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IMMANUEL KANT
Prolegomena
einer jeden künftigen Metaphysik,
die als Wissenschaft wird auftreten können

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    Einleitung
Vorerinnerung
Der transzendentalen Hauptfrage - erster Teil
Der transzendentalen Hauptfrage - zweiter Teil
Anhang zur reinen Naturwissenschaft
Der transzendentalen Hauptfrage - dritter Teil
Beschluß
Auflösung der allgemeinen Frage
Anhang von dem geschehen kann, um ...

"Nun gestehe ich, daß es mir unerwartet sei, von einem Philosophen Klagen wegen Mangel an Popularität, Unterhaltung und Gemächlichkeit zu hören, wenn es um die Existenz einer gepriesenen und der Menschheit unentbehrlichen Erkenntnis selbst zu tun ist, die nicht anders, als nach den strengsten Regeln einer schulgerechten Pünktlichkeit aus gemacht werden kann, auf welche zwar mit der Zeit auch Popularität folgen, aber niemals den Anfang machen darf."

"Es ist niemals zu spät, vernünftig und weise zu werden; es ist aber jederzeit schwerer, wenn die Einsicht zu spät kommt, sie in Gang zu bringen."

"Wenn Einsicht und Wissenschaft auf die Neige gehen, alsdenn und nicht eher, sich auf den gemeinen Menschenverstand zu berufen, das ist eine von den subtilen Erfindungen neuerer Zeiten, dabei es der schalste Schwätzer mit dem gründlichsten Kopf getrost aufnehmen und es mit ihm aushalten kann."

Diese Prolegomena sind nicht zum Gebrauch für Lehrlinge, sondern für künftige Lehrer und sollen auch diesen nicht etwa dienen, um den Vortrag einer schon vorhandenen Wissenschaft anzuordnuen, sondern um diese Wissenschaft selbst allererst zu erfinden.

Es gibt Gelehrte, denen die Geschichte der Philosophie (der alten sowohl, als neuen) selbst ihre Philosophie ist; für diese sind gegenwärtige Prolegomena nicht geschrieben. Sie müssen warten, bis diejenigen, die aus den Quellen der Vernunft selbst zu schöpfen bemüht sind, ihre Sache werden gemacht haben und alsdann wird an ihnen die Reihe sein, vom Geschehen der Welt Nachricht zu geben. Widrigenfalls kann nichts gesagt werden, was ihrer Meinung nach nicht schon sonst gesagt worden ist und in der Tat mag dieses auch als eine untrügliche Vorhersagung für alles Künftige gelten; denn da der menschliche Verstand über unzählige Gegenstände viele Jahrhunderte hindurch auf mancherlei Weise geschwärmt hat, so kann es nicht leicht fehlen, daß nicht zu jedem Neuen etwas Altes gefunden werden sollte, was damit einige Ähnlichkeit hätte.

Meine Absicht ist, alle diejenigen, so es wert finden, sich mit Metaphysik zu beschäftigen, zu überzeugen: daß es unumgänglich notwendig sei, ihre Arbeit vor der Hand auszusetzen, alles bisher Geschehene als ungeschehen anzusehen und vor allen Dingen erst die Frage aufzuwerfen: "ob auch so etwas, als Metaphysik, überall nur möglich sei?"

Ist sie Wissenschaft, wie kommt es, daß sie sich nicht, wie andere Wissenschaften, in allgemeinen und dauernden Beifall setzen kann? Ist sie keine, wie geht es zu, daß sie doch unter dem Schein einer Wissenschaft unaufhörlich groß tut und den menschlichen Verstand mit niemals erlöschenden, aber nie erfüllten Hoffnungen hinhält? Man mag also entweder sein Wissen oder Nichtwissen demonstrieren, so muß doch einmal über die Natur dieser angemaßten Wissenschaft etwas Sicheres ausgemacht werden; denn auf demselben Fuße kannes mit ihr unmöglich länger bleiben. Es scheint beinahe belachenswert, indessen daß jede andere Wissenschaft unaufhörlich fortrückt, sich in dieser, die doch die Weisheit selbst sein will, deren Orakel jeder Mensch befrägt, beständig auf derselben Stelle herumzudrehen, ohne einen Schritt weiter zu kommen. Auch haben sich ihre Anhänger gar sehr verloren und man sieht nicht, daß diejenigen, die sich stark genug fühlen, in anderen Wissenschaften zu glänzen, ihren Ruhm in dieser wagen wollen, wo jedermann, der sonst in allen übrigen Dingen unwissend ist, sich ein entscheidendes Urteil anmaßt, weil in diesem Land in der Tat noch kein sicheres Maß und Gewicht vorhanden ist, um Gründlichkeit von seichtem Geschwätz zu unterscheiden.

Es ist aber eben nicht sowas Unerhörtes, daß nach langer Bearbeitung einer Wissenschaft, wenn man Wunder denkt, wie weit man schon darin gekommen sei, endlich sich jemand die Frage einfallen läßt: ob und wie überhaupt eine solche Wissenschaft möglich sei? Denn die menschliche Vernunft ist so baulustig, daß sie mehrmalen schon den Turm aufgeführt, hernach aber wieder abgetragen hat, um zu sehen, wie das Fundament desselben wohl beschaffen sein möchte. Es ist niemals zu spät, vernünftig und weise zu werden; es ist aber jederzeit schwerer, wenn die Einsicht zu spät kommt, sie in Gang zu bringen.

Zu fragen: ob eine Wissenschaft auch wohl möglich sei, setzt voraus, daß man an der Wirklichkeit derselben zweifle. Ein solcher Zweifel aber beleidigt jedermann, dessen ganze Habseligkeit vielleicht in diesem vermeinten Kleinod bestehen möchte und daher mag sich der, so sich diesen Zweifel entfallen läßt, nur immer auf Widerstand von allen Seiten gefaßt machen. Einige werden in stolzem Bewußtsein ihres alten und eben daher für rechtmäßig gehaltenen Besitzes, mit ihren metaphysischen Kompendien in der Hand, auf ihn mit Verachtung herabsehen; andere, die nirgend etwas sehen, als was mit dem einerlei ist, was sie schon sonst irgendwo gesehen haben, werden ihn nicht verstehen und alles wird einige Zeit hindurch so bleiben, als ob gar nichts vorgefallen wäre, was eine nahe Veränderung besorgen oder hoffen ließe.

Gleichwohl getraue ich mir vorauszusagen, daß der selbstdenkende Leser dieser Prolegomenen nicht bloß an seiner bisherigen Wissenschaft zweifeln, sondern in der Folge gänzlich überzeugt sein werde, daß es dergleichen gar nicht geben könne, ohne daß die hier geäußerten Forderungen geleistet werden, auf welchen ihre Möglichkeit beruth und da dieses noch niemals geschehen, daß es überall noch keine Metaphysik gebe: Da sich indessen die Nachfrage nach ihr doch auch niemals verlieren kann, (1) weil das Interesse der allgemeinen Menschenvernunft mit ihr gar zu innigst verflochten ist, so wird er gestehen, daß eine völlige Reform oder vielmehr eine neue Geburt derselben, nach einem bisher ganz unbekannten Plane, unausbleiblich bevorstehe, man mag sich nun eine zeitlang dagegen sträuben, wie man wolle.

Seit LOCKEs und LEIBNIZ' Versuchen oder vielmehr seit dem Entstehen der Metaphysik, so weit die Geschichte derselben reicht, hat sich keine Begebenheit zugetragen, die in Ansehung des Schicksals dieser Wissenschaft hätte entscheidender werden können, als der Angriff, den DAVID HUME auf dieselbe machte. Er brachte kein Licht in diese Art von Erkenntnis, aber er schlug doch einen Funkten, bei welchem man wohl ein Licht hätte anzünden können, wenn er einen empfänglichen Zunder getroffen hätte, dessen Glimmen sorgfältig wäre unterhalten und vergrößert worden.

HUME ging hauptsächlich von einem einzigen, aber wichtigen Begriff der Metaphysik, nämlich dem der  Verknüpfung der Ursache und Wirkung  (mithin auch dessen Folgebegriffe der Kraft und Handlung usw.) aus und forderte die Vernunft, die da vorgibt, ihn in ihrem Schoß erzeugt zu haben, auf, ihm Rede und Antwort zu geben, mit welchem Recht sie sich denkt: daß etwas so beschaffen sein könne, daß, wenn es gesetzt ist, dadurch auch etwas anderes notwendig gesetzt sein müsse; denn das sagt der Begriff der Ursache. Er bewies unwidersprechlich, daß es der Vernunft gänzlich unmöglich sei,  a priori  und aus Begriffen eine solche Verbindung zu denken, denn diese enthält Notwendigkeit; es ist aber gar nicht abzusehen, wie darum, weil etwas ist, etwas anderes notwendigerweise auch sein müsse und wie sich also der Begriff von einer solchen Verknüpfung  a priori  einführen lasse. Hieraus schloß er, daß die Vernunft sich mit diesem Begriff ganz und gar betrüge, daß sie ihn fälschlich für ihr eigen Kind halte, da er doch nichts anderes, als ein Bastard der Einbildungskraft sei, die, durch Erfahrung beschwängert, gewisse Vorstellungen unter das Gesetz der Assoziation gebracht hat und eine daraus entspringende subjektive Notwendigkeit, d. i. Gewohnheit, für eine objektive aus Einsicht unterschiebt. Hieraus schloß er, die Vernunft habe gar kein Vermögen, solche Verknüpfungen, auch selbst nur im Allgemeinen, zu denken, weil ihre Begriffe alsdenn bloße Erdichtungen sein würden und alle ihre vorgeblich  a priori  bestehenden Erkenntnisse wären nichts, als falsch gestempelte gemeine Erfahrungen, welches eben so viel sagt, als es gebe überall keine Metaphysik und könne auch keine geben. (2)

So übereilt und unrichtig auch seine Folgerung war, so war sie doch wenigstens auf Untersuchung gegründet und diese Untersuchung war es wohl wert, daß sich die guten Köpfe seiner Zeit vereinigt hätten, die Aufgabe in dem Sinne, wie er sie vortrug, wo möglich glücklicher aufzulösen, woraus denn bald eine gänzliche Reform der Wissenschaft hätte entspringen müssen.

Allein das der Metaphysik von jeher ungünstige Schicksal wollte, daß er von keinem verstanden würde. Man kann es, ohne eine gewisse Pein zu empfinden, nicht ansehen, wie so ganz und gar seine Gegner, REID, OSWALD, BEATTIE und zuletzt noch PRIESTLEY den Punkt seiner Aufgabe verfehlten und indem sie immer das als zugestanden annahmen, was er eben bezweifelte, dagegen aber mit Heftigkeit und mehrenteils mit großen Unbescheidenheit dasjenige bewiesen, was ihm niemals zu bezweifeln in den Sinn gekommen war, seinen Wink zur Verbesserung so verkannten, daß alles in dem alten Zustande blieb, als ob nichts geschehen wäre. Es war nicht die Frage, ob der Begriff die Ursache richtig, brauchbar und in Ansehung der ganzen Naturerkenntnis unentbehrlich sei, denn dieses hatte HUME niemals in Zweifel gezogen; sondern ob er durch die Vernunft  a priori  gedacht werde und auf solche Weise eine von aller Erfahrung unabhängige innere Wahrheit und daher auch wohl weiter ausgedehnte Brauchbarkeit habe, die nicht bloß auf Gegenstände der Erfahrung eingeschränkt sei, hierüber erwartete HUME Eröffnung. Es war ja nur die Rede vom Ursprung des Begriffs, nicht von der Unentbehrlichkeit desselben im Gebrauch; wäre jenes nur ausgemittelt, so würde es sich wegen der Bedingungen seines Gebrauches und des Umfanges in welchem er gültig sein kann, schon von selbst gegeben haben.

Die Gegner des berühmten Mannes hätten, um der Aufgabe ein Genüge zu tun, sehr tief in die Natur der Vernunft, sofern sie bloß mit reinem Denken beschäftigt ist, hineindringen müssen, welches ihnen ungelegen war. Sie erfanden daher ein bequemeres Mittel, ohne alle Einsicht trotzig zu tun, nämlich die Berufung auf den  gemeinen Menschenverstand.  In der Tat ist's eine große Gabe des Himmels, einen geraden (oder, wie man es neuerlich benannt hat, schlichten) Menschenverstand zu besitzen. Aber man muß ihn durch Taten beweisen, durch das Überlegte und Vernünftige, was man denkt und sagt, nicht aber dadurch, daß, wenn man nichts Kluges zu seiner Rechtfertigung vorzubringen weiß, man sich auf ihn, als ein Orakel beruft. Wenn Einsicht und Wissenschaft auf die Neige gehen, alsdenn und nicht eher, sich auf den gemeinen Menschenverstand zu berufen, das ist eine von den subtilen Erfindungen neuerer Zeiten, dabei es der schalste Schwätzer mit dem gründlichsten Kopf getrost aufnehmen und es mit ihm aushalten kann. Solange aber noch ein kleiner Rest von Einsicht da ist, wird man sich wohl hüten, diese Nothilfe zu ergreifen. Und bei Lichte besehen, ist diese Appelation nichts anderes, als eine Berufung auf das Urteil der Menge; ein Zuklatschen, über das der Philosoph errötet, der populäre Witzling aber triumphiert und trotzig tut. Ich sollte aber doch denken, HUME habe auf einen gesunden Verstand ebensowohl Anspruch machen können, als BEATTIE und noch überdem auf das, was dieser gewiß nicht besaß, nämlich eine kritische Vernunft, die den gemeinen Verstand in Schranken hält, damit er sich nicht in Spekulationen versteige oder wenn bloß von diesen die Rede ist, nichts zu entscheiden begehre, weil er sich über seine Grundsätze nicht zu rechtfertigen versteht; denn nur so allein wird er ein gesunder Verstand bleiben. Meissel und Schlägel können ganz wohl dazu dienen, ein Stück Zimmerholz zu bearbeiten, aber zum Kupferstechen muß man die Radiernadel brauchen. So sind gesunder Verstand sowohl, als spekulativer, beide, aber jeder in seiner Art brauchbar; jener, wenn es auf Urteile ankommt, die in der Erfahrung ihre unmittelbare Anwendung finden, dieser aber, wo im Allgemeinen, aus bloßen Begriffen geurteilt werden soll, z. B. in der Metaphysik, wo der sich selbst, aber oft  per antiphrasin  [Rede, die aus ihrem Gegenteil zu verstehen ist - wp] so nennende gesunde Verstand ganz und gar kein Urteil hat.

Ich gestehe frei, die Erinnerung des DAVID HUME war eben dasjenige, was mir vor vielen Jahren zuerst den dogmatischen Schlummer unterbrach und meinen Untersuchungen im Felde der spekulativen Philosophie eine ganz andere Richtung gab. Ich war weit entfernt, ihm in Ansehung seiner Folgerungen Gehör zu geben, die bloß daher rührten, weil er sich seine Aufgabe nicht im Ganzen vorstellte, sondern nur auf einen Teil derselben fiel, der, ohne das Ganze in Betracht zu ziehen, keine Auskunft geben kann. Wenn man von einem gegründeten, obzwar nicht ausgeführten Gedanken anfängt, den uns ein anderer hinterlassen, so kann man wohl hoffen, es bei fortgesetztem Nachdenken weiter zu bringen, als der scharfsinnige Mann kann, dem man den ersten Funken dieses Lichts zu verdanken hatte.

Ich versuchte also zuerst, ob sich nicht HUMEs Einwurf allgemein vorstellen ließe und fand bald, daß der Begriff der Verknüpfung von Ursache und Wirkung bei weitem nicht der einzige sei, durch den der Verstand  a priori  sich Verknüpfungen der Dinge denkt, vielmehr, daß Metaphysik ganz und gar daraus bestehe. Ich suchte mich ihrer Zahl zu versichern und da dieses mir nach Wunsch, nämlich aus einem einzigen Prinzip, gelungen war, so ging ich an die Deduktion dieser Begriffe, von denen ich nunmehr versichert war, daß sie nicht, wie HUME besorgt hatte, von der Erfahrung geleitet, sondern aus dem reinen Verstand entsprungen seien. Diese Deduktion, die meinem scharfsinnigen Vorgänger unmöglich schien, die niemand außer ihm sich auch nur hatte einfallen lassen, obgleich jedermann sich der Begriffe getrost bediente, ohne zu fragen, worauf sich denn ihre objektive Gültigkeit gründe, diese, sage ich, war das Schwerste, das jemals zum Behuf der Metaphysik unternommen werden konnte und was noch das Schlimmste dabei ist, so konnte mir Metaphysik, so viel davon nur irgendwo vorhanden ist, hierbei auch nicht die mindeste Hilfe leisten, weil jene Deduktion zuerst die Möglichkeit einer Metaphysik ausmachen soll. Da es mir nun mit der Auflösung des HUMEschen Problems nicht bloß in einem besonderen Falle, sondern in Absicht auf das ganze Vermögen der reinen Vernunft gelungen war; so konnte ich sichere, obgleich immer nur langsame Schritte tun, um endlich den ganzen Umfang der reinen Vernunft, in seinen Grenzen sowohl, als seinem Inhalt, vollständig und nach allgemeinen Prinzipien zu bestimmen, welches denn dasjenige war, was Metaphysik bedarf, um ihr System nach einem sicheren Plan aufzuführen.

Ich besorge aber, daß es der  Ausführung  des HUMEschen Problems in seiner möglich größten Erweiterung (nämlich der Kritik der reinen Vernunft) ebenso gehen dürfte, als es dem  Problem  selbst erging, da es zuerst vorgestellt wurde. Man wird sie unrichtig beurteilen, weil man sie nicht versteht; man wird sie nicht verstehen, weil man das Buch zwar durchblättern, aber nicht durchzudenken Lust hat; und man wird diese Bemühung darauf nicht verwenden wollen, weil das Werk trocken, weil es dunkel, weil es allen gewohnten Begriffen widerstreitend und überdem weitläufig ist. Nun gestehe ich, daß es mir unerwartet sei, von einem Philosophen Klagen wegen Mangel an Popularität, Unterhaltung und Gemächlichkeit zu hören, wenn es um die Existenz einer gepriesenen und der Menschheit unentbehrlichen Erkenntnis selbst zu tun ist, die nicht anders, als nach den strengsten Regeln einer schulgerechten Pünktlichkeit aus gemacht werden kann, auf welche zwar mit der Zeit auch Popularität folgen, aber niemals den Anfang machen darf. Allein was eine gewisse Dunkelheit betrifft, die zum Teil von der Weitläufigkeit des Plans herrührt, bei welcher man die Hauptpunkte, auf die es bei der Untersuchung ankommt, nicht wohl übersehen kann, so ist die Beschwerde deshalb gerecht; und dieser werde ich durch gegenwärtige  Prolegomena  abhelfen.

Jenes Werk, welches das reine Vernunftvermögen in seinem ganzen Umfang und Grenzen darstellt, bleibt dabei immer die Grundlage, worauf sich die Prolegomena nur als Vorübungen beziehen; denn jene Kritik muß, als Wissenschaft, systematisch und bis zu ihren kleinsten Teilen vollständig dastehen, ehe noch daran zu denken ist, Metaphysik auftreten zu lassen oder sich auch nur eine entfernte Hoffnung derselben zu machen.

Man ist es schon lange gewohnt, alte abgenutzte Erkenntnisse dadurch neu aufgestutzt zu sehen, daß man sie aus ihren vormaligen Verbindungen herausnimmt, ihnen ein systematisches Kleid nach eigenem beliebigen Schnitte, aber unter neuen Titeln anpaßt; und nichts Anderes wird der größte Teil der Leser auch von jener Kritik zum voraus erwarten. Allein diese Prolegomena werden ihn dahin bringen, einzusehen, daß es eine ganz neue Wissenschaft sei, von welcher niemand auch nur den Gedanken vorher gefaßt hatte, wovon selbst die bloße Idee unbekannt war und wozu von allem bisher Gegebenen nichts genutzt werden konnte, als allein der Wink, den HUMEs Zweifel geben konnten, der gleichfalls nichts von einer dergleichen möglichen förmlichen Wissenschaft ahnte, sondern sein Schiff, um es in Sicherheit zu bringen, auf den Strand (den Skeptizismus) setzte, da es denn liegen und verfaulen mag, stattdessen es bei mir darauf ankommt, ihm einen Piloten zu geben, der nach sicheren Prinzipien der Steuermannskunst, die aus der Kenntnis des Globus gezogen sind, mit einer vollständigen Seekarte und einem Kompass versehen, das Schiff sicher führen könne, wohin es ihm gut dünkt.

Zu einer neuen Wissenschaft, die gänzlich isoliert und die einzige ihrer Art ist, mit dem Vorurteil gehen, als könne man sie mittels seiner schon sonst erworbenen vermeinten Kenntnisse beurteilen, obgleich die es eben sind, an deren Realität zuvor gänzlich gezweifelt werden muß, bringt nichts anderes zuwege, als daß man allenthalben das zu sehen glaubt, was einem schon sonst bekannt war, weil etwa die Ausdrücke jenem ähnlich lauten, nur daß einem alles äußerst verunstaltet, widersinnig und kauderwelsch vorkommen muß, weil man nicht die Gedanken des Verfassers, sondern immer nur seine eigene, durch lange Gewohnheit zur Natur gewordene Denkungsart dabei zugrunde legt. Aber die Weitläufigkeit des Werks, sofern sie in der Wissenschaft selbst und nicht im Vortrag gegründet ist, die dabei unvermeidliche Trockenheit und scholastische Pünktlichkeit sind Eigenschaften, die zwar der Sache selbst überaus vorteilhaft sein mögen, dem Buch selbst aber allerdings nachteilig werden müssen.

Es ist zwar nicht jedermann gegeben, so subtil und doch zugleich so anlockend zu schreiben, als DAVID HUME oder so gründlich und dabei so elegant, als MOSES MENDELSSOHN; allein Popularität hätte ich meinem Vortrag, (wie ich mir schmeichle,) wohl geben können, wenn es mir nur darum zu tun gewesen wäre, einen Plan zu entwerfen und dessen Vollziehung anderen anzupreisen und mir nicht das Wohl der Wissenschaft, die mich so lange beschäftigt hielt, am Herzen gelegen hätte; denn übrigens gehörte viel Beharrlichkeit und auch selbst nicht wenig Selbstverleugnung dazu, die Anlockung einer früheren günstigen Aufnahme der Aussicht auf einen zwar späten, aber dauerhaften Beifall nachzusetzen.

 Pläne  machen ist mehrmals eine üppige, prahlerische Geistesbeschäftigung, dadurch man sich ein Ansehen von schöpferischem Genie gibt, indem man fordert, was man selbst nicht leisten, tadelt, was man doch nicht besser machen kann und vorschlägt, wovon man selbst nicht weiß, wo es zu finden ist, wiewohl auch nur zum tüchtigen Plan einer allgemeinen Kritik der Vernunft schon etwas mehr gehört hätte, als man wohl vermuten mag, wenn es nicht bloß, wie gewöhnlich, eine Deklamation frommer Wünsche hätte werden sollen. Allein reine Vernunft ist eine so abgesonderte, in ihr selbst so durchgängig verknüpfte Sphäre, daß man keinen Teil derselben antasten kann, ohne alle übrigen zu berühren und nichts ausrichten kann, ohne vorher jedem seine Stelle und seinen Einfluß auf den andern bestimmt zu haben, weil, da nichts außer derselben ist, was unser Urteil innerhalb berichtigen könnte; jedes Teiles Gültigkeit und Gebrauch vom Verhältnis abhäng, darin er gegen die übrigen in der Vernunft selbst steht und - wie beim Gliederbau eines organisierten Körpers - der Zweck jedes Gliedes nur aus dem vollständigen Begriff des Ganzesn abgeleitet werden kann. Daher kann man von einer solchen Kritik sagen, daß sie niemals zuverlässig sei, wenn sie nicht  ganz  und bis auf die mindesten Elemente der reinen Vernunft  vollendet  ist und daß man von der Sphäre dieses Vermögens entweder  alles  oder  nichts  bestimmen und ausmachen müsse.

Ob aber gleich ein bloßer Plan, der vor der Kritik der reinen Vernunft vorhergehen möchte, unverständlich, unzuverlässig und unnütz sein würde, so ist er dagegen umso nützlicher, wenn er darauf folgt. Denn dadurch wird man in den Stand gesetzt, das Ganze zu übersehen, die Hauptpunkte, worauf es bei dieser Wissenschaft ankommt, stückweise zu prüfen und manches dem Vortrag nach besser einzurichten, als es in der ersten Ausfertigung des Werks geschehen konnte.

Hier ist nun sein solcher  Plan,  nach vollendetem Werk, der nunmehr nach  analytischer Methode  angelegt sein darf, da das  Werk  selbst durchaus nach  synthetischer Lehrart  abgefaßt sein mußte, damit die Wissenschaft alle ihre Artikulationen, als den Gliederbau eines ganzen besonderen Erkenntnisvermögens, in seiner natürlichen Verbindung vor Augen stelle. Wer diesen Plan, den ich als Prolegomena vor aller künftigen Metaphysik vorausschicke, selbst wiederum dunkel findet, der mag bedenken, daß es eben nicht nötig sei, daß jedermann Metaphysik studiere, daß es manches Talent gebe, welches in gründlichen und selbst tiefen Wissenschaften, die sich mehr der Anschauung nähern, ganz wohl fortkommt, dem es aber mit Nachforschungen durch lauter abgezogene Begriffe nicht gelingen will und daß man seine Geistesgaben in solchem Fall auf einen anderen Gegenstand verwenden müsse, daß aber derjenige, der Metaphysik zu beurteilen, ja selbst eine abzufassen unternimmt, den Forderungen, die hier gemacht werden, durchaus Genüge tun müsse, es mag nun auf die Art geschehen, daß er meine Auflösung annimmt oder sie auch gründlich widerlegt und eine andere an deren Stelle setzt, - denn abweisen kann er sie nicht, - und daß endlich die so beschriene Dunkelheit (eine gewohnte Bemäntelung seiner eigenen Gemächlichkeit oder Blödsinnigkeit) auch ihren Nutzen habe: da alle, die in Ansehung aller anderen Wissenschaften ein behutsames Stillschweigen beobachten, in Fragen der Metaphysik meisterhaft sprechen und dreist entscheiden, weil ihre Unwissenheit hier freilich nicht gegen anderer Wissenschaft deutlich absticht, wohl aber gegen echte kritische Grundsätze, von denen man also rühmen kann:  ignavum, fucos, pecus a praesepibus arcent.  (Sie halten das träge Geschmeiß der Hummeln von den Ställen ab. (3)

LITERATUR: Immanuel Kant - Prolegomena einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, J. H. von Kirchmann (Hrsg), Heidelberg 1882
    Anmerkungen
    1) "Rusticus exspectat, dum defluat amnis, at ille Labitur et labetur in omne volubilis aevum." - Horaz
    (Der Bauer wartet, bis der Fluß abgeflossen; aber dieser fließt und wird stetig und in alle Ewigkeit fließen.)
    2) Gleichwohl nannte HUME eben diese zerstörende Philosophie selbst Metaphysik und legte ihr einen hohen Wert bei. "Metaphysik und Moral, sagt er (Versuche 4. Teil, Seite 214, deutsche Übersetzung), sind die wichtigsten Zweige der Wissenschaft; Mathematik und Naturwissenschaft sind nicht halb so viel wert." Der scharfsinnige Mann sah aber hier bloß auf den negativen Nutzen, den die Mäßigung der übertriebenen Ansprüche der spekulativen Vernunft haben würde, um so viel endlose und verfolgende Streitigkeiten, die das Menschengeschlecht verwirren, gänzlich aufzuheben; aber er verlor darüber den positiven Schaden aus den Augen, der daraus entspringt, wenn der Vernunft die wichtigsten Aussichten genommen werden, nach denen allein sie dem Willen das höchste Ziel aller seiner Bestrebungen ausstecken kann.
    3) VIRGIL