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JOHANN GEORG SULZER
(1720-1779)
Theorie der angenehmen
und unangenehmen Empfindungen
(1)

"Gefällt, zum Exempel, dem Ehrgeizigen der Rang, wozu er sich durch seine Künste erhoben hat, weil er geschmeichelt und gefürchtet wird; oder ergötzt sich sein Geist nicht vielmehr an der intellektualischen Schönheit, die er im glücklichen Erfolg seiner Unternehmungen wahrnimmt, und an der schönen Aussicht, die ihm seine Macht vorhält, unzählige Begebenheiten nach seinem Willen einrichten zu können? Ich bin versichert, das meiste Vergnügen entsteht bei ihm aus der Schönheit des politischen Systems, das er sich entworfen hat. Das ist aber pur intellektualistisch."

"Die niemals denken gelernt haben, beschäftigen sich, so gut sie können, mit Dingen, welche viel vom Sinnlichen abhängen. Man lehre sie aber nachdenken, Urteile fassen, aus besonderen Begebenheiten allgemeine Schlüsse machen, und Ideen die sich zum Teil ähnlich sind, miteinander vergleichen, so wird man sehen, daß sie sich weit mehr mit intellektuellen Dingen zu tun machen werden, als sie es zuvor getan haben."

"Der Anfang des Vergnügens ist nichts anderes, als was wir eine  freie Leichtigkeit  nennen. Diese Leichtigkeit fängt mit der Ruhe, mit einer Art von Gleichgewicht der Seele an. Das Mißvergnügen hingegen fängt beim Zwang an."

"Für einen Menschen, der wenig überlegt, muß notwendig alles sehr vergänglich sein. Er heftet seine Aufmerksamkeit nicht genug auf die Gegenstände, noch auf seine eigenen Ideen, um das, was ihn angenehmer- oder unangenehmerweise rühren könnte, darin gewahr zu werden; er geht über alles leicht hinweg."


Vorrede

Das Original dieser Abhandlung ist in französischer Sprache in den Schriften der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin erschienen. Da man sie wegen ihres lehrreichen Inhalts ins Deutsche zu übersetzen für gut gefunden, hat der berühmte Herr Verfasser nicht allein seine Einwilligung dazu gegeben, sondern auch die Übersetzung genau durchgesehen und einige Anmerkungen hinzugetan, welche zur Erläuterung des wahren Sinnes das ihrige beitragen. Diese Anmerkungen sind zum Unterschied mit Zahlen bezeichnet, dahingegen die mit Buchstaben bezeichnete schon dem Original beigefügt gewesen.



Erster Abschnitt
Allgemeine Theorie des Vergnügens

Unter allen philosophischen Fragen ist das die berühmteste und wichtigste, welche die Mittel, zur Glückseligkeit zu gelangen, betrifft. Diese Frage ist so alt wie die Philosophie selbst, und von vielen Weltweisen des Altertums untersucht worden, welche sich darüber in verschiedene Sekten zerteilt haben. Beim ersten Anblick scheint sie nicht sehr schwer zu sein. Jedermann gesteht es ein, daß die Glückseligkeit, soweit sie der Mensch erreichen kann, ein Zustand ist, wo das Vergnügen, was man genießt, den Schmerz überwiegt, dem man unterworfen ist. Nun hat eine lange Reihe von Erfahrungen den Menschen von unzähligen Dingen Kenntnis verschafft, deren Genuß Vergnügen macht; und man kennt mittels eben derselben beinahe alle Fälle, wo Schmerz und Verdruß natürliche Folgen der Handlungen sind. Ist dies wahr, so scheint die ganze Wissenschaft der Glückseligkeit, soweit sie nämlich von unseren Handlungen abhängt, auf diese einzige sehr einfache und leichte Regel hinauszulaufen:  Suche dir alles mögliche Vergnügen, das aus der Erfahrung bekannt ist, zu verschaffen, und allen Schmerz zu vermeiden.  Dies ist der Hauptgrundsatz von der Moral der neuen Epikuräer. (a)

Aller scheinbaren Gründlichkeit dieser Maxime ungeachtet, ist es doch nicht schwer einzusehen, daß sie sehr mangelhaft ist. Man braucht nur wenig Erfahrung nebst einem gesunden Urteil zu haben, um zwei Stücke gewahr zu werden, die sie sehr verdächtig machen.

1. So geschieht es oft, daß Vergnügungen gegen Vergnügungen streiten. Wir haben verschiedene Fähigkeiten, die uns zu verschiedenen Arten von Vergnügungen geschickt machen. Nun kann es sich zutragen, daß eine der anderen entgegen ist, oder der Genuß der einen zumindest den Genuß der anderen notwendig ausschließt. Was soll man dann machen? Welcher soll man den Vorzug geben? Der größten? Aber wie kann man das Vergnügen berechnen? Ist es genug, die ersten Eindrücke von beiden Arten miteinander zu vergleichen, oder muß man jedes Vergnügen durch die ganze Reihe von Eindrücken hindurch, die es in der Seele hervorbringt verfolgen? Ist es möglich, daß eine Sache uns immer größeres Vergnügen gibt, je mehr und länger wir dieselbe genießen; so kann uns der erste Eindruck, den sie auf uns gemacht hat, nicht seinen waren Wert schätzen lehren. Die Regeln, die uns im Forschen nach der Glückseligkeit leiten sollen, müssen uns über diese Zweifel nicht in Unwissenheit lassen. Hieraus schließe ich also, daß die epikureische Maxime mangelhaft ist.

2. Lernen wir auch aus der Erfahrung, daß ein genossenens Vergnügen in Schmerz und Verdruß ausarten kann, oder um richtiger zu sprechen: ein genossenes Vergnügen kann einen weit größeren Verdruß verursachen, als das Vergnügen in seiner Art gewesen ist. Das kommt von der Verschiedenheit unserer Fähigkeiten her. Wenn wir nur einer Art des Vergnügens fähig wären, wenn uns z. B. von allen unseren Fähigkeiten nur der Geschmack übrig bliebe, so würde diese Maxime sehr richtig sein. Dann bräuchten wir nur, um glücklich zu sein, alle möglichen Mittel aufzusuchen, unserem Geschmack zu schmeicheln. Nichts wäre dann leichter als glücklich zu sein, obwohl ein so eingeschränktes Glück nur wenig bedeuten würde. Sobald wir aber verschiedene Fähigkeiten haben, und sobald es nötig ist, sie alle zu befriedigen, um zur Glückseligkeit zu gelangen, so wird die Wissenschaft der Glückseligkeit weit mehr zusammengesetzt: und man wird sehen, daß die angeführte Maxime nicht allein mangelhaft, sondern auch gefährlich, und uns ins Unglück zu stürzen fähig ist.

Ich schmeichle mir, diese wenigen Anmerkungen werden hinlänglich sein, zu zeigen, daß die epikureische Maxime auf keine Weise dienlich ist, uns zum großen Zweck der Natur zu führen, und daß man weit schwerere Untersuchungen anstellen muß, wenn man zu etwas gründlichem und gewissen in der Moral gelangen will. Es ist auch aus dem, was ich angemerkt habe, nicht einmal schwer einzusehen, was man für einen Weg ergreifen muß. Man muß notwendig alle Fähigkeiten, die uns gegen die verschiedene Art des Vergnügens und Schmerzes fühlbar machen, recht gründlich kennen; man muß wissen, welche Eigenschaften der Gegenstände sie erregen, und in welchem Verhältnis jede dieser Eigenschaften mit dem Wesen der Seele selbst steht; und schließlich auch, wie das Vergnügen durch allerlei Gegenstände mittels dieser Eigenschaften erregt wird. Nach diesen vorläufigen Untersuchungen wird man imstande sein, über den richtigen Wert der Vergnügungen, über die Proportion, worin sich die verschiedenen Arten desselben untereinander erhalten müssen, wenn wir glücklich sein sollen; und über die Mittel, sie uns zu verschaffen, ein sicheres und entscheidendes Urteil zu fällen.

Ich glaube über jeden dieser Punkte einige Anmerkungen gemacht zu haben, die mir wichtig genug scheinen, um es zu wagen, sie der Akademie vorzulegen. Ich werde mich für dieses Mal daran begnügen lassen, die Grundsätze meiner folgenden Untersuchungen vor Augen zu stellen, welche in  der Erklärung des Ursprungs aller angenehmen und unangenehmen Empfindungen überhaupt  bestehen. Bevor ich diese Untersuchungen angestellt hatte, glaubte ich, daß alles, auch noch so verschiedene Vergnügen, aus ein und demselben wesentlichen Grundtrieb der Seele entspringt, so wie in der Natur eine einzige sehr einfache Kraft eine Menge sehr verschiedener Erscheinungen hervorbringt. Nachdem ich nunmehr diesen Grundtrieb aufgesucht habe, bin ich von der Richtigkeit meiner Mutmaßung gewiß geworden.

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Wir müssen bis zum Wesen der Seele dringen, wenn wir die ursprüngliche Quelle allen Vergnügens entdecken, und nach Art der Mathematiker, welche aus dem Wesen der krummen Linie alle anderen Eigenschaften derselben herleiten, die verschiedenen Arten desselben entwickeln wollen. Denn da das Angenehme und Unangenehme mit all unseren Vorstellungen so genau verbunden ist, so kann man daraus schließen, daß diese beiden allgemeinen Eigenschaften unserer Seele unmittelbar von der Natur der Seele abhängen.

Ich will mich hier in keine metaphysische Untersuchung für oder gegen die Immaterialitäte der Seele einlassen. Die Entscheidung dieser Frage scheint mir zu meinem Zweck nicht unumgänglich notwendig zu sein. Die Seele mag einfach oder materiell sein, genug wenn sie nur von einer beständigen und unwandelbaren Natur ist, und das Wesentliche der menschlichen Natur zu allen Zeiten und in allen Erdstrichen beständig einerlei ist: und das wird jeder vernünftige Philosoph ohne Schwierigkeit gestehen. Ohne mich also dabei aufzuhalten, die Immaterialität der Seele zu beweisen, (welcher Beweis mir doch nicht unmöglich scheint) will ich nur untersuchen, worin ihr Wesen oder ihre natürliche Wirksamkeit besteht. Denn da die Seele eine wirksame Substanz ist, (was niemand leugnen kann), so muß ihr eine gewisse Art der Wirksamkeit oder der Kraft natürlich sein. Diese natürliche Wirksamkeit der Seele besteht gewiß darin, Ideen hervorzubringen, oder auch sie zu empfangen, und miteinander zu vergleichen; das heißt, zu denken.

Ich will hier nicht wiederholen, was unsere neueren Philosophen nach dem berühmten Herrn von WOLFF gründlich dargetan haben, um zu begreifen, daß die natürliche Wirksamkeit der Seele, oder, wie sie es nennen, ihre wesentliche Kraft darin besteht, Ideen hervorzubringen. Wenige Menschen sind gewohnt, sich mit metaphysischen Untersuchungen abzugeben. Ich will hier nur anmerken, daß, da die Seele niemals die Gegenstände selbst, sondern nur die Ideen, welche sie sich davon macht, genießt, sie auch nur Ideen begehren kann; und folglich ihre wesentliche Wirksamkeit nur in der Hervorbringung von Ideen bestehen kann, weil sonst nichts als diese in der Seele vorhanden ist. Wenn wir über das, was in einem Zeitvertreib und in den Vergnügungen der Menschen wesentlich ist, nachdenken; so werden wir allezeit finden, daß sie schließlich auf etwas bloß idealisches hinauslaufen.

Ein Mensch mag Genie oder Stärke des Geistes haben wie er will, so geht doch in allem, was er vornimmt, seine standhafteste Neigung dahin, seinen Geist oder seine Einbildungskraft beständig mit solchen Dingen zu beschäftigen, die ihm Materie zum Denken geben: das ist gleichsam die Nahrung der Seele. Wollen wir uns davon überzeugen, so dürfen wir dem Menschen nur in all seinem Zeitvertreib, in seinen Vergnügungen, kurz in allem, was er aus Geschmack tut, folgen, und aufsuchen, was ihm eigentlich Zeitvertreib verursacht; so werden wir jederzeit finden, daß es auf etwas hinausläuft, das die vorstellende Kraft der Seele unterhält. Gefällt, zum Exempel, dem Ehrgeizigen der Rang, wozu er sich durch seine Künste erhoben hat, weil er geschmeichelt und gefürchtet wird; oder ergötzt sich sein Geist nicht vielmehr an der intellektualischen Schönheit, die er im glücklichen Erfolg seiner Unternehmungen wahrnimmt, und an der schönen Aussicht, die ihm seine Macht vorhält, unzählige Begebenheiten nach seinem Willen einrichten zu können? Ich bin versichert, das meiste Vergnügen entsteht bei ihm aus der Schönheit des politischen Systems, das er sich entworfen hat. Das ist aber pur intellektualistisch. Und so verhält es sich mit allen anderen Ergötzungen der Menschen. Wenn sich der Philosoph mit seinen Spekulationen, der Staatsmann mit seinen Entwürfen beschäftigt; wenn der Stutzer lieblich tut, oder der gemeinste Mann mit seinen Nachbarn plaudert; so haben sie alle insgesamt nur einerlei Endzweck: es will nämlich ein jeder seine Seele mit einer Menge Ideen und Gedanken versehen, die sich zu seinem Geschmack und zum Umkreis seiner Einsichten schicken. Dies versteht sich vornehmlich von solchen Beschäftigungen, wozu eine Anstrengung des Geistes erforderlich ist. Jede Unternehmung ist eine Art von Aufgabe, deren Auflösung uns interessiert, weil sie die ursprüngliche Notdurft unserer Natur befriedigt; und alle verschiedene Lebensarten sind gleichsam so viel Wissenschaften, die schließlich alle auf die Erkenntnis-Fähigkeiten unserer Seele hinzielen. [...]

Ich glaube mich nicht zu betrügen, wenn ich versichere, daß die Wahrheit dessen,was ich hier von der Natur der Seele und ihrem ursprünglichen Bedürfnis behauptet habe, jedem, der sich nur die Mühe geben will, darüber nachzudenken, auch einleuchten wird. Doch könnte daraus ein Zweifel entstehen, daß es so viele Menschen gibt, die nur nach bloß sinnlichen Vergnügungen zu trachten scheinen. Nun kann man sich aber sehr schwer überreden, daß das Denken das vornehmste Bedürfnis solcher Leute sein soll.

Ich gebe zur Antwort, und gründe mich dabei auf die Erfahrung, daß, wenn es wirklich bloß sinnliche Vergnügungen gibt, diese allein niemals die Bedürfnisse unserer Natur hinlänglich zu befriedigen imstande sind; sie werden bald verächtlich und unschmackhaft, wenn sie vom Vermögen zu denken nicht einige Reizungen entlehnen. Ich will nicht einmal anführen, daß Leute von Verstand selbst sinnliche Vergnügungen lebhafter als andere empfinden; sondern ich merke nur dieses an, daß ein mensch, welcher allen seinen Sinnen überflüssig Genüge tun könnte, aber der Vergnügungen, weclhe von der Erkenntniskraft abhängen, beraubt wäre, gewiß nicht lange glücklich sein würde. Wer würde wohl an den Vergnügungen von Essen und Trinken einzig und allein in der Absicht Geschmack finden, weil sie der Zunge schmeicheln; und wer würde sich wohl danach sehnen, wenn er ohne Gesellschaft und Freude dabei wäre? Wer würde des Genusses der schönsten Person nicht bald satt werden, wenn nicht Vergnügungen einer höheren Art mit untermischt wären? Die größten Wollüstlinge werden uns gestehen, daß man mitten unter den Entzückungen der Sinne Langeweile und schrecklich leere Stellen antrifft, und ohne diejenigen Ergötzungen unglücklich ist, welche vom Vermögen zu denken unstreitig entspringen, und das wahre Salz der übrigen sind.

Wir sehen also klar, daß, so mächtig auch die sinnlichen Vergnügungen sein mögen, sie doch nur von einem zufälligen Bedürfnis herrühren, und daß bei allem, was uns lange vergnügen soll, etwas Intellektuelles stattfinden muß. Dies beweist, daß das Wesen der Seele der Grundtrieb, daraus alle unsere dauerhaften Begierden entstehen, eine mächtige Bestimmung ist, Ideen hervorzubringen oder zu empfangen. Ich schmeichle mir sogar, in der Folge dieser Untersuchungen zu zeigen, daß auch die sinnlichen Vergnügungen aus dieser allgemeinen Quelle ihren Ursprung nehmen.

Noch eine andere Beobachtung bestätigt das, was ich vorher von der Natur der Seele gesagt habe. Wenn man auf die Verschiedenheit und Veränderungen des Geschmacks Achtung gibt, so wird man gewahr, je mehr ein Mensch zu intellektuellen und deutlichen Ideen fähig wird, desto weniger beschäftigt er sich mit sinnlichen. Die niemals denken gelernt haben, beschäftigen sich, so gut sie können, mit Dingen, welche viel vom Sinnlichen abhängen. Man lehre sie aber nachdenken, Urteile fassen, aus besonderen Begebenheiten allgemeine Schlüsse machen, und Ideen die sich zum Teil ähnlich sind, miteinander vergleichen, so wird man sehen, daß sie sich weit mehr mit intellektuellen Dingen zu tun machen werden, als sie es zuvor getan haben. Ich wiederhole es also mit Zuversicht; unsere Natur ist so beschaffen, daß das Denken uns wesentlich und der Grundtrieb aller unserer Unternehmungen und aller unserer freien Handlungen ist, so wie das Brennen dem Feuer und das Anziehen des Eisens dem Magneten wesentlich ist.

Wir haben also einen wirksamen Grundtrieb in der Seele gefunden, der die Quelle all unserer Handlungen ist. Vermöge dieses Grundtriebes kommen alle unsere Neigungen in einem Ursprung und Mittelpunkt zusammen. Und wie die Menschen, die von einem gemeinschaftlichen Vater enstpringen, nach ihrem Stand voneinander verschieden sind, so daß es Edle und Bürgerliche von mancherley Rang ibt, je nachdem sie das Schicksal in der Welt da oder dort hingestellt hat: ebenso werden unsere Neigungen und Vergnügungen, obwohl sie nach ihrem Ursprung von gleichem Adel sind, mehr oder minder hochachtungswert; je nachdem die verschiedenen Dienste sind, die sie uns leisten, je nachdem sie unmittelbarer oder entfernter mit der Glückselikeit in Verbindung stehen.

Ehe ich aber zeige, wie dieses tätige Prinzipium der Seele alle angenehme und unangenehmen Empfindungen und folglich auch alle Neigungen und Abneigungen hervorbrint, muß ich zuvor seine Natur etwas genauer untersuchen. Erstens muß man merken, daß der Name einer Kraft, welchen man diesem im Menschen tätigen Prinzipium gegeben hat, ein beständiges Bemühen bedeutet, das, sozusagen, alles in Bewegung setzt, Ideen hervorbringen zu können. Will man die Natur dieser Kraft recht kennen lernen, so darf man sie sich nur in merkwürdigen Fällen, so z. B. in einer Gemütsbewegung, vorstellen. Jedermann weiß, wie man alsdann von der Kraft der Begierde gedränt und bewegt wird. In anderen Fällen, wo die Seele ruhiger ist, bleibt zwar diese wesentliche Kraft einerlei, nur daß sie nicht so stark ist; sie erregt allezeit eine mehr oder minder starke Bewegung, die der Bewegung der Leidenschaften ähnlich ist. Das hat der Ausdruck  wesentliche Kraft der Seele  zu bedeuten.

Ich bemerke zweitens, daß diese Kraft der Seele so bestimmt ist, daß es uns gar nicht gleichgültig ist, von welcher Beschaffenheit die Ideen sind, die sie hervorbringt. Die Seele zieht jederzeit die klaren Ideen den dunklen und die deutlichen denjenigen vor, die nur undeutlich klar sind. Jedermann sieht allerlei Dinge lieber deutlich ein, als daß er verwirrte Begriffe davon hat. Eine deutliche Idee stellt uns auch in der Tat von einem Gegenstand mehr Dinge vor, als eine undeutliche; und befriedigt folglich das Bedürfnis der Seele auch besser.

Das ist noch nicht alles. Die Seele begnügt sich nicht daran, Ideen hervorzubringen: gleich einem guten Boden, der den in seinem Schoß empfangenen Samen nährt und zum Wachstum bringt, zieht die Seele, wenn sie ihre Ideen überdenkt und miteinander vergleicht, neue heraus, und macht Sätze, Schlüsse und aneinander hängende Gedanken daraus. Diese Wirksamkeit der Seele zeigt sich allenthalben. Das kleinste Genie macht seine Schlüsse so gut wie der Philosoph. Diese Fähigkeit, Ideen zu vergleichen und Schlüsse daraus zu machen, nennt man die Vernunft, und man ist durchgehend einstimmig, daß sie allen Menschen mehr oder weniger zuteil geworden ist. Sie ist kein erworbenes Talent, sondern eine Gabe der Natur, eine notwendige Folge der ursprünglichen Kraft der Seele, der man vergeblich widerstehen würde. Umsonst würden wir uns vorsetzen, in Untätigkeit zu bleiben, die Kraft der Seele risse uns fort. Wir bringen Ideen hervor, wir vergleichen sie, wir schließen, ohne daran zu denken, ja oft gegen unseren Willen. Ich merke schließlich noch an, je mehr die Ideen in einer Schlußfolge verbunden sind, das heißt, je vollkommener die Schlußfolge ist, desto mehr Gefallen findet auch die Seele daran. Denn ihre natürliche Wirksamkeit ist in solchen Fällen freier und vollkommener, als wenn die Ideen verwickelt sind. Und das bestätigt auch die Erfahrung. Dies ist die Natur des tätigen Grundtriebes der Seele. Jedermann weiß, wie der Herr von WOLFF alle intellektuellen Fähigkeiten der Seele daraus hergeleitet hat. Ich werde jetzt den Ursprung aller angenehmen und unangenhmen Empfindungen daraus zu folgern suchen, welche gleichsam der Same der Leidenschaften, oder vielmehr die Funken sind, daraus ihr Feuer entspringt. Denn ich gestehe es, daß mir weder die Theorie vom Vergnügen, welche uns dieser berühmte Philosoph gegeben hat, noch die Theorie des großen KARTESIUS hierin Genüge leistet.

Wir wollen damit den Anfang machen, daß wir die Ideen des Vergnügens und Mißvergnügens auf einfache Begriffe zurückführen. Diese beiden Empfindungen verändern sich nach den verschiedenen Graden ihrer Stärke auf unendliche Weise; und gleich Flüssen, die in verschiedenen Entfernungen von ihrer Quelle verschiedene Namen tragen, werden sie auch nach den Grade ihrer inneren Größe mit anderen Namen belegt. Eben dieselbe Empfindung wird, nachdem sie stärker oder schwächer ist,  Annehmlichkeit, Vergnügen, Freude, Entzückung  genannt werden; wie hingegen die Ausdrücke  Mißvergnügen, Verdruß, Zwang und Qual  auch nur einerlei Empfindung bezeichnen, sofern sie nämlich von ihrem Ursprung an bis zu ihrem entferntesten Wachstum betrachtet wird. Wir wollen sie als bei ihrer Quelle nehmen, um die Begriffe davon festzusetzen. Der Anfang des Vergnügens ist nichts anderes, als was wir eine  freie Leichtigkeit  nennen. Diese Leichtigkeit fängt mit der Ruhe, mit einer Art von Gleichgewicht der Seele an. Das Mißvergnügen hingegen fängt beim Zwang an. Wir wollen erst den Ursprung und Wachstum dieser letzteren Empfindung betrachten.

Die natürliche Wirksamkeit der Seele kommt von einer Kraft, von einem gewissen Bestreben zu denken her, das sie in sich fühlt. Tut etwas dieser Kraft Widerstand, und verhindert sie, sie zu entwickeln; oder kommt die Wirkung mit der Größe des Bestrebens der Seele nicht überein: so muß sie es notwendig empfinden, übel damit zufrieden sein, und an diesem Zustand des Zwangs, der ihrer Natur gerade entgegensteht, keinen Gefallen tragen. Ich werde in der Folge zeigen, was das für Hindernisse sind, die die natürliche Wirksamkeit der Seele stören und aufhalten. Je lebhafter eine Seele ist, oder je größer der Widerstand gegen ihre Wirksamkeit ist, desto größer ist auch der Verdruß, der daraus entsteht; und diese Empfindung kann so weit gehen, daß die ganze Natur des Menschen davon gleichsam umgeworfen wird. Die Seele gleicht einem Fluß, der so lange ruhig fließt, als sein Lauf nicht aufgehalten wird; der aber aufschwellt und wütend wird, sobald man seinem Strom einen Damm entgegensetzt. Dies ist der Ursprung der unangenehmen Empfindungen oder des Mißvergnügens.

Was das Vergnügen betrifft, so scheint es schwerer zu sein, es wohl zu erklären. Wenn das Mißvergnügen natürlicherweise von der gestörten oder gehinderten Wirksamkeit der Seele herrührt, so scheint die bloße Freiheit des Wirkens und der gute Erfolg der angewandten Kräfte nichts weiter als Zufriedenheit und Ruhe hervorzubringen, die nur der Anfang oder die Elemente des Vergnügens sind. Indessen kann man leicht einsehen, daß, wenn die Seele diesen Zustand der Leichtigkeit, darin sie sich befindet, überdenkt, sie eine angenehme Empfindung davon haben muß; besonders wenn sie sich des Verdrusses erinnert, den sie sonst wohl gehabt hat, wenn ihre Wirksamkeit verhindert worden ist. Diese angenehmen Empfindung ist aber das noch nicht, was man eigentlich Vergnügen nennt. Es gehört mehr dazu. Wie ist also der Zustand der Seele, und wie ihre Wirksamkeit, wenn sie anstatt bloßer Zufriedenheit wirklich Vergnügen oder Freude genießt?

Das Vergnügen scheint von der bloßen Zufriedenheit darin unterschieden zu sein, daß es etwas lebhaftes und pikantes hat. Bei der Zufriedenheit ist die Seele gleichsam in Ruhe; im Vergnügen scheint sie in angenehmer, aber lebhafter Unruhe zu sein. Diese Lebhaftigkeit, welche das Vergnügen vom bloßen Wohlgefallen unterscheidet, kann daher kommen, daß die Wirksamkeit der Seele alsdann schnell ist; sie geht nicht mehr ihren gewöhnlichen Lauf; sie wird einer Menge Sachen gewahr,  die sie mit mehrerer Leichtigkeit und Hurtigkeit bearbeiten kann  (2,  als sie im Stand der bloßen Ruhe zu haben pflegt.  So muß notwendig die Wirksamkeit einer Seele beschaffen sein, wenn sie sich einen Gegenstand vorstellt, daraus als aus einer fruchtbaren Quelle eine Menge besonderer Ideen entspringen, die sie, sozusagen, in der Ferne voraussieht. Sie fühlt, daß sie Arbeit, und leichte (3 Arbeit haben wird. Diese Ahnung von überflüssiger Nahrung, wenn ich mich so ausdrücken darf, erregt bei ihr die Begierde, sich auf diesen Gegenstand zu heften; und aus dieser Begierde entsteht hauptsächlich die Lebhaftigkeit des Vergnügens: denn ich glaube nicht, daß ein merklicher Grad des Vergnügens ohne Begierde in der Welt sein kann. Sobald die Begierde fehlt, so fällt das Vergnügen auf bloßes Gefallen herab, wie es bei oft wiederholten Vergnügungen zu gehen pflegt. Soviel kann ich vom Ursprung des Vergnügens überhaupt sagen.

Aus dieser Erklärung folgt, daß das Gefühl des Vergnügens gewissermaßen ein außerordentlicher Zustand der Seele ist. Und das bestätigt die Erfahrung auch sattsam. Niemand auf der Welt hat in seinem Leben mehr Zeitpunkte des Vergnügens, als der Zufriedenheit oder des Verdrusses gehabt. Das lebhafte Vergnügen ist auf der Bahn dieses Lebens nur sparsam gesät. Wir reisen durch Gegenden, wo viele dürre Felder, angenehmes Grün genug, aber wenig Blumen von gewissem Glanz sind.

Nachdem wir die allgemeine Quelle aller angenehmen und unangenehmen Empfindungen im Innersten unserer Natur entdeckt haben, sollte ich nun zeigen, in welcher Fassung die Seele sein muß, um zu diesen Empfindungen mehr oder weniger fähig zu werden; und welches die allgemeinen Eigenschaften derjenigen Gegenstände sind, die sie erregen? Ehe ich aber diese Untersuchung anstelle, muß ich erst einigen Zweifeln begegnen, die man gegen meine allgemeiner Erklärung machen könnte.

Wie? wird man sagen, das Vergnügen sollte nur einen so kleinen Anfang haben? Sollten die Entzückungen der Freundschaft und Zärtlichkeit, sollte die so lebhafte wie sanfte Freude, die eine schöne Handlung begleitet und belohnt; sollte der Reiz der Schönheit und die süße Trunkenheit, die aus den Ergötzungen der Sinne entsteht; kurz, sollten all die großen und so mannigfaltigen Vergnügungen nur aus der Kraft zu denken, und aus dem Bestreben der Seele, Ideen hervorzubringen, entstehen? Dies wird so manchen Personen so fremd vorkommen, daß sie in Versuchung geraten werden, meine Theorie zu verwerfen, ehe sie sie noch umständlich untersucht haben. Hier sind einige Anmerkungen, die gewissermaßen zu vorläufigen Antworten auf diese Zweifel dienen werden, bis ich umständlichere Beweise davon geben kann.

Unter allen Vergnügungen sind die intellektuellsten gemeinhin die anzüglichsten und dauerhaftesten (4. Nichts auf der Welt ist anziehender als das Studium der spekulativischen Wissenschaften, und vornehmlich der Mathematik, welche dem Geist die beste Gelegenheit geben, sich zu üben, und worin sich die Kraft der Seele am vorteilhaftesten entwickelt. Die Hitze eines lebhaften und scharfsinnigen jungen Menschen, der sich auf diese Wissenschaften legt, übertrifft alle anderen Leidenschaften. Man hat Leute allem, was die Sinne und Einbildungskraft nur Ergötzendes darbieten, mit Freuden entsagen sehen, um sich ganz und gar solchen Beschäftigungen zu widmen, daraus kein anderes als ein bloß intellektuelles Vergnügen entspringen kann (b. Die Lebhaftigkeit eines Vergnügens kann also niemals gegen seinen intellektuellen Ursprung einen gegründeten Zweifel erregen, weil es sehr lebhafte gibt, die gewiß einen solchen Ursprung haben.

Man könnte gegen unsere Theorie noch einen anderen Zweifel erregen, der von der großen Mannigfaltigkeit der Vergnügungen und von der erstaunlichen Verschiedenheit des Geschmacks hergenommen ist, die man bei Wesen antrifft, welche im Grunde doch einerlei Natur teilhaftig sind. Man kann aber zur Hebung desselben folgendes anführen: Die Seele überdenkt alles, was sich ihr klar darstellt und ihren Geschmack vergnügt, ohne daß sie sich Mühe geben sollte, zu unterscheiden, von welcher Natur die Gegenstände sind. Alle, die ihr Beschäftigung verschaffen, sind auch geschickt, Materie zum Vergnügen oder Verdruß zu werden. Wenn man aber von einem Gegenstand, welcher auch immer, Vergnügen ziehen will, so muß man darüber zu denken und sich denselben zunutze machen wissen. Das Lesen der Elemente des EUKLID verursacht großes Vergnügen, aber nur für einen Kenner der Geometrie. Jede besondere Art von Gegenstand erfordert eine gewisse Kunst, eine gewisse Fertigkeit, um gänzlich bekannt zu sein. Man mag so scharfsinnig sein wie immer man will, so wird es einem bei einem ganz neuen Gegenstand nicht so gleich glücken. Da nun aber die Umstände, darin sich die Menschen befinden, so verschieden sind, so müssen es ihre Kenntnisse und ihre Fertigkeiten eben auch sein; und hieraus folgt, daß die Gegenstände ihrer angenehmen und unangenehmen Empfindungen eben so sehr voneinander verschieden sein müssen, wie die Charaktere der Menschen verschieden sind. Die Verschiedenheit des Geschmacks ist also nur eine Wirkung der äußeren Umstände. Die Grundtriebe des Geschmacks sind bei allen Menschen einerlei, weil sie aus ihrem Wesen fließen. Die Gelegenheiten aber, die man hat, sind Ursache, daß man sich mit gewissen Gegenständen bekannt macht; und diese Bekanntschaft erzeugt eine größere Kenntnis dieser Gegenstände: und das ist der Grund zum Vergnügen. Alle alten  Spartaner  liebten die Leibesübungen, die Jagd, den Krieg und Beschwerlichkeiten: alle  Sybariten  hingegen liebten die Weichlichkeit, die Faulheit und die sinnlichen Vergnügungen. Weder diese noch jene hatten Gelegenheit, sich mit anderen Dingen, die Vergnügen machen können, bekannt zu machen. Der Spartaner, der nie anders als auf einem harten Lager schlief, wußte nichts davon, daß man sich feinere Arten, die Betten zu machen, ausdenken kann. Ja, es gibt ganze Nationen, die an gewissen Vergnügungen, die bei anderen sehr beliebt sind, gar keinen Geschmack finden; und das darum, weil sie nicht wissen, daß es möglich ist, an solchen Dingen Vergnügen zu haben: sie haben nie daran gedacht. Sollte der  Peruvianer  wohl nach dem Gold begierig sein, da er die Vorteile, welche es verschaffen kann, niemals überdacht hat? Ein Mensch, der nie in Gesellschaft gelebt hat, und den Unterschied des Rangs nicht wüßte, könnte auch schlechterdings nicht ehrgeizig sein, noch es begreifen, daß andere ehrgeizig sind. Man bringe ihn aber in die Welt, unter eine gesittete Nation; so wird er vielleich ein CÄSAR werden. Mancher, der sich wundert, daß man das Spiel so lieben kann, wenn er selbst kein Spiel versteht, wird vielleicht der hitzigste Spieler werden, wenn er Gelegenheit hat, es zu lernen. Ich glaube gewiß, wenn ein Mensch unter allen verschiedenen Nationen des Erdbodens leben könnte, so würde er auch jeden Geschmack und jede Leidenschaft, die in den verschiedenen Gegenden herrscht, nacheinander annehmen; so wie ALKIBIADES bald der Athener, bald der Spartaner, bald der Thraker, bald der Perser Sitten angenommen hat.

Diese Beobachtungen beweisen, daß die Verschiedenheit des Geschmacks und der Vergnügungen gar nicht hindert, daß sie nicht alle aus ein und derselben sehr einfachen Quelle ihren Ursprung nehmen sollten. Wir kommen mit einer allgemeinen Fähigkeit zu unzähligen Neigungen und Leidenschaften auf die Welt. Wir bringen die Kraft, welche das Wesen der Seele ausmacht, und sonst nichts weiter, mit. Die Umstände, in denen wir uns im Laufe unseres Lebens befinden, geben gleichsam der unbestimmten Kraft der Seele die Richtung; nur gewisse Arten von Gegenständen werden uns bekannt, und diese allein erregen unsere Begierden: gegen alle übrigen bleiben wir gleichgültig, weil wir sie nicht kennen. Es gibt aber auch allgemeine Neigungen, die fast alle Menschen miteinander gemein haben; nämlich diejenigen, welche von solchen Gegenständen herrühren, die allenthalben, bei gesitteten Völkern und bei den Hottentotten, einerlei sind. Dahin gehören die Hoffnung, die Furcht, die Selbstliebe, mit einem Wort, alle Leidenschaften, welche man einfache Affekte nennt, und wovon KARTESIUS ein sehr gutes Verzeichnis gegeben hat.

Nachdem wir unser Prinzipium festgesetzt und gegen die wichtigsten Einwürfe gesichert haben, so müssen wir es nun etwas genauer betrachten, und sehen, wie denn die Seele, und wie die Gegenstände beschaffen sein müssen, daß angenehme oder unangenehme Empfindungen stärker oder schwächer werden. Die wesentliche Bedingung, welche überhaupt zur angenehmen Empfindung erforderlich ist, ist diese (5: Die Seele muß imstande sein, eine Menge Ideen, die in einem einzigen Gegenstand zusammen verbunden sind, leicht zu entwickeln, und die wesentliche Bedingung des Verdrusses ist diese: Die Wirksamkeit der Seele muß verhindert sein, dies zu tun. Die Beschaffenheit der Seele und die Eigenschaften des Gegenstandes müssen also beiderseits zur Erregung dieser Empfindungen zusammenkommen. Ich will erst einmal von der Beschaffenheit der Seele sprechen.

Ich bemerke, daß die Seele vornehmlich durch zwei Eigenschaften unmittelbar zu angenehmen und unangenehmen Empfindungen mehr oder weniger fähig wird; nämlich durch die  Fertigkeit zu überlegen  und durch die  Lebhaftigkeit.  Die Fertigkeit zu überlegen macht, daß man jede Sache, die sich uns darbietet, festhält, um sie zu betrachten, und alles, was dazugehört, zu entwickeln; sie bringt mehr Wirksamkeit in eine Seele, als sie ohne diese Fertigkeit haben würde: da nun das Vergnügen oder der Verdruß nur aus dieser Wirksamkeit herrührt, so müssen sie auch folglich notwendig beide um dieser Eigenschaft des Geistes willen häufiger sein. Für einen Menschen, der wenig überlegt, muß notwendig alles sehr vergänglich sein. Er heftet seine Aufmerksamkeit nicht genug auf die Gegenstände, noch auf seine eigenen Ideen, um das, was ihn angenehmer- oder unangenehmerweise rühren könnte, darin gewahr zu werden; er geht über alles leicht hinweg. Dies ist der Erfahrung so gemäß, wie es natürlich aus meiner Theorie folgt. Wir sehen, daß die gesitteten Nationen, welche die Talente des Geistes mit dem meisten Fleiß bearbeiten, und folglich auch die größte Fertigkeit zu überlegen haben; daß diese Nationen, sage ich, gegen alle Arten von Vergnügen und Verdruß weit empfindlicher sein, und weit mehrere Arten davon kennen, als die barbarischen Völker, welche die Dummheit gegen unzählige Dinge, die uns rühren, unempfindlich macht.

Die Lebhaftigkeit des Geistes ist vielleicht nichts anderes, als der Grad der ursprünglichen Kraft der Seele, welche ihr Wesen ausmacht. Sie ist beinahe eben das in der Seele, was die Geschwindigkeit in der Bewegung eines Körpers ist. Nun ist es ausgemacht, je größer diese Kraft oder das Bestreben, Ideen hervorzubringen, ist, und die übrigen Umstände sind sich sonst gleich; so muß man auch den Zwang der Hindernisse, und folglich Mißvergnügungen und Verdruß desto mehr fühlen. Und da die Lebhaftigkeit des Vergnügens aus der Größe des Bestrebens entsteht, die Menge von Ideen, die sich auf einmal darbieten, zu entwickeln; so ist es klar, daß die Lebhaftigkeit des Geistes auch die Fähigkeit zum Vergnügen vermehrt, oder daß ein lebhafter Mensch das Vergnügen weit stärker empfinden muß, als ein anderer, der lange nicht so lebhaft ist. Die Erfahrung stimmt hier wieder mit der Theorie überein: die lebhaftesten Temperamente sind auch die empfindlichsten; und wer die stärksten Affekte hat, hat auch die größten Vergnügungen und die empfindlichsten Schmerzen.

Diese zwei Eigenschaften, von denen ich gesprochen habe, machen uns unmittelbar zu Vergnügen und Verdruß fähig. Außerdem gibt es noch viele andere Eigenschaften, die eben die Wirkung auf eine indirekte Art hervorbringen. Wir sehen oft, daß sich Leute aus Dingen ein Vergnügen machen, die allen übrigen kein Vergnügen erwecken. Es kommt in einer großen Gesellschaft die Nachricht an, daß jemand das Unglück gehabt hat, vom Pferd zu stürzen und den Hals zu brechen. Die ganze Gesellschaft betrübt sich darüber, ein einziger ausgenommen, der ein sehr lebhaftes Vergnügen darüber empfindet. Er ist schon lange Zeit ein geschworener Feind des Verstorbenen, der immer seine Absichten vereitelt hatte. Man sieht wohl, daß der Haß hier eine von den mittelbaren Eigenschaften der Seele ist, die uns die Dinge angenehm und unangenehm machen, welche es an und für sich niemals sein würden. Diese Arten des Vergnügens fließen zwar auch aus der allgemeinen Quelle, (wie man es sehr leicht beweisen könnte) aber nicht unmittelbar, weil eine gewisse besondere Fassung in der Seele sein muß, die nicht allen Menschen gemein ist, wodurch die Sache angenehm oder unangenehm wird, die es durch sich selbst nicht sein würde. Erziehung, Gewohnheit und besondere Gemütsfassungen machen uns viele Dinge angenehm oder unangenehm, die es für andere, denen diese Bestimmungen fehlen, nicht sind. Dies ist die vornehmste Quelle der Verschiedenheit im Geschmack. Es würde unmöglich sein, alle Arten der Vergnügungen, die von diesen mittelbaren Ursachen abhängen, anzugeben; die unmittelbaren Vergnügungen aber werden wir in der Folge angeben können. Es ist genug, wenn wir anmerken, daß man allezeit wahrnehmen wird, daß alles mittelbare Vergnügen aus dem glücklichen Erfolg der Wirksamkeit der Seele entspringt. Das Vergnügen z. B. das ein Neidischer über den Schaden eines begüterten Menschen empfindet, kommt augenscheinlich da her, daß sich der Neidische nun ohne Hindernis seine Favorit-Ideen vom Ruin seines Feindes entwickeln kann. Überhaupt muß jeder erfüllte Wunsch Vergnügen machen. Denn wenn man wünscht, so hat man ein Bestreben nach einer gewissen Reihe Ideen. Solange der Lauf der Natur, oder menschliche Ursachen diesen Ideen zuwider sind, solange wird die Seele verhindert, sie zu verfolgen. Das macht ihr Verdruß. Sobald uns aber die Begebenheiten die Bahn eröffnen, und wir sehen die Dinge ankommen, wie wir sie gewünscht haben, so stürzt sich die Wirksamkeit der Seele mit Lebhaftigkeit hin, die Ideen so, wie sie sie gewünscht hat, zu entwickeln: und das macht Vergnügen. Auf solche Weise kann man ungefähr diese mittelbaren Vergnügungen erklären. Eben die Anmerkungen können auch zur Erklärung des mittelbaren Verdrusses dienen, welcher gemeinhin aus dem Widerspruch unserer Ideen mit den Begebenheiten selbst entsteht. Ohne mich aber bei diesem mittelbaren Vergnügen und Mißvergnügen aufzuhalten, von dessen Arten man wegen der unendlichen Verschiedenheit der Temperamente und Charaktere niemals ein Verzeichnis wird geben können; werde ich im folgenden bloß dabei stehen bleiben, meine Theorie auf die verschiedenen Arten unmittelbarer Vergnügungen anzuwenden, welche ich aus der wesentlichen Kraft der Seele herleiten werde.

Eine von diesen mittelbaren Eigenschaften verdient eine besondere Aufmerksamkeit, und ist nicht wenig geschickt, unsere Erklärung vom Ursprung des Mißvergnügens zu bestätigen. Niemandem ist vielleicht unbekannt, wie verdrießlich der Zustand der Untätigkeit der Seele ist, den man die Langeweile nennt. Dies ist eine der peinlichsten Gemütsverfassungen, in der man sich befinden kann, und welche einen tödlichen Verdruß erweckt. Sie rührt ganz augenscheinlich da her, daß die Wirksamkeit der Seele dann verhindert ist, sie mag sonst auch Ursachen haben wie sie will. Man fühlt die dringende Notdurft der Natur, man wünscht mit brennendem Verlangen sie zu befriedigen, man eilt von einer Sache zur andern, ohne daß man dabei stehen bleiben kann. Die Ideen weigern sich gleichsam, der Seele zu gehorchen, und sie ärgert sich über die schreckliche Leere, die sie in ihrem Triebwerk sieht, ohne daß sie sie ausfüllen kann. Ein abscheulicher Zustand, und der da beweist, wie wichtig es für den Menschen ist, daß er sich beschäftigen lernt, um diese schreckliche Verfinsterung der Vernunft zu verhüten. (6

Nachdem ich erklärt habe, welche Eigenschaften und Arten der Vorstellung die Seele unmittelbar gegen das Vergnügen und Mißvergnügen mehr oder weniger empfindlich machen, so muß ich nun noch mit wenigen Worten von den allgemeinen Eigenschaften der Gegenstände sprechen, mittels welcher sie diese Empfindungen natürlicherweise in der Seele erregen müssen. Aus dem, was wir schon oben festgesetzt haben, ist es ganz klar, daß die angenehme Empfindung nur durch solche Gegenstände unmittelbar rege gemacht werden kann, welche eine Menge Ideen in sich fassen, die so miteinander verbunden sind, daß die Seele voraussehen kann, sie werde ihren ursprünglichen Geschmack dabei zu befriedigen finden (7: es ist ferner klar, daß jeder Gegenstand in dem die Seele nichts zu entwickeln antrifft, ihr ganz gleichgültig sein muß; und daß schließlich ein Gegenstand, der die Seele verhindert, das, was er Mannigfaltiges enthält, zu entwickeln, oder der auf irgendeine Weise dem Bestreben der Seele,  Ideen hervorzubringen  (8, Hindernisse in den Weg legt, ihr nicht anders als unangenehm sein kann.

Es ist also kein Gegenstand, der die Seele angenehm oder unangenehm rühren soll, einfach; er muß notwendig zusammengesetzt sein, das heißt, er muß Mannigfaltiges in sich begreifen. Dies bestimmt den wesentlichen Unterschied unter den Dingen, die der Seele natürlicherweise gleichgültig sind, und die sie rühren. Der Unterscheid der Gegenstände, die an sich selbst angenehm und unangenehm sind, kann nur in der Verbindung des mannigfaltigen, das die Gegenstände in sich fassen, bestehen. Ist Ordnung in dieser Verbindung, so kann die Seele ihrem Geschmack gemäß an diesem Gegenstand arbeiten; und das wird also ein angenehmer Gegenstand sein: ist aber keine Ordnung darin (9), so wird der Gegenstand unangenehm sein. Wenn ferner der Geist aus irgendeinem Grund die Entwicklung eines Gedankens eifrig vornimmt, so muß ihm jeder Gegenstand, der ihm in dieser Entwicklung behilflich ist, notwendig auch angenehm sein; so wie ihm hingegen etwas, das ihn an dieser Entwicklung hindert, nicht anders als unangenehm sein kann.

Ich will mich aber hier in keine weitere Untersuchung über diese Eigenschaften der Gegenstände einlassen, weil ich das, was ich noch zu sagen habe, bis dahin aufsparen will, wenn ich den Versuch machen werde, aus dieser allgemeinen Theorie die besonderen Empfindungen der Seele in Absicht jeder verschiedenen Klasse der Gegenstände, dadurch sie gerührt wird, herzuleiten.
LITERATUR - Johann Georg Sulzer, Theorie der angenehmen und unangenehmen Empfindungen, Berlin 1762
    Anmerkungen
    1) Der Verfasser dieser Theorie, dem wir diese Übersetzung zur Beurteilung ihrer Richtigkeit vorgelegt haben, hat uns in den Stand gesetzt, einige Anmerkungen (die zum Unterschied mit Zahlen bezeichnet sind) zur Erläuterung oder Bestätigung seiner Lehre hinzuzutun. Einige der folgenden Anmerkungen scheinen zwar die Übersetzung richtiger zu machen, in der Tat aber verbessern sie den Sinn der Urschrift: denn der Verfasser hat eingesehen, daß er sich an einigen Orten entweder nicht bestimmt, oder nicht richtig genug ausgedrückt hat.
    a) Ich sage der neueren Epikuräer; denn EPIKUR selbst ist sehr weit von diesem Gedanken entfernt gewesen, er, der die verschiedenen Arten von Vergnügen so sorgfältig voneinander unterschied, und nur die anständigen anpries, die andern aber verwarf. Siehe den DIOGENES LAERTIUS.
    2) Dieses soll eigentlich heißen: Sie wird in einem einzigen Hauptgegenstand eine Menge Sachen auf einmal gewahr, die ihre Wirksamkeit zugleich reizen, und dadurch wird ihr Bestreben vermehrt.
    3) Das ist Arbeit, deren Schwierigkeit sie nicht abschreckt. Denn ein Gegenstand, dessen Beschaffenheit wir einzusehen oder wenigstens zu fühlen gar nicht imstande sind, schreckt uns ab; die allzu schwer einzusehende Ordnung ist z. B. eine Unordnung für uns. Einige haben den eigentlichen Sinn des Verfassers hier nicht eingesehen, und deswegen seine Theorie in diesem Stück getadelt.
    4) Soll heißen: gemeinhin die dauerhaftesten und sehr oft von stärkstem Reiz.
    b) Man sieht z. B. Leute, deren Geschmack zum Soldatenstand oder zum Reisen und anderen ähnlichen Unternehmungen so stark ist, daß sie den allgemeinen Vergnügungen des Lebens entsagen, um ihrer Neidung zu folgen. Werden manche durch Ruhmbegierde oder Hoffnung des Gewinns dazu gereizt, so gibt es auch viele, die aus keinem andern Bewegungsgrund handeln, als weil sie ihren Geschmack, der bloß intellektuell ist, befriedigen wollen. Das beweist ganz klar, daß die intellektuellen Vergnügungen ebenso stark und lebhaft sein können, wie die Vergnügungen einer anderen Art.
    5) Diese ganze Stelle, bis an den folgenden Abschnitt, könnte besser auf folgende Weise ausgedrückt werden: So oft die Seele einen merklichen Grad der angenehmen Empfindung fühlen soll, so muß ihr ursprüngliche Vorstellungskraft zu einer lebhaften Wirksamkeit gereizt werden. Die wesentliche Bedingung aber zur Unlust oder zum Verdruß ist diese: daß die Wirksamkeit der Seele ein merkliches Hindernis antrifft. In beiden Fällen trägt sowohl der gegenwärtige Zustand der Seele, wie die Beschaffenheit des Gegenstandes, das ihrige zu dieser Wirkung bei. Das wollen wir jetzt näher, wiewohl nur allgemein, untersuchen.
    6) Hier findet sich eine kleine Lücke, die der Verfasser zu spät wahrgenommen hat, um sie in der Urschrift auszufüllen. Der Leser schalte also zwischen dem letzten und dem nachfolgenden Abschnitt diese Ergängzung ein. --- "Dieses sind die allgemeinen Bedingungen in der Seele, die sie zum Vergnügen und dem Verdruß mehr oder weniger vorbereiten. Die besondere Bedingung und nähere Vorbereitung aber sowohl zu angenehmen als unangenehmen Empfindungen ist diese: daß sie sich eine Menge Sachen zugleich in einem solchen Grad der Undeutlichkeit vorstelle, daß der ganze Gegenstand, worin alle diese besonderen Dinge sich befinden, dem Geist nur klar vorschwebt. Denn diese undeutliche Vorstellung macht eben, daß uns alles besondere in der Sache auf einmal rührt, da hingegen bei einer völligen Deutlichkeit jeder einzelne Begriff sich dem Geist besonders darstellt. Beim Vergnügen fassen wir alles besondere gleichsam in einen einzigen körperlichen Gegenstand zusammen, und machen ihn dadurch zu einem Phänomen oder zu einem phantastischen Bild, welches in der Seele eine Jllusion oder Verrückung herbringt."
    7) Das ist: sie müssen in der Phantasie nur ein einziges Bild ausmachen.
    8) Besser: viele Begriffe auf einmal zu haben.
    9) Oder eine solche, welche die Seele nicht einzusehen vermag.