p-4 von BechterewH. SchmidkunzTh. LippsJ. VolkeltE. Bergmann    
 
GEORG ADLER
Die Bedeutung der Illusionen
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"Nimm einem Menschen die Hoffnung, und du gibst ihm das Auge für alle Mühseligkeit; ihm bleibt nichts als Resignation. Resignation ist gut, aber sie ist nicht das Beste. Wer sie preisen wollte, wer sie auch da, wo sie nicht unabänderlich geboten ist, als groß und erhaben hinstellte, der ist Buddhist; der würde einen Todesschlaf über die Erde führen."

V o r w o r t

Im Jahre 1895 machte ich zum ersten Mal den Versuch, einmal den üblichen Gefühlswert des  Jllusions begriffs umzuwerten und zugleich durch Klarstellung der Bedeutung der Jllusionen für das Gesellschaftsleben neue Einsichten in das Wesen der sozialen Bewegungen und Theorien zu gewinnen. Das geschah in einer Abhandlung über "Jllusion und Suggestion in der Sozialpolitik", die dann 1896 in der  Zukunft  und in meiner Schrift "Der Kampf wider den Zwischenhandel" publiziert worden ist. Ich habe die Genugtuung gehabt, daß diese Abhandlung, wenn auch nur selten zitiert, doch dafür desto häufiger literarisch ausgenutzt worden ist.

Seitdem haben sich meine Ansichten ausgereift; und so habe ich, nachdem sich an ihnen das horazische "Nonum prematur in annum" [Man behalte ein Manuskript bis ins 9. Jahr zurück - wp] erfüllt hat, in der vorliegenden Schrift den Versuch einer erweiterten Behandlung des Jllusionsproblems unternommen. Immerhin will auch diese Schrift nur als Skizze meines Anschauungskreises betrachtet werden.


Die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft und Kultur wird beherrscht durch Interessen, Einsichten, Leidenschaften und Schein. Während die Bedeutung der drei ersten Faktoren für das Völkerleben schon öfters eine eingehende Würdigung erfahren hat, ist die Bedeutung des Scheins (also, subjektiv vom urteilenden Menschen aus genommen, der Jllusion) für den Gang der geschichtlichen Entwicklung noch keineswegs hinreichend erkannt. Ja, die Bedeutung der Jllusion wird nur zu häufig teils geleugnet, teils ausschließlich im negativen Sinn geschätzt, während ihr im Haushalt der menschlichen Natur eine mächtige Bedeutung, oft gerade zugunsten des Fortschritts von Nationen und Volksklassen, zukommt. Da hierüber - abgesehen von den früheren Arbeiten des Verfassers - nur aphoristische Betrachtungen existieren, so will ich im folgenden meine Ansichten über dieses Problem sowohl in prinzipieller Form als auch in der Anwendung auf einige wichtige Fälle aus dem Leben der Völker und Individuen entwickeln.

I.

    "Das Ideal ist etwas, was zugleich ist und nicht ist.
Es ist die im tiefsten Herzen der Menschen
leuchtende Sonne, um die unsere Gedanken und Kräfte
schwingen, eine Sonne, deren Schein fahl und bleich
wird, wenn sie aus den Tiefen der Seelen ans Tageslicht
emportaucht. Die Blumen und Bäume freuen sich an
Hyperions Strahlen, die Menschen gedeihen nur an
der geheimnisvollen Wärme eines nie gesehenen Sterns."
blindfish - Lagarde -
   


Die Betrachtung der Massenbewegungen des 19. Jahrhunderts bringt mit überwältigender Klarheit den Satz zur lebendigen Anschauung, daß nur die Erfüllung mit mächtigen Idealen - wie solche etwa die sozialistischen Zukunftsgedanken darstellen - imstande ist, das Volk aus seiner Lethargie aufzurütteln, die Menge fortzureißen und den ersten Anstoß zum organisierten Handeln von Massen zu geben. Das Geheimnis eines solchen Erfolges besteht darin, daß jenes mystische - mindestens bis heute nicht völlig aufgeklärte - Etwas in Schwingungen versetzt wird, das in jeder Menschenbrust schlummert, daß ihr Gedanken suggeriert werden, die sie in Erregung, Verzückung, Ekstase versetzen und so die kalten Regeln der rechnenden Vernunft und der Eigenliebe vergessen lassen. Es ist dann, als ob ein geistiger Rausch die Menschen ergriffen hätte, der ihr Auge mit Jllusionen, ja Wahnbildern umschleiert, um beim Individuum Trägheit und Egoismus für eine Weile aufzuheben. Der Mensch fühlt sich mit magischer Kraft zu der ihn berückenden Idee hingezogen, wie FAUST zur HELENA, und muß nun "sehnsüchtigster Gewalt, ins Leben ziehn die einzigste Gestalt"!

Suchen wir nun zu ergründen, wie der hier angedeutete Prozeß sich abspielt und welche Tragweite ihm innewohnt. Eine Bewegung, die sich gegen etwas Bestehendes richtet, muß, um die Einzelnen aus ihrer trägen Ruhe und Apathie zu reißen, an ihre Phantasie appellieren, ihr ein lockendes Bild vorgaukeln. Nehmen wir an, sie verschmähe diese Mittel, sie schildere bloß das objektiv Greifbare und Erreichbare ihrer Ziele, gebe daher das notwendig Unvollkommene und Mangelhafte darin gewissenhaft zu, gestehe allerhand mögliche Bedenklichkeiten der angestrebten Umwälzung ein, - so wird eine solche Bewegung bald in sich zusammensinken müssen; sie wird, anstatt zu wachsen, ihren Anhang immer mehr schwinden sehen, da ihr blasses und schwächliches Ideal nicht Attraktionskraft genug besitzt, um den trägen und egoistische gesinnten Einzelmenschen zu vermögen, seine Ruhe hinzugeben und sich das Herz zu beschweren oder wohl gar Opfer zu bringen. Ideen, die sich bloß an die kühl wägende Vernunft richten, können daher keine Massenbewegung ins Leben rufen, sie prallen wirkungslos an der mit dem dreifachen Erz des Egoismus gepanzerten Menschenbrust ab. Darum konnte einst DISRAELI (in seinem Roman "Coningsby", 1844), freilich übertreibend, erklären: wenn man einen Aufschwung der Nation wolle, so müsse man an die Phantasie der Menschen appellieren, nicht an den sorgsam klügelnden Verstand.
    "Der Vernunft verdanken wir keine der großen Taten, die als die Meilensteine auf dem Weg des menschlichen Fortschrittes zu betrachten sind. Es war nicht Vernunft, die Troja belagerte; es war nicht Vernunft, die die Sarazenen aus de Wüste trieb, um die Welt zu erobern; es war vor allem nicht Vernunft, die den Anstoß zur französischen Revolution gab. Der Mensch ist nur dann wahrhaft groß, wenn er seinen Leidenschaften folgt, und nie unwiderstehlicher, als wenn ihn die Phantasie beseelt."
Der Kitt nun, der den einen mit dem anderen verbindet und so aus der Masse der Einzelnen eine Einheit zustandebringt, - der elektrische Schlag, der die Trägheit des Individuums durchbricht, so daß es Ruhe und Gut, ja oft Freiheit und Blut hingibt, geht von der  Jllusion  aus. Die Jllusion - d. h. eine "Wahrnehmung, deren Gegenstand nicht so beschaffen ist, wie wir ihn wahrnehmen" (nach einer jüngst aufgestellten philosophischen Definition) oder, nach des Physiologen JAMES SULLY Definition, kurzweg "eine Vorstellung, die vom Tatsächlichen abweicht" - die Jllusion also ist in den meisten Fällen nötig, wenn sich eine neue Idee Bahn brechen oder ein mächtiger Fortschritt geschehen soll: so ist es nun einmal bestellt um die meisten großen Dinge, daß sie "nie ohne einigen Wahn gelingen", wie HANS SACHS in den Meistersingern sagt.

Was macht die Jllusion aus dem Menschen? Ich will als Antwort nur eine Schilderung wiederholen, die FRIEDRICH NIETZSCHE vom Mann entworfen hat, "den eine heftige Leidenschaft für ein Weib oder einen großen Gedanken herumwirft und fortzieht" - eine echt NIETZSCHEsche Schilderung freilich, die es künstlerisch-genial auf ein ungeheures Heraustreiben der Hauptzüge absieht. NIETZSCHE sagt also:
    "Wie verändert sich einem solchen Mann seine Welt! Rückwärts blickend, fühlte er sich blind, seitwärts hörend, vernimmt er das Fremde wie einen dumpfen, bedeutungsleeren Schall; was er überhaupt wahrnimmt, das nahm er noch nie so wahr, so fühlbar noch, gefärbt, durchtönt, erleuchtet, als ob er es mit allen Sinnen zugleich ergriffe. Alle Wertschätzungen sind verändert und entwertet; so vieles vermag er nicht mehr zu schätzen, weil er es kaum mehr fühlen kann: er fragt sich, ob er so lange der Narr fremder Worte, fremder Meinungen gewesen sei; er wundert sich, daß sein Gedächtnis sich unermüdlich im Kreis dreht und doch zu schwach und müde ist, um nur einen einzigen Sprung aus diesem Kreis heraus zu machen. Es ist der ungerechteste Zustand von der Welt, eng, undankbar gegen das Vergangene, blind gegen Gefahren, taub gegen Warnungen, ein kleiner lebendiger Wirbel in einem toten Meer von Nacht und Vergessen: und doch ist dieser Zustand der Geburtsschoß nicht nur einer ungerechten, sondern vielmehr jeder rechten Tat, und kein Künstler wird sein Bild, kein Feldherr seinen Sieg, kein Volk seine Freiheit erreichen, ohne sie in einem derartigen Zustand vorher begehrt und erstrebt zu haben. Wie der Handelnde, nach GOETHEs Ausdruck, immer gewissenlos ist, so ist er auch wissenlos, er vergißt das Meiste, um eins zu tun, er ist ungerecht gegen das, was hinter ihm liegt, und kennt nur  ein  Recht, - das Recht dessen, was jetzt werden soll. So liebt jeder Handelnde seine Tat unendlich mehr als sie geliebt zu werden verdient: und die besten Taten geschehen in einem solchen Überschwang der Liebe, daß sie jedenfalls dieser Liebe unwert sein müssen, wenn ihr Wert auch sonst unberechenbar groß wäre."
Natürlich ist mit dieser ekstatischen Darstellung bloß das  Extrem  von Jllusion charakterisiert; aber die Bedeutung der Jllusion für historische Geschehnisse wird gerade darum sofort verständlich, weil die geschilderten Merkmale, natürlich in vielfach abgeblaßter Form, alle von Jllusion umschatteten Taten kennzeichnen. Das Problem ist nun freilich:  wie  kommt diese Jllusion zustande?

Ein Grundelement aller menschlichen Vorstellungstätigkeit ist - neben der Wahrnehmung und dem Denken - die  Phantasie Ihr kommt im Haushalt unserer geistigen Natur eine wichtige Rolle zu: denn in allen Fragen, in denen die rein verstandesmäßige Erwägung allein zu keiner Lösung führt, tritt die Phantasie ergänzend hinzu und weist unserem Verstand die Richtung. Natürlich läßt sich im wirklichen Leben die Tätigkeit von Verstand und Phantasie durchaus nicht trennen, sondern die Phantasie greift immer wieder auf das Gebiet des Verstandes über, mengt sich richtungweisend, beflügelnd, hemmend oder verstärkend in unsere Verstandestätigkeit ein. Da dieser Prozeß im größten Teil seiner Einzelheiten uns unbewußt vor sich geht, so ist die Folge, daß wir fortwährend in Täuschungen über uns selbst, über die Vorgänge in unserem Inneren und über unsere Stellung zur Außenwelt und Natur befangen sind. Die Menschenseele hat den Drang, sich von der Welt und dem Menschen und von jeder Seite davon ein  einheitliches  Bild herzustellen - und da die Erfahrung niemals dieses einheitliche Bild, sondern nur eine Anzahl Stücke dazu liefert, so wird es nötig, daß  wir  den Rest aus unserem Innern ergänzen. In diesem Sinne produzieren wir selber durch unsere Phantasie einen Teil der Bilder, die wir von der Außenwelt haben - und das müssen natürlich, bei der individuellen Ausgestaltung der Phantasie in jedem einzelnen Menschenhirn, Bilder sein, die von der  realen  Welt wesentlich abweichen.

Man betrachte bloß die religiösen und philosophischen Systeme von diesem Gesichtspunkt aus. Man sieht dann, daß viele von ihnen in gänzlich unbeweisbarer Art - rein infolge der konstruktiven Tätigkeit der Phantasie - sich zu den ungeheurlichsten Jllusionen über die Stellung des Menschen im Weltall haben verführen lassen, indem sie den Menschen mehr oder weniger als das Zentrum des Alls erklärten. Welches dagegen die Stellung des Menschen mit all seiner angeblichen "Erkenntnis" in der Welt in Wahrheit ist, hat NIETZSCHE in einem seiner nachgelassenen Aphorismen treffend, wie folgt, gekennzeichnet:
    "In irgendeinem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Tiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmütigste und verlogenste Minute der  Weltgeschichte:  aber doch nur eine Minute. Nach wenigen Atemzügen der Natur erstarrte das Gestirn und die klugen Tiere mußten sterben." - So könnte jemand eine Fabel erfinden, - und würde doch nicht genügend illustriert haben, wie kläglich, wie schattenhaft und flüchtig, wie zwecklos und beliebig sich der  menschliche Intellekt  innerhalb der  Natur  ausnimmt! Es gab Ewigkeiten, in denen er nicht war; wenn es wieder mit ihm vorbei ist, wird sich nichts begeben haben. Nur sein Besitzer und Erzeuger nimmt ihn so pathetische, als ob die Angeln der Welt sich in ihm drehten. Könnten wir uns aber mit der Mücke verständigen, so würden wir vernehmen, daß auch sie mit diesem Pathos durch die Luft schwimmt und in sich das fliegende Zentrum der Welt fühlt."
Man betrachte weiter den handelnden Menschen! Wenn er nicht schon eine hohe Stufe der Bildung und Kultur erreicht hat, so wird er stets der Ansicht sein: sein Wille sei frei! Denn ihm kommt ja nur zum Bewußtsein, daß alle seine Handlungen von  seiner Entscheidung,  also seinem Wollen abhängig sind - ich kann tun, was ich will! sagt ein solcher Mensch - während ihm nicht zum Bewußtsein kommt, daß sein Wollen einen zureichenden Grund haben muß, daß also in Wirklichkeit jede Willenentscheidung das Schlußresultat einer langen Reihe von  Kausal zusammenhängen, mithin völlig determiniert ist. So werden Millionen und aber Millionen Menschen auf ihrer Reise durchs Leben von der Jllusion der "Willensfreiheit" begleitet.

Auf diese Weise zieht sich, rein in Konsequenz der geistigen und seelischen Organisationen des Menschen, durch unsere ganze Vorstellungs- und Denkfähigkeit eine unauflösliche Verschmelzung von Wahrheit und Irrtum.

Unser geistiger Organismus ist aber darum, weil er als Träger von Jllusionen, also von Täuschungen über den wahren Sachverhalt, erkannt ist, durchaus nicht abschätzig zu beurteilen: im Gegenteil, wir werden sagen müssen, - gerade diese seine Fähigkeit zur Erzeugung von Jllusionen hat sich als  lebenserhaltendes  Prinzip erwiesen! Wie viele Menschen wären bei einer illusionslosen Betrachtung der Dinge dieser Welt zur Erkenntnis ihrer hoffnungslosen Lage gekommen und damit nicht bloß ewig unglücklich, sondern auch zu jeder energischen und dauernden Kraftanstrengung unfähig gewesen! Mit Recht sagt der Philosoph GUSTAV GLOGAU:
    "Nimm einem Menschen die Hoffnung, und du gibst ihm das Auge für alle Mühseligkeit; ihm bleibt nichts als Resignation. Resignation ist gut, aber sie ist nicht das Beste. Wer sie preisen wollte, wer sie auch da, wo sie nicht unabänderlich geboten ist, als groß und erhaben hinstellte, der ist Buddhist; der würde einen Todesschlaf über die Erde führen."
Was wäre das Leben der Völker ohne die Jllusionen gewesen, die sie sich über ihre Rolle in dieser und jener Welt, über Vaterland, Kultur und Natur, über die Gebote der Pflicht und der Moral gemacht haben? Die tatsächliche Entwicklung der menschlichen Natur, ihre Erhöhung und Bereicherung im Laufe der Zeit bei den besseren Völkertypen liefert den Beweis dafür, daß die Menschheit dieser Jllusionen bedurft hat, um sich zu erhalten und fortzuschreiten - und daß ohne jene Jllusionen menschliche Gemeinwesen niemals dauernd hätten bestehen und blühen können. Die Jllusion ist somit der Vater des Lebendigen, indem sie wesentlich dazu beigetragen hat, eine organische Entwicklung des Menschengeschlechts zu ermöglichen - sei es durch Aufrichtung leitender Prinzipien für Denken und Handeln des Individuums, sei es durch ein Zusammenschweißen der Willenstätigkeiten der Individuen zu einer grandiosen sozialen Einheit! Unmittelbar wird die Bedeutung der Jllusion durch einen Blick ins Leben klar, wenn wir - worauf schon NIETZSCHE hingewiesen hat - gelegentlich bemerken: das Wissen und Empfinden eines Menschen kann sehr beschränkt, sein geistiger und seelischer Horizont kann eingeengt wie der eines Alpentalbewohners sein, in jedes Urteil mag er eine Ungerechtigkeit legen - und trotz all demm steht er doch in unüberwindlicher Gesundheit da und erfreut jedes Auge; während dicht neben ihm der bei weitem Gerechetere und Gelehrtere kränkelt und zusammenfällt, weil sich die Linien seines Horizontes immer von neuem unruhig verschieben, weil er sich aus dem so viel zarteren Netz seiner Gerechtigkeiten und Wahrheiten nicht wieder zum derben Wollen und Begehren herauswinden kann!

Wir sehen also: damit das Menschengeschlecht auf Erden seinen Gang gehe und eine vorwärtsschreitende Entwicklung durchlaufe, ist es nötig, daß es sich nicht bloß von der  Wahrheit,  von der Anpassung an den  wirklichen  Sachverhalt - die ja natürlich in einer Unzahl von Fällen unbedingt notwendig ist - leiten lasse, sondern auch von Jllusionen.  Wahrheit und Jllusion  - das sind die großen Prinzipien, die die Erhaltung und das Wachstum des Lebens ermöglichen und begünstigen!

Wenn hiermit die Jllusion als eine der Voraussetzungen unserer Existenz erkannt ist, so darf es uns nicht wundern, daß sie auch in der  Geschichte  der Menschheit eine große Rolle spielt. Das geschieht besonders in der Form, daß Jllusionen einzelner Köpfe eine rasche Verbreitung finden, die Massen ergreifen und für deren Vorwärtsbewegung den einheitlichen Horizont schaffen.  Diese  Art der Beeinflussung ganzer Gruppen, Klassen, Nationen, ja Kulturwelten beruth auf der mit dem Charakter unserer Phantasie gegebenen Möglichkeit, auf die Gedanken und Handlungen der Menschen durch  Eingebungen  bestimmend einzuwirken.

Der Mensch ist, wie die Forschungen der neueren Psychiatrie, vor allem die Schule von Nancy (BERNHEIM und LIEBÉAULT), bewiesen haben, auch im wachen Zustand  suggestiven  Einflüssen unterworfen. Wenn nun in der Suggestibilität - nach FOREL - "eine einfache, jedem Menschen zukommende Eigenschaft des Nervensystems erblickt werden muß", so ist es doch nicht leicht, jedesmals die Feder aufzufinden, um die individuelle Suggestibilität zu wecken.
    "Die Suggestion bedeutet eine Art Turnier zwischen zwei Gehirnen; das eine herrscht bis zu einem gewissen Punkt über das andere, aber nur unter der Bedingung, daß es gewandt und feinfühlig mit ihm umgeht, seine Neigungen geschickt anregt und verwendet, vor allem, daß es das andere nicht widerhaarig macht" (FOREL).
Die Suggestion wird im praktischen Leben umso schwieriger, weil sie im Wachzustand des Menschen gewöhnlich nicht in ihrer reinen Form erscheint, wie sie etwa bei  Ärzten  zu experimentellen oder therapeutischen Zwecken Verwendung findet, sondern in mannigfaltigen Kombinationen mit mehr oder weniger bewußten Vernunftgründen und Moralanschauungen. Trotzdem lehrt die Weltgeschichte, zumal bei der Betrachtung religiöser Bewegungen, daß Suggestionen nicht bloß häufig einzelnen Menschen beigebracht werden, sondern daß sie auch epidemisch umsich greifen und alle Köpfe anstecken können. Solche Suggestionen, die dazu führen, großen Massen den gleichen geistigen Horizont für einen Teil ihres Denkens und Handelns zu schaffen, entstehen regelmäßig dadurch, daß mit ungewöhnlicher Lebendigkeit an die Phantasie der Menschen appelliert wird, daß chiliastische Hoffnungen von einem neuen Himmel und einer neuen Erde erregt und Formeln geprägt werden, die mit dämonischer Gewalt die Massen an sich fesseln und sie in eine einheitliche Vorwärtsbewegung drängen. So ist die Jllusion in eine Massenkraft umgesetzt - Tausende, ja Millionen von Köpfen sind von einer Art Schwärmerei angesteckt und bereit, von ihrem Egoismus ein Stück abzubrechen, nur um der  Idee  zum Sieg zu verhelfen: das anscheinend unmögliche Werk, die Menge divergierender Einzelinteressen in  ein  brausendes Meer ausmünden zu lassen, ist gelungen! Wahrhaft schützende Dämme dagegen erweisen sich als unmöglich, vielmehr werden je nach der Natur der Bewegung die Regierungen oder andere Gewalten gezwungen, ihr durch Umschaffung bestehender oder Schöpfung neuer Institutionen Rechnung zu tragen. Diese Institutionen werden aber nie das Ideal, das der Bewegung vorgeschwebt ist und ihr den Sieg verheißen hat, ganz erfüllen, weil eben solche Ideale und die Erfordernisse des praktischen Lebens zumeist weit auseinanderklaffen; vielmehr wird nur zu oft zwischen dem Ideal und den positiven Schöpfungen bloß eine entfernte Ähnlichkeit bestehen. Dann werden die alten Formeln sich entweder der neuen Lage anpassen und damit freilich auch viel von ihrer dämonischen Macht einbüßen - oder aber die zauberkräftigen Schlagworte, die ehedem die Massen zu elektrisieren vermochten, werden durch das Feuer der Kritik in ausgebrannte Schlacken verwandelt, deren einstmals brauchbarer und wertvoller Inhalt vernutzt worden ist. Die Menschheit aber wird sich daran machen, neue Formeln, neue Jllusionen, neue Suggestionswirkungen für die Massen zu entdecken, weil sie dessen bedarf, um sich nach irgendeiner Richtung vorwärts zu bewegen. So sind Jllusion und Suggestion als wesentliche Hebel der Weltgeschichte erkannt. Es ist, als wenn in jeder Epoche ihr wahres Ziel durch ein Wahnbild versteckt sei: nach  diesem  streckt die Menschheit die Hand aus, um das, was ihr wirkliches Ziel ist, zu erreichen.

Aber die verschiedenen Jllusionen, die in der Geschichte der Völker auftauchen, dürfen nicht gleichmäßig beurteilt werden: es wird sich vielmehr immer um ihre Art und zumal um ihre  Folgen  handeln. Denn es gibt Jllusionen, die alles, was sonst den Menschen vom Nebenmenschen,  eine  Klasse des Volkes von der anderen scheidet, für den Augenblick vergessen machen, so daß alle Glieder der Nation sich als ein einzig Volk von Brüdern fühlen, gleichmäßig auf  ein  Ziel hinstreben, übereinstimmend - wie nach  einem  Plan - handeln: so gewinnt ein Volk seine Freiheit, verjagt eine aufgezwungene Fremdherrschaft oder zerbricht das Joch eines drückenden Despotismus. In diesem Fall hat die Jllusion offenbar im höchsten Maß wohltätig gewirkt, sie ist darum als Symptom aufsteigenden nationalen Lebens anzusehen und muß als  produktiv  bezeichnet werden.

Andererseits gibt es Jllusionen, die den Blick der Individuen und der Massen verwirren, ihnen sinnenberückende Ideale ohne reale Substanz vorgaukeln, sie mit rasender Gier erfüllen, alle Klassen gegeneinander aufreizen und damit die Reibungswiderstände innerhalb eines Volkes vergrößern, die nationalen Kräfte zersplittern, die Aktionsfähigkeit nach innen und außen lähmen oder auf Irrwege ablenken: so beginnt der Prozeß der nationalen Dekomposition, fängt ein Reich zu zerbröckeln an, kündigt sich der Untergang von Völkern und Staaten an. Hier hat die Jllusion im höchsten Maße schädlich gewirkt, sie muß darum als Symptom niedergehenden Lebens, des Verfalls von Individuen, Klassen, Nationen und Rassen gelten und ist als  destruktiv  oder  antisozial  zu bezeichnen.

Welche Konsequenzen ergeben sich aus unserer Theorie für die Sozialpolitik? Neue Fortschritte werden hier gewöhnlich durch Massenbewegungen angeregt, und diese kommen, wie wir gesehen haben, nur unter Schein und Täuschung zustande, indem die Köpfe der Menge durch Jllusionen erhitzt werden. So werden die Ideale, die solchen Massenbewegungen als Ziel vorschweben, in der Regel ein irrationales, der objektiven Kritik nicht standhaltendes Element in sich aufgenommen haben. Aber die Vernünftigkeit oder Unvernünftigkeit der Idee kann nicht als das Entscheidende für unser Urteil angesehen werden, da die Idee selber ja in Wirklichkeit nie realisiert wird, vielmehr nur Mittel zum Zweck der Organisation der Massen ist, sondern das Entscheidende ist, wie erklärt wurde, das  positive Ergebnis  der durch die Ideen vermittelten Bewegugn: ob nämlich das Leben der Nation in der durch sozialpolitische Jllusionen gebildeten Atmosphäre gedeiht oder ob es darin verdorrt - ob, mit anderen Worten, die illusionären Ideen im Endresultat zu positiven Schöpfungen höherer Kultur führen oder aber nur die Köpfe verwirren und gesunde Keime zerstören.


II.

    "Hätte ich mit der Darstellung
der Welt so lange gewartet,
bis ich sie kannte,
so wäre meine Darstellung
Persiflage geworden."
blindfish- G o e t h e
   


Vom angegebenen Gesichtspunkt aus, für den bei der Beurteilung von Ideen und Systemen weniger ihre objektive Richtigkeit, als ihr positives  Entwicklungsresultat  maßgebend ist, will ich zunächst eine Anzahl sozial- und nationalökonomischer Doktrinen und Bewegungen Revue passieren lassen.

Fassen wir gleich die neueste Lehre, den  Sozialismus ins Auge, so läßt sich unschwer zeigen, daß erst die Anlegung des angegebenen Maßstabes eine gerechte Würdigung seiner Bedeutung für die gegenwärtige Epoche der Weltgeschichte ermöglicht.

Rein auf seinen  objektiven  Inhalt geprüft, muß der kommunistische Idealstaat, wie er der modernen sozialdemokratischen Arbeiterbewegung vorschwebt, als ein Wahnbild erscheinen. Treffend hat darüber BISMARCK einmal im Reichstag bemerkt:
    "Die Utopien, die die Sozialisten aufstellen, können vor der Mehrzahl der gebildeten Leute keinen Bestand haben und sind daher vollständig ungefährlich. Ich muß bei ihnen an das schöne Gedicht von THOMAS MOORE denken: The veiled Prophet. Der verschleierte Prophet war so häßlich, daß er immer einen Schleier trug, er getraute sich nicht, dem Volk sein wahres Gesicht zu zeigen, sonst hätte man ihn des häßlichen Gesichts wegen verlassen. So ist es auch mit dem Gesicht der Sozialdemokratie - sie erscheint nie ohne einen Schleier. Die Zukunft, wie sie apokryphisch in wieder desavouierten Schriften entwickelt ist, das Positive, was sie will, hat sie noch nicht gewagt aufzustellen."
Faktisch treffen wir im Kommunismus eine fehlerhafte Konstruktion der Gesellschaftspyramide und eine totale Verkennung der Natur des einzelnen Menschen an; als staatswirtschaftliches Ideal ist er also nichts weiter als eine Jllusion, die mit der Wirklichkeit herzlich wenig gemein hat: aber unsere Betrachtung hat ja gelehrt, daß für die Beurteilung von allgemeinen politischen, sozialen oder ethischen Postulaten weniger die relative Richtigkeit ihres doktrinären Kerns, als ihr positives Entwicklungsresultat maßgebend sein soll.

Und hier enthüllt sich der große  historische Wert  der sozialistischen Lehre: sie ist  notwendig  gewesen, um die Massen zum Zweck der Verbesserung ihrer Lage dauernd mobil zu machen. In allen Kulturländern sind die ersten Arbeiterbewegungen im Anschluß an die Lehren des Sozialismus entstanden, die dem hartschaffenden und schlecht entlohnten Proletarier den idealen Zustand eines ausreichenden Einkommens bei mäßiger Arbeit vorgaukelten. Die unteren Klassen  konnten  eben bei ihrem niedrigen intellektuellen Niveau und dem Mangel jeglicher politischen Schulung nur dann in Bewegung gesetzt werden, wenn man ihnen eine großartige Aussicht zeigte, wie den allbeglückenden Sozialstaat. Um sie aus ihrer Lethargie aufzurütteln, war es mithin notwendig, daß man ihnen versprach, das Elend rasch zu heben. Die objektiv richtigeren und rationelleren Ansichten, die sie auf Jahrhunderte vertrösteten und vorderhand nur einen Teil der Not als linderungsfähig, nur einen Teil der proletarischen Ansprüche als erfüllbar hinstellten, konnten daher, solange sich das Volk apathisch in seine Lage fügte, kein Echo im Herzen der Niederen wecken. Unter diesen wären damals keine Apostel für die Idee der langsam reifenden Sozialreform entstanden, wären damals nicht die Männer dagewesen, die für einen solchen, der berauschenden Jllusionen entkleideten Gedanken Entbehrungen und Mühen aller Art erduldeten. Damit aber die Idee des sozialen Fortschritts im Volke ein millionenstimmiges Echo fand, mußten sich ihr Hunderte und aber Hunderte mit Begeisterung hingeben. Und das hat der Gedanke des bald realisierbaren Sozialstaates bewirkt; er vermochte in den Herzen seiner Gläubigen eine Art jenes religiösen Feuers zu entzünden, das die Fähigkeiten potenziert, die Willenskraft ins Ungeheure steigert und Schwärmer und Helden schafft. Und damit hat dieser Gedanke - durch Jllusion und Suggestion die Massen zu gewaltigen Einheiten zusammenschweißend - eine großartige Mission in der Weltgeschichte erfüllt: denn als sein großes sichtbares positives Resultat ist anzusehen, daß er - wenn auch nur indirekt - den ersten Anstoß zur gewaltigen Selbsthilfebewegung der arbeitenden Klassen, zur sozialen Reform und zur weitgehenden Berücksichtigung der Arbeiterinteressen im öffentlichen wie im privaten Leben gegeben hat. Denn es ist, wie selbst BISMARCK anerkannt hat, sicher, daß nicht philanthropische Erwägungen es vermocht haben, die Bürgerklasse - als großes Ganzes betrachtet - aus ihrer Gleichgültigkeit gegen die Leiden der unteren Stände herauszureißen, sondern vornehmlich die Furcht vor der immer wachsenden Unzufriedenheit des Volks, vor der Ausbeutung dieser Stimmung durch die Sozialdemokratie und vor der drohenden Sintflut der sozialen Revolution. Der Sozialismus ist also, um seine welthistorische Rolle in einer knappen Formel auszudrücken, das Mittel gewesen, um die Organisierung der arbeitenden Klassen ins Werk zu setzen und sie für Zwecke der Verbesserung ihrer Lage dauernd mobil zu machen.

In  England  hat die sozialrevolutionäre Bewegung, die unter dem Namen des Chartismus von 1838 - 40 Hunderttausende von Arbeitern ergriff, "die große Wirkung gehabt, die englische Arbeiterklasse bis in den entlegendsten Winkel des Landes aus den überkommenen Anschauungen der Unterwürfigkeit aufzurütteln und zum Bewußtsein ihrer besonderen Klasseninteressen zu bringen", wie LUJO BRENTANO, der Geschichtsschreiber des Chartismus, konstatiert. Wieder in anderer Weise anregend ist die schon seit dem zweiten Jahrzehnt begonnene kommunistische Agitation ROBERT OWENs gewesen, deren Postulat die Übernahme der gesamten Produktion durch die Gemeinden war, wo dann durch die gemeinsame achtstündige Arbeit aller - inzwischen auch moralisch gebesserten - Erwachsenen angeblich ein Überfluß an allen Gütern geschaffen werden sollte. Dieser vom höchsten ethischen Pathos getragene Kommunismus hat freilich, trotz jahrzehntelanger Propaganda, nur einen geringen Bruchteil der Arbeiterschaft in seinen Bannkreis gezogen - aber gerade deren höchststehende und opferwilligsten Elemente haben sich von OWEN faszinieren lassen und aus seinen Prinzipien den Idealismus geschöpft, der sie vorzüglich zu Führern in einem beginnenden Emanzipationskampf der arbeitenden Klassen befähigte. Während sie aus der Lehre des großen Utopisten bloß das ferne Zukunftsideal entnahmen, das ihr Herz begeisterte, setzten sie in der Gegenwart für die kleinste Verbesserung des Loses der Arbeiter all ihre Kräfte ein. Durch BRENTANO ist es ausdrücklich bezeugt, daß in der großen Zeit der englischen Gewerkvereine, nach der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, die einflußreichsten Leiter und die beredtesten Agitatoren der Trade-Unions Owenianer gewesen sind. "Aber der Unterschied gegen die dreißer Jahre war der, daß diese Ideen den Charakter von Idealen, von "Sonntagsideen" angenommen hatten, denen man sich wie süßen Träumen an ein besseres Jenseits hingab, während man an Werktagen äußerst opportunistisch seine Politik den gegebenen Verhältnissen des Augenblicks anpaßte." (BRENTANO)

Ja, die Idee des neuen Weltzustandes, wie OWEN sie konzipiert hatte, hat sogar ganz direkt bei einer mächtigen Reformbewegung Pate gestanden. Denn die englische Konsumgenossenschaftsbewegung ist das positive Ergebnis der OWENschen Lehre und Agitation, nachdem der Wolkenschleier der Jllusion davon genommen war. OWEN hatte die Begründung von genossenschaftlich eingerichteten Gemeinden (communities) von drei- bis viertausend Seelen vorgeschlagen, wo die Mitglieder selber die agrikolen und gewerblichen Produkte für den  eigenen Gebrauch  herstellen sollten, während der Austausch des etwaigen Überflusses durch die Leitung der Gemeinden bewerkstellig werden sollte. Experimente, die nach diesem Rezept mit OWENs Geld angestellt wurdne, brachen zwar kläglich zusammen, da regelmäßig zuwenig produziert wurde - aber der Gedanke, der ihnen zugrunde lag,  durch gemeinschaftliche Produktion  der Arbeiter ihre  Konsumtion  zu decken, ging nicht verloren, er sickerte in die Massen ein und hielt sie mit der Gewalt einer durch Hypnose vermittelten Vorstellung Jahrzehnte hindurch gefesselt. Nachdem sich durch jene fehlgeschlagenen Versuche endlich die Erkenntnis Bahn gebrochen hatte, daß der  Konsumverein  die einzige  Gemeinschaft  darstellte, deren die Arbeiter vorderhand fähig seien, wuchsen bald solche Vereine und ihre Läden wie Pilze nach einem warmen Sommerregen aus dem Erdboden. So entstand eine Bewegung, die - nach den Worten ihrer Geschichtsschreiberin SIDNEY WEBB - "den ersten wirklichen Versuch der britischen Arbeiterklasse darstellt, OWENs Ansichten in praktischer Form zu verkörpern". Der Geist, der diese wahrhaften Pioniere der Sozialreform beseelte, wird treffend durch den Wahlspruch gekennzeichnet, mit dem die Statuten der Genossenschaft zu Warrington eingeleitet wurden und der - ganz im Sinne von OWENs Sozialethik - also lautete: "Sie halfen einander, ein jeglicher seinem Bruder, und ein jeglicher sprach zu seinem Bruder: Sei guten Mutes!" Einen kräftigen Aufschwung nahm diese, zeitweilig wieder etwas eingedämmte Bewegung, nachdem die "redlichen Pioniere von Rochdale" an ihre Spitze getreten waren: so nannten sich bekanntlich 28 arme Flanellweber, die am Tag nach Weihnachten 1844 in einer Hintergasse von Rochdale den "Auld Wayvers Shop" ("Alten Weberladen") mit einem Kapital von 28 Pfund eröffneten. Die Statuten erweisen, daß die "Pioniere" wieder die Fahne der OWENschen "communities" aufpflanzten und somit praktische Klugheit, wie sie sich in der Errichtung eines Ladengeschäfts darstellte, mit einem erhabenen moralische Ideal verbanden. Als ihren Zweck gaben nämlich die Statuten an:
    "Errichtung eines Ladens zum Verkauf von Lebensmitteln, Kleidungsstücken usw.; - Bau, Ankauf oder Errichtung einer Anzahl Häuser, in denen jene Mitglieder wohnen können, die einander in der Verbesserung ihrer häuslichen und sozialen Lage beizustehen wünschen; - Produktion von Waren; - endlich das Ziel, daß diese Genossenschaft sobald als möglich dazu schreiten soll, eine  sich selbst erhaltende Kolonie  im Inland mit  gemeinschaftlicher Produktion und Verteilung  ins Leben zu rufen."
Hier zeigt sich klar, daß Jllusionen zur Erfolg einer Sache mächtig beitragen können: denn sie gaben jenen armen Webern und den vielen Tausenden, die ihrem Beispiel folgten, das stolze Bewußtsein, sich als Jünger einer erhabenen Idee und als Pioniere der gesamten Menschheit zu fühlen, und das strotzende Kraftgefühl, das sie zu wagemutiger Tat und ausdauerndem Schaffen befähigte. Diese soziale Optik vermochte aber doch wieder nicht den Blick für das praktische Leben zu trüben, wie aus der vorbildlichen und tausendfach nachgeahmten Verfassung hervorgeht, die sich die Pioniere von Rochdale gaben: der Laden legt im Verkauf die ortsüblichen Detailpreise zugrunde und verteilt dann den erzielten Geschäftsgewinn unter die Mitglieder im Verhältnis zur Größe der von ihnen gemachten Einkäufe. Auf diese Weise wurde ein Aufschwung der britischen Genossenschaftsbewegung eingeleitet, der seitdem fast ununterbrochen bis zum heutigen Tag angedauert hat. Umso mehr aber hatten die durch die OWENsche Propaganda verbreiteten überschwänglichen Hoffnungen auf die ideale Kooperation der Arbeiter das Gute  produktiver  Jllusionen, als sie den von ihnen Begeisterten das Herz zu frisch-fröhlicher Tat schwellten und sie doch nicht blind gegen die soziale Reformtätigkeit anderer machten: denn gerade jene Genossenschafter sind stets zugleich auch die eifrigsten Agitatoren der Gewerkvereine und die tapfersten Vorkämpfer des staatlichen Arbeiterschutzes gewesen!

Ebenso hat die ganze tiefgreifende  reformatorische Tätigkeit  von Staat und Gesellschaft in England, wie sie in der für alle zivilisierten Länder vorbildlichen Arbeiterschutzgesetzgebung, in der gesetzlichen Förderung der Konsumvereine und in der Anerkennung der Gewerkvereine kulminiert, ihren Anstoß unmittelbar von der sozialistischen Bewegung der dreißiger und vierziger Jahre empfangen. Ich sehe ganz davon ab, daß OWEN zuerst das Programm der Arbeiterschutzgesetzgebung entwickelt hat - ungleich wichtiger ist die Tatsache, daß die durch den Chartismus hervorgerufene Unzufriedenheit des Proletariats, die zeitweilig das ganze Staatswesen in seinen Grundvesten erschüttert, weitblickenden Staatsmännern und Schriftstellern die Erkenntnis beibringt, daß es so wie bisher nicht weiter gehen könne, daß mit dem Schlendrian des Laisser-faire [Geschehenlassen - wp] in der Sozialpolitik gebrochen werden müsse. Die chartistische Bewegung überzeugt CARLYLE von der Unhaltbarkeit einer Volkswirtschaft des Egoismus und der Freiheit, "das heißt der Freiheit zu sterben und zu verderben" - und von da an wendet er sich, sprachgewaltig wie kein Zweiter, mit voller Wucht gegen die herrschende Lehre von Sankt MANCHESTER, "diesem verlumptestem Evangelium, das man je der Welt gepredigt hat" - um in flammenden Mahnrufen an die Zeitgenossen, namentlich im "Chartism" (1840) und in "Past and Present" (1843, das soziale Gewissen seiner Zeit zu wecken. Seine positiven Ideen sind dürftig; sie beschränken sich im wesentlichen auf die Forderung, daß der Industrielle der Zukunft, der  captain of industry,  sich durch Noblesse in der Konkurrenz und warmherzige Fürsorge für alle Angestellten auszeichnen solle. Aber indem er diese Ideen mit immer neuen Bildern und historischen Vergleichen, bald pathetisch und bald melancholisch, bald mit dem kühnen Schwung idealistischer Prophezeiung und bald mit den donnernden Anklagen eines alttestamentlichen Propheten variiert, gelingt es ihm, bei den führenden Klassen der Nation das Gefühl zu verbreiten, daß die Arbeiter ungerecht litten und daß diesen unerträglichen Zuständen durch Reformen abgeholfen werden müsse. Und da in der gleichen Richtung wie CARLYLE noch DISRAELI, SHAFTESBURY, die sozialkonservative (sogenannte "Jung-England"-) Partei und später auch die Christlichen Sozialisten tätig sind - so erfolgt durch alle diese kombinierten Anstrengungen, die dem Chartismus (zum Teil auch der OWENschen Propaganda) ihre Entstehung verdanken, die Abkehr der leitenden Kreise Englands vom Manchesterdogma in Arbeitersachen und ihre Begünstigung der sozialpolitischen Forderungen (namentlich auf dem Gebiet der Fabrikgesetzgebung) wie der Selbsthilfebestrebungen der Arbeiter. Auf diese Weise ist es durch weise Politik von Staat und Gemeinden, Gesellschaft und Parteien in Verbindung mit den natürlichen Anlagen des britischen Nationalcharakters dahin gekommen, daß seit Ende der vierziger Jahre in England die Kämpfe zwischen Kapital und Arbeit sich auf dem Boden des Gesetzes, ohne Einmischung revolutionärer Tendenzen, abgespielt haben. Der englische Arbeiter sinnt nicht auf Umsturz, sondern nur darauf, sich innerhalb der alten Gesellschaft möglichst komfortabel einzurichten. Er will das Greifbare und Positive, nicht das Unsichere und Imaginäre.  Über das Stadium der sozialen Jllusionen ist er gegenwärtig hinaus!  Wer ihm heute vom Zukunftsstaat erzählt, den sieht er an wie jenen Mann, der mit einem Federhut auf dem Kopf und hoch zu Roß einherzog. Mit einem Wort, der englische Arbeiter spiegelt den Nationalcharakter getreulich wieder: er ist in erster Linie der nüchterne und praktische Geschäftsmann. Man lese bei WEBB die Schildeungen vom Verhalten der Arbeiterdelegierten in den englischen Einigungskammern nach, und man wird gestehen, daß Börsenkommissare nicht vorsichtiger und genauer den Tageskurs von Waren und Papieren feststellen können, als hier die Arbeitervertreter den den tatsächlichen wirtschaftlichen Machtverhältnissen entsprechenden Kurs der Arbeit.
    "Dieser Opportunismus der britischen Gewerkvereine ist seit langer Zeit von kontinentalen Arbeitern verspottet worden! Aber es ist die alte Geschichte von der Schildkröte und dem Hasen. Diese Politik trägt nichts Heroisches an sich, aber sie hat sich bis jetzt als sicher und weise erwiesen" (THRELFALL im "Nineteenth Century").
Überdies zeigen die englischen Arbeiter auch jene Tugenden, ohne die ein dauernder Fortschritt für einen Stand nicht möglich erscheint: also vor allem gegenseitiges Vertrauen, Opferwilligkeit und endlich Ausdauer und Zähigkeit im Kampf um die nächsten Ziele. Nicht nur in der Schlacht wird - nach den Worten des bekannten NELSONschen Tagesbefehls - erwartet, daß jeder Mann aus dem Volk seine Pflicht tue, sondern auch im täglichen Ringen um die Hebung der Klasse im engen Kreis des individuellen Wirtschaftslebens, wo die Pflichterfüllung schwieriger ist als unter dem Donner der Geschütze! So ist die Arbeiterbewegung in England bei jenem Stadium angelangt, wo die spezifisch  sozialpolitischen Jllusionen  überflüssig geworden sind. Was diese leisten  konnten, haben  sie geleistet: nämlich, soviel an ihnen lag, die Organisierung des Proletariats, die sympathische Behandlung der Arbeiterforderungen durch die herrschenden Klassen und eine gewisse Anteilnahme des vierten Standes am Staatsregiment zu ermöglichen. Was in Zukunft noch für diese Stand zu geschehen hat, kann jetzt, wo er seinen Platz in der Gesellschaftspyramide und seine gewaltige Organisation hat, einfach durch deren natürliche Wucht den entgegenstehenden Interessen der anderen Klassen abgerungen werden. Zwar kommt es gelegentlich immer noch vor, daß auf großen Gewerkschaftskongressen Anträge auf Verstaatlichung der Produktionsmittel Mehrheiten finden: aber - wie BRENTANO mit Recht sagt -
    "sie haben keine größere Bedeutung, als wenn etwa ein Katholikenkongreß erklärt, daß alle Christen, egal welcher Konfesseion, geistliche Unterarten des Papstes seien, und daß kein Heil zu erhoffen ist, bis die ganze Menschheit als  eine  Herde unter  einem  Hirten stehe. Solange der opportunistische Geist, der die ganze Gewerkvereinsentwicklung beherrscht hat, weiter in derselben maßgebend bleibt, haben derartige Resolutionen gar keine praktische Bedeutung; denn solange geschieht nichts zu deren Verwirklichung, sondern es geschieht immer nur das, was den jeweiligen Verhältnissen Entsprechende ist. Dafür aber, daß dieser Geist der herrschende bleibt, gibt gerade die Entwicklung der Gewerkvereine seit 1889 die schlagendsten Belege."
Wie zutreffen diese - im Jahre 1895 ausgesprochene - Meinung BRENTANOs war, zeigte der Ausfall der bald danach stattgefundenen Parlamentswahlen, bei denen die Bedeutungslosigkeit des englischen Sozialismus, der keinen einzigen Kandidaten hatte durchsetzen können, eklatant zutage getreten ist. "Der Arbeiter" - klagte EDUARD BERNSTEIN, damals noch Sozialdemokrat strikter Observanz, - "macht die Abgabe seiner Stimme nicht von dem abhängig, was in der Vergangenheit, noch von dem, was in weiterer Zukunft liegt, sondern  ausschließlich  von dem, was in der unmittelbaren Gegenwart vor ihm liegt."'

So hat sich in England in der Hauptsache wirklich der in der oben dargestellten sozialen Jllusionstheorie beschriebene Entwicklungsprozeß vollzogen: nachdem den neuen  Bedürfnissen  der Masse durch die Schaffung neuer  Institutionen  Rechnung getragen worden ist, haben die zauberkräftigen Formeln, die ehedem die Massen zu elektrisieren vermochten, ihre dämonische macht eingebüßt - sie sind in ausgebrannte Schlacken verwandelt, deren einstmals brauchbarer und wertvoller Inhalt vernutzt worden ist. Was die Massen  sozialpolitisch  noch zu erreichen haben, dazu bedarf es keiner Begeisterung und keiner Jllusionen - die vermöchten  heute  nur Schaden anzurichten! - sondern bloß noch des vernünftigen Gebrauches der in ihren Händen tatsächlich befindlichen Macht! -

In  Deutschland  ist die Rolle, die die sozialpolitischen Jllusionen gespielt haben, nicht minder deutlich zu erkennen. Die moderne deutsche Arbeiterbewegung nimmt ihren Ausgang von der Agitation LASSALLEs (1863). Diese Agitation, die den deutschen Arbeiterstand bis in seine Tiefen aufrüttelte und zugleich den damaligen Leiter der Geschicke Deutschland, BISMARCK, zum ernsten Studium der sozialen Frage veranlaßte, hatte ihren Erfolg im wesentlichen dem Umstand zu verdanken, daß sie für die Not der Arbeiter, für ihre Hoffnungen und für den Weg aus der Bedrängnis drei knappe, klare, zündende Formeln erfand. Alles, was den Arbeiter auf Erden bedrängte, wurde auf das "eherne Lohngesetz" zurückgeführt. Dessen Name schon die Suggestion eines furchtbaren Geschickes einschloß und das auch ausdrücklich für das "Zeichen der Sklaverei" der Arbeiter unter dem Joch des herrschenden Lohnsystems erklärt wurde. Die  Hoffnungen  des Arbeiterstandes wurden geradezu beflügelt, indem ihm - anscheinend gutgläubig - vorgespiegelt wurde: jetzt, sofort, morgen schon könne die eherne Klammer dieses Lohngesetzes zerbrochen werden, und ein ideales Arbeiten und Leben würde an seine Stelle treten, wenn nur der preußische Staat die Arbeiter durch Gewährung eines Kredits von hundert Millionen Talern in den Stand setzte, sich in Produktivassoziationen zu organisieren und somit ihre eigenen Herren zu werden. Und als Mittel, um diesen Weg - der als der  "einzige  Weg aus der Wüste" proklamiert wurde! - zu beschreiten, wurde auf das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht hingewiesen, an dessen baldiger Erlangung LASSALLE (wie sich bald herausstellte mit Recht) nicht zweifelte.

Indem LASSALLE diese Formeln in die Massen warf und mit faszinierender Beredtsamkeit verteidigte, ist es ihm gelungen, in Deutschland eine ganze Arbeiterarmee aus dem Boden zu stampfen.

Nichtsdestoweniger war die Rolle des Lassalleanismus als solchem binnen nicht zu langer Zeit ausgespielt - ohne daß freilich der Siegeslauf der deutschen Arbeiterbewegung dadurch im geringsten aufgehalten worden wäre. Der Unwert der Formeln, die ursprünglich die Massen elektrisiert hatten, war bald, teils durch Erfahrungstatsachen, teils durch theoretische Kritik, erwiesen und schließlich auch den Arbeiterkreisen plausibel gemacht - aber die alten Formeln und Jllusionen wurden darum nur von  neuen  abgelöst, bekanntlich den marxistischen. Das marxistische Lehrgebäude war für diesen Zweck auch ganz vorzüglich geeignet: denn seine Prinzipien waren der industriellen Arbeiterklasse, die von den niederen Klassen vorläufig allein die politische Bühne zu betreten fähig war, auf den Leib zugeschnitten. Es enthielt drei Schlagwörter von wunderbarer Gewalt. Das erste - die sogenannte  Verelendungs theorie - ließ die soziale Entwicklung durch eine immer kolossalere Anhäufung des Proletariats in den Produktionszentren, immer wachsenden Druck des übermächtigen Kapitals, immer steigende Arbeitslosennot, immer größere Verelendung der Massen vor sich gehen. Das zweite Schlagwort - die sogenannte  Zusammenbruchs theorie - ließ den Abschluß dieser Entwicklung durch den Zusammenbruch des unterwühlten Baues der alten Gesellschaftsordnung erfolgen, als der selbstverständlichen Konsequenz davon, daß dieser Bau über kurz oder lang der ungeheuren Mehrzahl seiner Bewohner als unwohnlich erscheinen mußte! Das dritte Schlagwort - die kommunistische Gesellschaft der Zukunft - enthielt die frohe Botschaft vom Neuen Reich, das nach dem Zusammenbruch des Alten, vom diktatorisch herrschenden Proletariat aufgerichtet werden muß - aufgerichtet ebenfalls durch die eherne Gewalt der Entwicklung, weil die gegenwärtige Phase der technisch-ökonomischen Evolution notwendig zur kommunistischen Organisation, der planvollen Leitung der Arbeit, der gemeinsamen Nutzbarmachung aller Produktionsmittel und der Aufhebung aller Klassengegensätze hindrängt.

Indem der Marxismus, wie diese Formeln zeigen, das ausschließliche Klasseninteresse des  Proletariats  kultivierte und diesem in Gegenwart und Zukunft die Hauptrolle auf der Weltenbühne zuschrieb, lieferte er ihm sein  Dogma,  sein  Stichwort  und das für aktive politische Handlungen großen Stils nötige unverwüstliche  Selbstvertrauen.  Das Prinzip des "Überlebens der Passendsten" gilt auch im Reich der Gedanken: unter den sozialistischen Systemen mußte in jenen Ländern, wo im letzten Drittel des abgelaufenen Jahrhunderts der Sozialismus die der Situation angemessene Form der Arbeiterbewegung war, dasjenige siegen, welches das passendste war, d. h. welches den hauptsächlichsten Träger der sozialistischen Bewegung, das städtische Industrieproletariat, am meisten ansprechen mußte. Und so mußte von all den konkurrierenden Doktrinen des Sozialismus im Kampf um Dasein und Geltung gerade der Marxismus als Sieger hervorgehen, weil gerade er am ehesten das Proletariat faszinieren mußte, das ja - ihm zufolge - von nun an das Schicksal der Welt zu tragen hatte. Und aus demselben Grund mußte gerade diese Lehre in den Industriestädten die Arbeiterbatallione möglichst rasch mobil machen, weil sie alle Wünsche des Proletariats zu befriedigen und seine kühnsten Hoffnungen auf Macht und Reichtum in Erfüllung zu bringen versprach und es überdies bei augenblicklichen Schlappen schnell wieder aufzurichten vermochte, da sie ihm den sicheren Sieg in der Zukunft in Aussicht stellte; denn  sein  mußte ja trotz alledem schließlich die Macht und das Reich werden. Und darum ist die MARXsche Lehre das mächtigste Beförderungsmittel der Arbeiterbewegung geworden: denn wie TAINE ausführt:
    "Wenn eine Lehre die Menschen hinreißt, so liegt das weniger an den Sophismen, mit denen sie operiert, als an den  Versprechungen,  die sie ihnen macht. Sie wirkt mehr auf ihr  Gefühl  ein als auf ihren Verstand. Ein System gefällt uns nicht, weil wir es für wahr halten, sondern wir halten es für wahr, weil es uns gefällt. Politischer oder religiöser Fanatismus wurzelt stets hauptsächlich in einem lebhaften Bedürfnis, einer geheimen Leidenschaft, einer Ansammlung verborgner, aufdringlicher Wünsche, denen die Theorie einen Ausgang gewährt."
Wenn somit die  historische  Bedeutung des MARXschen Systems kaum hoch genug veranschlagt werden kann - so ist dasselbe andererseits  objektiv,  d. h. rein auf den  sachlichen  Inhalt der vorgetragenen Lehren betrachtet, nur  eine  kolossale Fehlgeburt. All jene faszinierenden Schlagwörter, die solange den Aufschwung der Arbeiterbewegung mächtig gefördert haben, sind heute durch die Wissenschaft und die Statistik (im speziellen durch Kritik JULIUS WOLFs) völlig widerlegt: die Verelendungstheorie ist heute allgemein - bis tief in die Reihen der Sozialisten hinein - als elende Theorie erkannt, die Zusammenbruchstheorie ist soeben vor aller Augen selbst zusammengebrochen, die Diktatur des Proletariats hat sich als unmöglich herausgestellt und das Ideal der kommunistischen Gesellschaft entpuppt sich immer weiteren Kreisen als höchst phantastisches Zukunftsbild.

Demnach steht zu erwarten, daß die Kulturvölker des Kontinents, die in einer aufsteigenden Entwicklung begriffen sind, eines Tages den Marxismus wie alle kommunistischen Theorien, die ihre weltgeschichtlichen Aufgaben - die Organisierung des Proletariats, die Verbreitung der Erkenntnis von der Notwendigkeit von Reformen und die Revolutionierung der Wissenschaft - erfüllt haben, von sich abschütteln und sich auf die Ziele einer realistischen Sozialpolitik beschränken werden. Denn das steht fest: in der Gegenwart hat der Umstand, daß die Arbeiterbewegung sich immer noch von  kommunistischen  Idealen beherrschen läßt, unzweifelhaft seine großen Gefahren für die Gesundung des staatlichen Lebens. Der Gedanke eines utopischen Idealzustandes, der allen Leiden mit einem Schlag abhilft, wird mit der wilden Begehrlichkeit der Massen in Verbindung gebracht, wodurch die stetige Fortentwicklung des Staatswesens schwer geschädigt werden kann. Die langsam vorgehende systematische Reformarbeit zur Beseitigung der sozialen Mißstände wird einer übelwollenden und nörgelnden Kritik unterworfen, das Vertrauen zu den führenden Klassen und zur Regierung wird untergraben, die Kooperation der verschiedenen STände auf dem Boden des Bestehnden als angeblicher Verrat an der "Arbeitersache" von der Hand gewiesen; den Konzessionen an das Proletariat werden Forderungen entgegengestellt, die ihm Rahmen der alten Ordnung unerfüllbar sind, während von der zukünftigen Ordnung nichts weiter feststeht als der - Name. Die Folge davon ist, daß die Sozialdemokratie die Arbeiter ganz unnötig unzufrieden macht und mit Ingrimm gegen Staat und Gesellschaft erfüllt, und daß andererseits in den herrschenden Klassen jene Richtung Einfluß gewinnt, die die Fortführung der sozialpolitischen Reformtätigkeit verwirft und auf Unterdrückung der radikalen Agitation sinnt. Um klar einzusehen, in welcher Weise die Sozialdemokratie heutzutage zum Hindernis für die gesunde Fortentwicklung der sozialen Reform geworden ist, vergegenwärtige man sich:  wieviel  die Arbeiter Deutschlands an Besserung ihrer Lage hätten erreichen können, wenn alle jene, die sich heute als Sozialdemokraten bekennen, anstatt dessen in einer  reformatorischen  Partei geeint wären! Was alles hätten nicht die Massen bei einer von ihnen betriebenen  realistischen  Politik dem  Staat  an arbeiterfreundlichen Gesetzen und was alles der  Bourgeoisie  an Konzessionen auf Kosten des Profits (durch die Organisation in Gewerkvereinen) abringen können? Wie große Zugeständnisse auf dem Gebiet des Arbeiterschutzes, welch einen Anteil an der sozialen Verwaltung, wieviel an Verbesserung der Arbeitsbedingungen durch gemeinsames kräftiges Ringen mit den Unternehmern, was an Verbilligung der Lebensmittel durch konsumgenossenschaftliche Selbsthilfe hätten die Arbeiter alsdann durchsetzen können? Jener englische Arbeitgeber hat wirklich recht, der - nach BRENTANOs Bericht - erklärte, die deutschen Sozialdemokraten seien doch weit bequemer als die englischen Arbeiter: sie rebellierten allerdings gegen Staat und Gesellschaft, seien aber sonst mit niedrigen Löhnen zufrieden, während die englischen Gewerkvereine sich zwar in vollkommener Übereinstimmung mit der bestehenden Ordnung fühlten, dagegen sich durch das Verlangen höherer Löhne recht unangenehm bemerkbar machten!

LITERATUR - Georg Adler,Die Bedeutung der Illusionen für Politik und soziales Leben, Jena 1904