gar keinen Raum hat.

Das Ausmalen solcher Möglichkeiten würde schließlich die Funktion unserer eigenen Sprache in ein neues, helles Licht rücken: wir würden nun erst sehen, von welch unendlichem Hintergrund von Möglichkeiten sie sich abhebt - Strukturen, die vielleicht anderen möglichen Erfahrungswelten angepasst sind - und durch die Untersuchung dieser Dinge würden wir allmählich zu begreifen beginnen, welche Umstände es waren, die unsere Grammatik in bestimmte Bahnen gelenkt haben.

Wenn wir andere, ähnliche Systeme unserer Sprache gegenüberstellen als Lösung eines philosophischen Problems, so sind wir immer der Gefahr eines Mißverständnisses ausgesetzt: es ist, als hätten wir mit dem Eingeständnis, das von uns betrachtete System sei der Sprache nur ähnlich, zugegeben, wir hätten unser ursprüngliches Problem gar nicht gelöst, sondern nur die Lösung eines ähnlichen Problems angedeutet.

Aber es handelt sich hier nicht um die Erklärung von Phänomenen und etwa darum, daß ich die Beunruhigung, die einem Problem gleichsieht, dadurch beseitige, daß ich mehrere ähnliche Fälle nebeneinanderstelle. Es ist merkwürdig, daß uns die bloße Zusammenstellung der Fälle die Beruhigung gewährt. Was hier geschieht, ist ähnlich dem, was geschieht, wenn wir eine Erscheinung in unserer physischen Welt für einzigartig halten (z.B. die Erde für den einzigen Himmelskörper), dann in die Versuchung kommen, dieser Erscheinung metaphysische Bedeutung beizulegen, und schließlich dadurch beruhigt werden, daß die Erscheinung in eine Reihe mit anderen gestellt wird und so ihren Vorrang verliert.

Hier berühren sich unsere Gedanken mit gewissen Anschauungen GOETHEs, wie er sie in der Metamorphose der Pflanzen ausgesprochen hat. Wir sind gewohnt, überall, wo wir Ähnlichkeiten wahrnehmen, nach einem gemeinsamen Ursprung dieser Ähnlichkeiten zu forschen. In dem Bedürfnis, solche Erscheinungen bis auf ihren Ursprung in die Vergangenheit zurückzuverfolgen, äußert sich auch ein gewisser Stil des Denkens. Diese Auffassung kennt sozusagen nur ein Schema für die Ähnlichkeiten, ihre Aneinanderreihung in der Zeit. (Und das hängt vermutlich mit der Alleinherrschaft des Kausalschemas zusammen.)

Daß das indes nicht die einzig mögliche Betrachtungsweise ist, zeigt GOETHEs Anschauung. Seine Konzeption der Urpflanze bedeutet keine Hypothese über die zeitliche Entwicklung des Pflanzenreichs im Sinne Darwins. Welches Problem wird aber dann durch diesen Gedanken gelöst?: Das Problem der übersichtlichen Darstellung.

GOETHEs Satz "Alle Organe der Pflanze sind umgewandelte Blätter" gibt uns ein Schema, die Organe der Pflanze nach ihrer Ähnlichkeit gleichsam um einen natürlichen Mittelpunkt zu gruppieren. Wir sehen, daß die Grundform des Blattes in ähnliche und verwandte Gebilde übergeht: in das Kelchblatt, in das Blütenblatt, in Organe, die halb Blütenblatt, halb Staubgefäß sind usf. Wir verfolgen die Abwandlung eines Typus im Sinnlichen, indem wir das Blatt durch Zwischenformen hindurch mit den übrigen Organen der Pflanze verbinden. - Und das ist es eigentlich auch, was wir hier tun. Wir stellen eine Sprachform mit ihrer Umgebung zusammen oder wandeln sie in der Phantasie ab, um so den gesamten Raum sichtbar zu machen, in dem die Struktur unserer Sprache schwebt.
LITERATUR - Friedrich Waismann in Rudolf Carnap / Hans Reichenbach (Hrsg), Erkenntnis, Band 6/1936, Amsterdam 1967